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Leseprobe Soziale Sicherheit 8_2016

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Seiten 293– 336/ www.sozialesicherheit.de / 65. Jahrgang / ISSN 0490-1630 / D 6364<br />

<strong>Sicherheit</strong><br />

Zeitschrift für Arbeit und <strong>Soziale</strong>s<br />

8<br />

<strong>2016</strong><br />

sozialesicherheit.de<br />

Änderungen bei der<br />

Arbeits förderung:<br />

Signal für mehr<br />

Weiterbildung von<br />

Arbeitslosen<br />

Pflege und Altenhilfe:<br />

Bei der Finanzierung<br />

und Leistungserbringung<br />

von Skandinavien lernen<br />

Ost-West-<br />

Rentenangleichung:<br />

Andrea Nahles guten<br />

Gesetzentwurf nicht<br />

durchkreuzen<br />

BAföG:<br />

Die neuen Leistungssätze<br />

ab diesem Wintersemester<br />

Für Sie beigelegt:<br />

Solo-Selbstständige: Große Lücken<br />

bei der sozialen Sicherung


Position<br />

Ost-West-Rentenangleichung:<br />

Schäuble sollte Nahles guten Gesetzentwurf nicht durchkreuzen<br />

Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles hat Ende Juli den<br />

Gesetzentwurf eines Rentenüberleitungs-Abschlussgesetzes<br />

vorgelegt und damit die letzten Schritte zu einer<br />

Rechtsangleichung im Rentenrecht bis 2020 – dem Ende<br />

des Solidarpakts II – skizziert. 30 Jahre nach Herstellung<br />

der Deutschen Einheit ist es nach Ansicht der Ministerin<br />

eine Frage der sozialen Gerechtigkeit und der Gleichbehandlung<br />

in Ost und West, nun auch die Renteneinheit zu<br />

vollziehen.<br />

Dafür ist Andrea Nahles Respekt zu zollen. Nicht nur,<br />

dass sie mit der vorgeschlagenen Rechtsangleichung ein<br />

hochkomplexes und hochemotionales Thema angeht. Sondern<br />

auch, weil sie die Versprechen des Einigungsvertrages<br />

und zumindest der letzten beiden Koalitionsverträge,<br />

die Angleichung der Renten in den neuen Bundesländern<br />

zu verwirklichen, ernst nimmt.<br />

Bereits im Juni 2009 hatte Bundeskanzlerin Angela<br />

Merkel anlässlich des Deutschen Seniorentages in Leipzig<br />

zugesagt, die »Rentenangleichung Ost-West« bis 2011 erledigen<br />

zu wollen. Dies Versprechen blieb bis jetzt unerfüllt.<br />

Dabei handelt es sich dabei nicht nur um eine Frage<br />

der Rechtseinheit, sondern auch des sozialen Friedens.<br />

Das Versprechen nun erneut zu brechen, würde der Politikverdrossenheit<br />

und einem weiteren Abdriften ins rechte<br />

Spektrum gerade in den neuen Bundesländern Vorschub<br />

leisten.<br />

Gerade das aber tut Bundesfinanzminister Wolfgang<br />

Schäuble, wenn er nun verkünden lässt, die Maßnahme<br />

habe keine Priorität und schlitzohrig vorschlägt, die Kosten<br />

für die Rechtsangleichung Ost – 1,8 Mrd. Euro pro Jahr ab<br />

2018 und ab 2020 rund 3,9 Mrd. Euro – aus dem Rententopf<br />

und nicht richtigerweise als Aufgabe der Deutschen Einheit<br />

aus Steuermitteln zu finanzieren. Mit dem Griff in die<br />

Rentenkasse hat Schäuble bereits einige Übung. So hat er<br />

die Finanzierung der verbesserten Mütterrente (rund 6,5<br />

Mrd. Euro jährlich) der Rentenkasse aufgebürdet, um seinen<br />

Haushalt zu schonen und die »schwarze Null« nicht zu<br />

gefährden – zulasten aller Versicherten in der gesetzlichen<br />

Rentenversicherung. Schäuble sollte erkennen, dass die<br />

Rentenkasse kein Selbstbedienungsladen ist.<br />

Nicht der Gesetzentwurf von Andrea Nahles, sondern<br />

der Finanzminister muss gestoppt und an das Versprechen,<br />

das auch er mit verhandelt hat, erinnert werden.<br />

Das Abschlussgesetz ist zu begrüßen und wird breit<br />

unterstützt. Dafür steht u. a. ein Bündnis aus neun Gewerkschaften<br />

und Sozialverbänden, das sich seit rund<br />

zehn Jahren intensiv dafür einsetzt (s. SozSich 2/2009,<br />

S. 47 ff. und 5/2015, S. 182 ff.). Zwar hat die Rentenerhöhung<br />

zum 1. Juli <strong>2016</strong> um knapp 6 % in den neuen Ländern<br />

die Angleichung einen großen Schritt vorangebracht und<br />

einen Anstieg des aktuellen Rentenwerts Ost von 92,6 auf<br />

94,1 % des Westwerts bewirkt. Allerdings wird eine vollständige<br />

Angleichung nach geltendem Recht ohne zusätzliche<br />

Anpassungsschritte bis 2020 nicht erreicht werden<br />

können.<br />

Andrea Nahles schlägt deshalb ein zweistufiges Angleichungsverfahren<br />

ab Anfang 2018 und 2020 vor. Warum<br />

aber beginnt sie nicht bereits 2017 oder zieht alternativ im<br />

nächsten Jahr als einen ersten Schritt die gleiche Bewertung<br />

von Zeiten der Kindererziehung und Pflege oder der<br />

Arbeit in Werkstätten für behinderte Menschen vor? Noch<br />

immer werden diese Zeiten im Osten für die Rente schlechter<br />

bewertet als im Westen.<br />

Bei einer Rechtsangleichung gibt es nicht nur einheitliche<br />

Rentenwerte in Ost und West, es entfallen auch die<br />

weiteren Sonderregelungen für die neuen Bundesländer.<br />

Das gilt auch für die Hochwertung. Dagegen könnte eingewendet<br />

werden, dass die Ost-Einkommen noch nicht<br />

auf Westniveau angestiegen sind und deshalb die Hochwertung<br />

beibehalten werden müsse. Richtiger wäre es<br />

aber, den Prozess der Lohnangleichung anzugehen und<br />

die Rahmenbedingungen wie z. B. die in weiten Bereichen<br />

fehlende Tarifbindung durch eine Stärkung der Allgemeinverbindlicherklärung<br />

