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(1896 bis 2006) - Evangelische Kirchengemeinde St. Markus

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AUS DER GESCHICHTE DER LAZARUS-GEMEINDE<br />

ANLÄSSLICH IHRES 110JÄHRIGEN BESTEHENS<br />

(<strong>1896</strong> <strong>bis</strong> <strong>2006</strong>)


Text und Gestaltung: Henrik Schiemann (Küster)<br />

Herausgeber: Der gemeinsame Gemeindekirchenrat der Ev.<br />

<strong>Kirchengemeinde</strong> <strong>St</strong>. Andreas und der Ev. Lazarus-<strong>Kirchengemeinde</strong><br />

Ev. Lazarus-<strong>Kirchengemeinde</strong><br />

Marchlewskistr. 40<br />

10243 Berlin<br />

Tel./Fax.: 030 – 296 02 90


„Das alte Lazarus ist nicht mehr. Lazarus war immer ein heißer Boden, aber<br />

das Wirken in dieser echten Großstadt-Gemeinde war doch schön. [...] Es hat<br />

mich alles erinnert an viel Gnade Gottes und an viel Sünde der Menschen.“<br />

Pfr. Kracht 1951 in einem Brief an eine<br />

ehemalige Gemeindehelferin zu ihrem<br />

25jährigen Dienstjubiläum.


INHALTSVERZEICHNIS<br />

Vorwort 7<br />

Überblick 9<br />

Gründungszeit und Entfaltung des Gemeindelebens<br />

(<strong>1896</strong> <strong>bis</strong> 1933) 11<br />

Nationalsozialismus (1933 <strong>bis</strong> 1945) 31<br />

Nachkriegszeit (1945 <strong>bis</strong> 1950) 47<br />

DDR – frühe Jahre (1950 <strong>bis</strong> 1965) 53<br />

DDR – mittlere und späte Jahre (1965 <strong>bis</strong> 1990) 61<br />

Jüngste Vergangenheit (seit 1990) 73<br />

Fazit 75<br />

Ausblick - von Pfarrerin Eva-Maria Menard 77<br />

Anhang<br />

Erinnerungen von Zeitzeugen<br />

Hannelore Bolte, geb. Seidler –<br />

zum Gemeindeleben (50er Jahre) 79<br />

Ernst-Ulrich Katzenstein –<br />

zur Tätigkeit seines Vaters<br />

Pfarrer Artur Katzenstein (40er und 50er Jahre) 84<br />

Dr. Reinhard Müller-Matthesius –<br />

zur Tätigkeit seines Vaters<br />

Pfarrer Walter Müller-Matthesius (50er Jahre) 88<br />

5


6<br />

Prof. Dr. Reinhard Tscheuschner –<br />

zur Tätigkeit seines Vaters<br />

Pfarrer Gerhard Tscheuschner (50er Jahre) 94<br />

Prof. Georg Hadeler –<br />

zur Gestaltung der Altarwand (1960) 100<br />

Pfarrer Alfred Beuse –<br />

zur „Offenen Jugendarbeit“ (70er Jahre) 102<br />

„Man geht glatt über uns hinweg“ –<br />

aus der Handakte von Pfarrer Kracht (1945) 105<br />

<strong>St</strong>atistiken zum Gemeindeleben 115<br />

Biogramme der Pfarrer und<br />

Übersicht der „Pfarrer-Generationen“ 121<br />

Dokumente 129<br />

Zeitungsberichte 139<br />

Bildnachweis 146<br />

Archive und Literatur 147<br />

Danksagung 149


VORWORT<br />

Am 1. Februar <strong>2006</strong> ist es 110 Jahre her, dass die Lazarus-Gemeinde<br />

gegründet wurde. Dieses Jubiläum fällt zusammen mit dem Ende<br />

ihrer Selbstständigkeit durch Fusion mit der benachbarten <strong>St</strong>. Andreas-<br />

Gemeinde. 110 Jahre sind für eine <strong>Kirchengemeinde</strong> eine recht kurze<br />

Zeit, doch könnten Beginn und Ende der Existenz von Lazarus kaum<br />

gegensätzlicher sein. Waren am Ende des 19. Jahrhunderts durch das<br />

Bevölkerungswachstum Gemeindeteilungen und -neugründungen<br />

notwendig, so steht man gegenwärtig inmitten eines ungebremsten<br />

Schrumpfungsprozesses der Kirche an Mitgliedern, Finanzen und<br />

einstigen Gewissheiten; Gemeinden werden zusammengelegt, der<br />

Gebäude- und Personalbestand reduziert und man sucht nach neuen<br />

Ordnungen und Formen für die Gemeindearbeit.<br />

Die Geschichte der Lazarus-Gemeinde trägt – wie die eines<br />

Individuums – eigene, unverwechselbare Züge und steht in ihren<br />

Grundzügen doch exemplarisch für die Geschichte der meisten Ost-<br />

Berliner <strong>Kirchengemeinde</strong>n. Diese Schrift will einen Überblick geben<br />

und Interesse wecken, sich anhand eines konkreten Beispiels den<br />

Problemen der <strong>Kirchengemeinde</strong>n in den einzelnen geschichtlichen<br />

Epochen zu nähern.<br />

7


ÜBERBLICK<br />

Die Lazarus-Gemeinde liegt inmitten des Bezirkes Berlin-Friedrichshain<br />

und wird im Norden von der Karl-Marx-Allee, im Süden von der<br />

Revaler <strong>St</strong>raße, Helsingforser <strong>St</strong>raße und Singerstraße, im Westen von<br />

der Koppenstraße und im Osten von der Simon-Dach-<strong>St</strong>raße<br />

begrenzt.<br />

Der Gemeindebereich mit einer Fläche von 85 ha ist sowohl von der<br />

Bebauung als auch von der Wohnbevölkerung unterschiedlich<br />

strukturiert; um die Warschauer <strong>St</strong>raße dominieren Mietskasernen der<br />

Jahrhundertwende, im nördlichen und westlichen Bereich stehen<br />

vorwiegend Bauten der 50er Jahre, zum Teil auch Plattenbauten aus<br />

den 70er und frühen 80er Jahren.<br />

In den Altbauten wohnen viele junge Menschen, vor allem <strong>St</strong>udenten.<br />

Die Fluktuation ist hier hoch. Pro Monat erfolgen je 20 <strong>bis</strong> 50 Zuund<br />

Wegzüge. In den anderen Wohnvierteln leben vorrangig Menschen<br />

über 50 Jahre und junge Familien.<br />

Kartenausschnitt des Kirchenkreises Berlin <strong>St</strong>adtmitte.<br />

9


10<br />

Die Gemeinde hat 2.100 Mitglieder (14% der Einwohnerschaft).<br />

Damit ist sie im Vergleich zu den anderen Friedrichshainer Gemeinden<br />

von mittlerer Größe.<br />

Die alte Lazaruskirche wurde im letzten Krieg zerstört. Seit den 50er<br />

Jahren dient daher das Gemeindehaus mit Kirchsaal aus dem Jahre<br />

1931 als gottesdienstliche <strong>St</strong>ätte. Sie liegt zentral im Gemeindebereich<br />

in der Marchlewskistraße 40, wird aber wegen der nach hinten gesetzten<br />

Lage auf dem Grundstück kaum wahrgenommen und ist auch als<br />

kirchlicher Raum nicht auf den ersten Blick zu erkennen.<br />

In der Gemeinde kommen Menschen unterschiedlicher Generationen<br />

zusammen und tauschen sich aus. Es werden die traditionellen Formen<br />

der Gemeindearbeit gepflegt: Christenlehre, Konfirmandenunterricht,<br />

Junge Gemeinde, Seniorenkreis, Bibelkreis, Singekreis.<br />

Seit dem 1. Oktober 2000 ist Lazarus mit der <strong>St</strong>. Andreas-Gemeinde<br />

zu einem Pfarrsprengel unter dem Namen <strong>St</strong>. <strong>Markus</strong> verbunden,<br />

um miteinander die Gemeindearbeit zu gestalten und gemeinsames<br />

Personal (Pfarrer, Mitarbeiter für Kinder- und Jugendarbeit, Hausund<br />

Kirchwartin, Kirchenmusikerin, Küster) beschäftigen zu können.<br />

Doch wäre ohne das große Engagement Ehrenamtlicher die<br />

Gemeindearbeit nicht durchführbar.<br />

Seit 2004 gibt es auch eine gemeinsame Gemeindeleitung. Die Fusion<br />

und die Errichtung eines neuen Kirchengebäudes wurden beschlossen.


GRÜNDUNGSZEIT UND ENTFALTUNG DES<br />

GEMEINDELEBENS (<strong>1896</strong> <strong>bis</strong> 1933)<br />

Gemeindegründung am 1. Februar <strong>1896</strong> – Einweihung der<br />

Lazaruskirche am 14. Dezember 1907 – Pfarrer und<br />

Gemeindeleben – Einweihung des Gemeindehauses 1931 – mit<br />

70.000 Mitgliedern 1932 Berlins größte Gemeinde<br />

Im Februar <strong>1896</strong> informierten Plakate<br />

die evangelischen Bewohner jedes<br />

Hauses zwischen Rüdersdorfer <strong>St</strong>raße<br />

und Frankfurter Allee, zwischen<br />

Koppenstraße und Simon-Dach-<strong>St</strong>raße,<br />

dass sie aus ihrer <strong>bis</strong>herigen Gemeinde<br />

<strong>St</strong>. <strong>Markus</strong> (Kirche am <strong>St</strong>rausberger<br />

Platz) ausgemeindet worden waren und<br />

nunmehr zur Lazarus-Gemeinde<br />

gehörten. Über 54.000 Menschen waren<br />

davon betroffen. Neben Lazarus<br />

wurden auch Samariter und Auferstehung<br />

von <strong>St</strong>. <strong>Markus</strong> unabhängige,<br />

selbstständige Gemeinden.<br />

Diese Ausgründungen wurden einige<br />

Jahre vorbereitet. Damals war noch nicht<br />

das gesamte Gelände erschlossen. Es<br />

gibt ein eindrucksvolles Foto der<br />

Samariterkirche, das sie völlig freistehend<br />

auf Ackerland zeigt.<br />

Auch das später der Lazarus-Gemeinde<br />

zugewiesene Gebiet befand sich noch<br />

in städtebaulicher Entwicklung und<br />

wurde in den folgenden Jahren auf<br />

Grund starken Zuzugs mehr und mehr<br />

bebaut. Dabei dominierte die<br />

Mietskaserne, so dass die Zahl der<br />

Gemeindemitglieder rasch anstieg. Als<br />

Übergangslösung wurden für diesen<br />

Dieses Plakat informierte im Februar <strong>1896</strong> die ev.<br />

Christen rund um die Warschauer <strong>St</strong>raße über ihre<br />

neue Gemeindezugehörigkeit. Mehr als 54.000<br />

Menschen waren davon betroffen, für die in der<br />

Anfangszeit drei Pfarrer zuständig waren.<br />

11


Der erste Pfarrer war Otto Köster.<br />

49jährig und aus Wernigerode<br />

stammend, hatte er schon gut 10 Jahre<br />

an <strong>St</strong>. <strong>Markus</strong> amtiert und war dann mit<br />

dem Aufbau der neuen Gemeinde<br />

betraut worden. Drei Monate später, im<br />

Mai <strong>1896</strong>, wurde eine zweite Pfarrstelle<br />

eingerichtet und mit dem 30 Jahre alten<br />

Gutsbesitzersohn Max v. Gersdorff<br />

besetzt. In die dritte Pfarrstelle (am 1.<br />

Die Samariterkirche stand 1895 noch auf Februar 1897 geschaffen) berief man<br />

freiem Feld. Wenige Jahre später war sie von den ebenfalls 30 Jahre alten Johannes<br />

Mietskasernen umgeben. Lazarus erhielt eine große Roeber. Die drei Pfarrer begleiteten und<br />

Kirche erst 11 Jahre nach der Gemeindegründung. gestalteten die junge Gemeinde, und<br />

man rühmte besonders das Wirken<br />

Kösters (der Lazarus-Pfarrer Kracht pries ihn später als „selten<br />

geistesgewaltigen Prediger“). In ihre Amtszeit fielen der schwierige<br />

Beginn und die erste Entfaltung des Gemeindelebens.<br />

Der Bau einer großen Kirche wurde in Angriff genommen, war<br />

allerdings nicht einfach zu organisieren. Die Baupläne des Potsdamer<br />

Baurats Friedrich Wilhelm Wever lagen 1903 vor, aber es gab<br />

Schwierigkeiten, Baugrund zu finden und das Vorhaben zu finanzieren.<br />

So vergingen <strong>bis</strong> zur Grundsteinlegung in der Romintener <strong>St</strong>r. (heute<br />

Grünberger <strong>St</strong>r.)/Ecke Kadiner <strong>St</strong>raße volle zwei Jahre. Das<br />

Königshaus ließ sich zu diesem Ereignis am 20. Oktober 1905 durch<br />

den Kammerherrn v. Winterfeld vertreten, immerhin aber waren der<br />

Bürgermeister von Berlin und der <strong>St</strong>adtverordneten-Vorsteher neben<br />

12<br />

Bereich „Filialgottesdienste“ in der Aula<br />

der Schule in der Tilsiter <strong>St</strong>raße (heute<br />

Richard-Sorge-<strong>St</strong>raße) gehalten, <strong>bis</strong> dann<br />

die spätere Lazarus-Gemeinde am 19.<br />

Juni 1892 ein eigenes Gotteshaus erhielt,<br />

das aber bald den Ansprüchen nicht<br />

mehr genügte. Die Fachwerkkapelle bot<br />

700 Menschen Platz, war im Sommer<br />

heiß und an Festtagen überfüllt.


kirchlicher Prominenz<br />

anwesend. Die Einweihung<br />

der Kirche erfolgte<br />

am 14. Dezember 1907<br />

im Beisein des Kronprinzen.<br />

Der Berliner<br />

Lokalanzeiger berichtete<br />

am folgenden Tag: Als<br />

das Automobil des<br />

Kronprinzen am Portal<br />

vorfuhr, setzte ein Jubel der<br />

Jugend ein, der alles, auch die<br />

Begrüßungsansprache des<br />

Generalsuperintendenten<br />

Faber laut übertönte. Nach<br />

Übergabe des Schlüssels und<br />

Oeffnung der Kirchentür<br />

betrat der Kronprinz, dem<br />

zwei junge Damen [...]<br />

duftende Nelkensträuße für<br />

ihn und seine Gemahlin<br />

überreicht hatten, hinter den<br />

die heiligen Gefäße tragenden<br />

Kirchenältesten das strahlend<br />

Max v. Gersdorff (<strong>1896</strong>-<br />

1908) war neben Köster<br />

maßgeblich an der Gestaltung der<br />

Anfänge der Gemeindearbeit<br />

beteiligt. „Er macht einen sympathischen<br />

Eindruck, besitzt eine<br />

wohlklingende <strong>St</strong>imme” –<br />

urteilte der Generalsuperintendent<br />

von Magdeburg,<br />

nachdem er Gersdorffs Predigt am<br />

3. Advent 1907 in der<br />

Lazaruskirche gehört hatte.<br />

Otto Köster (<strong>1896</strong>-1910)<br />

kam von <strong>St</strong>. <strong>Markus</strong> und<br />

begleitete wesentlich die<br />

Ausgründung der Lazarus-<br />

Gemeinde. Unter seiner Leitung<br />

erfolgte der Bau der großen<br />

Lazaruskirche. „Ein selten<br />

geistesgewaltiger Prediger”<br />

lautete postum das Lob. Später<br />

wurde er Superintendent des<br />

Kirchenkreises Berlin <strong>St</strong>adt III<br />

(Teile von Prenzlauer Berg und<br />

Mitte).<br />

Ausschnitt aus einem Notizbuch, in dem Max v. Gersdorff als <strong>St</strong>udent seine Predigten niederschrieb.<br />

13


Wever war ein eindrucksvoller Bau<br />

gelungen; bald nannte der Volksmund<br />

die Lazaruskirche „Dom des Ostens“.<br />

Die Kirche mit einer Breite von 25<br />

Metern, einer Länge von 53 Metern und<br />

einer Höhe des Schiffes von 29 Metern<br />

bot Raum für 1.100 Sitzplätze (die<br />

maximale Besucherzahl wird mit 1.450<br />

angegeben). Auffällig waren der 66<br />

Meter hohe, eigenwillig gestaltete Turm<br />

und die Rosettenfenster an den Seiten –<br />

die größten in Berlin. Die Fenster des<br />

Altarraumes wurden allseits bewundert;<br />

sie stellten biblische Geschehnisse in<br />

Bethanien, der Heimat des Lazarus, dar.<br />

Reliefs mit Szenen aus den Evangelien<br />

Die „Interimskapelle” stellte eine schmückten die Emporen [s. Anhang].<br />

Zwischenlösung <strong>bis</strong> zum Bau der großen Lazaruskirche Um zusätzliche Mittel für die künstle-<br />

dar. Sie wurde am 19. Juni 1892 eingeweiht, war mit rische Ausstattung zu beschaffen, führte<br />

700 Plätzen jedoch bald zu klein für die Bedürfnisse Pfarrer Roeber mit 500 Mitspielern die<br />

der wachsenden Gemeinde. Heute steht die Festspiele „Luther und Melanchthon“<br />

Fachwerkkapelle in Lobetal.<br />

auf. Der aus den mehrfach wiederholten<br />

Veranstaltungen gewonnene Überschuss<br />

ermöglichte die Bezahlung sämtlicher Glasmalereien für die Fenster<br />

im Altarraum.<br />

14<br />

erleuchtete, <strong>bis</strong> auf das letzte Plätzchen gefüllte<br />

Innere der Kirche [...]<br />

Die Glocken für die Lazaruskirche hatte die Firma Voss & Sohn in<br />

<strong>St</strong>ettin gegossen. Es waren vier Bronze-Glocken, die in den Tönen<br />

„cis – e – g – b“ klangen und nach den Worten Kösters „ein vollendet<br />

schönes Geläut“ gaben. Die drei großen Glocken mussten im 1.<br />

Weltkrieg abgegeben werden, nur die kleinste verblieb der Gemeinde.<br />

Ersatz wurde erst 1922 durch drei von der Firma Ulrich und Weule,<br />

Apolda-Bockenem, gefertigten Eisenguss-Glocken mit den Tönen


„e – g – b“ geschaffen, zu deren<br />

Finanzierung man die letzte Bronze-<br />

Glocke verkaufte. Die Weihe des neuen<br />

Geläuts fand am 8. Oktober 1922 statt.<br />

Um 1908/1910 vollzog sich bei den<br />

Pfarrern ein Generationswechsel. Die<br />

drei <strong>bis</strong>herigen Pfarrer übernahmen<br />

andere Ämter. Köster ging zur Zions-<br />

Gemeinde in Berlin-Mitte, wurde<br />

Superintendent des Kirchenkreises Berlin<br />

<strong>St</strong>adt III (Teile von Prenzlauer Berg und<br />

Mitte) und blieb dort <strong>bis</strong> zu seiner<br />

Emeritierung im Jahre 1928. Roeber<br />

wurde Seemannsgeistlicher (wahrscheinlich<br />

in Brighton/England) und später<br />

Pfarrer der deutschen Gemeinde in<br />

Newcastle/England. Wegen des Beginns<br />

des 1. Weltkrieges – die deutsche<br />

Gemeinde wurde geschlossen – kam er<br />

nach vorübergehender Internierung in Der Altarraum der Kapelle.<br />

einem schottischen Lager nach<br />

Deutschland zurück, war zwei Jahre in der Altmark für die Betreuung<br />

mehrerer Dörfer zuständig und hatte ab 1916 das Pfarramt in Calbe/<br />

Saale inne. Er verstarb in Berlin und wurde auf dem Georgenfriedhof<br />

begraben.<br />

Pfarrer von Gersdorff bewarb sich um die 1. Domprediger-<strong>St</strong>elle in<br />

