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kultur<br />
Auszüge aus Helma Sages Reisebericht in die italienische Lagunenstadt<br />
Erzählung: „Verirrungen in Venedig“<br />
Was tut man in einer fremden Stadt, auf<br />
die man sehr neugierig ist und die erst<br />
noch erobert werden will nach einem<br />
reichhaltigen Abendessen? Richtig, man<br />
macht einen ersten Erkundungsversuch.<br />
Wir zogen also zu viert los, um nur mal so<br />
kurz um die Häuser zu schauen.<br />
Markusplatz – der bekannteste Platz Venedigs<br />
Das Gewirr der Gassen über Brücken<br />
und Plätze erwies sich jedoch als Labyrinth<br />
ohne Ende, und wir folgten bald<br />
nur den einladenden Schildern an Ecken<br />
und Durchgängen, die den Weg zur Rialto-Brücke<br />
wiesen. Und dann standen<br />
wir nach einigen Irrwegen doch wirklich<br />
vor der berühmten Brücke! Ich sagte:<br />
„Hier geh’ ich nicht mehr rauf, ich kehre<br />
um, denn wir finden den Rückweg sonst<br />
nie!“ Aber die anderen waren schon vorausgeeilt,<br />
um einen Blick auf den Canal<br />
Grande zu werfen. Was blieb mir übrig?<br />
Überstimmte müssen sich fügen! Also:<br />
hinterher!<br />
Ein nächtliches Abenteuer<br />
Aber der erste Blick auf die Hauptwasserstraße,<br />
die wie ein umgekehrtes großes<br />
„S“ die Stadt durchteilt, war eine herbe<br />
Enttäuschung. Die großartigen Paläste<br />
links und rechts lagen verborgen im Dunkeln,<br />
nur ab und zu war mal eine Etage<br />
erleuchtet, und von der einstmals prunkvollen<br />
Fassadengestaltung war nur ein<br />
schemenhafter Abglanz wahrnehmbar.<br />
Auch die Brücke selbst mit ihren Juwelier-<br />
und Souvenirgeschäften erwies sich<br />
mit den heruntergelassenen Jalousien<br />
und verbarrikadierten Auslagen eher als<br />
schäbig und verkommen anstatt geschäftig<br />
und belebt, und nur ab und an zog mal<br />
ein Trupp junger Leute laut lärmend vorüber.<br />
Ja, auch in Venedig werden nach 22<br />
Uhr die Bürgersteige hochgeklappt!!<br />
Meine eindrückliche Bitte zur Umkehr<br />
wurde wieder ignoriert, denn die anderen<br />
hatten schon ein Hinweisschild zum<br />
Markusplatz entdeckt, und so folgte ich<br />
ihnen auf die andere Seite des Kanals.<br />
Wieder durch ein Gewirr von Gassen,<br />
immer den Schildern nach, und so langsam<br />
schwanden meine Bedenken den<br />
Rückweg betreffend, da alles so gut ausgeschildert<br />
war.<br />
Wie in einem Krimi von<br />
Patricia Highsmith<br />
Den Markusplatz erreichten wir an der<br />
Seite des berühmten Uhrturmes, und<br />
meine Freude war riesengroß, als ich<br />
sah, dass er nicht mehr eingerüstet<br />
war. Ich kannte ihn bisher nur versteckt<br />
unter Gerüsten und Planen, auf deren<br />
Vorderseite der fertig restaurierte Turm<br />
aufgemalt war, und ihn nun – wenn auch<br />
im Dunkeln – in seiner vollkommenen<br />
Schönheit wiedererstanden zu sehen,<br />
war schon die nächtlich-abenteuerliche<br />
Stadterkundung wert. An der Markuskirche<br />
und dem Dogenpalast waren noch<br />
die Hochwasserstege aufgebaut, und der<br />
Markusplatz selbst stand teilweise unter<br />
Wasser. Wir mussten die seitlichen Arkaden<br />
benutzen, um den Platz trockenen<br />
Fußes überqueren zu können, und eine<br />
Möglichkeit für den Rückweg zu finden.<br />
Doch wie, war uns ziemlich unklar. Inge<br />
