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Die Großgruppe als Selbsterfahrung in Altaussee ...

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<strong>Die</strong> <strong>Großgruppe</strong> <strong>als</strong> <strong>Selbsterfahrung</strong> <strong>in</strong> <strong>Altaussee</strong><br />

Ausbildungsperspektive<br />

Josef Shaked, Wien<br />

(Vortrag beim 20jährigen Jubiläum der Workshops <strong>in</strong> <strong>Altaussee</strong> am 7. Oktober 1995)<br />

Zunächst e<strong>in</strong>ige historische Vorbemerkungen: Gleich zu Beg<strong>in</strong>n der <strong>Altaussee</strong>r<br />

Workshops vor 20 Jahren erzählte Alice Ricciardi von neuen aufregenden Experimenten<br />

mit <strong>Großgruppe</strong>n <strong>in</strong> England, die auf großes Interesse, aber auch Ablehnung dort<br />

gestoßen s<strong>in</strong>d. Sie schlug vor, auch bei uns <strong>in</strong> <strong>Altaussee</strong> mit <strong>Großgruppe</strong>n zu arbeiten<br />

und sie <strong>als</strong> Bestandteil unseres Sett<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>zusetzen. Wir waren alle von der Idee<br />

fasz<strong>in</strong>iert, haben uns aber nicht getraut, mit diesem neuen etwas furchte<strong>in</strong>flößenden<br />

Sett<strong>in</strong>g zu arbeiten. <strong>Die</strong> natürliche Wahl fiel auf e<strong>in</strong>e Gruppenleiter<strong>in</strong>, die e<strong>in</strong>e<br />

Heimstätte für verwahrloste Jugendliche leitete und sich <strong>als</strong> Expert<strong>in</strong> auf diesem Gebiet<br />

darbot. Sie leitete aber die erste <strong>Großgruppe</strong> wie e<strong>in</strong> Feldwebel, so dass wir uns<br />

veranlasst sahen, uns von ihr zu trennen und ebenso von e<strong>in</strong>er andern Gruppenleiter<strong>in</strong>,<br />

die ihre Gruppe dirigistisch <strong>in</strong>doktr<strong>in</strong>ierte. <strong>Die</strong> Leitung der <strong>Großgruppe</strong> war wieder<br />

vakant. Schließlich habe ich mich - etwas leichts<strong>in</strong>nig - bereit erklärt, die Leitung der<br />

<strong>Großgruppe</strong> zu übernehmen, obwohl ich ke<strong>in</strong>erlei Erfahrung dar<strong>in</strong> hatte. Ich er<strong>in</strong>nerte<br />

mich aber, e<strong>in</strong>mal schon e<strong>in</strong>e <strong>Großgruppe</strong> erlebt zu haben, die e<strong>in</strong> paar Jahre zuvor <strong>in</strong><br />

Berl<strong>in</strong> von zwei Engländern - Lionel Kreeger und Jim Hume - geleitet worden war. Es<br />

handelte sich dabei um e<strong>in</strong>e Wochenendveranstaltung im privaten Rahmen, bestehend<br />

aus zwei Kle<strong>in</strong>gruppen, die zum Schluss e<strong>in</strong>e <strong>Großgruppe</strong> bildeten. <strong>Die</strong> Teilnehmer<br />

waren e<strong>in</strong> buntes Gemisch von an Gruppen <strong>in</strong>teressierte Freudianer, Adlerianer,<br />

Jungianer, Schulz-Henckeianer und Dase<strong>in</strong>ianer. Michael Hayne war übrigens auch<br />

dabei, ohne dass wir uns dam<strong>als</strong> gekannt hätten. <strong>Die</strong> zwei Engländer eröffneten die<br />

<strong>Großgruppe</strong> mit der Schilderung ihrer Gefühle <strong>als</strong> Gäste <strong>in</strong> Deutschland zum ersten Mal<br />

seit dem Krieg, ihre ambivalenten Gefühle den ehemaligen Fe<strong>in</strong>den gegenüber und ihre<br />

Angst vor der Reaktion der Deutschen auf sie. <strong>Die</strong> deutschen Teilnehmer (ich war der<br />

e<strong>in</strong>zige Nichtdeutsche unter den 20 Teilnehmern) beeilten sich, den beiden<br />

