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BN154_eBook
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Politik<br />
Politik<br />
politische Agenda kommen, die das soziale Netz zerstören,<br />
mit dem Abbau von Arbeiter- und Pensionsrechten. Das, was<br />
als nationale Rettung verkauft wurde im Kampf gegen die<br />
Korruption, ist in Wahrheit ein dreister Raub. Das Klima in<br />
Brasilien verändert sich.<br />
CC: Wieso nehmen Sie es so wahr?<br />
GB: Ich ging durch die Straßen und mir schlug Feindseligkeit<br />
entgegen, in São Paulo, in Brasília und an den Flughäfen.<br />
Derzeit sind jene, die sich mit aller Kraft für diesen Prozess<br />
einsetzten, die Beschämtesten. Jene, die sich aus Überzeugung<br />
anschlossen, sind misstrauisch. Und jene wiederum, die<br />
bereits misstrauisch gewesen sind, beginnen, sich dagegen<br />
zu wenden.<br />
CC: Sie erwähnten Lulas Fehler. Welche waren das?<br />
GB: Ich würde sagen, der Hauptfehler bestand darin, auf<br />
eine Verständigung mit denen zu setzen, die in Brasilien oben<br />
sind, den gleichen, die den Putsch betrieben. Als Lula 2003 an<br />
die Regierung kam schlug er einen großen nationalen Pakt vor.<br />
Er sagte: „Unter meiner Regierung können alle gewinnen.“ Dann<br />
rief er alle an einen Tisch. Er gab den sozialen Bewegungen<br />
eine Stimme, erhielt aber den Dialog mit Unternehmern und<br />
dem Finanzsektor aufrecht. Lula entwickelte eine geschickte<br />
Technik, die es eine Zeit lang allen ermöglichte zu gewinnen.<br />
Die Banken erzielten Rekordgewinne in den vergangenen 13<br />
Jahren. Die Agroindustrie, die Bauunternehmen, der Bergbau.<br />
Die Arbeiter gewannen auch etwas, für die Sklavenhütte fiel<br />
etwas ab. Eine Zeit lang funktionierte das.<br />
CC: Warum funktionierte es am Anfang und scheiterte<br />
danach?<br />
GB: Es funktionierte aufgrund des erheblichen Wirtschaftswachstums,<br />
das diese Win-Win-Situation ermöglichte<br />
und eine Politik der Kreditvergabe an die breite Bevölkerung<br />
stützte. Der Konsum der Arbeiter stieg, Sozialprogramme<br />
wurden aufgelegt, die Ärmsten und schwarze Brasilianer<br />
konnten Universitäten besuchen. Dies geschah, ohne dass es<br />
irgendeinem Privileg an den Kragen gegangen wäre. Es wurde<br />
allerdings übersehen, dass es sich um eine Politik mit Haltbarkeitsdatum<br />
handelte. Das hat mit den Rohstoffen zu tun und<br />
mit dem Wachstum in China. Dann gab es noch die Krise im<br />
Jahr 2008 und den Versuch einer antizyklischen Politik. Doch<br />
das Wachstumsniveau ging deutlich zurück. Dies verringerte<br />
den Spielraum für eine Win-Win-Politik. Es musste irgendwo<br />
gekürzt werden. Außerdem setzten die Regierungen der Arbeiterpartei<br />
ausschließlich auf das Parlament und verbündeten<br />
sich hierbei mit konservativen Kräften, ohne Mobilisierung<br />
auf den Straßen Brasiliens. Die breite Bevölkerung wurde in<br />
diese politische Einigung nicht einbezogen.<br />
CC: Gab es eine Demobilisierung der Gewerkschaften und<br />
der sozialen Bewegungen?<br />
GB: Ja, und heute zahlen wir den Preis dafür. Es stellte<br />