meinte logischerweise, doch den Schildern<br />
zur Piazzale Roma zu folgen und<br />
von dort über die Brücken wieder zum<br />
Hotel, ein Weg, den wir am Tage schon<br />
einmal gegangen waren, und den wir<br />
wiederzufinden hofften.<br />
Also durch Gassen, um Ecken, über Brücken,<br />
immer den Schildern nach! Ja, und<br />
plötzlich hörten an einem Seitenkanal<br />
die Schilder auf, und wir mussten uns<br />
eingestehen, dass wir uns hoffnungslos<br />
verlaufen hatten. Zum Glück begegnete<br />
uns eine Gruppe Jugendlicher, und ich<br />
fragte nach der Piazzale Roma. Ein junges<br />
Mädchen wies in die Richtung, aus<br />
der wir gerade gekommen waren. Nun<br />
waren wir ganz ratlos. Wieder zurück?<br />
Also wieder durch ein Gassenlabyrinth,<br />
das diesmal ziemlich dunkel und unheimlich<br />
wirkte, und eine perfekte Kulisse für<br />
einen Venedig-Krimi von Patricia Highsmith<br />
oder Daphne du Maurier abgegeben<br />
hätte! Schließlich endete die Gasse<br />
an einem großen Wasserlauf.<br />
Der Canal Grande? Oder der Rio Novo??<br />
Das gegenüberliegende Ufer war nicht zu<br />
erkennen. Über dem Wasser waberten<br />
Nebelschwaden und der Mond, der gerade<br />
noch so traumhaft über dem Markusdom<br />
geleuchtet hatte, verschwamm im<br />
grauen Nebeldunst. Gespenstisch!!!<br />
Aber, hurra, es gab Lichter! Ein Ristorante!<br />
Ich versuchte, auf Englisch Erkundigungen<br />
einzuziehen, wo wir uns befanden<br />
und wurde leider nicht verstanden.<br />
Aber im danebenliegenden Hotel hatte<br />
ich mehr Glück. Der freundliche Italiener<br />
hinter dem Counter sprach gut Englisch,<br />
kannte aber unser Hotel nicht. Da wir ja<br />
auch keine Straße oder Hausnummer<br />
angeben konnten und ich gar nicht auf<br />
die Idee kam, ihm unsere Hotelkarte, die<br />
ich in der Tasche hatte, zu geben, war die<br />
Suche nach dem Standort problematisch.<br />
Aber gut geschulte, auf Touristen eingestellte<br />
Hotelmanager wissen eben immer<br />
Rat, selbst mitten in der Nacht! Er warf<br />
seinen Computer an, nahm einen Stadtplan<br />
von seinem Schreibtisch und zeichnete<br />
erst mal sein Hotel, also unseren<br />
derzeitigen Standort, ein. Dann suchte<br />
er in einem Verzeichnis nach unserem<br />
Hotel und lokalisierte es auf seinem<br />
Bildschirm, um es dann – nach etlichen<br />
Korrekturen – auf den Stadtplan zu übertragen.<br />
Der vier Kilometer lange Canal Grande<br />
Mit freundlichem Lächeln überreichte er<br />
mir den Plan und erklärte mir in etwas<br />
holprigem Englisch, wie wir zu gehen<br />
hätten: „Straight ahead to the Canal, then<br />
around the corner to the left. Only ten minutes<br />
to go,“ sagte er.<br />
Mein Schwiegersohn, der ein ausgewiesener<br />
Pfadfinder ist, nahm sich sogleich<br />
des Planes an und meinte, nun fände er<br />
den Weg. So zogen wir nach „mille, mille<br />
grazie“ mit neuem Mut wieder in die<br />
neblige Nachtkulisse hinaus, und wirklich<br />
– nur noch etwas geradeaus und um<br />
ein paar Ecken – und wir hatten unsere<br />
Gasse und unser Hotel erreicht. Um 0.30<br />
Uhr holten wir unsere Schlüssel unten<br />
am Hotelempfang ab und waren froh, die<br />
erste Nacht in Venedig nicht unter den<br />
Brücken verbringen zu müssen!<br />
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