Gruppenleitern zu versichern, dass sie gar ke<strong>in</strong>e Probleme mit den Engländern und gar<br />

ke<strong>in</strong>e fe<strong>in</strong>dseligen Gefühle ihnen gegenüber hätten. Anschließend verkaufte Kreeger an<br />

Interessenten se<strong>in</strong>en gerade erschienenen aber noch nicht im Buchhandel erhältlichen<br />

Sammelband über die <strong>Großgruppe</strong> und erzählte über se<strong>in</strong>e Erfahrungen mit<br />

<strong>Großgruppe</strong>n <strong>in</strong> England. Ich erzähle diese Episode etwas ausführlich, um die<br />

Diskrepanz zwischen den aufregenden Schilderungen des befremdlichen Phänomens<br />

<strong>Großgruppe</strong> im Buch und me<strong>in</strong>em eher enttäuschenden Erlebnis mit dieser gemütlichen<br />

kle<strong>in</strong>en <strong>Großgruppe</strong> <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, die ke<strong>in</strong>en besonderen E<strong>in</strong>druck bei mir h<strong>in</strong>terlassen hat.<br />

Später erlebte ich e<strong>in</strong>e ähnliche Enttäuschung bei der <strong>Großgruppe</strong> <strong>in</strong> London, die unter<br />

der Bezeichnung Plenum lief. Das war e<strong>in</strong>e eher <strong>in</strong>formelle Veranstaltung, wo über<br />

Theorie und Organisation diskutiert wurde, mit gelegentlichen gefühlsmäßigen<br />

Äußerungen zwischendurch, vergleichbar <strong>als</strong>o mit unserem Plenum <strong>in</strong> <strong>Altaussee</strong>.<br />

Aufgrund dieser Erfahrungen war ich entschlossen, die <strong>Großgruppe</strong> <strong>in</strong> <strong>Altaussee</strong>


ke<strong>in</strong>esfalls <strong>als</strong> anekdotisch-gemütliche Diskussionsrunde, sondern im analytischen<br />

Sett<strong>in</strong>g zu führen. <strong>Die</strong> erste <strong>Großgruppe</strong> unter me<strong>in</strong>er Leitung, bestehend aus gezählten<br />

sechzehn Teilnehmern und e<strong>in</strong>em Hund, wurde aus vier w<strong>in</strong>zigen Kle<strong>in</strong>gruppen<br />

zusammengesetzt. Ich forderte die Teilnehmer auf, frei zu assoziieren, versuchte die<br />

E<strong>in</strong>fälle zu deuten und beantwortete Fragen mit Deutungen. <strong>Die</strong> Kle<strong>in</strong>gruppenleiter<br />

saßen dam<strong>als</strong> ebenfalls im Kreis, wir waren <strong>als</strong>o <strong>in</strong>sgesamt zwanzig Personen. Ich kann<br />

mich noch an me<strong>in</strong>e damalige Angst vor dieser großen Anzahl von Teilnehmern<br />

er<strong>in</strong>nern. <strong>Die</strong> Gruppenmitglieder assoziierten <strong>als</strong>o frei und der Hund bellte frei mit. <strong>Die</strong><br />

Gruppe verlief recht stürmisch, und die Teilnehmer taten ihr bestes, um die<br />

Gruppenleiter gegene<strong>in</strong>ander auszuspielen, was ihnen auch manchmal gelang. <strong>Die</strong><br />

Gruppenleiter reagierten zum Teil schweigend, zum Teil aggressiv und defensiv, und<br />

zum Teil deutend auf die Angriffe der Gruppenmitglieder, und ich machte verzweifelte<br />

Versuche, das gesamte Geschehen zu kommentieren, ohne mich <strong>in</strong> das<br />

Gruppengeschehen zu verstricken - e<strong>in</strong> Unterfangen, das mir nicht immer gelungen ist.<br />

Im Laufe der Zeit wurde die <strong>Großgruppe</strong> größer, und dementsprechend änderte sich ihr<br />

