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Politik<br />

Politik<br />

politische Agenda kommen, die das soziale Netz zerstören,<br />

mit dem Abbau von Arbeiter- und Pensionsrechten. Das, was<br />

als nationale Rettung verkauft wurde im Kampf gegen die<br />

Korruption, ist in Wahrheit ein dreister Raub. Das Klima in<br />

Brasilien verändert sich.<br />

CC: Wieso nehmen Sie es so wahr?<br />

GB: Ich ging durch die Straßen und mir schlug Feindseligkeit<br />

entgegen, in São Paulo, in Brasília und an den Flughäfen.<br />

Derzeit sind jene, die sich mit aller Kraft für diesen Prozess<br />

einsetzten, die Beschämtesten. Jene, die sich aus Überzeugung<br />

anschlossen, sind misstrauisch. Und jene wiederum, die<br />

bereits misstrauisch gewesen sind, beginnen, sich dagegen<br />

zu wenden.<br />

CC: Sie erwähnten Lulas Fehler. Welche waren das?<br />

GB: Ich würde sagen, der Hauptfehler bestand darin, auf<br />

eine Verständigung mit denen zu setzen, die in Brasilien oben<br />

sind, den gleichen, die den Putsch betrieben. Als Lula 2003 an<br />

die Regierung kam schlug er einen großen nationalen Pakt vor.<br />

Er sagte: „Unter meiner Regierung können alle gewinnen.“ Dann<br />

rief er alle an einen Tisch. Er gab den sozialen Bewegungen<br />

eine Stimme, erhielt aber den Dialog mit Unternehmern und<br />

dem Finanzsektor aufrecht. Lula entwickelte eine geschickte<br />

Technik, die es eine Zeit lang allen ermöglichte zu gewinnen.<br />

Die Banken erzielten Rekordgewinne in den vergangenen 13<br />

Jahren. Die Agroindustrie, die Bauunternehmen, der Bergbau.<br />

Die Arbeiter gewannen auch etwas, für die Sklavenhütte fiel<br />

etwas ab. Eine Zeit lang funktionierte das.<br />

CC: Warum funktionierte es am Anfang und scheiterte<br />

danach?<br />

GB: Es funktionierte aufgrund des erheblichen Wirtschaftswachstums,<br />

das diese Win-Win-Situation ermöglichte<br />

und eine Politik der Kreditvergabe an die breite Bevölkerung<br />

stützte. Der Konsum der Arbeiter stieg, Sozialprogramme<br />

wurden aufgelegt, die Ärmsten und schwarze Brasilianer<br />

konnten Universitäten besuchen. Dies geschah, ohne dass es<br />

irgendeinem Privileg an den Kragen gegangen wäre. Es wurde<br />

allerdings übersehen, dass es sich um eine Politik mit Haltbarkeitsdatum<br />

handelte. Das hat mit den Rohstoffen zu tun und<br />

mit dem Wachstum in China. Dann gab es noch die Krise im<br />

Jahr 2008 und den Versuch einer antizyklischen Politik. Doch<br />

das Wachstumsniveau ging deutlich zurück. Dies verringerte<br />

den Spielraum für eine Win-Win-Politik. Es musste irgendwo<br />

gekürzt werden. Außerdem setzten die Regierungen der Arbeiterpartei<br />

ausschließlich auf das Parlament und verbündeten<br />

sich hierbei mit konservativen Kräften, ohne Mobilisierung<br />

auf den Straßen Brasiliens. Die breite Bevölkerung wurde in<br />

diese politische Einigung nicht einbezogen.<br />

CC: Gab es eine Demobilisierung der Gewerkschaften und<br />

der sozialen Bewegungen?<br />

GB: Ja, und heute zahlen wir den Preis dafür. Es stellte<br />

sich der Glaube ein, die Regierung werde schon Lösungen<br />

