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Ausgabe 2012 / 1

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kultur<br />

Auszüge aus Helma Sages Reisebericht in die italienische Lagunenstadt<br />

Erzählung: „Verirrungen in Venedig“<br />

Was tut man in einer fremden Stadt, auf<br />

die man sehr neugierig ist und die erst<br />

noch erobert werden will nach einem<br />

reichhaltigen Abendessen? Richtig, man<br />

macht einen ersten Erkundungsversuch.<br />

Wir zogen also zu viert los, um nur mal so<br />

kurz um die Häuser zu schauen.<br />

Markusplatz – der bekannteste Platz Venedigs<br />

Das Gewirr der Gassen über Brücken<br />

und Plätze erwies sich jedoch als Labyrinth<br />

ohne Ende, und wir folgten bald<br />

nur den einladenden Schildern an Ecken<br />

und Durchgängen, die den Weg zur Rialto-Brücke<br />

wiesen. Und dann standen<br />

wir nach einigen Irrwegen doch wirklich<br />

vor der berühmten Brücke! Ich sagte:<br />

„Hier geh’ ich nicht mehr rauf, ich kehre<br />

um, denn wir finden den Rückweg sonst<br />

nie!“ Aber die anderen waren schon vorausgeeilt,<br />

um einen Blick auf den Canal<br />

Grande zu werfen. Was blieb mir übrig?<br />

Überstimmte müssen sich fügen! Also:<br />

hinterher!<br />

Ein nächtliches Abenteuer<br />

Aber der erste Blick auf die Hauptwasserstraße,<br />

die wie ein umgekehrtes großes<br />

„S“ die Stadt durchteilt, war eine herbe<br />

Enttäuschung. Die großartigen Paläste<br />

links und rechts lagen verborgen im Dunkeln,<br />

nur ab und zu war mal eine Etage<br />

erleuchtet, und von der einstmals prunkvollen<br />

Fassadengestaltung war nur ein<br />

schemenhafter Abglanz wahrnehmbar.<br />

Auch die Brücke selbst mit ihren Juwelier-<br />

und Souvenirgeschäften erwies sich<br />

mit den heruntergelassenen Jalousien<br />

und verbarrikadierten Auslagen eher als<br />

schäbig und verkommen anstatt geschäftig<br />

und belebt, und nur ab und an zog mal<br />

ein Trupp junger Leute laut lärmend vorüber.<br />

Ja, auch in Venedig werden nach 22<br />

Uhr die Bürgersteige hochgeklappt!!<br />

Meine eindrückliche Bitte zur Umkehr<br />

wurde wieder ignoriert, denn die anderen<br />

hatten schon ein Hinweisschild zum<br />

Markusplatz entdeckt, und so folgte ich<br />

ihnen auf die andere Seite des Kanals.<br />

Wieder durch ein Gewirr von Gassen,<br />

immer den Schildern nach, und so langsam<br />

schwanden meine Bedenken den<br />

Rückweg betreffend, da alles so gut ausgeschildert<br />

war.<br />

Wie in einem Krimi von<br />

Patricia Highsmith<br />

Den Markusplatz erreichten wir an der<br />

Seite des berühmten Uhrturmes, und<br />

meine Freude war riesengroß, als ich<br />

sah, dass er nicht mehr eingerüstet<br />

war. Ich kannte ihn bisher nur versteckt<br />

unter Gerüsten und Planen, auf deren<br />

Vorderseite der fertig restaurierte Turm<br />

aufgemalt war, und ihn nun – wenn auch<br />

im Dunkeln – in seiner vollkommenen<br />

Schönheit wiedererstanden zu sehen,<br />

war schon die nächtlich-abenteuerliche<br />

Stadterkundung wert. An der Markuskirche<br />

und dem Dogenpalast waren noch<br />

die Hochwasserstege aufgebaut, und der<br />

Markusplatz selbst stand teilweise unter<br />

Wasser. Wir mussten die seitlichen Arkaden<br />

benutzen, um den Platz trockenen<br />

Fußes überqueren zu können, und eine<br />

Möglichkeit für den Rückweg zu finden.<br />