Naumburg/Saale. Sein Bewerbungsschreiben an das Domkapitel des<br />

Hochstifts Naumburg vom 30. Oktober 1907 gewährt Einblicke in<br />

die Zustände an der Lazarus-Gemeinde Anfang des 20. Jahrhunderts,<br />

die typisch für alle großen Berliner Gemeinden waren:<br />

„Im Dezember <strong>1896</strong> siedelten wir nach Berlin über; zur Bewerbung um meine<br />

jetzige <strong>St</strong>elle hatte mich besonders der Wunsch veranlaßt, eine größere Tätigkeit<br />

zu bekommen, und ich war dankbar, daß unter den 52 Bewerbern die Wahl auf<br />

mich fiel. In den 11 Jahren, die ich nun hier in einer Berliner Vorstadtgemeinde<br />

wirken darf, habe ich mich immer wohl und befriedigt gefühlt. Unter den großen,<br />

15


Die Lazaruskirche in der Romintener (heute<br />

Grünberger)/Ecke Kadiner <strong>St</strong>raße bestimmte weithin<br />

das <strong>St</strong>raßenbild und wurde im Volksmund „Dom des<br />

Ostens” genannt. Die massige Front des 66 Meter<br />

hoch aufragenden Turmes wirkte trutzig und ließ<br />

das Portal und die umgebenden Häuser klein<br />

erscheinen.<br />

16<br />

der Kirche entfremdeten Massen ist doch immer<br />

noch ein für Gottes Wort empfänglicher Kern.<br />

Wir haben guten Kirchenbesuch, und auch in<br />

der Sammlung von kleineren Kreisen zur<br />

Befestigung und Vertiefung in Gottes Wort ist<br />

die Arbeit nicht vergeblich gewesen. Wenn ich<br />

trotzdem daran denke, event. fortzugehen, so<br />

geschieht es hauptsächlich aus Rücksicht auf<br />

meine 3 Knaben, die im Alter von 13, 9 und 5<br />

Jahren stehen; ich kann mich bei meiner<br />

außerordentlich angespannten Berufstätigkeit in<br />

einer Gemeinde mit 70.000 Seelen – von denen<br />

20.000 etwa auf meinen Seelsorgebezirk<br />

kommen – wenig um die Erziehung meiner 3<br />

Kinder bekümmern und möchte ihnen auch<br />

etwas mehr Luft verschaffen [...]. Neben der<br />

Rücksicht auf meine Familie macht sich aber<br />

auch bei aller Befriedigung der Wunsch geltend,<br />

wieder einmal in überschaubare Verhältnisse<br />

zu kommen;<br />

man hat hier sehr oft das Gefühl, unter der<br />

uferlosen Fülle von Ansprüchen und<br />

Verpflichtungen zu ertrinken, und es muß<br />

manches, was man gern täte, aus Mangel an<br />

Zeit unterbleiben.“<br />

Der Generalsuperintendent von<br />

Magdeburg, der zur Beurteilung v.<br />

Gersdorffs dem Gottesdienst am 3.<br />

Advent um 18.00 Uhr beiwohnte,<br />

schilderte seine Eindrücke wie folgt: „Die Tags zuvor eingeweihte neue<br />

Kirche war <strong>bis</strong> auf den letzten Platz gefüllt. Ein neben mir sitzender Mann<br />

machte mich auf den am Altar erscheinenden Pastor aufmerksam: „das ist der<br />

Pastor v. Gersdorff, den höre ich gar zu gern!“ Die Zuhörerschaft schien,<br />

entsprechend dem Abendgottesdienst, meist den sog. Kleinen Leuten anzugehören.<br />

Den Umständen war dann auch die Predigt angemessen. [...] Überhaupt erscheint


Die Fenster des Altarraumes<br />

finanzierte man mit dem Erlös aus<br />

Aufführungen von christlichen<br />

Festspielen.<br />

Portal der Lazaruskirche. Rechts<br />

daneben eine Gedenktafel für die<br />

Gefallenen des 1. Weltkriegs.<br />

Die Lazaruskirche – vom Architekten Wever<br />

entworfen – wurde nach gut zweijähriger Bauzeit<br />

am Vorabend des 3. Advent, am 14. Dezember 1907,<br />

im Beisein des Kronprinzen eingeweiht.<br />

der Prediger als eine sehr ernste Persönlichkeit, der mehr an das Gewissen, als an<br />

den Intellekt seiner Hörer sich richtet.“<br />

Max v. Gersdorff wurde dann am 3. Mai 1908 in das Naumburger<br />

Amt gewählt und zugleich Superintendent. Er nahm sich am 1.<br />

November 1914 aus Kummer um seinen im Krieg gefallenen ältesten<br />

Sohn das Leben.<br />

17


„Die Auferweckung des Lazarus” – solche Reliefs mit Szenen der Heilsgeschichte schmückten die Emporen.<br />

18<br />

Das Innere der Lazaruskirche wirkte nicht<br />

wie ein Neubau, sondern mit roten Marmorsäulen<br />

und neugotischen Kreuz- und <strong>St</strong>erngewölben<br />

„geschichtlich geworden”. Der Kirchraum war reich<br />

geschmückt, u.a. mit Reliefs zu biblischen Szenen.<br />

Skulpturen an den Säulenkapitellen stellten neben<br />

anderen die Gesichter des ersten Pfarrers, Otto<br />

Köster, und des Architekten Friedrich Wilhelm<br />

Wever dar. Reiche Holzschnitzereien zierten Altar<br />

und Kanzel. Die drei großen elektrischen<br />

Kronleuchter waren der Kaiser-, Königs- und<br />

Kurfürstenkrone nachempfunden. Besonders die<br />

Fenstermalereien wurden gerühmt. Die Kirche<br />

verfügte über 1.100 Sitzplätze, das Kirchenschiff<br />

hatte eine Höhe von 29 Metern [s. Anhang].


Wegen der steigenden Zahl der Mitglieder wurden für die Lazarus-<br />

Gemeinde zwei weitere Pfarrstellen eingerichtet. In die 4. Pfarrstelle<br />

(1905 geschaffen) kam Hermann Wagner, in die 5. Pfarrstelle (1915)<br />

Otto Köhler. Köhler hatte (wie seine Enkelin Frau Ellen Lanz berichtet)<br />

eigentlich nicht – wie es der Vater wünschte – Pfarrer, sondern Offizier<br />

werden wollen und nahm auch am 1. und später am 2. Weltkrieg als<br />

Offizier teil. Ihm lag die „Kanzel“ nicht, aber er war ein aktiver und<br />

beliebter Seelsorger, der sein Amt auch für die Vertretung seiner<br />

politischen Ansichten zu nutzen verstand. Köhler besaß kirchenpolitischen<br />

Ehrgeiz und strebte eine Position in der Kirchenleitung an.<br />

Als sich dieses Ziel – vermutlich wegen seiner Zugehörigkeit zum<br />

Kreis um den ev. Pfarrer und Mitbegründer der liberalen Deutschen<br />

Demokratischen Partei Friedrich Naumann – nicht erfüllte, ging er aus<br />

Enttäuschung von Berlin fort und 1918 als Pfarrer an die <strong>St</strong>. Nikolaikirche<br />

nach Greifswald. Am 4. Januar 1946 verhaftete ihn die<br />

Johannes Roeber (1897-1908) hatte, bevor er nach Lazarus kam, an der <strong>St</strong>. <strong>Markus</strong>-<br />

Gemeinde amtiert. Dem Andenken Pfarrer Roebers widmete die Lazarus-Gemeinde später<br />

eine ihrer Kirchenglocken. Von 1909-1914 leitete er die dt. Gemeinde in Newcastle/<br />

England. Wegen des Ausbruchs des 1. Weltkrieges zeitweise in einem schottischen Lager<br />

interniert, kehrte er mittellos nach Deutschland zurück. Dieses Bild zeigt ihn (sitzend,<br />

in der Mitte) zusammen mit dem GKR der dt. Gemeinde in Newcastle im Jahre 1912.<br />

19


Otto Köhler (1915-1918)<br />

gehörte dem Kreis um den ev.<br />

Theologen und liberalen<br />

Politiker Friedrich Naumann<br />

an. Enttäuscht über fehlgeschlagene<br />

Bemühungen um<br />

eine Position in der Kirchenleitung<br />

ging er aus Berlin fort<br />

nach Greifswald. Nach dem 2.<br />

Weltkrieg wurde er unter<br />

falschen Anschuldigungen von<br />

sowjetischer Polizei verhaftet.<br />

Er verstarb in Lagerhaft.<br />

20<br />

sowjetische Militärpolizei in seinem Greifswalder<br />

Pfarrhaus. Man warf ihm die Zugehörigkeit zu einer an<br />

Kriegsverbrechen beteiligten Wehrmachtseinheit vor –<br />

eine Anschuldigung, die erwiesenermaßen unbegründet<br />

war – und verbrachte ihn in das Speziallager 10 in Torgau,<br />

wo er am Heiligen Abend 1946 infolge allgemeiner<br />

Erschöpfung starb. [Diese Informationen stellte uns<br />

freundlicherweise Sup. i.R. Rainer Neumann (Greifswald)<br />

zur Verfügung.] Köhler wird in das „Märtyrer-Buch“<br />

aufgenommen, dessen Herausgabe die EKD vorbereitet.<br />

In dieser „2. Pfarrer-Generation“ Anfang des 20.<br />

Jahrhunderts gab es häufig Wechsel in den Pfarrstellen,<br />

nur Hermann Wagner, Kurt Baumert und Otto Schulz<br />

blieben mit 14, 10 bzw. 7 Jahren länger im Amt. Vier<br />

von fünf Pfarrern verließen die Lazarus-Gemeinde in<br />

den Revolutionsjahren 1918/1919.<br />

Dann folgte eine Phase größerer Kontinuität. Alle fünf<br />

Pfarrstellen blieben die gesamte Zeit der Weimarer<br />

Republik bzw. darüber hinaus mit denselben Pfarrern<br />

besetzt. Diese hatten zwar ganz unterschiedliche<br />

Arbeitsweisen und theologische Ausrichtungen, dennoch<br />

wurden diese Jahre später als die „größten“ für Lazarus<br />

empfunden.<br />

Gustav Lengning, gebürtig in Seeburg/Ostpreußen als<br />

Sohn eines Amtsgerichtssekretärs, war schon 50 Jahre<br />

alt, als er 1916 das Pfarramt in der Gemeinde antrat.<br />

Besonders engagiert in der Jugendarbeit, sammelte er einen Kreis von<br />

Jugendlichen um sich. Am 2. Juli 1933 nahm er die Trauung von 47<br />

Brautpaaren der Deutschen Christen an Lazarus vor. Seine Emeritierung<br />

auf eigenen Wunsch erfolgte im gleichen Jahr.<br />

Der Berliner Fritz Sasse war noch keine 30 Jahre alt, als ihm 1918 die<br />

4. Pfarrstelle der Gemeinde übertragen wurde. Er hatte einen Hang<br />

zum Militärischen. Seit 1916 war er Festungsgarnisonpfarrer in Danzig<br />

und zum Ende des Krieges Feldgeistlicher. Während des Krieges erhielt<br />

er das Eiserne Kreuz II, die Rot-Kreuz-Medaille III, später auch das<br />

Ehrenkreuz für Frontkämpfer. Er gehörte der Loge „Zu den drei


Weltkugeln“ an, einer von neun, 1933 insgesamt 76.000<br />

Mitglieder umfassenden Freimaurer-Großlogen in<br />

Deutschland, und war ein Jahr lang deren Vorsitzender<br />

(„Meister vom <strong>St</strong>uhl“). Seine Frau leitete die Frauenhilfe<br />

der Gemeinde.<br />

Sasse wollte Lazarus verlassen, nachdem es offenbar<br />

Spannungen mit den Amtsbrüdern und der<br />

Gemeindeleitung gegeben hatte. Nach einer fehlgeschlagenen<br />

Bewerbung an einer anderen Berliner Gemeinde<br />

wollte er auch Berlin den Rücken kehren und bewarb<br />

sich 1932 in Krahne, Krs. Lehnin. In einem Empfehlungsschreiben<br />

aus der Superintendentur für den<br />

Superintendenten in Lehnin hieß es: „Er ist ein guter<br />

Prediger und ein treuer Seelsorger und durchaus national<br />

gesonnen.“ Sasses Passion für das Militärische geht auch<br />

aus seinem in Krahne gestellten Antrag auf Urlaub hervor.<br />

In diesem Urlaub wollte er an einer militärischen Übung<br />

teilnehmen, weil er dann im Kriegsfall gleich Offizier<br />

Gustav Lengning (1916-<br />

1933) nahm am 2. Juli 1933<br />

die berüchtigte Massentrauung<br />

der „Deutschen Christen” der<br />

Lazarus-Gemeinde vor.<br />

Glockenweihe am 8. Oktober 1922. Das ursprüngliche Bronze-Geläut hatte im 1. Weltkrieg<br />

abgegeben werden müssen. Die drei Eisenguss-Glocken - von der Firma Ulrich und Weule in Apolda-<br />

Bockenem gegossen - bildeten den Ersatz, <strong>bis</strong> 1936 erneut ein Bronze-Geläut angeschafft wurde.<br />

21


Fritz Sasse (1918-1932)<br />

gehörte der Freimaurerloge „Zu<br />

den drei Weltkugeln” an. Der<br />

Superintendent urteilte: „Er ist<br />

ein guter Prediger und ein treuer<br />

Seelsorger und durchaus<br />

national gesonnen.” Sasse geriet<br />

später in gefährliche Konflikte<br />

mit den Nazis. Seinem Sohn,<br />

wegen „politischer Äußerungen”<br />

verhaftet, hatte er das Todesurteil<br />

zu überbringen.<br />

22<br />

werden könne und ihm diese Übungen ein „Jungbrunnen<br />

für Leib und Seele“ seien.<br />

Einen Eindruck von Sasses Persönlichkeit vermitteln auch<br />

folgende Schilderungen: „Er sei ein Feuerwehrmann gewesen,<br />

auch Inspektor aller Freiwilligen Feuerwehren im Kreis Zauche-<br />

Belzig. Er sei sehr trinkfest gewesen. Gelegentlich habe er an langen<br />

Sonnabend-Versammlungen der Feuerwehr mitgemacht und sei dann<br />

erst am Sonntag morgens nach hause gekommen, habe sofort den<br />

Talar über die Feuerwehrkluft gezogen und Gottesdienst gehalten.“<br />

1939 wechselte Sasse nach Berlin-Johannisthal, nachdem<br />

es mit dem Ortsgruppen- bzw. Bezirksleiter der NSDAP<br />

gefährliche Spannungen gegeben hatte. Sein Sohn<br />

Johannes wurde als Unteroffizier wegen politischer<br />

Äußerungen verhaftet und am 19. Juni 1944 hingerichtet.<br />

Sasse hatte ihm das Urteil des Reichsgerichts zu überbringen<br />

und war in den letzten <strong>St</strong>unden und bei der<br />

Vollstreckung bei ihm. Pfarrer Sasse erkannte man später<br />

als „Opfer des Faschismus“ an. [Die Mitteilungen zu<br />

Pfarrer Sasse verdanken wir der freundlichen Mithilfe<br />

von Pfarrer i.R. Pachali, der 1974 nach Krahne kam und<br />

dort Menschen traf, die Pfarrer Sasse noch kannten.]<br />

Paul Eichler, 1864 in Delitzsch als Sohn eines Fabrikbesitzers<br />

geboren, war lange im Ausland als Pfarrer<br />

deutscher Gemeinden: an <strong>St</strong>. Petri in Kopenhagen (1895)<br />

und in Antwerpen (1899 <strong>bis</strong> 1919). Sein Amtsantritt in<br />

der Lazarus-Gemeinde im Jahre 1919 war nicht unumstritten; die<br />

Wahl fiel mit 22 gegen 16 <strong>St</strong>immen recht knapp aus. In einem<br />

Rundschreiben der „Positiven Fraktion der Lazarus-Kirchen-Gemeinde“<br />

(„Bibeltreue“) vom 28. Juli 1919 hieß es:<br />

„Sehr geehrter Herr Kollege! Am Sonntag, dem 3. August 1919, wird die<br />

Einführung des Pfarrers stattfinden. Unser Interesse an diesem Ereignis ist ja<br />

bekannt, da wir dem einzuführenden Herrn in religiöser Anschauung fremd<br />

gegenüberstehen. In Erwägung ziehen möchte ich jedoch, ob aus politischen Gründen<br />

eine Beteiligung unsererseits an dieser Einführung geboten scheint.<br />

Nach meinem Dafürhalten ja!