finden, und große Mobilisierungen seien daher gar nicht mehr<br />

notwendig. Der Rost frisst sich in die Maschinerie von Gewerkschaften<br />

und sozialen Bewegungen. Der sozialen Bewegung<br />

gelingt insgesamt gesehen keine Mobilisierung mehr, denn sie<br />

hörte damit auf, Basisarbeit zu betreiben. Hinzu kam, dass<br />

Dilmas Haltung nach 2014 sehr schädlich war. Sie nahm das<br />

Programm des Gegners an.<br />

CC: Sie berief für das Finanzministerium einen Fanatiker<br />

der Apokalypse.<br />

GB: Das stimmt (Lachen). Auf jeden Fall bestand der grundlegende<br />

Fehler der Regierungen der Arbeiterpartei, sowohl<br />

jener von Lula als auch der von Dilma, darin zu glauben, man<br />

sitze mit am Tisch der Gutsherren, wobei eine stillschweigende<br />

Abmachung darüber bestand, dass keine der dringend notwendigen<br />

Strukturreformen angepackt würde, wie die Agrarreform,<br />

die Reform der Stadtpolitik und die Steuerreform.<br />

CC: Wie bewerten Sie diese Haltung?<br />

GB: Ich denke, dass es an Mut zum Konflikt fehlte. Außerdem<br />

gab man sich Illusionen über die historische Mission<br />

des brasilianischen Bürgertums hin. Die Regierenden meinten,<br />

dass das Bürgertum sie dulden würde, doch sie täuschten<br />

sich in dessen ganz eigenem Wesen, das in seiner Herrenhaus-Mentalität<br />

besteht. Die sozialen Fortschritte unter der<br />

Regierung Lula verliefen nur sehr langsam und blieben begrenzt.<br />

Es handelte sich um einen fragilen Reformismus in der<br />

Definition des Ökonomen André Singer (Anmerkung: Dieser<br />

war Lulas Sprecher in dessen erster Amtszeit von 2003 bis<br />

2007). Für die brasilianische Elite jedoch waren schon diese<br />

kleinen Fortschritte zu viel, sie wurde von Panik und Furcht<br />

ergriffen. Für sie war das Wohlfahrtsprogramm Bolsa Familia<br />

bolivarisch, es erinnerte sie an das Venezuela von Hugo Chávez.<br />

Schwarze, die auf einmal an der Universität studieren, Arme,<br />

die mit dem Flugzeug reisen - das ist für die Elite einfach zu<br />

viel. Das geht ans Eingemachte.<br />

CC: In Brasilien scheint nur eine Verständigung der Eliten<br />

untereinander möglich zu sein, niemals aber mit der Straße.<br />

GB: Genau so ist es. Das ist das Wesen des brasilianischen<br />

Bürgertums. Die Eliten duldeten die Regierungen der<br />

Arbeiterpartei eine Zeit lang. Nicht nur, weil sich ihre Gewinne<br />

unter diesen wie gewohnt fortsetzten, sondern auch deshalb,<br />

weil diese Politik über einen gewissen Rückhalt in der Bevölkerung<br />

verfügte. Was die Bedingungen und die soziale Basis<br />

für den Putsch schuf, das war die finanzpolitische Anpassung,<br />

die Dilma vornahm. Als sie sich gegen die Basis wandte, die<br />

sie gewählt hatte, war die große Chance für das Bürgertum<br />

gekommen. Dilma verlieh dieser abgestandenen und zurückgebliebenen<br />

Rechten Kraft.<br />

CC: Der Rapper Mano Brown hat beobachtet, dass die<br />

Peripherie Dilma den Rücken zugekehrt hat. Stimmen Sie<br />

dem zu?<br />

GB: Ja, das sehe ich auch so, seine Feststellung trifft<br />

