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BN154_eBook
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Politik<br />
Politik<br />
Foto: Tânia Rêgo/Agência Brasil<br />
Temers fragwürdige Maßnahmen<br />
„Eine Brücke in die Zukunft” heißt das von der Stiftung<br />
Ulysses Guimarães im Oktober 2015 vorgelegte Programm zur<br />
Rettung Brasiliens. Bei einer Rede in New York bestätigte der<br />
Interimspräsident Michel Temer, dass die gewählte Präsidentin<br />
Schuldenbremse soll Aufschwung bringen<br />
Kurt Damm, Berlin<br />
persönliche Verfehlungen des Präsidenten oder der Präsidentin<br />
können hier zu einem Amtsenthebungsverfahren führen.<br />
Mit seiner Rede in New York bestätigte Temer damit nicht<br />
nur, dass es politische Gründe waren, die zur Absetzung der<br />
Ansätze positiver Veränderungen<br />
Zwei Beispiele aus der Zeit der PT-Regierungen<br />
Das Programm zum Aufkauf von Nahrungsmitteln aus<br />
kleinbäuerlicher Produktion (PAA – Programa de Aquisição<br />
de Alimentos) zur Verwendung in öffentlichen Einrichtungen<br />
wurde im Rahmen des Null-Hunger-Programms (Fome Zero)<br />
unter der Regierung Lula ins Leben gerufen. Der Nationale<br />
Rat zur Ernährungssicherung (Consea) gab den Anstoß für<br />
die Schaffung dieses als „institutioneller Markt” bezeichneten<br />
Programms.<br />
Mit dem Programm werden verschiedene Ziele verfolgt.<br />
Im Vordergrund stehen die Förderung und Entwicklung der<br />
familiären Landwirtschaft, die Bereitstellung von Lebensmitteln<br />
für Personen ohne ausreichende Ernährungsgrundlage<br />
und die Schaffung einer verbesserten Vorratshaltung von<br />
Lebensmitteln. Schulen, Krankenhäuser, Gefängnisse und<br />
karitative Einrichtungen wurden angeregt, ihren Bedarf an<br />
Lebensmitteln aus kleinbäuerlicher Produktion zu decken.<br />
Die Schulen wurden später verpflichtet, 30% ihrer Mittel für<br />
Schulspeisungen im Rahmen dieses Programms zu verwenden.<br />
Umwelt- und Naturschutzmaßnahmen wurden zu einem<br />
späteren Zeitpunkt in das Programm aufgenommen.<br />
Die Durchführung obliegt der Conab (Companhia Nacional<br />
de Abastecimento), einer staatlichen Organisation, die für<br />
die Planung, Versorgung und Lagerung von Lebensmitteln<br />
zuständig ist. Durch das Programm werden viele Kleinproduzenten<br />
motiviert, über den Eigenbedarf hinaus zu produzieren,<br />
sei es auch nur, um in einem ersten Schritt hochwertige Lebensmittel<br />
für die Schule der eigenen Kinder zu produzieren.<br />
Die Produzenten lernten dabei eine Reihe von Problemen zu<br />
überwinden. Kooperativen wurden gegründet oder reorganisiert,<br />
Transportschwierigkeiten überwunden. Um Hygienebestimmungen<br />
einzuhalten, investierte man in den Umbau der<br />
Produktionsstätten. Für Kooperativen wurden Grenzwerte für<br />
eine maximale Höhe der jährlichen Aufkaufmenge festgelegt.<br />
Ökologisch hergestellte Produkte erhielten einen Preisaufschlag<br />
von 30%. Die durch das PAA-Programm erwirtschafteten Einkommen<br />
motivieren die Produzenten und helfen dabei, die<br />
Produktion auszuweiten und über die bisherigen garantierten<br />
schulischen und institutionellen Abnehmer hinaus die umliegenden<br />
Märkte zu erobern und mit Produkten zu beliefern.<br />