Doch wie, war uns ziemlich unklar. Inge<br />

meinte logischerweise, doch den Schildern<br />

zur Piazzale Roma zu folgen und<br />

von dort über die Brücken wieder zum<br />

Hotel, ein Weg, den wir am Tage schon<br />

einmal gegangen waren, und den wir<br />

wiederzufinden hofften.<br />

Also durch Gassen, um Ecken, über Brücken,<br />

immer den Schildern nach! Ja, und<br />

plötzlich hörten an einem Seitenkanal<br />

die Schilder auf, und wir mussten uns<br />

eingestehen, dass wir uns hoffnungslos<br />

verlaufen hatten. Zum Glück begegnete<br />

uns eine Gruppe Jugendlicher, und ich<br />

fragte nach der Piazzale Roma. Ein junges<br />

Mädchen wies in die Richtung, aus<br />

der wir gerade gekommen waren. Nun<br />

waren wir ganz ratlos. Wieder zurück?<br />

Also wieder durch ein Gassenlabyrinth,<br />

das diesmal ziemlich dunkel und unheimlich<br />

wirkte, und eine perfekte Kulisse für<br />

einen Venedig-Krimi von Patricia Highsmith<br />

oder Daphne du Maurier abgegeben<br />

hätte! Schließlich endete die Gasse<br />

an einem großen Wasserlauf.<br />

Der Canal Grande? Oder der Rio Novo??<br />

Das gegenüberliegende Ufer war nicht zu<br />

erkennen. Über dem Wasser waberten<br />

Nebelschwaden und der Mond, der gerade<br />

noch so traumhaft über dem Markusdom<br />

geleuchtet hatte, verschwamm im<br />

grauen Nebeldunst. Gespenstisch!!!<br />

Aber, hurra, es gab Lichter! Ein Ristorante!<br />

Ich versuchte, auf Englisch Erkundigungen<br />

einzuziehen, wo wir uns befanden<br />

und wurde leider nicht verstanden.<br />

Aber im danebenliegenden Hotel hatte<br />

ich mehr Glück. Der freundliche Italiener<br />

hinter dem Counter sprach gut Englisch,<br />

kannte aber unser Hotel nicht. Da wir ja<br />

auch keine Straße oder Hausnummer<br />

angeben konnten und ich gar nicht auf<br />

die Idee kam, ihm unsere Hotelkarte, die<br />

ich in der Tasche hatte, zu geben, war die<br />

Suche nach dem Standort problematisch.<br />

Aber gut geschulte, auf Touristen eingestellte<br />

Hotelmanager wissen eben immer<br />

Rat, selbst mitten in der Nacht! Er warf<br />

seinen Computer an, nahm einen Stadtplan<br />

von seinem Schreibtisch und zeichnete<br />

erst mal sein Hotel, also unseren<br />

derzeitigen Standort, ein. Dann suchte<br />

er in einem Verzeichnis nach unserem<br />

Hotel und lokalisierte es auf seinem<br />

Bildschirm, um es dann – nach etlichen<br />

Korrekturen – auf den Stadtplan zu übertragen.<br />

Der vier Kilometer lange Canal Grande<br />

Mit freundlichem Lächeln überreichte er<br />

mir den Plan und erklärte mir in etwas<br />

holprigem Englisch, wie wir zu gehen<br />

hätten: „Straight ahead to the Canal, then<br />

around the corner to the left. Only ten minutes<br />

to go,“ sagte er.<br />

Mein Schwiegersohn, der ein ausgewiesener<br />

Pfadfinder ist, nahm sich sogleich<br />

des Planes an und meinte, nun fände er<br />

den Weg. So zogen wir nach „mille, mille<br />

grazie“ mit neuem Mut wieder in die<br />

neblige Nachtkulisse hinaus, und wirklich<br />

– nur noch etwas geradeaus und um<br />

ein paar Ecken – und wir hatten unsere<br />

Gasse und unser Hotel erreicht. Um 0.30<br />

Uhr holten wir unsere Schlüssel unten<br />

am Hotelempfang ab und waren froh, die<br />

erste Nacht in Venedig nicht unter den<br />

Brücken verbringen zu müssen!<br />

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