zu. Wenn wir uns die Demonstrationen von 2015 bis heute<br />

ansehen, sowohl jene, zu denen von der Zeitung „O Globo“<br />

leidenschaftlich aufgerufen wurde, und die der Industrieverband<br />

FIESP (Federação das Indústrias do Estado de São<br />

Paulo) finanziert hat, als auch die Demonstrationen gegen<br />

den Putsch, so wird klar, dass nirgends die großen Massen<br />

der städtischen Peripherien dabei waren. Vielmehr sah die<br />

Peripherie den Ereignissen gleichgültig zu. Den Menschen war<br />

klar, dass es sich um den üblichen politischen Streit handelte.<br />

Die große Herausforderung besteht heute darin, die Peripherie,<br />

diesen großen sozialen Protagonisten, wieder auf Brasiliens<br />

Straßen zu bringen.<br />

CC: Wie kann dies der brasilianischen Linken gelingen?<br />

GB: Magie wird da nicht helfen. Die Linke hat lange Zeit<br />

keine Basisarbeit mehr gemacht: von Tür zu Tür gehen, den<br />

Menschen offen gegenüber zu stehen, versuchen, ihre Probleme<br />

zu verstehen. Wer all dies heute in der Peripherie tut,<br />

das sind die evangelikalen Kirchen. Nicht ohne Grund sind sie<br />

in den vergangenen Jahren so stark angewachsen.<br />

CC: Warum hat sich die Linke nicht mehr um die Basisarbeit<br />

gekümmert?<br />

GB: Die Linke wandte sich zu sehr der institutionellen<br />

Politik zu. Ihre Sorge galt dem Wählen von Stadträten, Bürgermeistern,<br />

Abgeordneten, Gouverneuren, um dann am Ende<br />

die Präsidentschaft zu erlangen.<br />

CC: Die Linke hat es sich also in Kabinetten bequem gemacht.<br />

GB: Genauso ist es. Wer in den 1980-er Jahren noch auf Lehm<br />

lief, der wurde im Jahrzehnt darauf Parlamentsberater.<br />

CC: Spricht hieraus nicht ein großer Mangel an Überzeugung?<br />

GB: Um ehrlich zu sein, kommt hierin eine andere Art<br />

Glauben zum Ausdruck: Nämlich der, dass die institutionelle<br />

Politik allein dazu in der Lage sei, die Probleme zu lösen. Das ist<br />

sie aber nicht. Die Arbeiterpartei eroberte die Präsidentschaft<br />

und behielt sie 13 Jahre lang. Aber ohne den Rückhalt einer<br />

Mobilisierung des Volkes wurde sie zur Geisel der üblichen<br />

schmutzigen Geschäfte. Nach und nach verlor das Projekt die<br />

Fähigkeit, mit dem Volk einen Dialog zu führen.<br />

CC: Lange bevor der Senat die Verhandlung gegen Dilma<br />

abschloss, war klar, dass sie nicht die geringste Chance haben<br />

würde, ihr Präsidentenamt zu retten. Die Linke allerdings versuchte<br />

weiterhin, zu einem Konsens zu kommen. Sogar das<br />

Bekenntnis zu „Diretas Já“ wurde von vielen abgelehnt.<br />

GB: Die Leute erleben das Ende des Zyklus der brasilianischen<br />

Linken. Es fehlt ein Regenschirm, unter den die<br />

Menschen zusammenkommen. Unter diesen Umständen ist<br />

eine Fragmentierung fast unvermeidlich. Es gibt Versuche,<br />

eine neue brasilianische Linke ins Leben zu rufen. Die Arbeiterpartei<br />

ist noch immer stark in der sozialen und in der<br />

Gewerkschaftsbewegung, sie verfügt aber nicht mehr über<br />

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die politische und die moralische Autorität, um die Hegemonie<br />

