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003 Life is all memory. - untitled – The State of the Art

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ilya kabakov<br />

Die Toilette<br />

1992, documenta IX, Kassel<br />

DIE WELT WAR ILyA KABAKOV NIE GE-<br />

NUG. Einmal wollte er von seinem Appartement<br />

in Moskau sogar ins Welt<strong>all</strong><br />

fliegen, wenn auch nur in einer Inst<strong>all</strong>ation<br />

mit dem wunderschönen poet<strong>is</strong>chen<br />

Titel „Der Mann, der aus seiner<br />

Wohnung ins Welt<strong>all</strong> flog“. Mal stellte<br />

er das Leben in der Sowjetunion als<br />

eine Welt der Fliegen dar, ein anderes<br />

Mal packte er eine typ<strong>is</strong>che Wohnung<br />

seiner ehemaligen Heimat zur Gänze<br />

in eine Toilette. Eine einzige person<br />

zu sein, das behagte ihm auch sein ganzes<br />

Leben lang nicht. So erfand er immer<br />

wieder pseudonyme, unter denen<br />

er seine Kunst der Öffentlichkeit präsentierte,<br />

das berühmteste <strong>is</strong>t charles<br />

Rosenthal. Vielleicht hat es mit seiner<br />

traumat<strong>is</strong>chen Kindheit zu tun, dass er<br />

in vielen Werken seiner langen künstler<strong>is</strong>chen<br />

Laufbahn immer wieder die Erinnerung<br />

an Erlebn<strong>is</strong>se seiner Vergangenheit<br />

darin aufleben lässt. Denn im<br />

Großen und Ganzen hat seine Kunst<br />

ein einziges <strong>The</strong>ma: sein eigenes Leben.<br />

ILyA JOSSIFOWITScH KABAKOV WIRD<br />

AM 30. SEpTEMBER 1933 in Dnepropetrovsk<br />

in der heutigen Ukraine als Sohn<br />

der jüd<strong>is</strong>chen Buchhalterin Bertha Solodukhina<br />

und des Schlossers Joseph Kabakov<br />

geboren. Josef Stalin <strong>is</strong>t bereits<br />

seit 1922 Generalsekretär des Zentralkomitees<br />

der KpdSU und führt die<br />

Sowjetunion diktator<strong>is</strong>ch. Die Familie<br />

<strong>is</strong>t arm, später wird der erwachsene<br />

„Meine Kinderseele war<br />

traumat<strong>is</strong>iert von der<br />

Tatsache, dass weder<br />

meine Mutter noch ich<br />

je eine Ecke mal für uns<br />

selbst hatten.“<br />

Künstler <strong>of</strong>fen gestehen, dass er <strong>of</strong>t gehungert<br />

hat. Der Vater, der als hart beschrieben<br />

wird, kämpft an der Front im<br />

Zweiten Weltkrieg und fällt im Kampf,<br />

als Ilya noch ein kleiner Junge <strong>is</strong>t. Im<br />

Alter von nicht einmal acht Jahren wird<br />

er mit der Mutter aufgrund ihrer jüd<strong>is</strong>chen<br />

Volkszugehörigkeit 1941 nach<br />

Samarkand in der Ukraine umgesiedelt.<br />

Man muss sich diesen Ortswechsel<br />

auch geograf<strong>is</strong>ch vor Augen führen:<br />

Dabei <strong>is</strong>t nach heutigen Re<strong>is</strong>emöglichkeiten<br />