Ich würde es nicht für klug halten, wenn unsere Fraktion durch<br />

Abwesenheit demonstrieren sollte. Eine mündliche Besprechung halte<br />

ich nicht für nötig, stelle es jedem Mitgliede frei, selbst darüber zu<br />

bestimmen; würde aber eine Beteiligung mehrerer Herren immerhin<br />

begrüssen. Mit treu positivem Gruss! H. Helm, Vorsitzender“<br />

Diese Gruppe stand der „positiven Theologie“ nahe, einer<br />

konservativen Richtung, die im Gegensatz zur „liberalen“<br />

und „historisch-kritischen“ Betrachtungsweise an der<br />

biblischen Vorstellungswelt und den dogmatischen<br />

Aufbahrung Pfr. v. Schneidemessers in der<br />

Lazaruskirche für die Trauerfeier am 17. Oktober 1934<br />

vor seiner Überführung nach Naumburg/Saale.<br />

Johannes v. Schneidemesser<br />

(1919-1934), Sohn<br />

des Superintendenten, war<br />

Vorstands- und später Ehrenmitglied<br />

der „Glaubensgemeinschaft<br />

für biblisches Christentum”<br />

(„Positive Fraktion”) an<br />

der Lazarus-Gemeinde. Diese<br />

Gruppe stand im Gegensatz zur<br />

„liberalen Theologie” und hielt<br />

an der Bibel und den dogmatischen<br />

Traditionen fest.<br />

23


Traditionen (z.B. die Geburt Jesu von<br />

der Jungfrau) festhielt.<br />

Der „Positive Parochialverein“ gab ein<br />

eigenes Informationsblatt heraus und<br />

hatte in der Lazarus-Gemeinde <strong>bis</strong> in<br />

die 30er Jahre hinein Gewicht; dann<br />

wurde er von den Deutschen Christen<br />

verdrängt.<br />

Die „Positive Fraktion“ der Lazarus-<br />

Der Lazarus-Bote war ein Informationsblatt, das Gemeinde nahm auch weiterhin an<br />

die konservative und <strong>bis</strong> in die 30er Jahre einflussreiche Eichler Anstoß, der nach ihrem Empfin-<br />

„Positive Fraktion” herausgab.<br />

den die „Positiven“ herabwürdigte. Eichler<br />

wurde in der gesellschaftlich aufgeheizten<br />

Situation zu Beginn der Weimarer Republik darüber hinaus das<br />

Politisieren von der Kanzel vorgeworfen. Die spannungsgeladene<br />

Atmosphäre der Zeit wird auch an einem weiteren Beispiel deutlich.<br />

Pfarrer Kracht, der ebenfalls 1919 an die Lazarus-Gemeinde<br />

gekommen war, beschwerte sich beim Konsistorium, dass Eichler zu<br />

einer Gemeindeveranstaltung zum Thema der Kirchenwahlen 1920<br />

ein „rotes Plakat“ am „Jahrestag der russischen Revolution“ ausgehängt<br />

hatte, was sein „nationales Empfinden“ beleidige.<br />

Der Superintendent Dr. Karl v. Schneidemesser erlebte Eichler als ein<br />

„cholerisches Temperament von seltener Unverfrorenheit“ und als<br />

einen Mann „vieler Worte“. Eichlers Amtszeit endete 1933 mit der<br />

Emeritierung.<br />

Johannes v. Schneidemesser, 1882 in Schlesien geboren, war Sohn des<br />

Superintendenten von Berlin <strong>St</strong>adt I (Friedrichshain sowie kleine Teile<br />

von Prenzlauer Berg und Mitte) Dr. Karl v. Schneidemesser. Wie Sasse<br />

fand er seine Aufgabe lange beim Militär. Nach seiner Ordination im<br />

Jahre 1911 war er Militär-Hilfsgeistlicher, 1912 Divisionspfarrer in<br />

Diedenhofen/Lothringen und zum Ende des Krieges Divisionspfarrer<br />

in Essen (Ruhr). Von 1919 <strong>bis</strong> zu seinem frühen Tode im Jahre 1934<br />

hat er in der Gemeinde Spuren hinterlassen. Er war als Vorstandsund<br />

später Ehrenmitglied der Gemeindegruppe der „Glaubensgemeinschaft<br />

für Biblisches Christentum“ („Positive Fraktion“) gewissermaßen der<br />

Antipode zum „kritischen Theologen“ Eichler. Schneidemesser war<br />

auch in der Provinzialsynode im Bereich der Verwaltung aktiv. Seiner<br />

24


Bestattung in Naumburg/Saale ging eine große Trauerfeier<br />

in seiner Heimatgemeinde voraus. In der Zeit des<br />

„Kirchenkampfes“ seit 1933, als die „Positiven“ die<br />

Lehren und den Bestand der ev. Kirche nicht mehr<br />

vorrangig durch die „Kritischen“, sondern durch die<br />

Deutschen Christen mit ihrem Antijudaismus, dem<br />

völkischen Gedankengut und den unbiblischen Neuerungen<br />

verfälscht und gefährdet sahen, bekämpften sie diese<br />

neue Gruppe an der Lazarus-Gemeinde.<br />

Moritz Kracht, in Datzow/Rügen als Sohn eines<br />

Gutsbesitzers geboren, kam 1919 im Alter von 36 Jahren<br />

nach Lazarus. Zuvor hatte er zahlreiche andere Pfarrstellen<br />

inne, unterbrochen von seiner Teilnahme am Krieg von<br />

1914 <strong>bis</strong> 1916 (Eisernes Kreuz II). Danach war er Felddivisionspfarrer<br />

und Referent beim Korps. Kracht bekleidete<br />

mehrere Nebenämter, z.B. die geistliche Versorgung der<br />

Irrenanstalt und des Gefängnisses in Preußisch <strong>St</strong>argard<br />

sowie von Altersheimen. Er war Krankenhausseelsorger<br />

im Krankenhaus Friedrichshain und von 1936 <strong>bis</strong> 1942<br />

Dezernent für Kirchensteuern und Kirchhöfe in der<br />

<strong>St</strong>adtsynode. 30 Jahre hatte er die 5. Pfarrstelle der<br />

Gemeinde inne, so lange wie kein anderer Pfarrer. Er<br />

kümmete sich während seiner Amtszeit vor allem um<br />

das Kirchengebäude, die Orgel und die Glocken und<br />

führte lange die Geschäfte. Nach dem 2. Weltkrieg wurde<br />

er auf Betreiben seiner Kollegen und des<br />

Gemeindekirchenrats versetzt. Man hatte u.a. an Krachts<br />

Alleingängen und Anmaßungen, die dieser wohl aus seiner<br />

langen Dienstzeit ableitete, Anstoß genommen.<br />

Vom Gemeindeleben, das in seinen Grundzügen exemplarisch für<br />

die Arbeit einer Berliner <strong>Kirchengemeinde</strong> steht, ist lediglich<br />

Summarisches und wenig Konkretes zu erfahren. Sonntags gab es<br />

den Hauptgottesdienst um 10.00 Uhr, einen separaten Kindergottesdienst<br />

um 12.00 Uhr sowie einen Abendgottesdienst um 18.00 Uhr.<br />

An Gemeindeveranstaltungen finden besonders Aussprachekreise und<br />

Moritz Kracht (1919-1948)<br />

kümmerte sich während seiner<br />

langen Amtszeit vor allem um<br />

die Kirche, die Orgel und die<br />

Glocken. Er war u.a.<br />

Dezernent für Kirchensteuern<br />

und Kirchhöfe in der<br />

<strong>St</strong>adtsynode. Während der NS-<br />

Zeit stand er in Gegnerschaft<br />

zu den „Deutschen Christen”.<br />

(Hier auf einer Aufnahme aus<br />

dem Jahre 1954.)<br />

25


26<br />

Singabende Erwähnung. Es fanden große Konzerte statt, bei denen<br />

die Kirche – wie z.B. an den Karfreitags-Musiken – überfüllt war.<br />

Die Lazaruskirche diente stets als Ort für Veranstaltungen zahlreicher<br />

Vereine sowie gemeindlicher und übergemeindlicher Einrichtungen<br />

(z.B. 108. Jahrfeier der preußischen Hauptbibelgesellschaft, Bannerweihe<br />

des Arbeiter- und Volksvereins, Wimpelweihe des Jungmännervereins).<br />

An Einrichtungen sind zu erwähnen: die Oberlinstation IX,<br />

eine Diakonissenstation, die X. Pflegestation des „Kirchlichen<br />

Hülfsvereins“, eine Krankenpflegestation und eine Kleinkinderschule<br />

auf dem Kirchengrundstück. Es gab einen Verein Alter Frauen, die<br />

Oberlin-Frauenhilfe, einen Nähverein zur Unterstützung der Armen.<br />

Erwähnt werden auch ein Nähverein der Frauenhilfe, ein Gustav-<br />

Adolf-Verein und der Ev. Elternbund. Außerdem wurden kirchliche<br />

Jugendpflege und eine Kindertagesstätte betrieben. Zur Einrichtung<br />

der gemeindlichen Kleinkinderschule war in der Abendausgabe des<br />

Reichsboten vom 2. Juni 1920 zu lesen:<br />

„Eine Kleinkinderschule, ein schmucker Neubau hinter der Lazaruskirche, ist<br />

am Sonntag im Anschluß an den Vormittagsgottesdienst unter zahlreicher<br />

Beteiligung der Gemeindekörperschaften und vieler Kinderfreunde im kinderreichen<br />

Osten (die Lazarusgemeinde zählt über 65.000 Seelen) feierlich eröffnet. Pfarrer<br />

Lengning wies in seiner packenden Festansprache auf die in dunkler Gegenwart<br />

doppelt nötige Liebespflicht hin, die Kleinsten (3-6jährigen Kinder), deren Mütter<br />

tagsüber auf Arbeit sind, körperlich und sittlich stark zu machen, damit sie<br />

einst mithelfen können am Wiederaufbau des Vaterlandes. Seit Oberlin und<br />

seiner treuen Gehilfin Luise Scheppler (1779) ist diese Liebesarbeit von der<br />

evangelischen Kirche und ihrer Inneren Mission mit besonderem Eifer gepflegt. –<br />

22 Jahre hat die alte Schule in unzulänglichen Räumen, Gubener <strong>St</strong>r. 12a,<br />

bestanden; jetzt hat sie dank der Mithilfe der staatlichen, städtischen und kirchlichen<br />

Behörden ein neues Heim bezogen, und von Sonne umflutet können die Kleinen<br />

auf dem grünen Kirchenplatz sich nach Herzenslust tummeln. Pfarrer Eichler<br />

fügte zum Dank an alle Beteiligten die Bitte um Liebesgaben für die noch<br />

mangelhafte Inneneinrichtung, und eine sofortige Sammlung ergab 585 Mk. Der<br />

Bau selbst, bestehend aus dem 10 mal 6 Meter großen Schulsaal, Küche,<br />

Badezimmer und Krankenstube, kostet etwa 50.000 Mk. Es sind zur Zeit 60<br />

Kinder da, von denen die Hälfte täglich gespeist wird, unter der Leitung einer<br />

ausgebildeten Kleinkinderschullehrerin und einer Helferin.“


Einen ungefähren Eindruck von der kirchlichen Arbeit mit Kindern<br />

vor 1933 vermittelt ein Antrag des späteren Pfarrers und Leiters des<br />

Kinderhortes Pfarrer Lagrange auf einen finanziellen Zuschuss von<br />

der Kirche für diese Einrichtung vom 19. März 1934:<br />

„Seit meinem Amtsantritt am 1. Febr. dieses Jahres übernahm ich von meinem<br />

Vorgänger eine kinderhortähnliche Einrichtung, „Offene Tür“ genannt. Ihr Zweck<br />

war, für die Nachmittagsstunden des Tages die Kinder von der <strong>St</strong>raße zu ziehen<br />

und sie unter eine gewisse Aufsicht durch Hortnerinnen zu stellen. Die Mittel<br />

dazu wurden zunächst vom Freiwilligen Arbeitsdienst getragen, so lange die offenen<br />

Arbeitsdienstlager bestanden, später beschaffte mein Amtsvorgänger, Pfarrer<br />

Lengning, die notwendigsten Mittel aus privaten Quellen. Mit dem System der<br />

Offenen Tür verbundene Missstände führten zu der von verschiedenen Seiten<br />

erwogenen Forderung der völligen Abschaffung dieser „Kinderbewahranstalt“, und<br />

ich habe mich davon überzeugen können, dass die Klagen nicht unberechtigt waren,<br />

die Unternehmung aber an und für sich gut und dringend notwendig in unserer<br />

Gegend ist. Ich habe daher die „Offene Tür“ in einen regelrechten Kinderhort<br />

umgewandelt mit straffer Disziplin, festen Besuchszeiten, festem <strong>St</strong>undenplan und<br />

dergleichen.“<br />

Die Kadiner <strong>St</strong>raße mit Blick nach Süden zur Lazaruskirche. Die Häuserschluchten<br />

der Mietskasernen bildeten soziale Brennpunkte, derer sich die Lazarus-Gemeinde mittels<br />

verschiedener diakonischer Einrichtungen annahm, wie z.B. durch den Bau einer<br />

Kleinkinderschule.<br />

27


28<br />

Anfang der 30er Jahre war Lazarus mit 70.000 Mitgliedern größte<br />

Gemeinde Berlins. Deshalb machte man sich in der Gemeindeleitung<br />

Gedanken über die Ausweitung des Gebäudebestandes, um für die<br />

verschiedenen Zwecke entsprechende Räume zur Verfügung zu haben.<br />

Jedoch standen – wie schon bei der Errichtung der Kirche – auch<br />

beim Bau eines Gemeindehauses vor allem finanzielle Schwierigkeiten<br />

im Wege; die Gemeindeleitung musste sich daher von großen Plänen<br />

verabschieden. Regierungsbaumeister a.D. Hans Jessen projektierte<br />

einen Bau nach den Wünschen und Möglichkeiten der Gemeinde.<br />

Am Erntedanktag, dem 5. Oktober 1930, konnte nach langjährigen<br />

Verhandlungen um Grundstück und finanzielle Beihilfen der<br />

Grundstein in der Memeler <strong>St</strong>r. 53/54 (heute Marchlewskistr. 40) gelegt<br />

werden. Der Generalsuperintendent von Berlin, D. Karow, vollzog<br />

die Weihe des Grundsteins [s. Anhang]. Pfarrer v. Schneidemesser<br />

schrieb zu diesem Tag als Vorstand des „Positiven Parochialvereins“ der<br />

Lazarus-Gemeinde im Lazarus-Boten:<br />

Briefkopf des Architekten des Gemeindehauses in der Memeler <strong>St</strong>raße (heute<br />

Marchlewskistraße). Der namhafte Berliner Regierungsbaumeister a.D. Hans Jessen war<br />

ein Vertreter des modernen Bauens wie Bruno Taut (z.B. „Hufeisensiedlung”, Siedlung<br />

„Onkel-Toms-Hütte”) oder Walter Gropius. Da Jessen kurz nach der Grundsteinlegung<br />

verstarb, wurde der Bau unter Leitung des Architekten March fertiggestellt. March<br />

wurde später mit der Planung der Bauten für das ehem. Reichssportfeld (Olympiastadion,<br />

Olympisches und Marathon-Tor, Waldbühne, Glockenturm…) berühmt.


„Der Positive Parochialverein erlebt wieder<br />

eine Zeit wie damals, als vor 25 Jahren unsere<br />

schöne Kirche gebaut wurde. Viele unserer<br />

Mitglieder wissen noch davon. Da war es eine<br />

Freude, mitzuhelfen und zu spenden zur<br />

Inneneinrichtung der Kirche. [...] Heute wird<br />

die wirtschaftliche Not und die schwere Zeit<br />

nur kleine Gaben und Spenden zur<br />

Ausrüstung unseres Gemeindehauses gestatten,<br />

aber die Liebe muß auch wieder wach werden<br />

wie ehedem, und die Freude am Mitbauen und<br />

Aufbauen unseres Gemeindelebens, das im<br />

Gemeindehause einen neuen Mittelpunkt<br />

erhalten soll, soll Herzen und Hände unserer<br />

Glieder und Freunde wieder in Bewegung<br />

setzen.“<br />

Das Gemeindehaus wurde 1931 eingeweiht.<br />

Architektonisch und funktional gehörte es damals<br />

zu den modernsten Bauten der Umgegend.<br />

Regierungsbaumeister a.D. Hans Jessen starb am 17. November 1930<br />

kurz nach der Grundsteinlegung. Der Bau wurde 1931 unter Leitung<br />

von Architekt March fertiggestellt, der später u.a. im Zusammenhang<br />

mit dem Bau des Berliner Olympiastadions berühmt werden sollte.<br />

Die Einweihung des Gemeindehauses erfolgte am 25. Oktober 1931;<br />

die Weiherede hielt Generalsuperintendent D. Karow.<br />

29


NATIONALSOZIALISMUS (1933 <strong>bis</strong> 1945)<br />

Bewerbung Bonhoeffers – Massentrauung am 2. Juli 1933 –<br />

Deutsche Christen – Glocken – Zerstörung der Kirche am 13.<br />

April 1945<br />

Der Beginn und die Etablierung der<br />

nationalsozialistischen Herrschaft fielen in der Lazarus-<br />

Gemeinde auffällig mit einem abermaligen<br />

Generationswechsel der Pfarrer zusammen. Von den<br />

fünf Pfarrern der dritten Generation, die um 1919 in<br />

die Pfarrstellen gekommen waren, ging Sasse 1932 von<br />

Berlin fort, Eichler und Lengning wurden 1933 emeritiert<br />

und v. Schneidemesser starb 1934. Pfarrer Kracht bildete<br />

eine Ausnahme; er leitete daraus offenbar auch gewisse<br />

Ansprüche ab und versuchte, seinen Einfluss auszuweiten.<br />

Um eine der vakanten Pfarrstellen bewarb sich der<br />

gerade 27jährige <strong>St</strong>udentenpfarrer Dietrich Bonhoeffer,<br />

doch unterlag er bei der Wahl am 23. Mai 1933 seinem<br />

Mitbewerber Kurt Schwarz mit 33 zu 40 <strong>St</strong>immen.<br />

Bonhoeffer hatte – wie aus einem Brief an Pfarrer v.<br />

Schneidemesser hervorgeht – mit diesem Ergebnis<br />

Dietrich Bonhoeffer bewarb<br />

sich 1933 um ein Pfarramt in<br />

der Lazarus-Gemeinde. Er un-<br />

gerechnet und eine erneute Bewerbung nicht ausgeschlosterlag seinem Mitbewerber Kurt<br />

sen. Dazu kam es allerdings nicht mehr; wenige Wochen<br />

nach der Wahl im Mai 1933 wurde er angesprochen, ob<br />

Schwarz mit 33 zu 40 <strong>St</strong>immen.<br />

er als Auslandspfarrer nach London gehen würde. Im Oktober 1933<br />

trat er bei den dortigen deutschen Gemeinden Sydenham und <strong>St</strong>. Paul<br />

seinen Dienst an, kehrte später nach Deutschland zurück und griff<br />

aktiv in den Kirchenkampf ein.<br />

Anstelle des jungen Privatdozenten wählte die Lazarus-Gemeinde den<br />

49jährigen Kurt Schwarz. Seine erste Pfarrstelle hatte der gebürtige<br />

Berliner in Rampitz an der Oder und war dort durch seine<br />

unkonventionellen Methoden aufgefallen. „Als bei den ersten Predigten<br />

der Besuch spärlich war, verschob er kurzerhand den Gottesdienstbeginn um eine<br />

<strong>St</strong>unde, ging in alle Häuser und forderte, dass er um die neue Uhrzeit jemand aus<br />

dem Haus in der Kirche sehen wolle. Er hatte Erfolg, später kamen die<br />

Gottesdienstbesucher freiwillig, weil ihnen die Predigten gefielen“, berichtet sein<br />

31


Gleich nach dieser Wahl setzten die<br />

Deutschen Christen der Lazarus-Gemeinde<br />

ein über die engere Region hinaus<br />

wirkendes, eindrucksvolles Fanal, mit<br />

dem sie ihre Macht und ihre Veranke-<br />

Das Protokollbuch des Gemeindekirchenrung in weiten Teilen der ansässigen<br />

rates verzeichnete das Abstimmungsergebnis: Bevölkerung demonstrierten. Am 2. Juli<br />

Bonhoeffer unterlag seinem Mitbewerber Kurt<br />

1933 fand in der Lazaruskirche eine<br />

Schwarz mit 33 zu 40 <strong>St</strong>immen.<br />

Massentrauung der Deutschen Christen<br />

statt, an der 47 Brautpaare aus der<br />

Gemeinde teilnahmen. Fotos zeigen den festlichen Einzug der Eheleute,<br />

die Männer in SA-Uniform, unter der mit Hitlergruß jubelnden,<br />

zahlreich erschienenen Nachbarschaft. Der Altarraum war mit<br />

Hakenkreuzfahnen „geschmückt“. Die Trauung nahm Pfr. Lengning<br />

vor.<br />

Propagandaminister Goebbels kommentierte diese Massentrauung<br />

mit den Worten: „Zurückgewonnen für die Kirche durch die<br />

Glaubensbewegung der Deutschen Christen“. Die Glaubensbewegung<br />

Deutsche Christen (D.C.) war 1932 von Joachim Hossenfelder gegründet<br />

worden und stellte eine Bewegung innerhalb der Deutschen Ev. Kirche<br />

dar. Die D.C. erstrebten Veränderungen der kirchlichen Organisation<br />

32<br />

Neffe Wolfgang Schwarz. Sein Onkel<br />

sei ein sehr guter Germanist, brillanter<br />

Redner und scharfer Analytiker gewesen,<br />

der engagiert und in schwieriger Zeit<br />

hilfsbereit seinen Dienst versehen und<br />

viele Hausbesuche gemacht habe. Als<br />

Schwarz 1933 nach Lazarus kam, rangen<br />

die einzelnen Gemeindegruppen (Positive,<br />

Liberale, Deutsche Christen) um den<br />

maßgeblichen Einfluss, und es gibt<br />

Anhaltspunkte dafür, dass diese Pfarrwahl<br />

davon nicht unberührt geblieben<br />

ist. In der Folgezeit erwies sich Pfarrer<br />

Schwarz als Gegner der Deutschen<br />

Christen.