zu verbessern. Auf jeden Fall ist die<br />

Entwicklung im Osten inzwischen so weit ausdifferenziert,<br />

dass die Beibehaltung der pauschalen Hochwertung der<br />

Ostentgelte in der heutigen Form neue Ungerechtigkeiten<br />

schaffen bzw. verfestigen würde.<br />

Interessant ist zu beobachten, dass sich gerade auch<br />

diejenigen im Osten gegen die Gesetzesinitiative wenden,<br />

die bereits jetzt Löhne auf Westniveau beziehen – z. B. aufgrund<br />

bundesweit geltender Tarifverträge. Sie sind die wahren<br />

Profiteure der heutigen Regelung. Denn eine gleichhohe<br />

Beitragszahlung führt durch die Hochwertung, die alle Beschäftigten<br />

in den neuen Ländern erhalten, im Osten derzeit<br />

zu einem 8 % höheren Rentenertrag als im Westen.<br />

Realität ist, dass sowohl in den alten wie auch neuen<br />

Bundesländern gut verdienende Beschäftigte in prosperierenden<br />

Regionen neben Niedriglohnempfängern in Gegenden<br />

mit akuten wirtschaftlichen Problemen stehen. Welche<br />

Antworten erhalten Niedrigverdienende im Westen, die<br />

fragen, warum ihre geringen Entgelte nicht auch hochgewertet<br />

werden? Auch deshalb muss endlich Schluss sein<br />

mit der Renten-Zweiteilung Deutschlands in Ost und West.<br />

Wir brauchen keine Förderung nach Himmelsrichtungen,<br />

sondern danach, wo besondere Bedarfe bestehen.<br />

Wir brauchen wirksame Instrumente im Rentenrecht, die<br />

Altersarmut bekämpfen und langjährige niedrige Verdienste<br />

in der Rente hochwerten – und zwar in Ost, West, Süd<br />

und Nord. Weiter bestehende Unterschiede müssen durch<br />

bessere Rahmenbedingungen am Arbeitsmarkt sowie<br />

durch neue, in ganz Deutschland geltende Maßnahmen<br />

des sozialen Ausgleichs im Rentenrecht<br />

gelöst werden.<br />

Dr. Judith Kerschbaumer,<br />

Leiterin des Bereichs Sozialpolitik<br />

in der ver.di-Bundesverwaltung<br />

296<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Sicherheit</strong> 8/<strong>2016</strong>


Magazin<br />

Gutachten zu Grundsicherungsleistungen von EU-Ausländern:<br />

Ausschluss für Arbeitsuchende ist verfassungswidrig<br />

Ende März hatte Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles einen Referentenentwurf<br />

für ein »Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in<br />

der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II und in der Sozialhilfe<br />

nach dem SGB XII« vorgelegt. Danach sollen EU-Ausländer innerhalb der ersten<br />

fünf Jahre von dauerhaften Leistungen der Grundsicherung ausgeschlossen<br />

werden, wenn sie nicht in Deutschland arbeiten oder hier durch vorherige Arbeit<br />

Ansprüche aus der Sozialversicherung erworben haben (s. SozSich 5/<strong>2016</strong>,<br />

S. 204 ff.). Ein Rechtsgutachten im Auftrag des DGB zeigt jetzt: Das verstößt<br />

sowohl gegen das Grundgesetz als auch gegen EU-Recht.<br />

Nahles hatte mit ihrem Entwurf auf Urteile des Bundessozialgerichts reagiert.<br />

Dieses hatte festgestellt, dass arbeitsuchende EU-Ausländer, die nach § 7 Abs. 1<br />

Satz 2 SGB II von Hartz-IV-Leistungen ausgeschossen sind, nach sechs Monaten<br />

Aufenthalt in Deutschland Anspruch auf Sozialhilfe haben können (s. SozSich<br />

12/2015, S. 429 sowie 5/<strong>2016</strong>, S. 198 ff.).<br />

Nach dem Plan des Bundesarbeitsministeriums soll es künftig für die betroffenen<br />

EU-Ausländer aber weder Sozialhilfe noch Hartz IV geben. Ihnen sollen lediglich<br />

einmalig innerhalb von zwei Jahren bis zur erwünschten Ausreise, aber nur für<br />

längstens vier Wochen »Überbrückungsleistungen« gewährt werden. Diese sollen<br />

sich auf die Deckung ihres physischen Existenzminimums beschränken – also<br />

ihres Bedarfs an Nahrungsmitteln, Körper- und Gesundheitspflege, Unterkunft<br />

und Heizung sowie die medizinische Notversorgung bei akuten Erkrankungen<br />

und Schmerzzuständen. Außerdem soll auf Antrag gegebenenfalls ein Darlehen<br />

für die »angemessenen Kosten der Rückreise« gezahlt werden.<br />

Verstoß gegen Recht auf Existenzsicherung<br />

Das Gutachten der beiden Sozialrechtlerinnen Prof. Stamatia Devetzi (Hochschule<br />