Sett<strong>in</strong>g. Wir fanden heraus, dass die Übertragung besser bearbeitbar war, wenn sie auf<br />

e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen Gruppenleiter konzentriert war. Ich entwickelte me<strong>in</strong>en eigenen<br />

Interventionsstil, wurde direkter im Umgang mit der Gruppe, weniger abgehoben und<br />

abstrakt, verwendet mehr die erlebnisnahe Sprache der Gruppenmitglieder. Der Humor<br />

<strong>als</strong> spezifisches Stilmittel der <strong>Großgruppe</strong> hat sich <strong>als</strong> brauchbar erwiesen im Umgang<br />

mit den bedrohlichen Ängsten, und zwar sowohl <strong>in</strong> me<strong>in</strong>en Interventionen, <strong>als</strong> auch<br />

seitens der Gruppenmitglieder. Als die Teilnehmerzahl fünfzig überstieg, übersiedelten<br />

wir mit der <strong>Großgruppe</strong> von der Villa Platen <strong>in</strong>s Seehotel, und <strong>als</strong> das Seehotel dam<strong>als</strong><br />

schließen musste wegen der teilweisen Umwandlung <strong>in</strong> Apartments, übersiedelte sie <strong>in</strong>s<br />

Volkshaus. E<strong>in</strong>ige Jahre später kehrte die <strong>Großgruppe</strong> <strong>in</strong>s Hotel am See zurück. All<br />

diese Umstellungen erzeugten e<strong>in</strong>e große Unsicherheit <strong>in</strong> der <strong>Großgruppe</strong> und im<br />

gesamten Workshop. E<strong>in</strong> Element des Sett<strong>in</strong>gs blieb jedoch unverändert vom Anfang an<br />

und vermittelte e<strong>in</strong> Gefühl der Sicherheit, nämlich die Eröffnung und Beendigung jedes<br />

Workshops mit der <strong>Großgruppe</strong>. <strong>Die</strong>s wurde zu e<strong>in</strong>em Markenzeichen der Workshops<br />

von <strong>Altaussee</strong>. <strong>Die</strong> Idee dah<strong>in</strong>ter war, die Teilnehmer gleich zu Beg<strong>in</strong>n mit der<br />

Fremdheit und Kälte der Begegnung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er unstrukturierten <strong>Großgruppe</strong> zu<br />

konfrontieren. <strong>Die</strong> Arbeit <strong>in</strong> den Kle<strong>in</strong>gruppen gewann dadurch nach unserer Erfahrung<br />

an Intensität <strong>als</strong> es bei e<strong>in</strong>em sanfteren E<strong>in</strong>stieg der Fall wäre. <strong>Die</strong> Intimität der<br />

Kle<strong>in</strong>gruppe bildet e<strong>in</strong> Gegenpol zum Chaos der <strong>Großgruppe</strong>. Im Laufe der Woche wird<br />

die <strong>Großgruppe</strong> vertrauter, manchmal dient sie sogar <strong>als</strong> Zuflucht vor der Enge der<br />

Kle<strong>in</strong>gruppen. Am Ende der Woche dient die <strong>Großgruppe</strong> <strong>als</strong> Ort der Reflexion des<br />

Geschehens und der geme<strong>in</strong>samen Bearbeitung der durchgemachten Erfahrungen. Sie<br />

bildet den Übergang zwischen dem Workshop und der Außenwelt. Jetzt ersche<strong>in</strong>t die<br />

Außenwelt mit ihren Normen und Ritualen <strong>als</strong> fremd, und die Frage wird erörtert, was<br />

bleibt von der gruppenanalytischen Erfahrung nach der Rückkehr <strong>in</strong> den Alltag übrig.<br />

<strong>Die</strong>se letzte Sitzung der <strong>Großgruppe</strong> dient oft zur Bestandsaufnahme und kritischen<br />

Ause<strong>in</strong>andersetzung mit den eigenen Werten und Perspektiven. Dabei wird es klar, dass<br />

analytische Arbeit nicht nur <strong>in</strong> Kle<strong>in</strong>gruppen, sondern auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em größeren Rahmen<br />

s<strong>in</strong>nvoll und möglich ist. Es ist bee<strong>in</strong>druckend zu erleben, wie sich e<strong>in</strong>e amorphe Masse<br />