(z.B. mit der Forderung nach einer straff zentralisierten,<br />

einheitlichen ev. Reichskirche) und eine Verkündigung nach<br />

nationalsozialistischen Grundsätzen (Ausscheidung aller<br />

„jüdischen Elemente“, Betonung des völkischen<br />

Gedankens, Einfügung der Kirche in die nationalsozialistische<br />

Politik). Die Glaubensbewegung Deutsche Christen<br />

bildete die Plattform für Christen, die Mitglied der<br />

NSDAP waren und trotzdem nicht aus der Kirche<br />

austreten wollten.<br />

Die Massentrauung stand im Kontext mit den Wahlen<br />

zu den Gemeindekörperschaften im Bereich der Landeskirche<br />

am 23. Juli 1933 – es war Wahlkampfzeit! Die<br />

preußischen Generalsuperintendenten hatten für Sonntag,<br />

den 2. Juli 1933, zu einem „Buß- und Betgottesdienst“<br />

aufgerufen, der deutsch-christliche Oberkirchenrat<br />

forderte dagegen ein der „nationalsozialistischen<br />

Revolution“ ergebenes und bekennendes Zeichen in Form<br />

von „Dankgottesdiensten“. An diesem Tag sollten nach<br />

Anordnung der deutsch-christlichen Kirchenleitungen in<br />

ganz Preußen diese „Dankgottesdienste“ unter Beflaggung<br />

der Kirchen auch mit der Hakenkreuzfahne gefeiert<br />

werden. Auf diese Weise musste es zu einer für alle<br />

sichtbaren Entscheidung der Gemeinden kommen;<br />

entweder dafür (mit der in Aussicht gestellten „Ruhe“)<br />

oder dagegen (mit den zu erwartenden Konsequenzen). Den<br />

tatsächlichen Machtverhältnissen entsprechend fanden an diesem Tag<br />

überall in Berlin von den Deutschen Christen initiierte und inszenierte<br />

Dank-, Fest- und Bittgottesdienste in mit Hakenkreuzfahnen behängten<br />

Kirchen statt.<br />

In Lazarus hatte man sich für eine Massentrauung entschieden. Doch<br />

scheint dieses Vorhaben, wenn es auch mit Effekt inszeniert und dazu<br />

geeignet war, den Rückhalt der deutsch-christlichen Bewegung in der<br />

Bevölkerung zu demonstrieren, kaum Unterstützung in der Pfarrerschaft<br />

gefunden zu haben. Es steht zu vermuten, dass sich so leicht<br />

kein Pfarrer fand, der diesen Missbrauch einer kirchlichen Handlung<br />

für Demonstrationszwecke unterstützte. Lengning stellte sich<br />

Kurt Schwarz (1933-1949)<br />

versuchte, den Einfluss der<br />

„Deutschen Christen” an der<br />

Gemeinde zurückzudrängen.<br />

Er geriet nach dem Krieg in<br />

Konflikt mit den neuen Machthabern<br />

und ging nach West-<br />

Berlin, um seine Familie zu<br />

schützen.<br />

33


Machtdemonstration der „Deutschen Christen” von Lazarus im Jahre 1933: Die Brautpaare<br />

werden auf dem Weg zur Kirche von der Bevölkerung gefeiert.<br />

34<br />

möglicherweise nur zur Verfügung, weil er unmittelbar vor seiner<br />

Emeritierung stand. Die Veranstaltung wurde ohne Beschluss der<br />

Gemeindeleitung organisiert und durchgeführt. Die Pfarrerschaft und<br />

der Gemeindekirchenrat auf der einen und ein großer Teil der Gesamtgemeinde<br />

auf der anderen Seite vertraten zu dieser Zeit kirchlichreligiös<br />

und politisch divergierende Anschauungen. Noch waren die<br />

Deutschen Christen mit nur fünf von 13 Kirchenältesten in der Gemeindeleitung<br />

unterrepräsentiert.<br />

Das änderte sich mit der Kirchenwahl vom 23. Juli 1933. Sie brachte<br />

den Deutschen Christen der Lazarus-Gemeinde einen überwältigenden<br />

Sieg. Mit 13 Kirchenältesten gegen vier Gewählte der gegnerischen


Mit der Massentrauung der „Deutschen Christen” in der Lazaruskirche am 2. Juli 1933 ging die<br />

Gemeinde in die Geschichtsbücher ein. 47 Brautpaare – die Ehemänner in SA-Uniform – ließen sich an<br />

diesem Tag vor dem mit Hakenkreuzfahnen verhängten Altar von Pfarrer Lengning trauen. Goebbels<br />

kommentierte diese Massentrauung mit den Worten: „Zurückgewonnen für die Kirche durch die<br />

Glaubensbewegung der Deutschen Christen”.<br />

Liste „Evangelium und Kirche“ dominierten sie fortan den Gemeindekirchenrat.<br />

Ihr Mandatsanteil betrug 76%. Im Kirchenkreis lag das<br />

Ergebnis bei 66%. Andererseits stellte der Wahlsieg keine Ausnahme<br />

dar, denn nur in mindestens drei von 142 Berliner Gemeinden (Dahlem<br />

mit Niemöller, Nikolassee und die Nikolai-Gemeinde in Berlin-Mitte)<br />

konnte diese „Glaubensbewegung“ keine Mehrheit erzielen.<br />

Der Einfluss der Deutschen Christen festigte sich weiter, als Lengning<br />

und Eichler in den Ruhestand gingen und zwei neue, deutschchristliche<br />

Pfarrer gewählt wurden.<br />

35


In Lengnings <strong>St</strong>elle kam der 34jährige Richard Lagrange,<br />

in Berlin als Sohn eines Kaufmanns hugenottischer<br />

Abstammung geboren. Sein Theologiestudium hatte eine<br />

historisch-kritische Ausrichtung. Die Wahl in Lazarus<br />

gewann Lagrange mit deutlichem Erfolg (56 von 60<br />

<strong>St</strong>immen entfielen auf ihn). Er blieb jedoch nur gut ein<br />

Jahr und nahm dann das Pfarramt in der Französischreformierten<br />

Louisenstadt-Gemeinde in Berlin wahr.<br />

Obwohl Lagrange sein Amt nur kurze Zeit ausübte,<br />

entfaltete er eine rege Tätigkeit. Er leitete die<br />

Gemeindegruppe der Deutschen Christen zusammen mit<br />

Pfarrer Guhl und engagierte sich für die kirchliche Arbeit<br />

mit Kindern.<br />

Richard Lagrange (1934-<br />

Lothar Guhl, Eichlers Nachfolger, war ungefähr gleichen<br />

1935) organisierte zusammen<br />

mit Pfarrer Guhl den Aufbau<br />

Alters wie Lagrange und in Königsberg/Preußen als Sohn<br />

der Gemeindegruppe der eines Zahlmeisteraspiranten geboren. Er besaß eine<br />

„Deutschen Christen”. Er enga- herausragende musikalische Begabung. Sein Theologiegierte<br />

sich besonders für die studium unterbrach er, um <strong>St</strong>ellungen als Kapellmeister<br />

kirchliche Arbeit mit Kindern. am <strong>St</strong>adttheater Schneidemühl (1921/22) und als 1.<br />

Lagrange war hugenottischer Dirigent am <strong>St</strong>adttheater Brandenburg/Havel (1922)<br />

Abstammung und wechselte anzunehmen. Guhl hatte von seiner Ordination 1927 <strong>bis</strong><br />

daher in ein Pfarramt an der zu seinem Beginn in der Lazarus-Gemeinde 1934 drei<br />

Französisch-reformierten<br />

Pfarrstellen inne. Er war nach eigenen Worten „stolz, der<br />

Louisenstadt-Gemeinde in<br />

Bewegung der Deutschen Christen anzugehören“. Die<br />

Berlin.<br />

hiesigen Deutschen Christen hatten ihn als Kandidat aufgestellt,<br />

und seine Wahl erfolgte mit 39 gegen 11 <strong>St</strong>immen. Dass in<br />

diesem Fall erstmalig in Lazarus Einspruch gegen eine Pfarrwahl<br />

erhoben wurde, zeigt die zunehmenden Spannungen innerhalb der<br />

Gemeinde in der Frage nach dem Weg, den sie unter den gegebenen<br />

Verhältnissen zu gehen habe. Der Einspruch von fünf Gemeindemitgliedern,<br />

der „Glaubensgemeinschaft für biblisches Christentum“ bzw.<br />

dem „Positiven Parochialverein“ angehörig, wurde abgewiesen.<br />

36<br />

Die Deutschen Christen der Lazarus-Gemeinde unterhielten ein<br />

Mitteilungsblatt, das zuerst von Lagrange herausgegeben und dann<br />

von Guhl fortgeführt wurde. Es enthielt neben dem Gottesdienstplan<br />

auch Aufrufe, Mitglied zu werden sowie Einladungen zu Mitglieder-


vesammlungen und Veranstaltungen. Es fanden Vorträge<br />

und wöchentliche Schulungsabende vornehmlich zu den<br />

Thesen der Deutschen Christen statt: „Die Kirche als<br />

Volksgenosse und Kamerad des 3. Reiches“,<br />

„Widerspricht das Bekenntnis zu Blut und Rasse dem<br />

Bekenntnis der Kirche?“, „Wie müsste ein echter deutschchristlicher<br />

Gottesdienst verlaufen?“<br />

Später waren die von Pfarrer Guhl gehaltenen D.C.-<br />

Abende nicht sonderlich gut besucht. 1941 kamen zu einer<br />

solchen Veranstaltung lediglich 20 Interessierte. Offenbar<br />

war das Engagement der Nationalsozialisten in der<br />

Lazarus-Gemeinde zurückgegangen, was auch mit der<br />

Entwicklung der allgemeinen Kirchenpolitik des nationalsozialistischen<br />

Regimes zusammenhängen mochte, das<br />

nach einem anfänglich kirchenfreundlichen Kurs eine<br />

zunehmende Distanz pflegte und dann zur Bekämpfung<br />

des Christentums überging. Zu Hitlers Geburtstag jedoch,<br />

am 20. April 1941, fand um 18.00 Uhr in der Lazaruskirche<br />

noch einmal ein großer Gottesdienst statt, in dem<br />

Reichs<strong>bis</strong>chof Müller die Predigt hielt und die Kirche<br />

mit 518 Besuchern vergleichsweise sehr gut gefüllt war.<br />

Zum Gottesdienst am gleichen Tag um 10.00 Uhr mit<br />

Pfarrer Schwarz versammelten sich nur 93 Menschen; an<br />

gewöhnlichen Sonntagen kamen sonst nur um die 60 <strong>bis</strong><br />

80 Christen in die Lazaruskirche.<br />

Der D.C.-dominierte Gemeindekirchenrat (GKR) bereitete zuerst<br />

Pfarrer v. Schneidemesser, später dann vor allem Pfarrer Schwarz<br />

und auch Pfarrer Kracht Probleme. Der Konflikt spitzte sich im Laufe<br />

der Zeit weiter zu, so dass sich Kracht im Mai 1936 zu einem<br />

Beschwerdebrief an den Provinzialkirchenausschuss genötigt sah.<br />

Kracht beklagte, dass der GKR von den Beschlüssen der Fraktion<br />

der D.C. abhängig sei, welche ihrerseits von der Ortsgruppe bzw.<br />

vom Gau Anweisungen erhielten. Er sei also keine Instanz der<br />

Gemeinde, welche „in der Verteilung der Amtshandlungen, des<br />

Konfirmandenunterrichts und im Besuch der Gottesdienste zeigt, dass<br />

sie nicht zu den deutschen Christen gehört“.<br />

Lothar Guhl (1934-1945)<br />

war ein musikalischer Pfarrer,<br />

der sich zeitweise als<br />

Kapellmeister und Dirigent sein<br />

Theologiestudium finanzierte.<br />

„Mit Fleiß und Treue” verwaltete<br />

er sein Gemeindeamt und verstand,<br />

„die Leute zu fesseln.”<br />

Nach eigenen Worten war er<br />

„stolz, der Bewegung der<br />

Deutschen Christen anzugehören”.<br />

Kurz vor Kriegsende nahm<br />

er sich auf der Flucht nach<br />

Westen das Leben.<br />

37


Schwarz und Kracht stellten dann im<br />

September des gleichen Jahres beim<br />

Konsistorium einen Antrag auf<br />

Auflösung der Gemeindeleitung.<br />

Schwarz berichtete dem Konsistorium<br />

von Spannungen im GKR mit den<br />

Deutschen Christen, besonders mit dem<br />

Rendanten der Kirchenkasse und D.C.-<br />

Führer Golisch. Als Begründung für<br />

ihren Antrag führten die Pfarrer an,<br />

dass weder monatliche, noch<br />

überhaupt ausreichend Sitzungen<br />

stattfänden, von denen zudem einige<br />

nicht beschlussfähig gewesen seien.<br />

Als Pfarrer Lagrange Lazarus verlassen<br />

hatte und die vakante <strong>St</strong>elle erneut<br />

besetzt werden sollte, focht Schwarz<br />

die Wahl des neuen D.C.-Pfarrers Dr.<br />

Bauke erfolgreich an. Es gab weiter<br />

gegenseitige Beschwerden bei der<br />

Superintendentur, deren Verwalter<br />

offensichtlich die Situation verkannte,<br />

wenn er die Spannungen Pfarrer<br />

Schwarz anlastete, dem angeblich die<br />

„überlegene Ruhe“ fehle, um die<br />

In der Lazaruskirche fand an Hitlers GKR-Sitzungen leiten zu können.<br />

Geburtstag am 20. April 1941 ein großer<br />

Mit Billigung von Pfarrer Schwarz ver-<br />

Gottesdienst statt, bei dem Reichs<strong>bis</strong>chof Müller<br />

suchte Kracht offenbar, die Neuwahl<br />

die Predigt hielt; 518 Besucher waren anwesend.<br />

eines D.C.-Pfarrers zu verhindern. Er<br />

wandte sich mit einem Schreiben an das<br />

Konsistorium und bat – unter Hinweis auf zahlreiche Formfehler –<br />

darum, die 2. Pfarrstelle nicht mehr zu besetzen, da man schon<br />

während der länger andauernden Vakanzen mit Hilfskräften gut<br />

ausgekommen sei. Um ein Übergewicht deutsch-christlicher Pfarrer<br />

zu verhindern, so scheint es, sollten Pfarrgehilfinnen und Vikare die<br />

Arbeit von Kracht und Schwarz unterstützen.<br />

38


Schließlich wurde die <strong>St</strong>elle doch mit dem den Deutschen<br />

Christen zumindest nahestehenden Pfarrer Werner<br />

Hannasky besetzt. Er wurde 1893 in Kaisermühl, Krs.<br />

Lebus, als Sohn eines <strong>St</strong>ationsvorstehers geboren und<br />

hatte nach seiner Ordination im Jahre 1920 drei<br />

verschiedene Pfarrstellen inne, <strong>bis</strong> er 1937 Pfarrer der<br />

Lazarus-Gemeinde wurde. Wie der spätere „Ausschuß<br />

zur Wiederherstellung eines Schrift und Bekenntnis<br />

gebundenen Pfarrerstandes“ 1947 feststellte, war<br />

Hannasky in Lazarus „mit Rücksicht auf seine<br />

Zugehörigkeit zur Partei“ gewählt worden, in die er im<br />

Mai 1933 eingetreten war. In einem Bericht der<br />

Superintendentur über diese Pfarrwahl hieß es: „Die Wahl Werner Hannasky (1937des<br />

Herrn Pfarrer Hannasky ist einmütig erfolgt, auch Herr 1946) wirkte nur kurz an der<br />

Pfarrer Schwarz hat für ihn gestimmt. Die Spannung zwischen Lazarus-Gemeinde, da er gleich<br />

der D.C.Gruppe und Herrn Pfarrer Schwarz ist erheblich mit Kriegsbeginn als Haupt-<br />

abgeschwächt, beide Kreise sind offenbar bemüht, Zusammenstöße mann zum Militär ging. Er war<br />

möglichst zu vermeiden, zumal neben Herrn Pfarrer Kracht Pfarrer Mitglied der „Deutschen<br />

Guhl bestrebt ist, auszugleichen und zu mildern.“ Es ist nicht Christen”. Nach dem Krieg<br />

wurde Hannasky an die<br />

sicher, ob diese Einschätzung der Superintendentur<br />

benachbarte Auferstehungszutreffend<br />

war. Die „Entspannung“ könnte auch darin<br />

<strong>Kirchengemeinde</strong> versetzt: „An<br />

begründet sein, dass der von den Deutschen Christen Lazarus drohten ihm Schwie-<br />

dominierte Gemeindekirchenrat zusammen mit den rigkeiten von der KPD”, schrieb<br />

beiden D.C.-Pfarrern die Gemeinde nunmehr in ihrem der Superintendent.<br />

Sinne gestalten konnte. Zudem pflegte Kracht nach<br />

eigenen Worten mit Guhl ein freundschaftliches Verhältnis,<br />

so dass Schwarz allein vermutlich ohne jedes Gewicht war.<br />

Ein weiteres Beispiel mag die Durchsetzungskraft der Deutschen Christen<br />

belegen. Es ging um die Glocken der Lazaruskirche. Pfarrer Kracht<br />

hatte sich des Klanges wegen für den Austausch der Eisenguss-Glocken<br />

von 1922 durch neue Bronze-Glocken eingesetzt und Vorbehalte<br />

bezüglich der Notwendigkeit und Finanzierbarkeit eines solchen<br />

Vorhabens überwunden. Nun war über die Inschriften für die vier<br />

neuen Glocken zu entscheiden. Kracht hatte diesbezüglich einen<br />

Vorschlag unterbreitet, der sich an die Inschriften der alten Glocken<br />

anlehnte:<br />

39


Die Glocken trafen am 26. März 1936 aus Apolda auf dem Schlesischen Güterbahnhof ein; sie wurden<br />

festlich zur Kirche transportiert: „Die ersten Zugteilnehmer sind erschienen.”<br />

„Auf dem Wege durch die Mühlenstraße (1.<br />

Reihe: Küster Höft, Pfr. Kracht, Pfr. Guhl).”<br />

40<br />

„Küsters Eleonore ist gerade so groß wie die größte<br />

der Glocken.”<br />

Das neue Bronze-Geläut aus dem Jahre 1936<br />

ersetzte die Eisenguss-Glocken von 1922, weil<br />

Pfarrer Kracht mit deren Klang nicht zufrieden<br />

gewesen war. Die Originalbeschriftung der Bilder<br />

ist erhalten:


„Die größte und die kleinste Glocke auf dem Wege über den Küstriner Platz.”<br />

„Die kleinste Glocke wird zuerst hochgezogen.” „Die letzte Glocke ist oben.”<br />

41


42<br />

1. Große Glocke (1.900 kg) Ton: „des”<br />

Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid!<br />

Gegossen im Jahre 1936, im vierten Jahre seit der Machtübernahme durch<br />

unseren Führer Adolf Hitler. Diese vier Glocken treten an die <strong>St</strong>elle der<br />

alten Bronzeglocken, welche 1907 durch G. Voss & Sohn in <strong>St</strong>ettin gegossen<br />

wurden.<br />

2. Glocke (900 kg) Ton: „f”<br />

Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.<br />

Diese Glocke ist dem Andenken des Pfarrers Johannes Roeber gewidmet, der<br />

vom 1. Februar 1897 <strong>bis</strong> 30. Juni 1908 Pfarrer an der Lazarusgemeinde<br />

war und am 22. Juni 1930 heimgegangen ist.<br />

3. Glocke (550 kg) Ton: „as”<br />

Wach auf, du Geist der ersten Zeugen!<br />

Als diese Kirche am Vorabend des 3. Advent 1907 geweiht wurde, waren<br />

an ihr die Pfarrer Köster, von Gersdorff, Roeber und Wagner tätig.<br />

4. Glocke (370 kg) Ton: „b”<br />

Ich bin die Auferstehung und das Leben!<br />

Dem Gedächtnis der im Weltkriege 1914 – 1918 aus der Gemeinde gefallenen<br />

Helden.<br />

Die Inschriften der zweiten und dritten Glocke waren allerdings nicht<br />

verhandelbar, sondern Bedingung für eine angekündigte anonyme<br />

Großspende (die Pfarrwitwe Margarete Roeber trug mit ihrer Spende<br />

von 2.000 Reichsmark fast ein Drittel der Kosten für das neue Geläut).<br />

Die Deutschen Christen im Gemeindekirchenrat (Golisch, Kaltschmidt,<br />

<strong>St</strong>rohfeldt und Peters) setzten durch, dass die große Glocke zusätzlich<br />

mit dem Hakenkreuz und die kleinste mit dem Eisernen Kreuz<br />

versehen werden sollten.<br />

Die neuen Bronzeglocken, von der Hofglockengießerei Franz Schilling,<br />

Apolda in Thüringen am 15. Februar 1936 gegossen, trafen am 26.<br />

März am Schlesischen Güterbahnhof in Berlin ein und wurden am<br />

Palmsonntag, dem 5. April 1936, durch Superintendent Zimmermann<br />

geweiht. Die Gemeinde in Plaue/Havel kaufte die alten Eisenguss-<br />

Glocken, wo sie noch heute läuten.