Fulda) und Prof. Constanze Janda (SRH Hochschule Heidelberg) kommt zu dem<br />

Ergebnis: Die Gewährung solcher Mini-Überbrückungsleistungen oder gar die<br />

völlige Versagung von Grundsicherungsleistungen nach Ablauf von vier Wochen<br />

verstößt gegen das Grundrecht auf Sicherung einer menschenwürdigen Existenz,<br />

das sich aus den Grundgesetzartikeln 1 und 20 ergibt. Da der Mensch notwendig<br />

in seinen sozialen Bezügen existiert, sei es nicht zulässig, dass Existenzminimum<br />

auf physische Aspekte zu beschränken. Erforderlich seien vielmehr auch Mittel<br />

zur Gewährung der soziokulturellen Teilhabe. Das hatte das Bundesverfassungsgericht<br />

schon mehrfach festgestellt. Und es hatte auch geurteilt: Das Grundrecht<br />

auf Sicherung einer menschenwürdigen Existenz gilt für jedermann – unabhängig<br />

von seiner Staatsangehörigkeit.<br />

Deutschland könne auch nicht einfach die Verantwortung zur Existenzsicherung<br />

mittelloser EU-Bürger auf deren Herkunftsstaaten abschieben, solange diese<br />

EU-Ausländer hier leben. Für existenzsichernde Leistungen sei selbst im europäischen<br />

koordinierenden Sozialrecht die »Exportpflicht« außer Kraft gesetzt. »Das<br />

Existenzminimum ist folglich zwingend durch die Bundesrepublik als Ort des tatsächlichen<br />

Aufenthalts zu gewährleisten«, so das Gutachten. Im Übrigen seien<br />

»auch erwerbs- und mittellose Unionsbürger nicht ausreisepflichtig, solange der<br />

Verlust des Aufenthaltsrechts nicht formell festgestellt worden ist«.<br />

Als »eklatanten Verstoß« gegen das Recht auf Existenzsicherung und EU-Recht<br />

sehen die Gutachterinnen auch den Plan an, selbst Eltern vom Leistungsbezug<br />

auszuschließen, deren Kinder hier wegen eines Schulbesuchs oder einer Berufsausbildung<br />

das Aufenthaltsrecht haben. Das Ausbildungsrecht des Kindes umfasse<br />

nach der EU-Rechtsprechung auch das Recht, dass sich der sorgeberechtigte<br />

Elternteil bei ihm aufhält.<br />

»Sollte der Referentenentwurf so kommen, dürfte das letzte Wort in Karlsruhe<br />

gesprochen werden«, erklärte DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach. Mit<br />

Schnellschüssen wie diesem Entwurf sei nichts zur künftigen Gestaltung des europäischen<br />

Sozialrechts gewonnen. o<br />

Antidiskriminierungsgesetz<br />

nach zehn Jahren reformieren<br />

Zehn Jahre nach Inkrafttreten des Allgemeinen<br />

Gleichbehandlungsgesetzes<br />

(AGG) fordert die Antidiskriminierungsstelle<br />

des Bundes genauso wie<br />

der DGB eine Reform. Das Gesetz hat<br />

zum Ziel, Benachteiligungen aufgrund<br />

des Geschlechts, Alters, einer Behinderung,<br />

der Rasse oder ethnischen<br />

Herkunft, der Religion oder Weltanschauung<br />

oder der sexuellen Identität<br />

zu verhindern (s. SozSich 8–9/2006, S.<br />

296 ff.). Bei ihren Forderungen stützt<br />

sich die Antidiskriminierungsstelle auf<br />

die Ergebnisse einer Evaluation.<br />

Fristverlängerung: Derzeit müssen<br />

diskriminierte Menschen ihre Ansprüche<br />

auf Schadensersatz und/oder Entschädigung<br />

innerhalb von zwei Monaten<br />

schriftlich geltend machen. Diese<br />

Frist sollte auf sechs Monate verlängert<br />

werden.<br />

Verbandsklagerecht: Oft schrecken<br />

Betroffene davor zurück, als alleinige<br />

Kläger ihre Rechte durchsetzen. Die<br />

Befugnisse der Antidiskriminierungsverbände<br />

sollten ausgeweitet werden:<br />

durch eine sog. Prozessstandschaft<br />

und ein Verbandsklagerecht, so dass<br />

Verbände Prozesse für Betroffene führen<br />

können.<br />

Sexuelle Belästigung: Der Schutz vor<br />

sexueller Belästigung sollte über den<br />

Arbeitsplatz hinaus auf alle im AGG<br />

genannten Lebensbereiche ausgeweitet<br />

werden.<br />

Barrierefreiheit: Es sollte klargestellt<br />

werden, dass es eine verbotene Diskriminierung<br />

ist, wenn keine »angemessenen<br />

Vorkehrungen« zur Barrierefreiheit<br />

getroffen werden.<br />

Fremdpersonaleinsatz: Das AGG gilt<br />

nur bei »klassischer« Leiharbeit, nicht<br />

aber z. B. beim Einsatz von Fremdpersonal<br />

im Rahmen von Werk- oder<br />

Dienstverträgen. Auch hier müsse der<br />

Antidiskriminierungsschutz im Verhältnis<br />

zum Betriebsinhaber durch das<br />

AGG hergestellt werden.<br />

Haftung Dritter: Nach dem AGG haftet<br />

bei Beschäftigten nur der Arbeitgeber.<br />

Die Beauftragung eines Dritten – z. B.<br />

einer Personalvermittlers – dürfe aber<br />

nicht dazu führen, dass die Haftung<br />

umgangen wird. Entsprechendes sollte<br />

auch außerhalb des Arbeitsrechts gelten,<br />

z. B. im Mietverhältnis gegenüber<br />

Maklern oder Hausverwaltungen. o<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Sicherheit</strong> 8/<strong>2016</strong><br />

297


Arbeit<br />

Recht<br />

Aktuelle Gesetzesänderungen bei der Arbeitsförderung<br />

Signal für mehr Weiterbildung von Arbeitslosen<br />

Von Johannes Jakob<br />

Am 1. August sind zwei Gesetze in Kraft getreten, die für (Langzeit-)Arbeitslose und Geringqualifizierte von erheblicher<br />

Bedeutung sind: Mit dem 9. SGB-II-Änderungsgesetz wurden zahlreiche Bestimmungen der Grundsicherung<br />

für Arbeitsuchende (Hartz IV) verändert. Damit befasst sich die <strong>Soziale</strong> <strong>Sicherheit</strong> demnächst. Gleichzeitig ist<br />

seit dem 1. August das Gesetz zur Stärkung der beruflichen Weiterbildung und des Versicherungsschutzes in der<br />