<strong>in</strong>nerhalb weniger Tage <strong>in</strong> e<strong>in</strong> vertrauliches und sensibles Gefüge von Beziehungen<br />

verwandeln kann. <strong>Die</strong>s geschieht jedoch nicht ohne größere Verstrickungen, Irrwegen<br />

und Konflikten. Der E<strong>in</strong>zelne bekommt dabei E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> die eigene Unsicherheit und<br />

Verführbarkeit.<br />

Der Abschied <strong>in</strong> den Kle<strong>in</strong>gruppen zielt auf die Auflösung der ödipalen Verstrickung <strong>in</strong><br />

der K<strong>in</strong>dheit und <strong>in</strong> der Übertragungssituation. <strong>Die</strong> <strong>Großgruppe</strong> h<strong>in</strong>gegen beschäftigt<br />

sich eher mit der Verstrickung <strong>in</strong> den irrealen Illusionen und Größenideen. Sie muss die


narzisstischen Versuchungen überw<strong>in</strong>den, und e<strong>in</strong>e Brücke zur äußeren Realität bilden,<br />

um die Kluft zwischen Innen- und Außenwelt überw<strong>in</strong>den zu können. Insofern ist die<br />

<strong>Großgruppe</strong> e<strong>in</strong> B<strong>in</strong>deglied zwischen der K<strong>in</strong>dheitsfamilie, wie sie sich <strong>in</strong> den<br />

Kle<strong>in</strong>gruppen widerspiegelt, und den größeren gesellschaftlichen Verbänden, mit denen<br />

wir lebenslang zu tun haben. <strong>Die</strong> <strong>Großgruppe</strong> widerspiegelt gesellschaftliche<br />

Verhältnisse mit den Konflikten zwischen den Generationen und dem<br />

Geschlechterkampf. Wir steigen <strong>in</strong> der <strong>Großgruppe</strong> aus unseren Alltagsrollen und<br />

lernen, unsere Masken und Klischees kritisch zu betrachten. Dabei gel<strong>in</strong>gt es<br />

gelegentlich <strong>in</strong> der <strong>Großgruppe</strong>, uns über unsere Schwächen zu erheben und e<strong>in</strong>e<br />

tolerantere Haltung uns und anderen gegenüber e<strong>in</strong>zunehmen. Bedauerlicherweise<br />

gel<strong>in</strong>gt uns solche heitere Gelassenheit nur selten, aber die Er<strong>in</strong>nerung daran verblasst<br />

bald. Was von der <strong>Selbsterfahrung</strong> <strong>in</strong> der <strong>Großgruppe</strong> im Alltag bleibt, ist vielleicht e<strong>in</strong>e<br />

bessere Wahrnehmung unserer Grenzen und etwas weniger Angst vor unserer<br />

Irrationalität. Wenn dieses Ziel verfehlt, was oft genug geschieht, bleibt die <strong>Großgruppe</strong><br />

<strong>in</strong> ihren Größenphantasien verfangen, ohne Perspektive auf e<strong>in</strong>e reale Änderung. Meist<br />

wird e<strong>in</strong> mehr oder weniger gelungener Kompromiss erreicht. Es ist e<strong>in</strong> Zeichen der<br />

Reife, wenn die <strong>Großgruppe</strong> ihre Grenzen erkennt und Trauerarbeit leisten kann.<br />

Wichtig <strong>in</strong> der <strong>Selbsterfahrung</strong> <strong>in</strong> der <strong>Großgruppe</strong> ist auch das Erleben der Grenze<br />

zwischen Vernunft und Wahn. <strong>Die</strong> <strong>Großgruppe</strong> überschreitet diese Grenze und ist fähig,<br />

diesen Vorgang zu reflektieren. Sie lernt, den Wahn nicht nur <strong>als</strong> Mangel an Vernunft,<br />

sondern auch <strong>als</strong> Gegenpol und Korrektiv zum rationalen Denken zu begreifen. <strong>Die</strong><br />