Die Anschaffung des neuen Geläuts hatte, trotz umfangreicher<br />

Spendenbereitschaft, eigentlich die finanziellen Möglichkeiten der<br />

Gemeinde überstiegen, denn erst 1939 konnten sie vollständig abgezahlt<br />

werden. Es war daher von besonderer Tragik, dass nicht einmal ein<br />

Jahr später Görings „Anordnung zur Durchführung des Vierjahresplans<br />

über die Erfassung von Nichteisenmetallen“ (1940) die <strong>Kirchengemeinde</strong>n<br />

zur Abgabe ihrer Bronzeglocken an das „Deutsche Reich“<br />

für Kriegszwecke verpflichtete. Bis zur Abnahme der drei großen<br />

Glocken vergingen dann noch zwei Jahre; ab dem 2. März 1942<br />

läutete die Lazaruskirche nur noch mit der kleinen Glocke.<br />

Die zunehmenden Luftkämpfe um Berlin hatten Beschädigungen auch<br />

an den Gebäuden der Lazarus-Gemeinde zur Folge.<br />

Kracht schrieb am 29. November 1943 an das Konsistorium:<br />

„Dem <strong>Evangelische</strong>n Konsistorium teile ich mit, dass unser Gemeindehaus, Memeler<br />

<strong>St</strong>rasse 53/54, auch am Dienstag, dem 23.11. von Brandbomben getroffen ist.<br />

Neben den am 23.11. gemeldeten Schäden sind Fensterscheiben zu beklagen. Der<br />

Schaden ist von uns notdürftig in Ordnung gebracht. Die Benutzung ist<br />

ununterbrochen weiter möglich. Wieder haben wir der Ortsgruppe Weberwiese<br />

und der Hitlerjugend sehr zu danken, dass sie uns geholfen haben, unser Haus zu<br />

schützen. Wir benutzen zur Zeit nur die Küsterei und den noch unbeschädigten<br />

Konfirmandensaal. – Der beschädigte Konfirmandensaal ist noch nicht wieder<br />

hergestellt. – Die übrigen Räume werden von der <strong>St</strong>adt für die Kartenstelle und<br />

für die Betreuung der Bombengeschädigten, sowie von der Geschäftsstelle der Inneren<br />

Mission und unserem Kinderhort benötigt. Es ist mir gelungen, den uns verbliebenen<br />

Konfirmandensaal für den Unterricht aller Pfarrer und für die Bibelstunden<br />

reibungslos zu verteilen.<br />

Am Dienstag ist nun auch unsere Lazaruskirche erheblich beschädigt. Durch die<br />

auf das Schulgrundstück in der Lasdehner <strong>St</strong>rasse gefallenen Bomben ist das<br />

grosse runde Fenster, Berlins grösste Rosette, in Trümmer gegangen, dazu ein<br />

anderes grosses Fenster, beide auf der Gartenseite. Ferner ist das Dach stark<br />

durchlöchert, wodurch für das Gebäude bei Regen und Schnee Gefahr besteht.<br />

Ferner ist eine Bombe durch das Gewölbe geschlagen und auf dem Fussboden<br />

unschädlich gemacht. Eine Brandbombe war im Dachstuhl steckengeblieben und<br />

ist von der Wache mit erheblichen Schwierigkeiten abgelöscht worden. Ich habe als<br />

Betriebsluftschutzleiter und Betriebsführer die Benutzung der Kirche und das Betreten<br />

43


44<br />

Nutzung der Kirche vor dem 2. Weltkrieg.<br />

des Mittelganges verboten, nachdem ich mich von der Beschädigung des Gewölbes<br />

überzeugt hatte. Ich wäre sehr dankbar, wenn der Bausachverständige des Konsistoriums<br />

mit mir einmal die Kirche und das Gemeindehaus besichtigen wollte, um<br />

mich zwecks Beseitigung der Schäden zu beraten. Unsere Kirche könnte m.E. zu<br />

Weihnacht wiederhergestellt werden. Bis dahin können wir uns behelfen. Allzusehr<br />

ist sie nicht beschädigt. Ich würde gerne die beschädigten Fenster zumachen, am<br />

liebsten mit Zement. Die Schäden sind dem Bezirksamt bereits gemeldet, und es<br />

ist mir zugesagt worden, dass sie baldigst repariert werden sollen. Da die Schule


Lasdehner <strong>St</strong>rasse jetzt doch Hilfskrankenhaus<br />

wird, hat die <strong>St</strong>adt vielleicht Interesse an der<br />

Möglichkeit, die drei freien Räume in der Kirche<br />

bei Luftangriffen zu belegen. Es handelt sich<br />

um 3 im Winter wegen Heizungsschwierigkeiten<br />

leerstehende Konfirmandenräume. Ich<br />

würde es auch für richtig halten, wenn bei<br />

erneutem Angriff unsere Kirche, wie jetzt das<br />

Gemeindehaus, zur Betreuung von Bombengeschädigten<br />

auf einige Tage benutzt würde.<br />

Ich habe mich persönlich auch für solche Zwecke<br />

der <strong>St</strong>adt zur Verfügung gestellt.<br />

Die kirchliche Arbeit geht selbstverständlich<br />

weiter. Der Gottesdienst am 1. Advent ist in<br />

der Kapelle gehalten worden. Wir hatten die<br />

Vorhalle und den gegenüberliegenden Konfirmandensaal<br />

dazu göffnet und alle drei Räume<br />

geheizt. Der Besuch war sehr erfreulich. Der<br />

Berliner geht ja gerne in Gottesdienste, wo er<br />

eng sitzen muss.<br />

Trotzdem müssen wir darauf Wert legen, dass<br />

wir zu Weihnacht unser Gotteshaus wieder Ruine der Lazaruskirche, die am 13. April 1945<br />

benutzen können.<br />

bei Luftangriffen schwer beschädigt worden war.<br />

Pfarrer Kracht machte sich Hoffnungen auf einen<br />

Der Kirchenälteste Lehmann, Cadiner <strong>St</strong>rasse,<br />

Wiederaufbau, doch allein die Aufräumarbeiten auf<br />

hat sich als Führer der Wache sehr verdient<br />

dem Grundstück sollten 40.000 Reichsmark kosten.<br />

gemacht. Ich würde es für richtig halten, wenn<br />

sein treues Eintreten für unser Gotteshaus durch<br />

Verleihung der Dankurkunde anerkannt<br />

werden könnte.<br />

Ich habe noch zu berichten, dass Herr Pfarrer Kalkof und Herr Pfarrer Schwarz<br />

in ihren Wohnungen Fensterschaden erlitten haben, beide in erheblichem Umfange.<br />

Das Haus Grosse Frankfurter <strong>St</strong>rasse 123 war am Dienstag sehr bedroht.<br />

Unsere beiden grossen und massiven Fabrikgebäude konnten nicht gehalten werden<br />

und brannten nieder bzw. aus. Das Vorderhaus mit seinen schönen Wohnungen<br />

ist verschont geblieben. In meiner Wohnung ist nur eine Fensterscheibe entzwei<br />

gegangen. [...]“<br />

45


46<br />

Im Herbst 1944 wurden die letzten Gottesdienste in dem bereits<br />

offenen Kirchenschiff gehalten. Danach fanden sie im Gemeindehaus<br />

statt. Kurz vor Kriegsende schließlich, am 13. April 1945, brannte die<br />

Lazaruskirche vollständig aus. Die Gemeinde stand vor dem Verlust<br />

des imposanten und für die Gemeinde integrativen Kirchengebäudes,<br />

sie hatte zahlreiche Gemeindemitglieder verloren und büßte wesentliche<br />

Teile des kirchlichen Lebens ein. Die Existenz der Gemeinde schien<br />

fraglich.<br />

Das Gebiet westlich der Kirche ist nach den<br />

Zerstörungen weitgehend beräumt, um für die<br />

Realisierung der neuen <strong>St</strong>adtplanung Platz zu<br />

schaffen. Dabei „störte” der Kirchbau.


NACHKRIEGSZEIT (1945 <strong>bis</strong> 1950)<br />

Auseinandersetzungen mit den staatlichen Behörden –<br />

Sprengung der Kirche am 10. September 1949 – materielle<br />

Notlage – Weggang langjähriger, einflussreicher Pfarrer<br />

„Lazarus hat über erfreuliche Tatsachen leider gar nicht zu berichten. Besonders<br />

erschwerend ist, dass für keinen Pfarrer eine Wohnung in der Gemeinde zu finden<br />

war. [...] Die Gemeinde ist unendlich stark zerbombt. Ich schätze, dass wir keine<br />

20.000 Seelen mehr haben, gegenüber 41.000 vor dem Kriege. Unsere Kirche hat<br />

noch immer nicht angefangen werden können. Wir bekommen kein Material, es<br />

liegt alles darnieder, wir haben noch nicht einmal<br />

aufräumen können. Uns liegt ein<br />

Kostenanschlag über RM. 40.000,- allein für<br />

das Aufräumen des Kirchengrundstücks vor.<br />

Wir leiden unter dem Fehlen unserer Kirche.<br />

Die schöne Lazaruskirche zog die Gemeinde<br />

an, und wir konnten die schönen Gottesdienste<br />

im Hause des Herrn halten. Das fehlt uns<br />

sehr und drückt uns nieder. Wir waren zu der<br />

Zeit vor 33 volle Kirchen gewohnt, und es war<br />

eine Freude, in Lazarus das Wort zu verkünden.<br />

Der Gottesdienstbesuch ist seit 33 jammervoll.<br />

Er hebt sich jetzt etwas, aber er steht in<br />

keinem Verhältnis zu dem, was Lazarus<br />

gewohnt war. Der Wiederaufbau der Gemeinde<br />

ist schwer.<br />

Wir stehen fast täglich an Särgen. Die Zahl<br />

der Taufen ist gering, die der Trauungen<br />

verschwindend.“<br />

So fasste am 18. Juni 1946 Pfarrer<br />

Kracht die gemeindliche Situation der<br />

Nachkriegszeit zusammen.<br />

Die letzten Kriegsjahre und die unmittelbare<br />

Nachkriegszeit stellten einen<br />

tiefgreifenden Bruch in der Geschichte<br />

Die Sprengung der Lazaruskirche am 10.<br />

September 1949 diente in erster Linie dem Ziel der<br />

staatlichen Behörden, in den Besitz des Grundstücks<br />

zu kommen.<br />

47


48<br />

der Lazarus-Gemeinde dar. Das kirchliche Leben kam für einige Zeit<br />

nahezu zum Erliegen, erholte sich nur schwer und wandelte sich zudem<br />

grundlegend in seinem Charakter. Die Situation war gekennzeichnet<br />

vom Verlust des Kirchengebäudes, zahlreicher Gemeindemitglieder<br />

und einer immerhin respektierten <strong>St</strong>ellung in der Gesellschaft. Waren<br />

die Jahre zuvor bestimmt von einer mehr innergemeindlichen<br />

Auseinandersetzung um das Verhältnis zum Nationalsozialismus (neben<br />

den stets vordringlichen Bau- und Finanzangelegenheiten), so stand<br />

die Gemeinde mit dem Ende des Hitler-Regimes vor einer neuartigen,<br />

<strong>bis</strong>her ungekannten Herausforderung. In bemerkenswert kurzer Zeit<br />

zeigte man eine Frontstellung nach außen, gegenüber der sich neu<br />

etablierenden Herrschaft.<br />

Zwei Beispiele belegen eindrücklich, wie die Behörden die Gemeinde<br />

schikanierten und sich Rechte anmaßten. Deutlich wird dies in einem<br />

Briefwechsel, den Pfarrer Kracht mit den beteiligten Personen und<br />

Institutionen führte.<br />

Es ging um in den Augen der neuen Machthaber mißliebiges<br />

Gemeindepersonal. Gegen den Hauswart erhob man Vorwürfe<br />

wegen seiner politischen Vergangenheit und versuchte vergebens, ihn<br />

durch falsche Behauptungen, persönliche Angriffe und Schikanen aus<br />

seiner beruflichen <strong>St</strong>ellung zu drängen und durch einen der neuen<br />

politischen Herrschaft ergebenen Mann zu ersetzen.<br />

In den Methoden ähnlich und in engem Zusammenhang mit der<br />

„Personalangelegenheit“ verliefen die Auseinandersetzungen um die<br />

Fremdnutzung des Saals im Gemeindehaus durch das „Volksbildungsamt<br />

Friedrichshain“. Dieses Amt benötigte für kulturelle und<br />

Parteiveranstaltungen einen geeigneten Raum. Da alle größeren Säle<br />

im Friedrichshain durch Kriegseinwirkung zerstört oder unbenutzbar<br />

waren, gab es Begehrlichkeiten hinsichtlich des nur geringfügig in<br />

Mitleidenschaft gezogenen Hauses der Lazarus-Gemeinde. Das<br />

„Volksbildungsamt“ versuchte, in dem sehr weitgesteckten Rahmen<br />

eines Nutzungsvertrages größtmögliche Ansprüche für sich geltend<br />

zu machen. Das führte zu Konflikten mit der Gemeinde, die ihre<br />

Rechte am Saal und am Gemeindehaus gewahrt wissen wollte.<br />

Darüber entspann sich ein über mehrere Monate hinziehender<br />

Briefwechsel, in den sich auch kirchliche Behörden einschalteten. In<br />

der Summe zeigt diese Auseinandersetzung, wie die <strong>Kirchengemeinde</strong>


schon in der unmittelbaren Nachkriegssituation von den neuen<br />

Machthabern übergangen und an den Rand gedrängt wurde.<br />

Der Briefwechsel wird wegen seiner Bedeutung auszugsweise im<br />

Anhang wiedergegeben. Er spiegelt anschaulich die Situation der<br />

Gemeinde und des leitenden Pfarrers wider und zeigt außerdem eine<br />

erste Auseinandersetzung mit der Rolle der Gemeinde während der<br />

Zeit des Nationalsozialismus.<br />

Auch die Frage der baulichen Zukunft band für die nächsten Jahre<br />

Aufmerksamkeit und Kräfte der Gemeinde. Vor allem Pfarrer Kracht<br />

hegte Hoffnungen, die stark beschädigte Lazaruskirche wieder<br />

herrichten zu können. Diesbezüglich schrieb ihm das Bezirksamt<br />

Friedrichshain, Abteilung Bau- und Wohnungswesen, am 3. März 1946:<br />

„Nach <strong>St</strong>ellungnahme des Planungsamtes und örtlicher Besichtigungen erscheint<br />

der Wiederaufbau der Kirche bezw. behelfsmäßige Anbauten aus städtebaulichen<br />

Gründen nicht förderungswürdig. Aus Zweckmäßigkeitsgründen wäre es<br />

empfehlenswert einen Neubau zu projektieren. Mit Rücksicht auf die derzeitige<br />

Anspannung des Baumarktes und die vordringlichen Aufgaben auf dem Gebiete<br />

des Wohnungsbaues kann jedoch vorerst eine Genehmigung nicht erteilt werden.<br />

Bevor Sie irgendwelche Planungsabsichten verwirklichen wollen, empfehle ich Ihnen,<br />

sich mit unserem Planungsamt [...] ins Benehmen zu setzen. Gez. Krause“<br />

Kracht erwiderte am 23. März 1946 dem Bezirksrat Krause:<br />

„Der Wiederaufbau unserer Kirche ist längst genehmigt. Das Bezirksamt hat<br />

uns den grossen Saal unseres Gemeindehauses genommen und durch die Kulturstätte<br />

unser Gemeindehaus zu einer <strong>St</strong>ätte gemacht, in welcher Gottesdienst kaum noch<br />

gehalten werden kann. Unsere grosse Gemeinde braucht dringend irgend eine<br />

Andachtsstätte und kann nicht mehr länger warten. Die städtebauliche Planung<br />

muss dann eben geändert werden, wenn die Kirche stören sollte. Ich bin sehr erstaunt,<br />

auf solche Anschauung in der heutigen Zeit zu stossen. Die Kirche steht da und<br />

bleibt stehen. Ein Neubau ist nicht notwendig, dauert uns auch zu lange. Ich will<br />

das Turmgebäude zu Wohnungszwecken ausbauen, wodurch im Bezirk<br />

Friedrichshain wieder einige Wohnungen frei würden. Ich möchte Sie aber bitten,<br />

mir eine <strong>St</strong>unde zu sagen, wo ich Sie bestimmt antreffe, um mit Ihnen meine Pläne<br />

zu besprechen. Wir werden uns schon verständigen. Nur warten kann ich nicht<br />

49


Ähnlich den Veränderungen um das Jahr 1933, fiel auch<br />

die Phase der Nachkriegszeit mit einer Diskontinuität in<br />

der Pfarrerschaft zusammen.<br />

Guhl, 11 Jahre Pfarrer an Lazarus, hatte sich auf der<br />

Flucht nach Westen das Leben genommen.<br />

Hannasky, neun Jahre im Pfarramt, wurde versetzt. „An<br />

Lazarus drohten ihm Schwierigkeiten von der KPD; infolgedessen<br />

habe ich ihm einen Auftrag zur Vertretung an Auferstehung<br />

Johannes Kalkof (1940- gegeben.“ schrieb Superintendent Pätzold am 5. März 1946<br />

1949) war ein historisch und an den Generalsuperintendenten. Hannaskys <strong>St</strong>elle blieb<br />

literarisch interessierter Mann, <strong>bis</strong> 1950 unbesetzt.<br />

der diese Interessen in die Kracht, der mit nahezu 30 Jahren Amtszeit dienstälteste<br />

Gemeindearbeit einbrachte. Im Pfarrer der Gemeinde, wurde ebenfalls versetzt,<br />