Arbeitslosenversicherung in Kraft. 1 Dieses enthält zahlreiche Änderungen des SGB III (Arbeitsförderung), die vor<br />

allem auf eine verbesserte Weiterbildung abzielen. Hier werden die wichtigsten Neuerungen dazu erläutert.<br />

Stagnierende (Langzeit-)Arbeitslosigkeit<br />

Seit 2010 sind fast vier Millionen sozialversicherte Arbeitsplätze<br />

entstanden. Im gleichen Zeitraum ging die Arbeitslosigkeit<br />

aber nur um rund 400.000 zurück, seit 2012 bewegt<br />

sich fast nichts mehr. Die Zahl der gemeldeten Arbeitslosen<br />

liegt seitdem nur wenig unter drei Millionen. Es gelingt<br />

also immer weniger, Arbeitslose auf freie Arbeitsplätze zu<br />

vermitteln. Vor allem die Zahl der Langzeitarbeitslosen stagniert<br />

auf einem hohen Niveau von rund einer Million. 2<br />

Dies ist ein Alarmsignal an die Arbeitsmarktpolitik. Offensichtlich<br />

reichen ihre bisherigen Instrumente allein nicht<br />

mehr aus. Vermittlung allein genügt offensichtlich nicht.<br />

Diese Situation am Arbeitsmarkt muss genutzt werden, um<br />

einerseits den präventiven Gedanken der Arbeitsmarktpolitik<br />

zu stärken und anderseits die Beschäftigungsfähigkeit der<br />

arbeitslosen Menschen zu verbessern. 3<br />

Mit dem jetzigen Gesetz zur Stärkung der beruflichen<br />

Weiterbildung und des Versicherungsschutzes in der Arbeitslosenversicherung<br />

hat der Deutsche Bundestag einen<br />

ersten wichtigen Schritt unternommen. Die jahrelange Kritik<br />

von Gewerkschaften, Arbeitsloseninitiativen und zum<br />

Teil auch von Ökonomen, die Arbeitsmarktpolitik werde<br />

totgespart, scheint erste Wirkung zu zeigen.<br />

Nach den Hartz-Reformen setzt die Arbeitsmarktpolitik<br />

vor allem auf schnelle Vermittlung. Dieser Gedanke ist sogar<br />

ausdrücklich im SGB III verankert. 4 Dies war vor allem<br />

ein Signal an die Vermittler, die aktive Arbeitsmarktpolitik<br />

zu reduzieren. Die Stärkung der Beschäftigungsfähigkeit<br />

und die vorbeugende Arbeitsmarktpolitik traten in den<br />

Hintergrund. Die Ideen der früheren Arbeitsförderung des<br />

Arbeitsförderungsgesetzes aus dem Jahre 1969 wurden<br />

mit den Hartz-Reformen weitgehend über Bord geworfen,<br />

Kosteneffizienz trat in den Vordergrund.<br />

1 vgl. BGBl I v. 22.7. <strong>2016</strong>, S. 1710<br />

2 vgl. Wilhelm Adamy: Langzeitarbeitslose: Warum ihre Zahl seit fünf Jahren<br />