Absurdität des Geschehens, die <strong>in</strong> der <strong>Großgruppe</strong> ursprünglich <strong>als</strong> befremdlich und<br />

bedrohlich erlebt wird, kann dann <strong>in</strong>tegriert werden. Man lernt, unseren vertrauten<br />

Alltag auch von se<strong>in</strong>er absurden Seite zu begreifen. <strong>Die</strong> <strong>Großgruppe</strong> lehrt uns, das<br />

Psychotische <strong>in</strong> uns und dadurch auch die Psychotiker besser zu verstehen.<br />

<strong>Die</strong> Reflexion der Wechselwirkung zwischen der <strong>Großgruppe</strong> und den Kle<strong>in</strong>gruppen ist<br />

ebenfalls e<strong>in</strong> Merkmal der Workshops <strong>in</strong> <strong>Altaussee</strong>. Es ist spannend, die vielfältigen<br />

Beziehungen zwischen dem Geschehen <strong>in</strong> der <strong>Großgruppe</strong> und den Kle<strong>in</strong>gruppen zu<br />

verfolgen. Probleme aus den Kle<strong>in</strong>gruppen werden <strong>in</strong> der <strong>Großgruppe</strong> wiederholt und<br />

bearbeiten und kommen dann <strong>in</strong> veränderter Form <strong>in</strong> die Kle<strong>in</strong>gruppen zurück. Das<br />

gleiche Geschehen bekommt <strong>in</strong> der <strong>Großgruppe</strong> e<strong>in</strong>e andere Färbung <strong>als</strong> <strong>in</strong> der<br />

Kle<strong>in</strong>gruppe. Es ist elementarer und plakativer, hat e<strong>in</strong>en mehr öffentlichen Charakter.<br />

In der Kle<strong>in</strong>gruppe ist das gleiche Geschehen <strong>in</strong>timer und differenzierter. In der<br />

<strong>Großgruppe</strong> ist es regressiver und plakativer, <strong>in</strong> der Kle<strong>in</strong>gruppe auf höherer<br />

Entwicklungsebene. Es ist so möglich, Probleme auf archaischer und ödipaler Ebene<br />

zugleich anzugehen.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Großgruppe</strong> eignet sich gut zur Behandlung von großen gesellschaftlichen<br />

Problemen, wie die Beziehungen zwischen den Geschlechtern, den Generationen,<br />

verschiedenen Kulturen. <strong>Die</strong> Teilnahme unserer Stipendiaten aus Osteuropa bedeutet<br />

trotz oder wegen der Verständigungsschwierigkeiten e<strong>in</strong>e ausgesprochene Bereicherung<br />

für die <strong>Großgruppe</strong>. Sie ermöglicht uns, die eigenen Wertmaßstäbe und Gewohnheiten<br />

gewissermaßen von außen zu betrachten und <strong>in</strong> Frage zu stellen, und dadurch das<br />

Fremde <strong>in</strong> uns zu entdecken.<br />

Das Erleben unserer eigenen Fremdheit ist viel <strong>in</strong>tensiver <strong>in</strong> der <strong>Großgruppe</strong> <strong>als</strong> <strong>in</strong> der<br />

Kle<strong>in</strong>gruppe. <strong>Die</strong> Ich-Grenzen verwischen sich und die Ich-Funktionen, wie das Denken<br />

und die Realitätsprüfung, stehen uns nur <strong>in</strong> verm<strong>in</strong>dertem Ausmaß zur Verfügung. Das<br />

magische Denken und primitive Abwehrmechanismen treten vermehrt <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung.<br />

Um diesen bedrohlichen Zustand zu beschreiben, aber auch um ihn zu überw<strong>in</strong>den,<br />

bedient sich die <strong>Großgruppe</strong> e<strong>in</strong>er bilderreichen Sprache, die an primitive Mythologien<br />

er<strong>in</strong>nert. <strong>Die</strong> <strong>Großgruppe</strong> wird zunächst <strong>als</strong> e<strong>in</strong>e archaische Mutter, ernährend und<br />

verschl<strong>in</strong>gend zugleich erlebt. Wie die <strong>Großgruppe</strong> mit diesem Erlebnis umgeht,


illustriert das Beobachtungsprotokoll e<strong>in</strong>er ersten Stunde, verfasst von Gisela Landwehr,<br />

aus dem ich e<strong>in</strong>e Sequenz entnehmen möchte:<br />

Nachdem e<strong>in</strong>e große Angst vor dem Aufgehen <strong>in</strong> der anonymen Masse herrschte,<br />

entwickelt die Gruppe das witzige Bild e<strong>in</strong>es amorphen, schlabberigen Pudd<strong>in</strong>gs. Der<br />