Die auf diese Weise hergestellten und vermarkteten Lebensmittel<br />
führten zu einer verbesserten Versorgung im ländlichen<br />
Raum und leisteten damit einen wichtigen Beitrag zur Ernährungssicherung.<br />
Gleichzeitig bildeten sie eine unabdingbare<br />
Einnahmequelle für die kleinbäuerliche, familiäre Landwirtschaft.<br />
Untersuchungen von ausgewählten Mikro-Regionen<br />
belegen auch die Wirkung des Programms bei der Erhöhung<br />
des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf in diesen Regionen.<br />
Die Erwartungen, die an das Programm gestellt wurden,<br />
sind bei weitem übertroffen worden und haben eine sehr<br />
viel höhere Wirkung entfaltet als ursprünglich geplant. Die<br />
eingesetzten Mittel stiegen von 81 Millionen Reais (2003)<br />
auf über 586 Millionen Reais (2012). Die Anzahl der mit dem<br />
Programm erreichten Personen erhöhte sich im gleichen<br />
Zeitraum von 40.000 auf 140.000 Familien. Das Programm<br />
PAA wurde mittlerweile von der Welternährungsorganisation<br />
(FAO) übernommen, um es in zehn afrikanischen und einigen<br />
lateinamerikanischen Staaten zu implementieren.<br />
Förderung agro-ökologischer Anbauweise<br />
Nach Angaben des statistischen Bundesamtes Brasiliens<br />
praktizieren lediglich 1,75% der landwirtschaftlichen Betriebe<br />
einen Anbau nach ökologischen Prinzipien. Hierbei handelt es<br />
sich allerdings in 82,6% der Fälle um Betriebe der kleinbäuerlichen,<br />
familiären Landwirtschaft. Lediglich 4,8% der Betriebe<br />
verfügen über eine offizielle Zertifizierung, die Voraussetzung<br />
für höhere Preise ist. Der Preisaufschlag von 30% wird im<br />
PAA-Programm nur für zertifizierte Betriebe gezahlt.<br />
Die starke Nachfrage nach Beratung agro-ökologischer<br />
Erfahrungen hat dazu geführt, dass unter Beteiligung von<br />
zwölf Ministerien und großer Nichtregierungsorganisationen<br />
ein landesweites Programm zur Stärkung der ökologischen<br />
Produktion aufgelegt wurde. Mit diesem Programm sollen auch<br />
vorhandene praktische Erfahrungen traditioneller Völker dokumentiert<br />
und verbreitet werden. Das Gesetz erlaubt es auch,<br />
ökologisch hergestellte Produkte direkt auf den umliegenden<br />
Märkten als solche anzubieten, ohne dass die Betriebe über<br />
eine Zertifizierung verfügen müssen.<br />
Ergänzt wird dieses Gesetz durch die „Bolsa Verde“ (grünes<br />
Stipendium). Mit dieser Maßnahme wird die Rolle der Kleinbauern<br />
als Naturschützer gestärkt. Die Produzenten erhalten<br />
eine finanzielle Zuwendung, wenn sie die vorhandene natürliche<br />
Vegetation auf ihren Grundstücken schützen oder sich<br />
dort, wo diese bereits geschädigt ist, dafür einzusetzen, die<br />
ursprüngliche Pflanzenvielfalt wieder herzustellen.<br />
Bereits seit 2009 gibt es des Weiteren ein Gesetz zur Förderung<br />
von Produkten aus der Sozio-Biodiversität. Gefördert<br />
wird u.a. der Anbau bestimmter Produkte wie Pequi, Babaçu,<br />
Buriti, Açaí, Castanha de Bauru, Castanha do Brasil, Umbu,<br />
Naturlatex – typische Produkte aus den sechs Biomen Brasiliens<br />
(Regenwald, Cerrado, Pantanal, Caatinga, Mata Atlântica,<br />
Pampa). Viele dieser Produkte sind oft nicht einmal in<br />
Brasilien bekannt oder in Vergessenheit geraten. Neben den<br />
üblichen Förderungen wie Beratung, günstige Kredite und<br />