stagniert, in: SozSich 12/2015, S. 446–451<br />

3 vgl. dazu auch Wilhelm Adamy/Elena Zavlaris/Sabrina Klaus-Schelletter:<br />

DGB-Vorschläge zur Neuausrichtung der Arbeitsmarktpolitik, in: SozSich<br />

6/2014, S. 217–225<br />

4 vgl. § 4 SGB III (Vorrang der Vermittlung)<br />

5 WeGebAU = Weiterbildung Geringqualifizierter und beschäftigter älterer<br />

Arbeitnehmer in Unternehmen, vgl. dazu u. a. SozSich 272012, S. 56 und<br />

SoSiplus 2/2012, S. 8<br />

6 Einfügung eines neuen Absatzes 3 a in § 81 SGB III<br />

Die Gewerkschaften hatten bereits in der Vergangenheit<br />

Initiativen gestartet, um die Weiterbildung zu stärken.<br />

So konnte im Verwaltungsrat der Bundesagentur für<br />

Arbeit (BA) das Programm »WeGebAU« 5 initiiert werden.<br />

Zielgruppe sind ungelernte Beschäftigte und Arbeitnehmer<br />

in kleinen und mittleren Unternehmen, die so zu einer<br />

beruflichen Aus- oder Weiterbildung geführt werden konnten.<br />

Das Programm »Initiative zur Flankierung des Strukturwandels«<br />

(IFLaS), das ebenfalls außerhalb der internen<br />

BA-Steuerung läuft, fördert Arbeitslose und von Arbeitslosigkeit<br />

bedrohte Personen, die über keine Berufsausbildung<br />

verfügen, so auch Berufsrückkehrer/innen.<br />

Mehr abschlussorientierte Weiterbildungen<br />

Die Regelungen, die nun am 1. August in Kraft traten, unterstützen<br />

diese Ansätze weiter. Der Gesetzgeber stellt klar,<br />

dass auch die abschlussorientierte Weiterbildung für eine<br />

dauerhafte Eingliederung in den Arbeitsmarkt erforderlich<br />

sein kann. Diese Einfügung erfolgt in einer Ergänzung in<br />

§ 4 SGB III, in dem bisher der Vorrang der Vermittlung geregelt<br />

ist. Damit macht der Gesetzgeber deutlich, dass die<br />

Förderung einer abschlussorientierten Weiterbildung auch<br />

dann geprüft werden muss, wenn kurzfristig ein Arbeitsplatz<br />

besetzt werden könnte – z. B. in der Leiharbeit. Dies<br />

ist ein wichtiges Signal für die Mitarbeiter/innen in den<br />

Agenturen und Jobcentern. Der DGB erwartet, dass diese<br />

Änderung zu einer Ausweitung der abschlussorientierten<br />

Weiterbildung führt.<br />

Im europäischen Vergleich bewegt sich der Anteil formal<br />

Geringqualifizierter in Deutschland im Mittelfeld. Deutschland<br />

weist aber die Besonderheit auf, dass – anders als in<br />

anderen Industrieländern – ein beruflicher Abschluss eine<br />

wesentliche Voraussetzung für den Arbeitsmarktzutritt und<br />

für den stabilen Verbleib im Arbeitsmarkt darstellt. So liegt<br />

die Arbeitslosenquote formal Geringqualifizierter bei annähernd<br />

20 % und damit deutlich über dem EU-Durchschnitt.<br />

Grundkompetenzen fördern<br />

Bei vielen Arbeitsuchenden fehlt es an den nötigen Voraussetzungen<br />

für den Beginn von abschlussbezogenen<br />

Bildungsmaßnahmen. Mit einer Gesetzesänderung 6 haben<br />

die Agenturen jetzt die Möglichkeit, das Erlernen von<br />

320<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Sicherheit</strong> 8/<strong>2016</strong>