Pudd<strong>in</strong>g verkörpert die Angst vor der Auflösung <strong>in</strong> der anonymen Masse, gleichzeitig<br />

wird er <strong>als</strong> nahrhaft und süß schmeckend phantasiert, er dient <strong>als</strong>o <strong>als</strong> Symbol der<br />

ambivalent besetzten archaischen Mutter bzw. der guten und der bösen Brust. Das<br />

ursprüngliche Lähmungsgefühl der Gruppe weicht später e<strong>in</strong>em lustvollen assoziativen<br />

Phantasiespiel, wobei die Angst vor dem Zerfall der <strong>in</strong>dividuellen Grenzen durch<br />

exhibitionistische Lust überkompensiert wird. In der Phantasie strampelt die Gruppe im<br />

Pudd<strong>in</strong>g und p<strong>in</strong>kelt h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, die Männer wetteifern mite<strong>in</strong>ander, wer am schönsten,<br />

höchsten, wackeligsten p<strong>in</strong>keln kann. Als die Gruppe ihre polymorph-perversen<br />

Phantasien entwickelt, werden die Scham- und Zensurgrenzen herabgesetzt. So entsteht<br />

die witzige Phantasie von der Gruppe <strong>als</strong> Hexenkessel. Der Gruppenleiter <strong>als</strong> Oberteufel<br />

wird ausgestoßen, nachdem er die Gruppe mit Hexen- und Teufelsk<strong>in</strong>dern geschwängert<br />

hat. <strong>Die</strong> Frauen greifen das mythologische Bild der Europa auf, die mit dem Stier<br />

Unzucht treibt.<br />

Wie kann nun der Gruppenleiter auf e<strong>in</strong>e solche manische Verarbeitung paranoider<br />

Ängste <strong>in</strong> der <strong>Großgruppe</strong> reagieren? Ich habe gelernt, damit humorvoll umzugehen.<br />

Wenn der Gruppenleiter auf so e<strong>in</strong>er regressiven Entwicklung <strong>in</strong> der <strong>Großgruppe</strong><br />

ernsthaft reagiert, schüchtert er die Gruppe e<strong>in</strong> und hemmt vom Über-Ich her ihre<br />

weitere Entwicklung. H<strong>in</strong>gegen f<strong>in</strong>det bei e<strong>in</strong>em nachsichtigen, verständnisvollen<br />

Mitgehen mit der Gruppe - entgehen manchen Befürchtungen - ke<strong>in</strong>e maligne<br />

Regression statt. <strong>Die</strong> Gruppe beg<strong>in</strong>nt nach e<strong>in</strong>iger Zeit von sich aus, ihr Verhalten<br />

kritisch zu betrachten und sich ihren Problemen ernsthaft zu stellen. Sie durchschaut<br />

ihre scham- und schuldlosen Spiele. <strong>Die</strong> Gruppenmitglieder übernehmen die<br />

Verantwortung für das Geschehen <strong>in</strong> der Gruppe. Es dom<strong>in</strong>ieren nicht mehr die<br />

aggressiven k<strong>in</strong>dlichen Phantasien, sondern e<strong>in</strong>e reifere Form der Ironie und<br />

Selbstironie, die Kohut <strong>als</strong> e<strong>in</strong> Reifekriterium ansieht.<br />

Me<strong>in</strong>e Rolle <strong>in</strong> der Gruppe wandelt sich vom Verführer zur Regression <strong>in</strong> die e<strong>in</strong>es<br />

wohlwollenden Begleiters und Interpreten des Gruppengeschehens. Es ist e<strong>in</strong>e<br />

Gratwanderung zwischen dem Mitagieren und der ironischen Distanz. Manchmal<br />

verstricke ich mich <strong>in</strong> die Gruppenphantasie oder werde verführt, me<strong>in</strong>e narzisstischen<br />