Nebenamt war er Kranken- nachdem es Spannungen mit dem Gemeindekirchenrat<br />

hausseelsorger im Krankenhaus und besonders mit dem neuen Pfarrer Artur Katzenstein<br />

Friedrichshain.<br />

gegeben hatte. Damit wurde die sogenannte „Ära<br />

Kracht“ beendet.<br />

Schwarz geriet in Konflikt mit den neuen politischen Machthabern<br />

und verließ nach 16 Jahren Pfarrdienst die Gemeinde nach West-<br />

Berlin, um seine Familie zu schützen, nachdem sein Bruder – Pfarrer<br />

in <strong>St</strong>ücken bei Potsdam – „von der Kanzel weg verhaftet und im<br />

Gefängnis in Potsdam länger inhaftiert“ wurde (so Wolfgang Schwarz);<br />

Kurt Schwarz nahm 1949 ein Pfarramt an der Luther-Gemeinde in<br />

Berlin-Schöneberg an.<br />

50<br />

und vergeblich kommen auch nicht. Meine Zeit ist sehr stark in<br />

Anspruch genommen. Kracht, Pfarrer an Lazarus“<br />

Trotz aller Bemühungen wurde die Kirche am 10.<br />

September 1949 gesprengt.<br />

Angesichts der Schwierigkeiten, denen sich die Lazarus-Gemeinde<br />

gegenübersah, erscheint es umso erstaunlicher, dass das Gemeindeleben<br />

aktiv blieb. Zahlreiche Veranstaltungen mit hohem inhaltlichem<br />

Anspruch wurden von den Pfarrern Katzenstein und Kalkof<br />

angeboten. Johannes Kalkof, Jahrgang 1895 und aus Thüringen<br />

stammend, war nach zahlreichen anderen Pfarrstellen und seiner


vorübergehenden Emeritierung 1940 gewählt worden.<br />

Von ihm ist bekannt, dass er ein historisch interessierter<br />

Mann war. Er starb im Jahr 1949. Artur Katzstein, 1907<br />

in Berlin-Wedding geboren, wechselte 1947 von<br />

<strong>St</strong>epenitz/Prignitz nach Lazarus [s. Anhang].<br />

Die beiden Pfarrer hielten regelmäßig Vorträge zu<br />

Themen wie „Goethes letzter Aufenthalt in Frankfurt“<br />

oder „Christliche Erzähler: Peter Rosegger“. Es gab <strong>bis</strong><br />

zu neun Bibelstunden im Monat; eine spezielle<br />

„Lutherstunde“ und eine „<strong>St</strong>unde der Besinnung“ zu<br />

einem Bibelwort waren etabliert.<br />

Für die Jugend organisierte man neben dem<br />

selbstverständlichen Vorkonfirmanden- und Konfirmandenunterricht<br />

spezielle Jugendgottesdienste, eine<br />

Jugendevangelisation mit spezifischer Themenreihe und<br />

Theaterspiel. Daneben bestanden ein Jungmädelkreis, die<br />

Jungschar und ein Jungmännerkreis. Die Kantorin leitete<br />

einen Kirchenchor.<br />

Artur Katzenstein (1947-<br />

1954) begleitete die Gemeinde in<br />

der schwierigen Nachkriegszeit:<br />

Er verhinderte die Beschlagnahmung<br />

des Gemeindehauses<br />

durch Anbringung des Kreuzes<br />

auf dem Dach und den Einbau<br />

festen Gestühls, er verteidigte<br />

den im Zuge des 17. Juni 1953<br />

angeklagten Küster und geriet<br />

selbst in Konflikt mit dem<br />

DDR-Regime.<br />

51


52<br />

Im Nachrichtenblatt vom August 1955 sind dezidierte Erwartungen an die<br />

Gemeindemitglieder aufgelistet.


DDR – FRÜHE JAHRE (1950 <strong>bis</strong> 1965)<br />

dauerhafte Reduzierung von fünf auf drei Pfarrstellen –<br />

Konflikte mit den staatlichen Behörden – 60-Jahr-Feier,<br />

Orgelbau und Umgestaltung des Kirchsaals – Veränderungen<br />

im Gemeindeleben – „Kirchenzucht“ und Pressekampagne<br />

gegen Pfarrer Kreitschmann<br />

Seit 1950 befand sich die Gemeinde während der politisch<br />

aufgeheizten <strong>St</strong>immung in einer Frontstellung zum<br />

<strong>St</strong>aat. Gleichzeitig und im Zusammenhang mit der<br />

gesellschaftlichen Entwicklung vollzog sich ein<br />

Schrumpfungsprozess im kirchlichen Leben. Beides<br />

bildete den Rahmen für die weitere Entwicklung der<br />

Lazarus-Gemeinde. Der Dienstantritt der Pfarrer Müller-<br />

Matthesius, Tscheuschner und Kreitschmann bedeutete<br />

zudem einen erneuten Generationswechsel in der<br />

Pfarrerschaft.<br />

Der Berliner Walter Müller-Matthesius, Jahrgang 1901,<br />

war vor dem Krieg Pfarrer u.a. in Parstein/Uckermark<br />

und kam 1951 nach Lazarus [s. Anhang]. Gerhard<br />

Tscheuschner, geboren 1917 in Neustadt/Warthe, war<br />

schon einige Zeit Pastor (Geistlicher ohne Pfarrstelle) in<br />

der Lazarus-Gemeinde, <strong>bis</strong> er, ebenfalls 1951, die 3. Pfarrstelle<br />

übernahm [s. Anhang]. Sein Dienstantritt war<br />

überschattet von Protesten mancher Gemeindemitglieder.<br />

Viele hätten damals lieber Pastor Latkowski, der in dieser<br />

Zeit hier Dienste tat, als Pfarrer gesehen.<br />

Gerhard Kreitschmann, gleichen Alters wie Tscheuschner,<br />

stammte aus Groß Retzken, Krs. Treuburg/Ostpreußen.<br />

Nachdem Pfarrer Katzenstein aus politischen Gründen<br />

die DDR verlassen und ein Pfarramt in Berlin-<strong>St</strong>aaken-<br />

Gartenstadt übernommen hatte, wurde Kreitschmann als<br />

Hilfsprediger 1954 die 1. Pfarrstelle zunächst zur kommissarischen<br />

Verwaltung, ab 1955 dann zum regulären Pfarrdienst übertragen. Die<br />

4. und die 5. Pfarrstelle wurden aus finanziellen Gründen und in<br />

Walter Müller-<br />

Matthesius (1951-1964):<br />

„... eine bessere und passendere<br />

Gemeinde in Berlin hätte ich<br />

kaum finden können.” Neben<br />

den Gottesdiensten und der<br />

Konfirmandenarbeit waren ihm<br />

Bibelfreizeiten wichtig, aus<br />

denen ein treuer Helferkreis<br />

erwuchs. Er leitete den Umbau<br />

des Kirchsaals in seine heutige<br />

Form ein.<br />

53


Wie bereits 1945 kam es in der sich Anfang der 50er<br />

Jahre zuspitzenden politischen Lage erneut zu Auseinandersetzungen<br />

mit den Behörden um einen Beschäftigten<br />

der Lazarus-Gemeinde. Im Zuge des Aufstandes von<br />

1953 wurde der Küster N. verhaftet.<br />

N. wohnte in Berlin-Wittenau und fuhr täglich zur Arbeit<br />

in den „demokratischen Sektor“. Am 17. Juni 1953 traf<br />

er mit aufgebrachten Menschengruppen zusammen und<br />

äußerte sich – aus DDR-Sicht in provokanter Weise –<br />

über die politische Lage. Er wurde am 3. Juli 1953 in<br />

Gerhard Tscheuschner einem Schnellverfahren zu einem Jahr und fünf Monaten<br />

(1951-1964) initiierte den Haft sowie den dazugehörigen Sühnemaßnahmen<br />

Einbau der neuen Schuke-<br />

(Verbot, ein öffentliches Amt zu bekleiden, Verlust des<br />

Orgel, die am 7. Juni 1959<br />

Rechtsanspruches auf Pension sowie des Rechtes zu<br />

eingeweiht wurde, und verfasste<br />

wählen oder sich irgendwie politisch zu betätigen usw.)<br />

den geschichtlichen Bericht zur<br />

60-Jahr-Feier. Er beeindruckte verurteilt.<br />

durch „seine Persönlichkeit, Das Vorleben N.s wirkte sich maßgeblich auf die Urteils-<br />

seine packende Rhetorik und findung aus: von 1932 <strong>bis</strong> 1945 hatte er der NSDAP<br />

vor allem durch seine angehört; er war lange Freikorpskämpfer und mit 27<br />

Glaubwürdigkeit.” Auszeichnungen (darunter das hohe und selten vergebene<br />

„Ritterkreuz“) hochdekorierter Soldat gewesen.<br />

Ursprünglich, so wird berichtet, hatte N. mit 10 Jahren Gefängnis<br />

bestraft werden sollen, doch sei das Urteil durch die Fürsprache<br />

besonders der Pfarrer Katzenstein und Tscheuschner aus Rücksicht<br />

auf die Malariakrankheit des Angeklagten sowie einige positiv<br />

bewertete Umstände („Herr N. hat, als seine Gemeinde in ihrem Hause<br />

anläßlich der Weltfestspiele über 250 FDJ-ler untergebracht hatte, in fürsorglicher<br />

Hinsicht vorbildlich mitgewirkt“ – so die Gemeindeleitung) abgemildert<br />

worden.<br />

Der Gemeindekirchenrat stellte einen Tag nach der Urteilsverkündung<br />

beim Generalstaatsanwalt ein Gnadengesuch:<br />

„Da wir aber Herrn N. als anderen Menschen zu kennen glauben, der sich<br />

eingestandenermaßen von seinem Tun abgewendet hat und wir ihn als Kirche noch<br />

anders entwickeln können, bitten wir um seine Entlassung aus der Haft, damit<br />

54<br />

Anpassung an die reduzierte Gemeindegröße dauerhaft<br />

nicht mehr besetzt.


wir für ihn eine Bürgschaft übernehmen können, soweit man das<br />

überhaupt für einen Menschen tun kann. Wir sind keine Kirche<br />

des Faschismus, sondern des Friedens! Falls sich bei ihm noch Reste<br />

faschistischer Gesinnung bemerkbar machen sollten, wollen wir als<br />

Kirche und Lazarus-Gemeinde (inmitten der Neubauten der<br />

<strong>St</strong>alinallee) alles tun, um ihn davon gründlich zu befreien.“<br />

Das Gnadengesuch wurde jedoch abgelehnt. N. musste<br />

die Haft antreten und erhielt danach eine <strong>St</strong>elle in West-<br />

Berlin.<br />

Auch in der Frage der Gebäudeplanung geriet die<br />

Gemeinde in Konflikt mit dem DDR-Regime. War die<br />

Sprengung der Lazaruskirche 1949 schon mehr Akt Gerhard Kreitschmann<br />

staatlicher Willkür als den baulichen Notwendigkeiten (1955-1972) vertrat nach<br />

geschuldet, steigerte sich die Machtdemonstration der<br />

eigenen Worten eine „fundamentalistische<br />

Theologie”: Er<br />

Behörden noch, als sie der Gemeinde das Grundstück<br />

drohte Konfirmanden, die an der<br />

entzogen. Der Magistrat von Groß-Berlin, Abteilung<br />

„Jugendweihe” teilnehmen<br />

Aufbau, schrieb diesbezüglich am 13. November 1951 wollten, mit dem Entzug der<br />

an das kirchliche Bauamt: „Das Grundstück der zerstörten kirchlichen Rechte – die Folge<br />

Lazaruskirche wird zur Erweiterung der vorhandenen benachbarten waren inszenierte Einwohnerver-<br />

Schulanlage benötigt. Die Inanspruchnahme wird zu gegebener Zeit sammlungen, Pressekampagnen<br />

auf der Grundlage der aufbaugesetzlichen Bestimmungen erfolgen.“ und Flugblattaktionen. Er<br />

Trotz verschiedener mündlicher Zusagen stellten die lehnte Urnenbeisetzungen ab<br />

staatlichen Behörden der Gemeinde kein Ersatzgrund- und beendete jedweden Kontakt<br />

stück zur Verfügung; jahrelange zermürbende Verhand-<br />

mit der katholischen Kirche –<br />

ein „falscher Prophet” und<br />

lungen schlugen fehl und die einst angekündigte Entschä-<br />

„Sektierer”, urteilten seine<br />

digung blieb aus.<br />

Amtsbrüder im Kirchenkreis.<br />

Diese Erfahrungen nährten die Befürchtung, auch das<br />

Grundstück in der Memeler <strong>St</strong>raße an Henselmanns<br />

<strong>St</strong>adtplanung zu verlieren. Dort strebte die Gemeinde den Bau einer<br />

Kirche an, ein Vorhaben, das der Berliner <strong>St</strong>adtsynodalverband (B<strong>St</strong>V)<br />

auf Grund der schlechten Finanzlage ablehnte. Wegen der Undurchführbarkeit<br />

größerer Pläne entschloss man sich, den Saal im Gemeindehaus<br />

schrittweise zu einem sakralen Raum umzugestalten.<br />

55


In dieser Situation feierte die Gemeinde<br />

ihr 60jähriges Bestehen; das 50. Jubiläum<br />

war unter den schwierigen Bedingungen<br />

der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht<br />

begangen worden. Am 21. Oktober 1956<br />

fand der Festgottesdienst statt, bei dem<br />

Oberkonsistorialrat Kehr (in Vertretung<br />

des Bischofs) predigte. In der sich anschließenden<br />

Festversammlung hielt die<br />

Gemeinde geschichtlichen Rückblick, der<br />

in Form eines kleinen Heftes erhalten ist<br />

und deutlich macht, wie sehr man damals<br />

die unmittelbare Vergangenheit und die<br />

Gegenwart als eine Zeit des Umbruchs<br />

empfand.<br />

Der Kirchsaal vor der Umgestaltung Ende<br />

der 50er Jahre verfügte über eine feste Bestuhlung<br />

Eigentlich sollte zur Feier des Jubiläums<br />

und einen bühnenartigen Altarraum. Einige Jahre die neue Schuke-Orgel fertiggestellt sein<br />

hatte das Bezirksamt Friedrichshain versucht, in (die alte Sauer-Orgel war mit der Kirche<br />

den Besitz des Gemeindehauses zu kommen und den zerstört worden); jedoch gab es Verzöge-<br />

Saal für kulturelle Veranstaltungen und als Kino rungen, so dass das Instrument erst drei<br />

genutzt. Nachdem sich der Bau einer Kirche als Jahre später, am 7. Juni 1959, feierlich<br />

nicht durchführbar erwies, entschloss sich die eingeweiht werden konnte. Generalsuper-<br />

Gemeinde zur Umgestaltung des Kirchsaals.<br />

intendent Führ hielt zu diesem Anlass die<br />

Gastpredigt.<br />

Auch der Umbau des Kirchsaals nahm mehrere Jahre in Anspruch<br />

und bestand vor allem in der Neugestaltung des Altarraumes sowie<br />

dem Austausch des Gestühls durch Kirchenbänke. Architekt war der<br />

Kirchenbaurat Werner Richter aus der Bauabteilung des Konsistoriums.<br />

Das ehemals weit nach hinten reichende Bühnenpodest, das 1945 für<br />

das Volksbildungsamt Friedrichshain so attraktiv gewesen war und<br />

für verschiedene Veranstaltungen als Bühne gedient hatte, wurde<br />

verschlossen. Den gewonnenen Raum nutzte die Gemeinde seither<br />

als Jugend- und Konfirmandenraum. Die Altarwand mit dem großen,<br />

aus alten <strong>St</strong>raßenbahnschienen gefertigten Kreuz wurde von dem<br />

jungen Kunststudenten Georg Hadeler gestaltet [s. Anhang]. Aus dieser<br />

Zeit stammen auch Altartisch, Altarkreuz und -leuchter sowie Taufe<br />

und Kanzel. Von der liturgischen Ausstattung der alten Lazaruskirche<br />

56


ist u.a. noch das Abendmahlsgerät erhalten,<br />

das sich nach wie vor in Gebrauch<br />

befindet. Eingeweiht wurde der<br />

Kirchsaal 1961 in Anwesenheit von<br />

Bischof Dibelius, der den Altarteppich<br />

gestiftet hatte.<br />

Der zunehmende politische Druck auf<br />

Christen und die Neuordnung des<br />

Kirchensteuerwesens ab 1. Januar 1953<br />

(Ende des automatischen Kirchensteuerabzugs<br />

durch die Finanzämter und<br />

Übergabe der Zuständigkeit in die<br />

Selbstverantwortung der <strong>Kirchengemeinde</strong>n<br />

und ihrer Mitglieder)<br />

brachten auch der Lazarus-Gemeinde<br />

eine Welle von Kirchenaustritten. Die<br />

Zahlen waren 1953 sprunghaft angestiegen<br />

und erreichten ihren Höhepunkt<br />

1955, als 369 Gemeindemitglieder in<br />

einem Jahr aus der Kirche austraten.<br />

Der Altarraum reichte ehemals weit nach hinten.<br />

Nachdem man diesen Teil verschlossen hatte, stand<br />

ein zusätzlicher Raum zur Verfügung. Altar,<br />

Kruzifix und Leuchter stammten aus der alten<br />

Lazaruskapelle und wurden im Zuge der Kirchsaalerneurung<br />

ersetzt.<br />

Zudem setzte auf allen Gebieten des Gemeindelebens ein anhaltender<br />

Rückgang bei den Teilnehmerzahlen ein, der auch der Umstrukturierung<br />

des Gemeindebereiches durch den Bau der <strong>St</strong>alinallee geschuldet<br />

war. Viele Christen wurden durch die Sanierung verdrängt und durch<br />

systemkonforme, der Kirche fernstehende Menschen ersetzt. Kirche<br />

wurde hier als „störend“ empfunden.<br />

Es gibt Anzeichen dafür, dass besonders Pfarrer Kreitschmann die<br />

hergebrachten Formen des Gemeindelebens wertschätzte und<br />

jedweder Neuerung skeptisch gegenüberstand. Dies zeigte sich im<br />

Zusammenhang mit staatlichen Repressalien, aber auch als Reaktion<br />

auf das im Bereich der Kirche einsetzende kritische Hinterfragen vieler<br />

<strong>bis</strong>her in Geltung stehender Glaubensgewissheiten. Die zunehmende<br />