eine Strecke von knapp 4000 Kilometern<br />

zurückzulegen. In seiner neuen<br />

Heimatstadt besucht der Junge dann<br />

b<strong>is</strong> zu seinem zwölften Lebensjahr die<br />

ebenf<strong>all</strong>s nach Samarkand verlegte Leningrader<br />

Kunstschule.<br />

Doch die Aufnahme verdankt er einer<br />

dre<strong>is</strong>ten Lüge. Ein Freund Kabakovs<br />

verleitet den Jungen in der Aussicht<br />

auf die Betrachtung von gemalten<br />

Frauenakten, in der Nacht gemeinsam<br />

durch ein Fenster ins Schulgebäude<br />

einzusteigen. Sie werden erw<strong>is</strong>cht und<br />

rechtfertigen ihr Eindringen durch die<br />

vorgetäuschte Tatsache, dass Ilya Kabakov<br />

an der Schule studieren will. Er<br />

reicht daraufhin ein paar Bilder ein, Militärszenen,<br />

die sich auf eine Truppe beziehen,<br />

die in der Gegend stationiert <strong>is</strong>t,<br />

und er wird aufgenommen. Er <strong>is</strong>t auch<br />

der einzige Bewerber. Also kommt er<br />

zur Kunst eigentlich durch puren Zuf<strong>all</strong>.<br />

Und es fällt ihm auch gar nicht<br />

leicht, an der Schule zeichnen zu lernen.<br />

Er <strong>is</strong>t permanent frustriert von seinen<br />

unzulänglichen Fähigkeiten. Später<br />

einmal, schon in den USA lebend,<br />

sagt er in einem Interview: „Ich setzte<br />

also mein Studium fort, obwohl ich<br />

es gar nicht mochte. Meine Verhältn<strong>is</strong><br />

dazu war demjenigen eines dressierten<br />

Kaninchens ähnlich, das die Trommel<br />

schlägt: Es muss lernen, es zu tun,<br />

ohne es innerlich zu wollen, ja sogar einen<br />

Ekel dabei zu empfinden. Und letztlich<br />

lernte ich eben, die Trommel ganz<br />

passabel zu schlagen, aber die ganze<br />

Zeit dachte ich dabei, dass das gar<br />

nicht ich wäre.“ Dann marschieren die<br />

72 Frühjahr 2012 <strong>untitled</strong> <strong>003</strong><br />

deutschen Kriegsmächte in die Sowjetunion<br />

ein und Kabakov wird mit seiner<br />

Mutter wieder an einen anderen Ort<br />

gebracht, ins „Heilige Dreifaltigkeits-<br />

Kloster“ in Zagorsk, er kehrt aber bald<br />

wieder nach Samarkand zurück.<br />

NACH ENDE DES ZwEITEN wElT-<br />

KRIEGES übersiedelt die Mutter mit<br />

dem inzw<strong>is</strong>chen Zwölfjährigen auf<br />

Drängen der lehrerin nach Moskau.<br />

wieder sind mehr als dreieinhalbtausend<br />

Kilometer zu überwinden. Das<br />

sind zu dieser Zeit unglaubliche Re<strong>is</strong>estrapazen,<br />

denen sie sich mit ihrem<br />

Kind aussetzt. Dazu gehört auch ein<br />

großer wille, das leben und die Zukunft<br />

des einzigen Kindes zu gestalten.<br />

Aber wirtschaftlich <strong>is</strong>t das nach<br />

wie vor eine sehr schwierige Zeit für<br />

die Kleinfamilie. Kabakov erzählt später<br />

im Interview, wie für ihn in der Erinnerung<br />

die lebensbedingungen damals<br />

sind: „Meine Mutter hatte keine dauerhafte<br />

Aufenthaltsgenehmigung. Daher<br />

nahm sie einen Posten als wäscherin<br />

an der Schule an, auf die ich ging.<br />

Aber ohne eine eigene wohnung war<br />

der Raum, in dem sie die wäsche zum<br />

Trocknen aufhing, der einzige Ort, um<br />

zu leben. Meine Mutter fühlte sich heimatlos<br />

und wehrlos gegenüber den örtlichen<br />

Autoritäten, während sie auf der<br />

anderen Seite so d<strong>is</strong>zipliniert und akkurat<br />

war, dass ihre Aufrichtigkeit und<br />

Hartnäckigkeit es ihr ermöglichten, sogar<br />

an einem sehr unmöglichen Ort ihr<br />

Dasein zu fr<strong>is</strong>ten. Aber meine Kinderseele<br />

war traumat<strong>is</strong>iert von der Tatsache,<br />

dass weder meine Mutter noch ich<br />

je eine Ecke mal für uns selbst hatten.“<br />

Nach dem Krieg besucht Ilya Kabakov<br />

b<strong>is</strong> 1951 also eine <strong>Art</strong> Kunstgymnasium<br />

und schließt seine Ausbildung<br />

am Surikov-Kunstinstitut 1957 ab.<br />

Das Fertigen von Kunst, sagt er später,<br />

bleibt aber weiter eine Qual für ihn. Seine<br />

Ausbildung <strong>is</strong>t nach seinen worten<br />

klass<strong>is</strong>ch, ähnlich einem Kunststudium<br />

im 19. Jahrhundert, aber sehr bürokrat<strong>is</strong>ch<br />

und leblos: „wir waren zwar <strong>all</strong>e<br />

<strong>untitled</strong> <strong>003</strong> Frühjahr 2012<br />

phys<strong>is</strong>ch da, aber mental waren wir abwesend.“<br />

Aufgrund seiner nicht gerade<br />

außerordentlichen Fähigkeiten wurde<br />

er in die Grafikklasse gesteckt, nicht<br />

in die der Malerei, in der nur die besten<br />

Schüler sein durften. Und diese D<strong>is</strong>ziplin<br />

sagte ihm außerordentlich zu. Er<br />

war dabei, zu einem später sehr erfolgreichen<br />

Buchillustrator zu werden: „Ich<br />

las dauernd, ich war verrückt nach Büchern.<br />

Und ich kommentierte innerlich<br />

<strong>all</strong>es, was ich sah. In mir spreche ich<br />

dauernd mit mir selber, wenn ich zum<br />

Be<strong>is</strong>piel vor einem Gemälde stehe. Und<br />

Selbstporträt<br />

1962, Öl auf Leinwand, 60 x 50,5 cm<br />

ich war nicht nur erfolgreich in meinem<br />

Tun, weil ich darin gut war, sondern ich<br />

war auch gut darin, das zu illustrieren,<br />

was man von mir erwartete.“<br />

Gruppen formieren sich außerhalb<br />

der Klassen. Bei Kabakov sind es<br />

die Kollegen Erik Bulatov, Oleg Vassilyev<br />

und Mikhail Mezhaninov, die sich<br />

zu einer Clique formieren. In Künstlern<br />

wie Robert Falk, Vladimir Favorsky<br />

und <strong>Art</strong>ur Fonvizin finden sie schließlich<br />

Mentoren. Man muss sich <strong>all</strong>erdings<br />

vor Augen führen, dass dies keine<br />

<strong>of</strong>fiziellen Sowjetkünstler waren, da ihr<br />

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