Bedürfnisse <strong>in</strong> und durch die Gruppe zu befriedigen. Wenn ich mich dabei ertappe,<br />

versuche ich me<strong>in</strong> Verhalten zu ändern.<br />

<strong>Die</strong>se Ausführungen zeigen, dass die <strong>Großgruppe</strong> auch e<strong>in</strong> Experimentierfeld ist, wo<br />

sowohl die Gruppe <strong>als</strong> auch der Gruppenleiter spielerisch erproben können, was dann <strong>in</strong><br />

den Kle<strong>in</strong>gruppen auf e<strong>in</strong>er persönlicheren Ebene bearbeitet werden kann. Dadurch<br />

kann das gleiche Geschehen auf e<strong>in</strong>em archaischen und auf ödipalen Ebene stattf<strong>in</strong>den.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Großgruppe</strong> widerspiegelt gesellschaftliche Verhältnisse. Sie teilt sich <strong>in</strong> Verführer<br />

und Verführte. <strong>Die</strong> schweigende Mehrheit ist leicht lenkbar, weil sie das Chaos fürchtet,<br />

wenn aber ihre Erwartungen enttäuscht s<strong>in</strong>d, hat sie die Macht, die Gefolgschaft zu<br />

verweigern, die Protagonisten zu stürzen und durch neue zu ersetzen.<br />

Zusammenfassend lässt sich etwas plakativ sagen, dass die <strong>Großgruppe</strong> der Ort der<br />

Begegnung mit dem Fremden und den Fremden, aber auch der Freiheit und<br />

Grenzenlosigkeit ist. <strong>Die</strong> Kle<strong>in</strong>gruppe h<strong>in</strong>gegen ist der Ort der Vertrautheit und der<br />

Intimität, aber auch der E<strong>in</strong>engung und Verstrickung. Im Laufe der Woche verwischen<br />

sich diese scharfen Gegensätze. <strong>Die</strong> <strong>Großgruppe</strong> kann <strong>in</strong>tim und die Kle<strong>in</strong>familie fremd<br />

werden.


In beiden Gruppenformen unternehmen wir e<strong>in</strong>e Reise <strong>in</strong> die Vergangenheit. In der<br />

Kle<strong>in</strong>gruppe begegnen uns vertraute Gestalten, die wir lieben und hassen, mit denen wir<br />

lebenslang verstrickt s<strong>in</strong>d und aus deren Fängen wir uns nur schwer befreien können. In<br />

der <strong>Großgruppe</strong> unternehmen wir e<strong>in</strong>e Reise <strong>in</strong> e<strong>in</strong> fremdes Land, wo wir unsere<br />

k<strong>in</strong>dliche Unschuld wieder zu f<strong>in</strong>den hoffen. Im k<strong>in</strong>dlichen Paradies, wo Gut und Böse<br />

nicht unterschieden werden können, hoffen wir <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er zeitlosen Welt zu leben, ohne<br />

Tod und Leid. Unterwegs begegnen uns allerlei Ungeheuer und Gespenster. Es s<strong>in</strong>d<br />

unsere nächsten Bezugspersonen. <strong>Die</strong> verlorene k<strong>in</strong>dliche Unschuld f<strong>in</strong>den wir nie,<br />

dafür liefern wir uns Schlammschlachten und verstricken uns <strong>in</strong> alte Schuld und Scham.<br />

Gestärkt durch diese Kämpfe und bewaffnet mit neuen alten Illusionen, alles anders<br />

machen zu können, treten wir die Heimreise <strong>in</strong> den vertrauten Alltag an. Und nun stellt<br />

sich die Gretchenfrage, was gew<strong>in</strong>nen wir bei dieser Odyssee? Auf diese Frage gibt es<br />

nur Bruchstücke e<strong>in</strong>er Antwort. <strong>Die</strong> def<strong>in</strong>itive Antwort auf diese Frage muss ich Ihnen<br />

schuldig bleiben, hoffe sie aber <strong>in</strong> zwanzig Jahren bei unserem nächsten Jubiläum geben<br />

zu können.

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