zu übernehmen. Was „Diretas Já“ betrifft so verstehe ich<br />

nicht, wie man mit dieser Losung den Putsch legitimieren<br />

kann, der durch den Kongress und den Obersten Gerichtshof<br />

legitimiert wird.<br />

CC: Ist „Diretas Já“ objektiv überhaupt möglich?<br />

GB: Ich glaube, ja. Wir haben einen unrechtmäßigen<br />

Präsidenten, der den Willen der Wähler nicht achtet. Das für<br />

sich genommen würde schon die Ausrufung neuer Wahlen<br />

rechtfertigen, um die Volkssouveränität wiederherzustellen.<br />

Die Typen haben es geschafft, eine gewählte Präsidentin<br />

abzusetzen, mit der Begründung fiskalischer Trickserei. Sie<br />

haben Brasiliens Verfassung mit der Zustimmung des Obersten<br />

Gerichtshofs zerrissen. Das Ganze lief nach Abmachung.<br />

Wer das nicht sieht, will es nicht sehen. Aber es gibt brasilianische<br />

Linke, die glauben, dass eine zerbrechliche Regierung<br />

Temer interessanter sein könnte als eine eventuell gewählte<br />

Regierung des PSDB (Partido da Social Democracia Brasileira).<br />

Meiner Meinung nach jedoch handelt es sich bei der Regierung<br />

Temer um die für die Arbeiter gefährlichste seit Beginn<br />

der Neuen Republik.<br />

CC: Und warum?<br />

GB: Wegen ihrer eigenen Zerbrechlichkeit. Temer wurde<br />

weder gewählt, noch strebt er eine „Wiederwahl“ an, und er<br />

sieht sich in keiner Weise der Wählerschaft verpflichtet. Er<br />

muss niemandem Rechenschaft ablegen. Wenn Temer will,<br />

kann er verbrannte Erde hinterlassen.<br />

Das Interview für das Magazin Carta Capital führten Mino Carta<br />

und Rodrigo Martins. Wir bedanken uns bei Carta Capital für<br />

die Übersetzungserlaubnis.<br />

Eine Schwalbe macht den Sommer<br />

Ein Straßenkinderprojekt in São Paulo<br />

Seit 1996 begleitet und unterstützt die<br />

Brasilieninitiative Freiburg e.V. das Straßenkinderprojekt<br />

„Casa Taiguara/Casa<br />

Taiguarinha“ in São Paulo. Jetzt wurde über<br />

diese Arbeit eine DVD erstellt. In diesem<br />

12 Minuten dauernden Film kommen auch<br />

die Straßenkinder selbst zu Wort. Der Film<br />

eignet sich bestens für die Bildungsarbeit<br />

sowohl im schulischen – als auch im Erwachsenenbereich.<br />

Er ist mit deutschen<br />

Untertiteln versehen.<br />

DIE Bezugsquelle: STIFTUNG BRASILEA Brasilieninitiative WURDE AM 22. SEPTEMBER Freiburg 2003 e.V. IN BASEL<br />

GEGRÜNDET.<br />

15.– € (5.-€ gehen in das Projekt nach Brasilien)<br />

DIE Bankverbindung:<br />

GRÜNDUNG DER STIFTUNG BRASILEA BASIERT AUF DER SAMM-<br />

LUNG Volksbank UNSERES Freiburg<br />

STIFTERS WALTER WÜTHRICH, DIE DURCH DIE LANGE<br />

FREUNDSCHAFT ZWISCHEN WALTER WÜTHRICH UND DEM KÜNSTLER-<br />

FRANZ Konto: JOSEF 250 WIDMAR 548 ENTSTANDEN 06 BLZ: 680 IST. 900 00<br />

www.brasilieninitiative.de<br />

UNSER STIFTUNGSZWECK IST DIE ERRICHTUNG, DER BETRIEB UND<br />

DIE ERHALTUNG EINES KULTURZENTRUMS ZUR FÖRDERUNG UND BE-<br />

KANNTMACHUNG BRASILIANISCHER KUNST UND KULTUR.<br />

8 STIFTUNG BRASILEA WESTQUAISTRASSE 39 CH - 4057 BASEL<br />

9<br />

+41 61 262 39 39 INFO@BRASILEA.COM WWW.BRASILEA.COM<br />

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