„Liberalisierung“ kirchlicher Praktiken widerstrebte ihm. Mit Ernst<br />

wurde jeder vermeintlichen „Verflachung“ des Gemeindelebens<br />

entgegengewirkt. Im Nachrichtenblatt vom August 1955 sind<br />

dezidierte Erwartungen an die Gemeindemitglieder aufgelistet. Auch<br />

57


Die Altarwand mit dem Kreuz aus alten<br />

<strong>St</strong>raßenbahnschienen entwarf der junge Kunststudent<br />

Georg Hadeler und gewann damit den 1. Preis des<br />

Wettbewerbs.<br />

Das Abendmahlsgerät gehört zu den wenigen<br />

Gegenständen, die aus den Tagen der alten Kirche<br />

erhalten sind. Es ist noch heute in Gebrauch.<br />

58<br />

am Umfang der angebotenen Gemeindeveranstaltungen<br />

hielt man lange fest.<br />

So wurde in den 50er Jahren sonntags<br />

regelmäßig zwei Mal (10.00 und 18.00<br />

Uhr) Gottesdienst gefeiert, stets mit der<br />

damals noch üblichen Kollektivbeichte;<br />

in den Fürbitten gedachte man der durch<br />

das DDR-Regime inhaftierten Christen.<br />

Der Abendgottesdienst musste dann –<br />

vergleichsweise spät – Mitte der 60er<br />

Jahre mit Rücksicht auf die geringe<br />

Beteiligung eingestellt werden. Die Zahl<br />

der Besucher lag auf einem aus heutiger<br />

Sicht hohen Niveau. 1950 kamen zu<br />

jedem Gottesdienst im Durchschnitt 276<br />

Menschen zusammen, jedoch zeigte sich<br />

schon in dieser Zeit ein stark rückläufiger<br />

Trend: zehn Jahre später waren es nur<br />

noch durchschnittlich 156 Teilnehmer.<br />

Zu den hohen Festen (Heiligabend,<br />

Karfreitag, Ostern, Erntedank) strömten<br />

zwischen 300 und 400 Gemeindemitglieder<br />

in den Kirchsaal.<br />

Im Anschluss an den sonntäglichen<br />

Gottesdienst fand das Abendmahl statt.<br />

Im Jahr 1950 nahmen insgesamt 2.390<br />

Menschen am Abendmahl teil; 1957<br />

waren es noch 1.522, und erst seit Ende<br />

der 60er Jahre ging die Zahl der<br />

Abendmahlsgäste auf 400 <strong>bis</strong> 600<br />

zurück. Die Integration des Abendmahls<br />

in den Gottesdienst erfolgte erst ab 1974<br />

– deutlich später als bei den benachbarten<br />

Gemeinden.<br />

In den 50er Jahren spendeten die Pfarrer<br />

noch relativ häufig (zwischen 50 und 60<br />

Mal) das Haus- bzw. Krankenabend-


mahl. Am Ende der Woche kam ein<br />

vertrauter Gemeindekreis (um 20<br />

Personen) zur Wochenschlussandacht<br />

zusammen, an die sich eine Betstunde<br />

anschloss. Über das Kirchenjahr wurden<br />

zusätzliche Gottesdienste gefeiert<br />

(Passions-, Adventsandachten). Daneben<br />

gab es regelmäßig besondere Veranstaltungen,<br />

wie Verkündigungsspiele und<br />

Vorträge zu verschiedenen Themen.<br />

Die kirchliche Arbeit mit Kindern und<br />

Jugendlichen bildete – neben den<br />

weiteren spezifischen Arbeitsfeldern wie<br />

Männerarbeit, Frauenarbeit, Kirchenmusik,<br />

Elternarbeit – einen Schwerpunkt<br />

[s. Anhang]. Für Kinder war ein separater<br />

Kindergottesdienst (12.00 Uhr) eingerichtet,<br />

an dem Anfang der 50er Jahre<br />

jeden Sonntag 200 <strong>bis</strong> 500 Kinder<br />

teilnahmen. Es gab fünf verschiedene,<br />

nach Geschlechtern getrennte Kinderund<br />

Jugendkreise.<br />

Zum Ende der 50er Jahre beklagte die<br />

Gemeinde, dass wegen schulischer<br />

Beanspruchung immer weniger Kinder<br />

den Kindergottesdienst und die<br />

Bischof Otto Dibelius kam zur Einweihung<br />

des Kirchsaals 1961 in die Lazarus-Gemeinde. Er<br />

hatte den Altarteppich gestiftet.<br />

Christenlehre besuchten. Hinter allem stand auch ein politischer und<br />

sozialer Druck, den <strong>St</strong>aat und Gesellschaft auf Kinder und Eltern<br />

ausübten. Der zunehmenden Neigung zur Anpassung an die<br />

Verhältnisse begegnete besonders Pfarrer Kreitschmann zunächst mit<br />

einem rigiden, unversöhnlichen Kurs und versuchte auf diese Weise,<br />

die <strong>St</strong>ellung der Kirche im atheistischen Umfeld zu behaupten. Als<br />

1958 vier Konfirmanden ankündigten nach der Konfirmation an der<br />

Jugenweihe teilzunehmen, drohte Pfarrer Kreitschmann (gemäß den<br />

konsistorialen Richtlinien) mit der sogenannten „Kirchenzucht“, das<br />

heißt mit dem Einsatz kirchlicher <strong>St</strong>rafmittel. Dies bedeutete im<br />

59


60<br />

konkreten Fall für die vier Jugendlichen den Entzug der kirchlichen<br />

Rechte. Daraufhin inszenierten die politischen Behörden<br />

Einwohnerversammlungen, Protestbriefe in der Presse sowie<br />

Flugblattaktionen gegen Pfarrer Kreitschmann. Die Kirchenleitung<br />

nahm sich dieses Themas an. Im Anhang sind die in ihrer Aufmachung<br />

ebenso durchsichtigen wie diffamierenden Zeitungsartikel<br />

dokumentiert.<br />

Es war symptomatisch für das Verhältnis zwischen der jungen DDR<br />

und der Kirche, dass die meisten damals an der Lazarus-Gemeinde<br />

tätigen Pfarrer diesen <strong>St</strong>aat verließen. Müller-Matthesius beendete auf<br />

eigenen Wunsch 1964 seinen Pfarrdienst und bemühte sich um die<br />

Übersiedlung nach West-Berlin, die 1965 erfolgte. Tscheuschner ließ<br />

sich zwar ebenfalls vorzeitig 1965 emeritieren, jedoch vornehmlich<br />

aus gesundheitlichen Gründen. Nach weiterem pfarramtlichem Dienst<br />

an der Lazarus-Gemeinde <strong>bis</strong> 1967 siedelte er in die Bundesrepublik<br />

über.<br />

In der darauffolgenden Phase – unter den Bedingungen der etablierten<br />

DDR – verminderten sich über die Jahre die scharfen Spannungen<br />

zwischen <strong>St</strong>aat und Gemeinde.


DDR – MITTLERE UND SPÄTE JAHRE (1965 <strong>bis</strong> 1990)<br />

gescheiterte Pfarrstellenbesetzungen – Ablehnung von<br />

Feuerbestattungen und Kontakten zur katholischen Kirche –<br />

Verbot des Nachrichtenblattes – Diakonische Arbeit – „Offene<br />

Jugendarbeit“ – Schwierigkeiten, das Gebäude zu unterhalten<br />

Nachdem Mitte der 60er Jahre die Pfarrer Müller-Matthesius und<br />

Tscheuschner aus ihrem Dienst ausgeschieden waren, blieb<br />

Kreitschmann, unterstützt von Pastor Latkowski, allein mit der<br />

Versorgung der etwa 15.000 Gemeindemitglieder. Kreitschmann<br />

entwickelte sich zu einer bestimmenden Figur von dauerndem Einfluss.<br />

Unter seiner Leitung kam es in der Gemeinde zu einer gewissen<br />

Verfestigung in den theologischen Positionen und zu einer Abschottung,<br />

die sowohl in einer verbreiteten Neigung für althergebrachte und<br />

wertgeschätzte Traditionen, als auch in der Person und in den<br />

Anschauungen Pfarrer Kreitschmanns ihre Wurzel hatten.<br />

Kreitschmann schilderte 1965 die Rahmenbedingungen in einem<br />

Bericht an die Superintendentur folgendermaßen: „Unsere Gemeinde<br />

steht unter äusseren und inneren Schwierigkeiten. Zu den äusseren Schwierigkeiten<br />

gehört vornehmlich die Tatsache, dass die Gemeinde in besonderer Weise von der<br />

sog. gesellschaftlichen Umstrukturierung betroffen ist (Karl-Marx-Allee und die<br />

von daher geprägten anderen <strong>St</strong>rassenzüge u.a.m.).“ Zu den inneren Nöten<br />

zählte er neben dem von ihm allein zu versehenden Pfarrdienst, dass<br />

sich einige Kirchenälteste „nur selten zum Gottesdienst und gar nicht<br />

zu den Wochenveranstaltungen einladen“ ließen. Er beklagte zudem<br />

den bescheidenen Zuspruch für die Junge Gemeinde; auch die Kinderund<br />

Konfirmandenarbeit sei schwierig wegen der genannten<br />

Umstrukturierung und gleichgültiger Eltern. Der Bericht schloss mit<br />

der Feststellung: „Unsere Erfahrungen mit den politischen Instanzen sind negativ.<br />

Ich sehe mich nicht in der Lage, bei dem der Kirche gewährten Existenzminimum<br />

und den auf Schritt und Tritt auftretenden Befremdlichkeiten der politischen<br />

Seite – von positiven Erfahrungen zu sprechen.“<br />

Zu den „inneren Schwierigkeiten“ der Lazarus-Gemeinde gehörte<br />

auch die lange Vakanz, die sich an das Ausscheiden der Pfarrer Müller-<br />

Matthesius und Tscheuschner anschloss. Langfristig konnte aus<br />

61


62<br />

finanziellen Gründen neben der 1. nur die 3. Pfarrstelle wieder besetzt<br />

werden, doch gab es hierbei Probleme, die sich über Jahre hinzogen<br />

und die Gemeinde in eine unsichere Situation brachten.<br />

Nach der Ausschreibung gingen fünf Bewerbungen ein, die sich aber<br />

sämtlich zerschlugen, so dass eine Neuausschreibung notwendig wurde.<br />

1966 wählte der Gemeindekirchenrat Pfarrer Reinhold Schmidt aus<br />

Neu Zauche (b. Lübben) gegen den allerdings Kreitschmann starke<br />

Vorbehalte hatte, weil er nicht an die buchstäbliche Jungfrauengeburt,<br />

Auferstehung und Himmelfahrt Christi glaube. Kreitschmann äußerte<br />

sich so: „Ich kann einen irrenden Bruder neben mir dulden, aber keinen Irrlehrer“.<br />

Schmidt nahm dann die Wahl nicht an, weil er (trotz Bekräftigung<br />

seiner Kirchlichkeit und Dogmentreue) auf ein vertrauensvolles<br />

Zusammenarbeiten mit Pfarrer Kreitschmann nicht mehr hoffen<br />

konnte.<br />

1966 wählte die Gemeindeleitung Pfarrer Joachim Conzendorf aus<br />

Ossling, Krs. Kamenz. Doch der Magistrat von Groß-Berlin erteilte<br />

für den neu Gewählten keine Zuzugsgenehmigung mit der Begründung,<br />

dass Wohnungen knapp seien. Trotz zahlreicher Versuche auf<br />

allen kirchlichen Ebenen scheiterte die Pfarrstellenbesetzung an der<br />

Weigerung der staatlichen Behörden, den Geistlichen nach Berlin zu<br />

lassen. 1970 schließlich gab Conzendorf den Versuch auf, seine<br />

Pfarrstelle anzutreten.<br />

Dass Pfarrer Kreitschmann nach seinen eigenen Worten eine<br />

„fundamentalistische Theologie“ vertrat, wird – neben dem Scheitern<br />

der Zusammenarbeit mit Pfarrer Schmidt – auch an einem anderen<br />

Beispiel deutlich. Kreitschmann lehnte es ab, Urnenbeisetzungen<br />

vorzunehmen, weil er diese für nicht biblisch begründet und daher<br />

für unchristlich hielt. Hausbesuche, ein aus Bibelzitaten<br />

zusammengestellter begründender Brief und ein ebensolches Plakat<br />

neben der Küstereitür sollten die zunehmende Neigung zu Feuerbestattungen<br />

eindämmen. Konsequent setzte Kreitschmann aus Anlass<br />

eines konkreten Falles den einmütigen Beschluss des Gemeindekirchenrates<br />

durch, von Feuerbestatteten keine Erbschaften anzunehmen. Dass<br />

dies keineswegs nur eine Einzelmeinung oder ein „einsamer<br />

Gremiumsbeschluss“ war, wird daraus ersichtlich, dass diese<br />

Entscheidung mit Zustimmung des aus ehrenamtlichen Mitarbeitern


und aktiven Gemeindemitgliedern gebildeten Gemeindebeirates<br />

erfolgte. Die Folgen, die diese konsequente Haltung für die Gemeinde<br />

hatte, lassen sich schwer abschätzen. Für Pfarrer Kreitschmann<br />

bedeutete sie eine Isolierung im Pfarrkonvent, wo man ihn als „falschen<br />

Propheten“ und „Sektierer“ bezeichnete. Diese Emotionalisierung kam<br />

wohl auch zustande, weil Kreitschmann diejenigen Amtsbrüder<br />

herabsetzte, die diese Urnenbeisetzungen (notgedrungen) übernahmen.<br />

Das Konsistorium erkannte zwar Kreitschmanns Gewissensnöte in<br />

bezug auf die Feuerbestattung an, lehnte jedoch die theologische<br />

Begründung, die selbstisolierende und starre Position sowie die Angriffe<br />

auf die anderen Geistlichen ab.<br />

Ein weiteres Beispiel zeigt die Tendenz der Lazarus-Gemeinde, unter<br />

dem alleinigen Pfarrdienst von Pfarrer Kreitschmann zum Teil rigorose<br />

Positionen einzunehmen. Auf das Jahr 1970 datiert ein Beschluss des<br />

Gemeindekirchenrates – wiederum im Einklang mit dem<br />

Gemeindebeirat – sich als Lazarus-Gemeinde an keiner gemeinsamen<br />

Veranstaltung mit der katholischen Kirche zu beteiligen und solche<br />

Veranstaltungen auch nicht bekanntzugeben.<br />

Hinter all dem stand ein religiöser Ernst, der dazu führte, bestimmte<br />

evangelische Auffassungen und Bekenntnisse als nicht verhandelbar<br />

zu erklären, der aber auch die Gefahr barg, in Isolation und Verhärtung<br />

zu geraten.<br />

Es kam weiterhin zu Konflikten mit dem <strong>St</strong>aatsapparat. Pfarrer<br />

Kreitschmann hatte aus Anlass des Einmarsches von Truppen des<br />

Warschauer Pakts in die CSSR im Gottesdienst am 8. September 1968<br />

den „Brief der Kirchenleitung an die im Ökumenischen Rat zusammengeschlossenen<br />

Kirchen in der CSSR“ verlesen. Die anschließende Fürbitte enthielt die<br />

Formulierung, „Gott möge Frieden und Freiheit und den Abzug der<br />

fremden Truppen schenken“. Diese Formulierung Kreitschmanns, der<br />

ohnehin unter Beobachtung der <strong>St</strong>aatssicherheit stand, war offenbar<br />

von einem Spitzel den Bezirksbehörden gemeldet und der Sachverhalt<br />

aufgebauscht worden. Man verweigerte daraufhin der Lazarus-<br />

Gemeinde die Druckgenehmigung für das Nachrichtenblatt. Zwar<br />

versuchte die Superintendentur, beim Rat des <strong>St</strong>adtbezirkes<br />

Friedrichshain eine Klarstellung zu erreichen, doch blieb es bei dessen<br />

Entscheidung. Das Verbot des Nachrichtenblattes wurde erst zum<br />

63


64<br />

Ende des Jahres 1974 aufgehoben, was wahrscheinlich mit dem<br />

Weggang Pfarrer Kreitschmanns in die Bundesrepublik zusammenhing.<br />

Auch danach gab es Schwierigkeiten, eine Druckerlaubnis für<br />

die gewünschten Texte zu erhalten, die über die Bekanntgabe der<br />

Gottesdienstpläne und Veranstaltungen hinausgingen.<br />

Die Gemeindeveranstaltungen waren Mitte der 60er Jahre im Vergleich<br />

zu heute noch sehr gut besucht, obwohl sich bereits in dieser Zeit ein<br />

dauerhafter Rückgang der Teilnehmerzahlen ankündigte: an den beiden<br />

Christvespern 1966 nahmen mehr als 550 Menschen teil, 1967 war<br />

der Vormittags-Gottesdienst zum Reformationstag (450. Jubiläum),<br />

obwohl erstmals kein staatlicher Feiertag mehr, mit 123 Teilnehmern<br />

„wie in allen Jahren gut besucht“, zum Erntedank-Gottesdienst 1968<br />

kamen 259 Erwachsene und 80 Kinder. Die durchschnittliche Zahl<br />

der Teilnehmer pro Gottesdienst lag in jenen Jahren zwischen 100<br />

und 130. Auch die Anzahl der Abendmahlsgäste verringerte sich.<br />

1962 nahmen noch insgesamt 938 Christen am Abendmahl teil, fünf<br />

Jahre später, 1967, waren es nur noch 643. Auch beim sonntäglichen<br />

Kindergottesdient war die Abnahme spürbar. Im gleichen Zeitraum<br />

ging die durchschnittliche Zahl der teilnehmenden Kinder von 30 auf<br />

19 zurück.<br />

Ab Mitte der 60er Jahre reagierte die Gemeindeleitung auf die<br />

rückläufigen Zahlen und auf die Tatsache, dass vorerst nur ein Pfarrer<br />

für den Gemeindedienst zur Verfügung stand, indem man den Umfang<br />

der Veranstaltungen reduzierte. Auch die Abendgottesdienste am<br />

Sonntag wurden gestrichen. Diese schwierige Lage trug sicher dazu<br />

bei, dass 1968 der Gemeindekirchenrat der Verkleinerung des<br />

Gemeindegebietes im Osten ohne Proteste zustimmte. Das <strong>St</strong>raßen-<br />

Dreieck zwischen Simon-Dach-<strong>St</strong>raße und Revaler <strong>St</strong>raße bzw.<br />

Simplonstraße <strong>bis</strong> zum Bahnhof Ostkreuz wurde 1969 an die<br />

benachbarte <strong>Kirchengemeinde</strong> Offenbarung abgetreten.<br />

Die Lazarus-Gemeinde hatte – wie alle Gemeinden – seit ihrer<br />

Gründung eine Diakonissenstation. Jedoch musste auch der Umfang<br />

der diakonischen Arbeit während der DDR-Zeit reduziert werden.<br />

Nachdem 1965 zwei Diakonissen in den Ruhestand gegangen waren,<br />

begann die letzte Lazarus-Diakonisse aus dem Oberlinhaus Potsdam-


Babelsberg, Elfriede Rauhöft, ihren<br />

langjährigen Dienst in der Krankenpflege.<br />

In den Gemeindeversammlungen<br />

gab die Schwester in Tätigkeitsberichten<br />

jährlich Auskunft. Ein Ausschnitt<br />

daraus mag das Arbeitsethos der<br />

Diakonisse verdeutlichen, ergänzt um<br />

einige (Durchschnitts-) Zahlen zu Art<br />

und Umfang ihrer Arbeit:<br />

„Rückschauend auf das vergangene Jahr<br />

streifen meine Gedanken noch einmal über alle<br />

Ereignisse, und dabei möchte ich nicht versäumen,<br />

für die Gnade Gottes und für Seine Hilfe bei<br />

der täglichen Arbeit in der Gemeinde von<br />

ganzem Herzen zu danken und um neue<br />

<strong>St</strong>ärkung zu bitten. Wir spüren Sein<br />

Einwirken auf unser Herz, und diesen<br />

mächtigen Ansporn brauchen wir so nötig<br />

angesichts der erschütternden Begebenheiten des<br />

menschlichen Lebens, der Härte des Alltages<br />

Schwester Elfriede Rauhöft war die letzte<br />

und der immer von neuem vereitelten Möglich-<br />

Diakonisse in der Lazarus-Gemeinde.<br />

keiten, mit unserer Botschaft des Heils der Welt<br />

an die noch abseits stehenden Mitmenschen<br />

heranzutreten, damit auch sie die Liebe unseres<br />

Herrgottes begreifen und es lernen, auf Ihn zu<br />

hören. [...]<br />

Auch im abgelaufenen Jahr gab es viel Arbeit an Krankenbetten und in anderen<br />