Recht<br />

Arbeit<br />

Grundkompetenzen zu fördern. Gemeint sind damit vor<br />

allem schulische Defizite in der Grundbildung, wie Lesen,<br />

Schreiben, Mathematik usw.<br />

Der DGB sieht durchaus, dass diese Regelung ordnungspolitisch<br />

problematisch ist. Die Grundkompetenzen<br />

sollten im Rahmen der allgemeinen Schulbildung vermittelt<br />

werden. Es ist nicht Aufgabe der Versichertengemeinschaft,<br />

die Defizite im schulischen Bildungssystem<br />

zu kompensieren. Dennoch ist der Ansatz pragmatisch<br />

richtig. Fehlende berufliche Qualifikation ist nach wie vor<br />

das größte Hindernis für eine stabile Integration in den<br />

Arbeitsmarkt. Wenn die Agenturen und Jobcenter diese<br />

Grundqualifikation nicht vermitteln, gibt es realistisch wenige<br />

Chancen, das Versäumte nachzuholen. Dennoch muss<br />

diese Regelung an präzise Bedingungen geknüpft werden.<br />

Gleichzeitig müssen die Länder ihre Anstrengungen<br />

verstärken, die Ausbildungsreife in den Schulen und die<br />

Hilfen beim Übergang zu verbessern. Mit dem Programm<br />

»Berufseinstiegsbegleitung« des Europäischen Sozialfonds<br />

(ESF) ist hier ein wichtiger Schritt unternommen worden.<br />

Ziel des Programms ist es, junge Menschen bereits in<br />

den Abschlussklassen »abzuholen« und in eine Berufsausbildung<br />

einzugliedern. Die einzelnen Schritte orientieren<br />

sich dabei auf das Erreichen des Schulabschlusses, die<br />

Verbesserung der Berufsorientierung und Berufswahl sowie<br />

die Aufnahme und Stabilisierung eines Berufsausbildungsverhältnisses.<br />

Dieses Programm erreicht allerdings<br />

die älteren Jahrgänge nicht mehr.<br />

Qualifizierung Beschäftigter gestärkt<br />

Mit dem neuen Gesetz werden auch die Möglichkeiten<br />

zur Qualifizierung Beschäftigter weiter verbessert. 7 Dabei<br />

sollen die Unternehmen nicht aus der Verantwortung<br />

entlassen werden. Die Weiterbildung beschäftigter Arbeitnehmer/innen<br />

ist grundsätzlich Aufgabe der Unternehmen<br />

und Beschäftigten selbst. Es zeigt sich aber, dass vor allem<br />

Geringqualifizierte von der Weiterbildung im Betrieb kaum<br />

profitieren. Gleichzeitig vergrößert eine geringe Qualifikation<br />

das Risiko der Arbeitslosigkeit deutlich.<br />

Die BA wäre überfordert, flächendeckend Weiterbildung<br />

in Unternehmen zu finanzieren. Das Programm, dessen<br />

Maßnahmen bis Ende 2020 beginnen müssen, richtet<br />

sich deswegen nur an geringqualifizierte Beschäftigte und<br />

Arbeitnehmer in kleinen und mittleren Unternehmen. Die<br />

Förderung soll dabei eine Anschubfinanzierung für die Weiterbildung<br />

sein. Gleichzeitig soll sie den Gesetzgeber, aber<br />

auch die Tarifpartner, ermuntern, die Rahmenbedingungen<br />

für die Qualifizierung von Beschäftigten zu verbessern.<br />

Bisher konnten Arbeitnehmer, die das 45. Lebensjahr<br />

vollendet und in einem Betrieb mit weniger als 250 Beschäftigten<br />

gearbeitet haben, durch die Übernahme von<br />

Weiterbildungskosten für Maßnahmen während der Arbeitszeit<br />

gefördert werden. Diese Variante wurde jetzt erweitert<br />

durch die Möglichkeit, Weiterbildungen zu fördern,<br />

die außerhalb der Arbeitszeit stattfinden. Die Regelung ist<br />

altersunabhängig, wenn sich der Arbeitgeber zu 50 % an<br />

den Kosten der Weiterbildung beteiligt und die Maßnahme<br />

vor Ende 2020 beginnt.<br />

Im so genannten Flexirentengesetz, das sich derzeit noch<br />

in der Beratung befindet, soll diese Regelung erneut erweitert<br />

werden. In Kleinbetrieben mit weniger als zehn<br />

Beschäftigten können Arbeitnehmer durch die Übernahme<br />

der vollen Weiterbildungskosten gefördert werden. Die<br />

Regelung ist altersunabhängig und unabhängig davon, ob<br />

die Weiterbildung während oder außerhalb der Arbeitszeit<br />

stattfindet. Bei Betrieben oberhalb von zehn Beschäftigten<br />

bleibt es dabei, dass der Arbeitgeber 50 % der Weiterbildungskosten<br />

tragen muss.<br />

Trotz der Notwendigkeit, berufliche Abschlüsse zu erwerben,<br />

holt nur etwa jeder siebte Geringqualifizierte im<br />

Alter von 25 bis 34 Jahren die Ausbildung nach. 8 Die Arbeitsagenturen<br />

und Jobcenter haben dazu 2013 mit dem Programm<br />

»Zweite Chance« die notwendigen Voraussetzungen<br />

geschaffen. Das Programm wurde gerade bis 2020 verlängert.<br />

Der BA-Verwaltungsrat strebt an, dass von <strong>2016</strong> bis<br />

2020 insgesamt 120.000 junge Menschen eine Berufsausbildung<br />

beginnen. In den Jahren 2013 bis 2015 gab es knapp<br />

100.000 Eintritte. Aber die Zielgruppe ist siebenmal größer.<br />

Das angestrebte Ziel ist dennoch durchaus ehrgeizig.<br />

Prämien bei bestandenen Abschlüssen<br />

Die Durchführung von Weiterbildungsmaßnahmen mit<br />

beruflichem Abschluss stößt bei vielen Arbeitsuchenden<br />

auf Vorbehalte. Je länger die Weiterbildung dauert, umso<br />

größer sind die Vorbehalte. Die Aussicht, nach einer Umschulung<br />

dauerhaft bessere Aussichten auf einen Arbeitsplatz<br />

zu haben, reicht allein anscheinend nicht aus. Dabei<br />

belegen wissenschaftliche Untersuchungen die Effekte<br />

eindeutig. Vier Jahre nach Beginn der Umschulung liegt<br />

bei Teilnehmer/innen aus dem Rechtskreis SGB III die<br />

Wahrscheinlichkeit, einer sozialversicherungspflichtigen<br />

Beschäftigung nachzugehen bei Frauen um 20 % und bei<br />

Männern immerhin um 12 % höher als bei Personen ohne<br />

Förderung. Im Rechtskreis des SGB II steigt die Beschäftigungschance<br />

bei umgeschulten Frauen um 19 % und bei<br />

umgeschulten Männern um 12 %. 9<br />

Umfragen belegen, dass vor allem die finanziellen Rahmenbedingungen<br />

hier eine entscheidende Rolle spielen.<br />

Empfänger von Arbeitslosengeld (ALG) I erhalten diese<br />

Leistung während der Weiterbildung weiter, die Empfänger<br />

von Hartz IV erhalten nur Leistungen auf der Basis der<br />

Grundsicherung. Das ist für viele – vor allem wenn sie älter<br />

sind – offensichtlich zu wenig, so dass oft die Ausbildung<br />

abgebrochen wird, wenn sich die Chance auf irgendeinen<br />

Job ergibt. Rund ein Viertel der begonnenen Weiterbildungen<br />

mit Abschluss werden vorzeitig beendet.<br />

Der DGB hat deswegen vorgeschlagen, die Teilnahme<br />

an Weiterbildung durch ein höheres ALG bzw. für Teilnehmer<br />

im Rechtskreis SGB II durch eine zusätzliche Aufwandsentschädigung<br />

zu vergüten. Das ALG I sollte um<br />

10 % angehoben werden, im SGB-II-Bereich sollten Weiter-<br />

7 durch Neuregelungen in § 131 a Abs. 1 SGB III<br />

8 vgl. auch Wilhelm Adamy: Arbeitsmarktprobleme junger Erwachsener ohne<br />

Berufsabschluss verschärfen sich, in: SozSich 12/2012, S. 423–428<br />

9 vgl. Thomas Kuppe/Julia Lang: Arbeitslose profitieren von Qualifizierungen,<br />

in: IAB-Kurzbricht 22/2015, S. 4<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Sicherheit</strong> 8/<strong>2016</strong><br />

321


<strong>Soziale</strong>s<br />

BAföG: Die neuen Leistungssätze ab diesem Wintersemester<br />

Von Rolf Winkel<br />

Zum Wintersemester (WS) <strong>2016</strong>/17 steigt das BAföG – erstmals seit 2010. Es gibt rund 7 % mehr. Viele Studierende<br />

bekommen deshalb nun erstmals oder mehr Ausbildungsförderung. Hier ein Überblick über die neuen Sätze.<br />