sich der Glaube ein, die Regierung werde schon Lösungen<br />
finden, und große Mobilisierungen seien daher gar nicht mehr<br />
notwendig. Der Rost frisst sich in die Maschinerie von Gewerkschaften<br />
und sozialen Bewegungen. Der sozialen Bewegung<br />
gelingt insgesamt gesehen keine Mobilisierung mehr, denn sie<br />
hörte damit auf, Basisarbeit zu betreiben. Hinzu kam, dass<br />
Dilmas Haltung nach 2014 sehr schädlich war. Sie nahm das<br />
Programm des Gegners an.<br />
CC: Sie berief für das Finanzministerium einen Fanatiker<br />
der Apokalypse.<br />
GB: Das stimmt (Lachen). Auf jeden Fall bestand der grundlegende<br />
Fehler der Regierungen der Arbeiterpartei, sowohl<br />
jener von Lula als auch der von Dilma, darin zu glauben, man<br />
sitze mit am Tisch der Gutsherren, wobei eine stillschweigende<br />
Abmachung darüber bestand, dass keine der dringend notwendigen<br />
Strukturreformen angepackt würde, wie die Agrarreform,<br />
die Reform der Stadtpolitik und die Steuerreform.<br />
CC: Wie bewerten Sie diese Haltung?<br />
GB: Ich denke, dass es an Mut zum Konflikt fehlte. Außerdem<br />
gab man sich Illusionen über die historische Mission<br />
des brasilianischen Bürgertums hin. Die Regierenden meinten,<br />
dass das Bürgertum sie dulden würde, doch sie täuschten<br />
sich in dessen ganz eigenem Wesen, das in seiner Herrenhaus-Mentalität<br />
besteht. Die sozialen Fortschritte unter der<br />
Regierung Lula verliefen nur sehr langsam und blieben begrenzt.<br />
Es handelte sich um einen fragilen Reformismus in der<br />
Definition des Ökonomen André Singer (Anmerkung: Dieser<br />
war Lulas Sprecher in dessen erster Amtszeit von 2003 bis<br />
2007). Für die brasilianische Elite jedoch waren schon diese<br />
kleinen Fortschritte zu viel, sie wurde von Panik und Furcht<br />
ergriffen. Für sie war das Wohlfahrtsprogramm Bolsa Familia<br />
bolivarisch, es erinnerte sie an das Venezuela von Hugo Chávez.<br />
Schwarze, die auf einmal an der Universität studieren, Arme,<br />
die mit dem Flugzeug reisen - das ist für die Elite einfach zu<br />
viel. Das geht ans Eingemachte.<br />
CC: In Brasilien scheint nur eine Verständigung der Eliten<br />
untereinander möglich zu sein, niemals aber mit der Straße.<br />
GB: Genau so ist es. Das ist das Wesen des brasilianischen<br />
Bürgertums. Die Eliten duldeten die Regierungen der<br />
Arbeiterpartei eine Zeit lang. Nicht nur, weil sich ihre Gewinne<br />
unter diesen wie gewohnt fortsetzten, sondern auch deshalb,<br />
weil diese Politik über einen gewissen Rückhalt in der Bevölkerung<br />
verfügte. Was die Bedingungen und die soziale Basis<br />
für den Putsch schuf, das war die finanzpolitische Anpassung,<br />
die Dilma vornahm. Als sie sich gegen die Basis wandte, die<br />
sie gewählt hatte, war die große Chance für das Bürgertum<br />
gekommen. Dilma verlieh dieser abgestandenen und zurückgebliebenen<br />
Rechten Kraft.<br />
CC: Der Rapper Mano Brown hat beobachtet, dass die<br />
Peripherie Dilma den Rücken zugekehrt hat. Stimmen Sie<br />
dem zu?<br />
GB: Ja, das sehe ich auch so, seine Feststellung trifft<br />