Aufnahme in das Aufkaufprogramm der Conab wurden für<br />
diese Produkte, die überwiegend aus der Sammelwirtschaft<br />
stammen, garantierte Mindestpreise festgelegt. Produkte aus<br />
der Sammelwirtschaft gelten per se als ökologisch hergestellte<br />
Produkte. Mit diesem Gesetz soll erreicht werden, dass die<br />
ansässige Bevölkerung von den natürlich vorkommenden<br />
Produkten in ihrem Biom leben kann. Die Biome werden<br />
dadurch geschützt und als produktiv eingeschätzt, was den<br />
Landverkauf an Großinvestoren zum Anbau von Cash Crops,<br />
also ausschließlich für den freien Markt bestimmten landwirtschaftlichen<br />
Produkten, verhindern soll.<br />
Ob diese Programme, die den Kleinbauern zugute kommen,<br />
in Zukunft weiter existieren werden oder ob sie von der Regierung<br />
Temer liquidiert werden, muss die Zukunft zeigen.<br />
Dilma Rousseff die Umsetzung dieses von der PMDB nahen<br />
Stiftung vorgelegte neoliberale Programm nicht mittragen<br />
wollte. Das sei der Grund für den Bruch der Koalition und das<br />
Verfahren zur Amtsenthebung gewesen. In einer parlamentarischen<br />
Demokratie kann durch ein Misstrauensvotum im<br />
Parlament die Regierung in der Regel abgesetzt werden. In<br />
einer präsidialen Demokratie, in der der Präsident bzw. die<br />
Präsidentin direkt vom Volk gewählt wird wie in Brasilien, ist<br />
dies jedoch in der Verfassung nicht vorgesehen. Nur direkte<br />
Präsidentin führten, sondern auch, dass das ganze Verfahren<br />
nicht mit der Verfassung in Einklang stand und somit als<br />
kalter Putsch gelten muss.<br />
Was beinhaltet aber nun die viel umworbene „Brücke in<br />
die Zukunft“ tatsächlich? Es müsse gespart werden, so das<br />
Mantra des neuen Wirtschaftsministers. Die Ausgaben und<br />
damit das Haushaltsdefizit seien mit der Verfassung nicht<br />
vereinbar. Vor allem die Sozialausgaben sind der derzeitigen<br />
Übergangsregierung ein Dorn im Auge und so wurde ohne<br />
große Beratungen im Parlament eine Reihe von neuen Gesetzen<br />
verabschiedet, die die Sozialausgaben beschneiden.<br />
Das umfangreichste Gesetz ist die Schuldenbremse (PEC<br />
241), das die in den Wirtschaftsförderungsprogrammen PAC<br />
1 und PAC 2 (Programa de Aceleração do Crescimento) vorgesehenen<br />
Ausgaben für 20 Jahre einfrieren soll. Vor allem das<br />
Programm PAC 2 von 2010 sah Ausgaben in Höhe von 1,59<br />
Billionen Reais für Transport, Energie, <strong>Kultur</strong>, Umweltschutz,<br />
Gesundheit, sozialem Wohnungsbau und Sozialhilfe vor. Tatsächlich<br />
war der Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt<br />
(BIP) von einst 13,5% (1985) auf 23% (2015) des<br />
Bruttoinlandsproduktes gestiegen. Studien des IWF und der<br />
konservativen Heritage Stiftung gehen allerdings davon aus,<br />
dass es gerade die Ausgaben für Gesundheit und Bildung waren,<br />
die für den Anstieg des Wohlstandes entscheidend waren. In<br />
der Europäischen Union liegt der Anteil der Sozialausgaben<br />
bei durchschnittlich 28%.<br />
Der gestiegene Wohlstand lässt sich an folgenden Zahlen<br />
aufzeigen: Das BIP stieg von 459 Milliarden US-Dollar (2002)<br />
auf 2.4 Billionen US-Dollar (2014). Zudem wurde eine Sen-<br />
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