1. Die BAföG-Änderungen im Überblick<br />

Die Bedarfssätze für den BAföG-Grundbedarf steigen um<br />

7 %. Noch mehr steigt die Wohnpauschale. Studierende<br />

mit eigener Wohnung können nun insgesamt (einschließlich<br />

des Zuschlags fürs Wohnen und für die Kranken- und<br />

Pflegeversicherung) bis zu 735 Euro monatlich erhalten.<br />

Ebenfalls um 7 % erhöhen sich die Einkommensfreibeträge<br />

der Eltern. Neue Regelungen gelten auch für die<br />

Anrechnung des eigenen Einkommens der Studierenden.<br />

Aufgrund der erhöhten Freibeträge dürfen sie nun einen<br />

vollen 450-Euro-Job ausüben, ohne dass die Ausbildungsförderung<br />

gekürzt wird. Auch der Freibetrag für eigenes<br />

Vermögen wird deutlich um 2.300 Euro auf 7.500 Euro erhöht.<br />

Wer im Studium oder in der Schulzeit bereits Nachwuchs<br />

hat, bekommt künftig für jedes Kind einen Zuschlag<br />

von 130 Euro. Bisher waren es 113 Euro für das erste und<br />

85 Euro für jedes weitere Kind.<br />

Auch die BAföG-Sätze für Schüler/innen steigen: Diejenigen<br />

an allgemeinbildenden Schulen können jetzt bis<br />

zu 504 Euro BAföG bekommen. Die Voraussetzung: Sie<br />

können nicht bei ihren Eltern wohnen, z. B. weil die Schule<br />

mehr als zwei Stunden täglicher Wegstrecke vom Wohnsitz<br />

der Eltern entfernt ist. Hierzu können noch Zuschläge für<br />

die Kranken- und Pflegeversicherung kommen.<br />

Schüler/innen von Berufsfach-, Fachoberschulen,<br />

Abendgymnasien oder ähnlichen Einrichtungen können<br />

auch dann BAföG bekommen, wenn sie noch im Elternhaus<br />

leben. Je nach Schulform erhalten sie jetzt höchstens zwischen<br />

231 und 451 Euro beim Wohnen bei den Eltern und<br />

zwischen 504 und 649 Euro beim Wohnen in einer eigenen<br />

Wohnung. Auch hier können noch Zuschüsse zur Krankenund<br />

Pflegeversicherung hinzukommen.<br />

2. Keine regelmäßige Leistungsanpassung<br />

110.000 Studierende und Schüler/innen »rutschen« durch<br />

die höheren Sätze nach Berechnungen des Bundesbildungsministeriums<br />

neu in die Ausbildungsförderung. 2015<br />

bekamen rund 870.000 Schüler/innen und Studierende<br />

BAföG. 2011 – im Jahr nach der letzten Erhöhung – waren<br />

es rund 963.000. Ihre Zahl ist erheblich gesunken, weil das<br />

BAföG sechs Jahre lang nicht mehr angepasst wurde.<br />

Nach wie vor ist eine regelmäßige Anpassung nicht vorgesehen.<br />

Die langen Pausen zwischen den Novellierungen<br />

des Gesetzes haben immer wieder dafür gesorgt, dass ein<br />

großer Teil der eigentlich Bedürftigen aus der Förderung<br />

1 Wer höhere Werbungskosten hat, sollte diese beim BAföG-Amt unbedingt<br />

geltend machen.<br />

herausfällt. § 35 des Bundesausbildungsförderungsgesetz<br />

sieht zwar vor, dass die Bedarfssätze und Freibeträge<br />

alle zwei Jahre überprüft und »gegebenenfalls« durch<br />

Gesetz neu festgelegt werden. Dabei ist der »Entwicklung<br />

der Einkommensverhältnisse und der Vermögensbildung,<br />

den Veränderungen der Lebenshaltungskosten sowie der<br />

finanzwirtschaftlichen Entwicklung Rechnung zu tragen«,<br />

heißt es im Gesetz. Tatsächlich wurden zwar bislang alle<br />

zwei Jahre so genannte BAföG-Berichte vorgelegt. Doch Anpassungen<br />

wurden viel seltener vorgenommen. Die jetzige<br />

Anpassung ist erst die vierte seit der Jahrtausendwende.<br />

3. Der BAföG-Bedarf für Studierende<br />

In welcher Höhe ein Student BAföG beanspruchen kann,<br />

hängt von seinem »Bedarf« ab. Außerdem werden das eigene<br />

Einkommen (s. unten 6.) und Vermögen (s. 5.) sowie<br />

das Einkommen der Eltern (s. 4.) berücksichtigt.<br />

Bei der Bedarfsermittlung wird pauschal danach unterschieden,<br />

ob die Studierenden bei den Eltern wohnen oder<br />

eine eigene Wohnung haben. Wer bei den Eltern wohnt,<br />

dem wird ein Grundbedarf von 451 Euro im Monat zugestanden.<br />

Bei denen, die eine eigene Unterkunft haben,<br />

sind es 649 Euro (s. Tabelle 1). Dazu kommen ggf. noch 86<br />

Euro für Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung. Anspruch<br />

auf den Zuschlag dazu besteht, wenn die Studierenden<br />

selbst beitragspflichtig sind. Wer kostenlos über die<br />

Eltern familienversichert ist, erhält diesen Zuschlag nicht.<br />

Alles in allem ergibt sich so für einen nicht bei den Eltern<br />

lebenden Studenten eine Maximalförderung von 735 Euro.<br />

4. Anrechnung des Elterneinkommens<br />

BAföG erhalten nur Schüler/innen und Studierende, die ihren<br />

Bedarf nicht aus anderen Quellen decken können. Dabei<br />

spielt das Einkommen der Eltern eine entscheidende<br />

Rolle. Bei der Bedürftigkeitsprüfung legen die Ämter das<br />

Elterneinkommen des vorletzten Kalenderjahres zugrunde.<br />

Wer also <strong>2016</strong> BAföG beantragt, der muss den Steuerbescheid<br />

von Vater und Mutter aus dem Jahr 2014 beim<br />

Amt vorlegen.<br />

Beispiel: Ein Ehepaar hat drei Kinder, zwei davon sind<br />

Schüler und leben bei den Eltern, das dritte Kind studiert<br />

auswärts. Das Einkommen der Mutter beträgt 5.000 Euro<br />

brutto, der Vater ist Hausmann ohne Einkommen.<br />

So rechnen die Ämter in diesem Fall: Von dem Bruttogehalt<br />

der Mutter kann zunächst die Werbungskostenpauschale<br />

in Höhe von 1.000 Euro abgesetzt werden. 1 Das sind<br />

auf den Monat umgerechnet 83,33 Euro. Damit verbleibt<br />

der Familie ein anrechenbares Einkommen von 4.916,67<br />

Euro. Davon kann die Mutter eine Pauschale für Sozialver-<br />

332<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Sicherheit</strong> 8/<strong>2016</strong>


<strong>Soziale</strong>s<br />

Tabelle 1: Die neuen BAföG-Bedarfssätze für Studierende<br />

BAföG-Bedarfssatz für Studierende mit eigener Wohnung bei Eltern wohnend<br />

bisher ab WS <strong>2016</strong>/17 bisher ab WS <strong>2016</strong>/17<br />