zu. Wenn wir uns die Demonstrationen von 2015 bis heute<br />
ansehen, sowohl jene, zu denen von der Zeitung „O Globo“<br />
leidenschaftlich aufgerufen wurde, und die der Industrieverband<br />
FIESP (Federação das Indústrias do Estado de São<br />
Paulo) finanziert hat, als auch die Demonstrationen gegen<br />
den Putsch, so wird klar, dass nirgends die großen Massen<br />
der städtischen Peripherien dabei waren. Vielmehr sah die<br />
Peripherie den Ereignissen gleichgültig zu. Den Menschen war<br />
klar, dass es sich um den üblichen politischen Streit handelte.<br />
Die große Herausforderung besteht heute darin, die Peripherie,<br />
diesen großen sozialen Protagonisten, wieder auf Brasiliens<br />
Straßen zu bringen.<br />
CC: Wie kann dies der brasilianischen Linken gelingen?<br />
GB: Magie wird da nicht helfen. Die Linke hat lange Zeit<br />
keine Basisarbeit mehr gemacht: von Tür zu Tür gehen, den<br />
Menschen offen gegenüber zu stehen, versuchen, ihre Probleme<br />
zu verstehen. Wer all dies heute in der Peripherie tut,<br />
das sind die evangelikalen Kirchen. Nicht ohne Grund sind sie<br />
in den vergangenen Jahren so stark angewachsen.<br />
CC: Warum hat sich die Linke nicht mehr um die Basisarbeit<br />
gekümmert?<br />
GB: Die Linke wandte sich zu sehr der institutionellen<br />
Politik zu. Ihre Sorge galt dem Wählen von Stadträten, Bürgermeistern,<br />
Abgeordneten, Gouverneuren, um dann am Ende<br />
die Präsidentschaft zu erlangen.<br />
CC: Die Linke hat es sich also in Kabinetten bequem gemacht.<br />
GB: Genauso ist es. Wer in den 1980-er Jahren noch auf Lehm<br />
lief, der wurde im Jahrzehnt darauf Parlamentsberater.<br />
CC: Spricht hieraus nicht ein großer Mangel an Überzeugung?<br />
GB: Um ehrlich zu sein, kommt hierin eine andere Art<br />
Glauben zum Ausdruck: Nämlich der, dass die institutionelle<br />
Politik allein dazu in der Lage sei, die Probleme zu lösen. Das ist<br />
sie aber nicht. Die Arbeiterpartei eroberte die Präsidentschaft<br />
und behielt sie 13 Jahre lang. Aber ohne den Rückhalt einer<br />
Mobilisierung des Volkes wurde sie zur Geisel der üblichen<br />
schmutzigen Geschäfte. Nach und nach verlor das Projekt die<br />
Fähigkeit, mit dem Volk einen Dialog zu führen.<br />
CC: Lange bevor der Senat die Verhandlung gegen Dilma<br />
abschloss, war klar, dass sie nicht die geringste Chance haben<br />
würde, ihr Präsidentenamt zu retten. Die Linke allerdings versuchte<br />
weiterhin, zu einem Konsens zu kommen. Sogar das<br />
Bekenntnis zu „Diretas Já“ wurde von vielen abgelehnt.<br />
GB: Die Leute erleben das Ende des Zyklus der brasilianischen<br />
Linken. Es fehlt ein Regenschirm, unter den die<br />
Menschen zusammenkommen. Unter diesen Umständen ist<br />
eine Fragmentierung fast unvermeidlich. Es gibt Versuche,<br />
eine neue brasilianische Linke ins Leben zu rufen. Die Arbeiterpartei<br />
ist noch immer stark in der sozialen und in der<br />
Gewerkschaftsbewegung, sie verfügt aber nicht mehr über<br />
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die politische und die moralische Autorität, um die Hegemonie<br />