Grundbedarf 373 E 399 E 373 E 399 E<br />

Bedarf für die Unterkunft 224 E 250 E 49 E 52 E<br />

Regelbedarf 597 E 649 E 422 E 451 E<br />

Durchlaufende Posten:<br />

Krankenversicherungszuschlag 62 E 71 E 62 E 71 E<br />

Pflegeversicherungszuschlag 11 E 15 E 11 E 15 E<br />

Maximalförderung 670 E 735 E 495 E 537 E<br />

sicherungsbeiträge in Höhe von 21,2 % abziehen. Das sind<br />

hier 1.042,33 Euro. Für Selbstständige und für Arbeitnehmer,<br />

die nicht rentenversicherungspflichtig sind, gelten<br />

andere Werte (s. Tabelle 2).<br />

Tabelle 2: Diese Beträge zur Sozialversicherung<br />

sind absetzbar (ab WS <strong>2016</strong>/17)<br />

Eltern sind<br />

Rentenversicherungspflichtige<br />

Arbeitnehmer<br />

oder Azubis<br />

Beamte, Richter,<br />

Berufssoldaten,<br />

Personen im Ruhestandsalter,<br />

sonstige<br />

Nichterwerbstätige<br />

(in %)<br />

Jährl.<br />

Absetzbar<br />

Höchstbetrag<br />

in E<br />

Monatl.<br />

Höchstbetrag<br />

in E<br />

21,2 13.000 1.083<br />

15,0 7.300 608<br />

Selbstständige 37,3 22.400 1.867<br />

Außer der Pauschale für Sozialversicherungsbeiträge mindert<br />

zusätzlich auch der Eigenbeitrag zu einer Riester-Rente<br />

das anrechenbare Einkommen. Weiterhin können die Eltern<br />

ihre 2014 gezahlten Steuern abziehen. Im Beispielfall<br />

fielen monatlich 700 Euro an Steuern an. Zieht man auch<br />

diese 700 Euro vom Bruttoeinkommen ab, so kommt man<br />

auf den Betrag, den die Ämter als Einkommen im Sinne<br />

des BAföG ansehen. Im Beispielfall sind das (4.916,67 –<br />

1042,33 – 700 =) 3.174,34 Euro.<br />

Dieser Summe wird nun das Einkommen gegenübergestellt,<br />

das das BAföG-Gesetz den Eltern mindestens als<br />

Freibetrag bzw. »Selbstbehalt« zubilligt (s. Tabelle 3).<br />

Tabelle 3: Selbstbehalte für Eltern laut BAföG<br />

(ab WS <strong>2016</strong>/17)<br />

Elternpaar<br />

Alleinstehende/<br />

geschiedene Elternteile je<br />

Stiefvater/mutter<br />

Minderjähriges Kind<br />

1.715 Euro/Monat<br />

1.145 Euro/Monat<br />

570 Euro/Monat<br />

520 Euro/Monat<br />

Insgesamt kann die Familie damit Freibeträge in Höhe von<br />

2.755 Euro (1.715 Euro für die Eltern plus 2 x 520 Euro für<br />

die Kinder) geltend machen. Ihr anrechenbares Einkommen<br />

von 3.174,34 Euro, das bei der BAföG-Berechnung berücksichtigt<br />

wird, ist damit genau um 419,34 Euro höher<br />

als der Freibetrag, welcher der Familie zugestanden wird.<br />

Diesen Unterschiedsbetrag müssen die Eltern allerdings<br />

nicht voll zur Finanzierung der Ausbildung ihres studierenden<br />

Kindes einsetzen. Die Eltern können vielmehr<br />

60 % hiervon für sich behalten (50 % für sich als Eltern und<br />

zusätzlich je 5 % für jedes minderjährige Kind). Demnach<br />

stehen ihnen 251,60 Euro vom Überschussbetrag zu. Den<br />

Restbetrag (also: 419,34 minus 251,60 =) 167,73 Euro können<br />

die Eltern – so die Rechnung des BAföG-Amtes – ihrem<br />

studierenden Kind zur Verfügung stellen.<br />

Der so errechnete Restbetrag wird vom BAföG-Maximalbedarf<br />

des Kindes abgezogen. Dieses bekommt damit<br />

vom BAföG-Amt statt des ihm im Grundsatz zustehenden<br />

Höchstbetrags von 735 Euro monatlich nur (735 – 167,73<br />

Euro =) 567,23 Euro BAföG, was auf 567 Euro abgerundet<br />

wird. Die Hälfte davon ist ein Zuschuss des Staates, die<br />

andere Hälfte ein Darlehen, das nach dem Studium in Etappen<br />

zurückgezahlt werden muss.<br />

5. Wann Vermögen eine Rolle spielt<br />

Die Ersparnisse und das Vermögen der Eltern spielen beim<br />

BAföG keine Rolle. Lediglich Erträge aus Vermögen – Mieteinnahmen<br />

und Zinsen beispielsweise – zählen hier als anrechenbares<br />

Einkommen der Mütter und Väter.<br />

Anders werden die Ersparnisse der Studierenden behandelt.<br />

Alleinstehende Studenten und Schüler dürfen nun<br />

ein Vermögen von 7.500 (bisher: 5.200) Euro haben – und<br />

bekommen dennoch die volle Förderung. Für Ehepartner<br />

und Kinder von Studierenden kommen noch weitere Freibeträge<br />

von jeweils 2.100 (bisher: 1.800) Euro hinzu. Verheiratete<br />

mit einem Kind dürfen damit insgesamt 11.700<br />

Euro an Rücklagen besitzen.<br />

Anders als bei einigen anderen Sozialleistungen werden<br />

beim BAföG Vermögen und Schulden miteinander verrechnet.<br />

Wer also 10.000 Euro Ersparnisse und gleichzeitig<br />

5.000 Euro Schulden hat, besitzt nach der Rechnung der<br />

BAföG-Ämter damit Rücklagen in Höhe von 5.000 Euro und<br />

kann damit Ausbildungsförderung bekommen.<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Sicherheit</strong> 8/<strong>2016</strong><br />

333


<strong>Soziale</strong>s im Fokus.<br />

Seiten 293– 336/ www.sozialesicherheit.de / 65. Jahrgang / ISSN 0490-1630 / D 6364<br />

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der Selbstverwaltung sowie den Versichertenältesten und den Vertrauenspersonen<br />

ihre baren Ausgaben erstatten. Bare Auslagen sind alle im Zusammenhang<br />

mit der Ausübung des Ehrenamtes anfallenden Kosten, so auch die Ausgaben<br />

für notwendige Fachliteratur wie z.B. »<strong>Soziale</strong> <strong>Sicherheit</strong>«.<br />

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