zu übernehmen. Was „Diretas Já“ betrifft so verstehe ich<br />
nicht, wie man mit dieser Losung den Putsch legitimieren<br />
kann, der durch den Kongress und den Obersten Gerichtshof<br />
legitimiert wird.<br />
CC: Ist „Diretas Já“ objektiv überhaupt möglich?<br />
GB: Ich glaube, ja. Wir haben einen unrechtmäßigen<br />
Präsidenten, der den Willen der Wähler nicht achtet. Das für<br />
sich genommen würde schon die Ausrufung neuer Wahlen<br />
rechtfertigen, um die Volkssouveränität wiederherzustellen.<br />
Die Typen haben es geschafft, eine gewählte Präsidentin<br />
abzusetzen, mit der Begründung fiskalischer Trickserei. Sie<br />
haben Brasiliens Verfassung mit der Zustimmung des Obersten<br />
Gerichtshofs zerrissen. Das Ganze lief nach Abmachung.<br />
Wer das nicht sieht, will es nicht sehen. Aber es gibt brasilianische<br />
Linke, die glauben, dass eine zerbrechliche Regierung<br />
Temer interessanter sein könnte als eine eventuell gewählte<br />
Regierung des PSDB (Partido da Social Democracia Brasileira).<br />
Meiner Meinung nach jedoch handelt es sich bei der Regierung<br />
Temer um die für die Arbeiter gefährlichste seit Beginn<br />
der Neuen Republik.<br />
CC: Und warum?<br />
GB: Wegen ihrer eigenen Zerbrechlichkeit. Temer wurde<br />
weder gewählt, noch strebt er eine „Wiederwahl“ an, und er<br />
sieht sich in keiner Weise der Wählerschaft verpflichtet. Er<br />
muss niemandem Rechenschaft ablegen. Wenn Temer will,<br />
kann er verbrannte Erde hinterlassen.<br />
Das Interview für das Magazin Carta Capital führten Mino Carta<br />
und Rodrigo Martins. Wir bedanken uns bei Carta Capital für<br />
die Übersetzungserlaubnis.<br />
Eine Schwalbe macht den Sommer<br />
Ein Straßenkinderprojekt in São Paulo<br />
Seit 1996 begleitet und unterstützt die<br />
Brasilieninitiative Freiburg e.V. das Straßenkinderprojekt<br />
„Casa Taiguara/Casa<br />
Taiguarinha“ in São Paulo. Jetzt wurde über<br />
diese Arbeit eine DVD erstellt. In diesem<br />
12 Minuten dauernden Film kommen auch<br />
die Straßenkinder selbst zu Wort. Der Film<br />
eignet sich bestens für die Bildungsarbeit<br />
sowohl im schulischen – als auch im Erwachsenenbereich.<br />
Er ist mit deutschen<br />
Untertiteln versehen.<br />
DIE Bezugsquelle: STIFTUNG BRASILEA Brasilieninitiative WURDE AM 22. SEPTEMBER Freiburg 2003 e.V. IN BASEL<br />
GEGRÜNDET.<br />
15.– € (5.-€ gehen in das Projekt nach Brasilien)<br />
DIE Bankverbindung:<br />
GRÜNDUNG DER STIFTUNG BRASILEA BASIERT AUF DER SAMM-<br />
LUNG Volksbank UNSERES Freiburg<br />
STIFTERS WALTER WÜTHRICH, DIE DURCH DIE LANGE<br />
FREUNDSCHAFT ZWISCHEN WALTER WÜTHRICH UND DEM KÜNSTLER-<br />
FRANZ Konto: JOSEF 250 WIDMAR 548 ENTSTANDEN 06 BLZ: 680 IST. 900 00<br />
www.brasilieninitiative.de<br />
UNSER STIFTUNGSZWECK IST DIE ERRICHTUNG, DER BETRIEB UND<br />
DIE ERHALTUNG EINES KULTURZENTRUMS ZUR FÖRDERUNG UND BE-<br />
KANNTMACHUNG BRASILIANISCHER KUNST UND KULTUR.<br />
8 STIFTUNG BRASILEA WESTQUAISTRASSE 39 CH - 4057 BASEL<br />
9<br />
+41 61 262 39 39 INFO@BRASILEA.COM WWW.BRASILEA.COM<br />
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