Pflegefällen. Es ist aber gerade dieser Dienst, der uns mit den Kranken und mit<br />

ihren Angehörigen so nahe zusammenführt und den menschlichen Kontakt herstellt,<br />

der uns Trost gibt und uns zum Dank für alle erwiesene Gnade an den Herrn<br />

verweist, der unser Schicksal in Seinen Händen hält.<br />

Ich hatte mehrere schwere Fälle von Krebskranken, zu denen ich täglich 4-5x<br />

gehen mußte, um ihnen durch eine Injektion ihre grausamen Schmerzen zu lindern,<br />

<strong>bis</strong> sie endlich heimgehen durften zu ihrem himmlischen Vater. Auch einer lieben<br />

Blinden durfte ich in den letzten Wochen ihres Erdenlebens mit Hilfe und Tat zur<br />

Seite stehen, denn im Hause gab es niemanden, der sich um die Kranke kümmerte.<br />

65


66<br />

So fing ich des Morgens mit dem Heizen, Waschen, Füttern und Trockenlegen<br />

an. 3-4x ging ich zu ihr, niemand war da, um ihr einen Schluck Wasser zu<br />

reichen. Doch hörte sie gerne die Losung, und wir sagten beide Lieder auf; dann<br />

schlief sie ruhig und still für immer ein.<br />

Zwischendurch wurden alle Zuckerkranken mit Insulin versorgt. Es gibt doch<br />

unendlich viel alte und einsame Menschen, die alle auf eine Hilfeleistung von der<br />

Schwester warten. Eine alte Frau hatte ich in meiner Arbeit, die vollkommen irre<br />

ist, die nur die Gashähne aufläßt und Feuer in der Wohnung macht; doch keiner<br />

hilft und keiner hat Macht, die Frau fortzubringen, weil nirgends Betten frei sind.<br />

Trotz aller Lauferei zu den Ärzten und Amtsärzten ist nichts zu erreichen. Ja,<br />

es ist manchmal ein schweres Arbeiten, wenn der Geist bei den Altchen vollkommen<br />

aussetzt. Doch der Heiland liebt alle Menschen, trotz ihrer Schwachheiten.“<br />

Schwester Elfriede Rauhöft besuchte im Jahr etwa 300 Familien,<br />

erledigte um 4.000 Pflegegänge und 350 Besuche bei Alten und<br />

Einsamen, nahm 260 Beratungen und 600 Hilfeleistungen auf der<br />

<strong>St</strong>ation (Warschauer <strong>St</strong>raße 16) vor, ging 160 Mal für Patienten zum<br />

Arzt und zur Apotheke, gab 3.000 Spritzen und hielt Nachtwachen<br />

bei <strong>St</strong>erbenden. Dass keineswegs nur gläubige Gemeindemitglieder<br />

versorgt wurden, belegt ihr Eindruck von den Alten und Kranken:<br />

„Auch sind etliche darunter, die keinen Glauben haben oder dagegen sind. So ist<br />

es doch eine kleine Freude, wenn sie so allmählich doch danach greifen und ein<br />

Fünklein mitbekommen von der großen Liebe unseres Heilandes.“<br />

Die diakonische Arbeit wurde Mitte der 70er Jahre noch als<br />

gesamtgemeindliche Aufgabe verstanden: Konfirmanden erledigten<br />

Einkäufe für alte Gemeindemitglieder, das Essenkochen und die Hilfe<br />

bei der Wohnungsreinigung. Und im Keller des Gemeindehauses<br />

standen vier Betten als Übernachtungsmöglichkeit für Bedürftige zur<br />

Verfügung.<br />

Nachdem Pfarrer Kreitschmann, mit dem es verschiedentlich<br />

Spannungen gegeben hatte und der sich schließlich um die Ausreise in<br />

die Bundesrepublik bemühte, 1972 versetzt worden war, musste die<br />

Gemeinde einige Zeit von außen verwaltet werden.<br />

Dann wählte 1973 der Gemeindekirchenrat Alfred Beuse als Pfarrer.<br />

Beuse, Jahrgang 1934 und aus Schlesien stammend, war zuvor 2. Pfarrer


an der Martins-Gemeinde in Köthen/<br />

Anhalt und im Nebenamt seit 1969<br />

Landesmissionspfarrer in der dortigen<br />

Landeskirche. Er vollzog einen<br />

Richtungswechsel hin zu gemäßigteren<br />

Positionen, als sie Pfarrer Kreitschmann<br />

vertreten hatte. So setzte Beuse mit<br />

Unterstützung des Konsistoriums 1974<br />

die Aufhebung des Gemeindekirchenrats-Beschlusses<br />

von 1970 durch, der<br />

jeden Kontakt mit der katholischen<br />

Kirche beendet hatte. Der neue Pfarrer<br />

stieß damit nicht auf einhellige Zustimmung:<br />

im Gemeindekirchenrat schlossen<br />

sich nur zwei Älteste der Meinung Pfarrer<br />

Beuses an, zwei waren gegen die<br />

Aufhebung, einer enthielt sich. Im<br />

Gemeindebeirat war das Votum mit<br />

sechs Ja- gegen vier Nein-<strong>St</strong>immen<br />

ebenfalls gespalten.<br />

Pfarrer Beuse änderte auch die Gottesdienstordnung<br />

und führte die sogenannte<br />

Alfred Beuse (1974-1980) wollte der Gemeinde<br />

„Form B“ der Gottesdienstagende ein. mit offeneren theologischen Angeboten eine neue<br />

Sie blieb <strong>bis</strong> in das Jahr 2005 in Kraft. Richtung geben: Er änderte die Gottesdienstordnung,<br />

Damit verbunden war die – im Vergleich probierte neue Formen der kirchlichen Arbeit mit<br />

zu den Nachbargemeinden späte – Jugendlichen und organisierte Gemeindeausflüge.<br />

Integration des Abendmahls in den Von 2004 <strong>bis</strong> 2005 übernahm er während der<br />

Gottesdienst.<br />

Vakanz in Lazarus erneut pfarramtliche Dienste.<br />

Es wurden neue, offene Formen in der<br />

Jugendarbeit ausprobiert und mit (zumindest zeitweisem) Erfolg<br />

etabliert. Die Jugendtreffen in der sogenannten „Katakombe“ im<br />

Keller des Gemeindehauses waren zu dieser Zeit im gesamten<br />

Kirchenkreis bekannt. Allerdings gab es auch Vorbehalte gegen das<br />

Verhalten mancher Jugendlicher und Beschwerden bei der Polizei.<br />

Pfarrer Beuse berichtet, dass er in diesem Zusammenhang mit den<br />

staatlichen Behörden („Abschnittsbevollmächtigter“ (ABV) der Polizei,<br />

67


<strong>St</strong>aatsanwaltschaft, „Amt für<br />

Wiedereingliederung“) gut zusammenarbeiten<br />

konnte [s. Anhang].<br />

<strong>St</strong>ets war, nach den Aussagen Pfarrer<br />

Beuses, die Jugendarbeit biblisch<br />

orientiert und wurde durch Theologiestudenten<br />

der kirchlichen Ausbildungsstätte<br />

„Paulinum“ geleitet, während z.B.<br />

in der benachbarten Samariter-<br />

Gemeinde unter Pfarrer Eppelmann die<br />

Jugendarbeit stärker von politischen<br />

Joachim <strong>St</strong>ein (1976-2001) stand Neuerungen<br />

skeptisch gegenüber und pflegte einen traditionellen<br />

Gottesdienst. Viele Gemeindemitglieder schätzten<br />

seine sprachlich gediegenen und theologisch fundierten<br />

Predigten. Hier (2. von rechts) am Tag seiner<br />

Ordination am 27. April 1975 in der Lazarus-<br />

Gemeinde. Die Zeremonie leitete Gen.sup.<br />

bzw. oppositionellen Interessen<br />

bestimmt war.<br />

Die Auffassung, dass politische Fragen<br />

zwar erörtert werden müssten, aber nicht<br />

zu sehr die kirchliche Arbeit dominieren<br />

sollten, teilte auch Pfarrer Joachim <strong>St</strong>ein.<br />

Grünbaum, von Dr. Gartenschläger und Dr. Furian Er wurde, knapp 33jährig, 1975 in der<br />

assistiert. <strong>St</strong>ein war mit 25 Jahren Pfarrdienst Lazarus-Gemeinde ordiniert und über-<br />

außergewöhnlich lange im Amt. Während seiner nahm 1976 die 1. Pfarrstelle, die er <strong>bis</strong><br />

Dienstzeit wurde der konservative Charakter der<br />

Gemeinde gefestigt – ein Erbe, das besonders Pfarrer<br />

Kreitschmann hinterlassen hatte.<br />

dahin kommissarisch verwaltet hatte.<br />

Bereits 1978 berief ihn der Kirchenkreis<br />

in das Amt des Archivpflegers, was<br />

seinen Neigungen entgegenkam. Pfarrer<br />

<strong>St</strong>ein nahm in dieser Funktion an der Visitation der Friedrichshainer<br />

Gemeinden teil.<br />

Trotz des tendenziell eher unpolitischen Amtsverständnisses ihrer<br />

beiden Pfarrer geriet die Lazarus-Gemeinde weiter in Konflikte mit<br />

dem <strong>St</strong>aat. Diese entzündeten sich am „Wehrkundeunterricht“ der<br />

Schulen, den die Kirche kritisch betrachtete. Im Schaukasten der<br />

Lazarus-Gemeinde war die diesbezügliche kirchliche <strong>St</strong>ellungnahme<br />

öffentlich gemacht worden, was bei den örtlichen <strong>St</strong>aatsorganen<br />

Missfallen auslöste. Der Friedrichshainer Bezirksrat K. wandte sich<br />

mit einer Beschwerde an den Generalsuperintendenten. Daraufhin<br />

traf am 13. Juli 1978 ein Brief des Konsistoriums an die Pfarrer<br />

Beuse und <strong>St</strong>ein ein:<br />

68


„Liebe Brüder, wie wir erfahren, haben Sie<br />

das Wort der Konferenz der <strong>Evangelische</strong>n<br />

Kirchenleitungen vom 14.6.1978 an die<br />

Gemeinden in Sachen Wehrkundeunterricht mit<br />

der Abschrift eines Briefes des Pfarrkonvents<br />

des Kirchenkreises Friedrichshain an das Volksbildungsministerium<br />

in dem Schaukasten Ihrer<br />

Gemeinde ausgehängt.<br />

Unsere Kirchenleitung hatte beschlossen, daß<br />

das Wort der Konferenz an die Gemeinden im<br />

Gottesdienst am 25.6.1978 in geeigneter Form<br />

bekanntgegeben werden solle (unsere Verfügung<br />

vom 20.6.1978 – K. Ia Nr. 1034/78 –).<br />

Indem wir davon ausgehen, daß Sie hinsichtlich<br />

der Verbreitung des Wortes unsere Verfügung<br />

mißverstanden haben, fordern wir Sie auf, das<br />

Wort sofort aus dem Schaukasten zu entfernen.<br />

Nach unseren Informationen hat auch der<br />

Pfarrkonvent des Kirchenkreises Friedrichshain<br />

nicht beschlossen, daß sein Brief an das<br />

Volksbildungsministerium allgemein öffentlich<br />

bekanntgemacht oder über die vorgesehenen Konfirmandengruppe von Pfr. <strong>St</strong>ein am 30. 05.1976.<br />

Adressaten hinaus weiter verbreitet werden soll.<br />

Deshalb müssen wir auch die sofortige<br />

Entfernung dieses Briefes aus Ihrem<br />

Schaukasten fordern.<br />

Ein Grundsatzgespräch mit Ihnen über die Schaukastenarbeit stellen wir zu<br />

einem späteren Zeitpunkt in Aussicht.“<br />

Die Entfernung der besagten Schreiben erfolgte – gegen die eigene<br />

Überzeugung – noch am gleichen Tag, dennoch konnten die<br />

Spannungen zwischen Gemeinde und Bezirk nicht beigelegt werden.<br />

Lazarus hätte „schon wieder eine Sache gegen Wehrerziehung im<br />

Schaukasten“, es hätte „Anrufe aus der Bevölkerung“ gegeben,<br />

beschwerte sich der Bezirksrat bei der Superintendentin Laudien. <strong>St</strong>reitpunkt<br />

war die Bekanntmachung einer nicht angemeldeten und nicht<br />

genehmigten Veranstaltung in der Galiläa-Gemeinde, bei der auch<br />

69


70<br />

das Thema „Wehrkundeunterricht“ eine<br />

Rolle spielen sollte. Die Gemeinde blieb<br />

im Fokus der Behörden. Es wird<br />

berichtet, dass zuweilen die<br />

„<strong>St</strong>aatssicherheit“ die Gottesdienste<br />

beobachtete und die Predigten auf<br />

„staatsfeindliche“ Inhalte prüfte.<br />

1980 verließ Pfarrer Beuse die Lazarus-<br />

Gemeinde, der er u.a. mit offeneren<br />

theologischen Ansätzen, diakonischer<br />

Arbeit und Gemeindeausflügen neue<br />

Impulse hatte geben wollen, und<br />

wechselte in eine Pfarrstelle in<br />

Schönebeck-Salzelmen, b. Magdeburg.<br />

Später kam er noch einmal an die<br />

Lazarus-Gemeinde zurück und<br />

übernahm 2004 für ein Jahr<br />

Detlef Wilinski (1981-1998) war ein pfarramtliche Aufgaben und die<br />

traditionsbewusster Pfarrer, der den Schwerpunkt Vakanzverwaltung.<br />

seiner Tätigkeit in der seelsorgerlichen Arbeit an den Nach Beuse besetzte 1981 Pfarrer<br />

Gemeindemitgliedern sah. Zeitweilig hatte er das Amt Detlef Wilinski, 1941 in Berlin geboren,<br />

des Superintendenten inne.<br />

die 3. Pfarrstelle. Er hatte zuvor 12 Jahre<br />

in der benachbarten <strong>Kirchengemeinde</strong><br />

<strong>St</strong>. Andreas-<strong>St</strong>. <strong>Markus</strong> gewirkt. Viele Jahre war er Mitglied des<br />

Kreiskirchenrates und stellvertretender Superintendent, zeitweilig dann<br />

Superintendent des Kirchenkreises Friedrichshain.<br />

Die Lazarus-Gemeinde wurde vom Kirchenkreis und den benachbarten<br />

Gemeinden als „konservativ“ wahrgenommen, was – wie ein<br />

Visitationsbericht von 1983 belegt – eher kritisch und distanziert<br />

gemeint war. Diese Einschätzung entsprach durchaus dem Selbstverständnis<br />

der beiden Pfarrer und gewiss auch vieler Gemeindemitglieder,<br />

jedoch in einem ganz positiven Sinn. In Lazarus vertraute man auf<br />

den Wert und die Kraft gewachsener Formen des Gemeindelebens<br />

und versuchte, überlieferte Glaubensgewissheiten gegen – wie man<br />

fand – vorschnelle und leicht in die Irre führenden Neuerungen und


Modernisierungen zu verteidigen. Diese Haltung hatte eine lange<br />

Tradition, die sich über Pfarrer Kreitschmann <strong>bis</strong> in die Zeiten des<br />

„Positiven Parochialvereins“ zurückverfolgen lässt.<br />

<strong>St</strong>ein und Wilinski legten im Gottesdienst Wert auf eine traditionelle<br />

Liturgie sowie auf theologisch fundierte und sprachlich gediegene<br />

Predigten. Auch andere Gemeindeveranstaltungen waren stets an der<br />

biblischen Botschaft orientiert und inhaltsreich.<br />

Die 80er Jahre brachten Lazarus zunehmende Personal- und Bauprobleme.<br />

So beklagte die Gemeinde ihre ungenügende Versorgung<br />

hinsichtlich des katechetischen Dienstes durch den Kirchenkreis. Zudem<br />

gab es eine hohe Fluktuation bei den Beschäftigten. Zeitweise fehlten<br />

Hausmeister und Heizer, so dass die Pfarrer Wilinski und <strong>St</strong>ein das<br />

Heizen des großen Gemeindehauses mit Kindergarten und Pfarrwohnung<br />

übernehmen mussten und viele Tonnen Kohle und Asche<br />

bewegten.<br />

Der Garten des Kindergartens auf der Rückseite des Gemeindehauses. Die<br />

Einrichtung musste 1999 wegen andauernder Unterbelegung geschlossen werden. Zudem<br />

waren Investitionen in das Gebäude unterblieben, so dass die Bausubstanz nunmehr<br />

stark angegriffen ist. Die umliegenden Fabriken wurden Mitte der 70er Jahre abgerissen.<br />

71


72<br />

Bei der geringen Finanzausstattung für die Unterhaltung des<br />

Gemeindehauses – pro Jahr wurden der Gemeinde für Bauaufgaben<br />

lediglich 5.000 Mark zugeteilt – konnten nur die allernotwendigsten<br />

Reparaturen, Anschaffungen und malermäßigen Instandhaltungen<br />

geleistet werden. Investitionen in das Gebäude unterblieben über Jahrzehnte,<br />

so dass die Bausubstanz zunehmend angegriffen wurde. Das<br />

letzte größere Bauprojekt der Lazarus-Gemeinde war die Sanierung<br />

der Heizungsanlage zu Beginn der 90er Jahre. Das gesamte<br />

Gemeindehaus befindet sich nunmehr in einem sehr schlechten Zustand<br />

und ist zum Problem für die Gemeinde geworden.<br />

Neben den Pfarrern haben natürlich auch die vielen beruflichen und<br />

ehrenamtlichen Mitarbeiter das Gemeindeleben wesentlich getragen:<br />

die langjährig tätige Kantorin, die Küsterinnen, die Hausmeisterehepaare,<br />

die Reinigungskräfte, die Katechetinnen und Diakone, die<br />

Mitarbeiterinnen im gemeindeeigenen Kindergarten und die<br />

Gemeindehelferinnen. Allerdings musste seit Ende der DDR-Zeit<br />

wegen der sich verschlechternden Finanzlage der Personalbestand<br />

reduziert werden. Besonders einschneidend in den Folgen für die<br />

Gemeinde war die Schließung des Kindergartens 1999 wegen andauernder<br />

Unterbelegung.


JÜNGSTE VERGANGENHEIT (seit 1990)<br />

„Regionenbildung“ – Zusammenarbeit mit der <strong>St</strong>. Andreas-<br />

Gemeinde im Pfarrsprengel <strong>St</strong>. <strong>Markus</strong><br />

Die Rahmenbedingungen für die<br />

ostdeutschen <strong>Kirchengemeinde</strong>n hatten<br />

sich nach dem Ende der DDR fundamental<br />

geändert – gesellschaftspolitisch,<br />

aber auch in den kirchlichen Leitungsund<br />

Finanzstrukturen. So wurde der<br />

Kirchenkreis Friedrichshain mit den<br />

Kreisen Berlin <strong>St</strong>adt I, <strong>St</strong>adt III, Kreuzberg<br />

und Tiergarten-Friedrichswerder<br />

zum neuen Kirchenkreis Berlin<br />

<strong>St</strong>adtmitte zusammengelegt. Der Rückgang<br />

des Kirchensteueraufkommens<br />

zwang dazu, die Organisation zu straffen<br />

und effizienter zu gestalten. Der<br />

Kirchenkreis forcierte diesen Prozess,<br />

indem er die Gemeinden zur Bildung<br />

von „Regionen“ aufforderte.<br />

Die Lazarus-Gemeinde nahm diesbezüglich<br />

mit den benachbarten<br />

Heribert Süttmann (2002-2004) mit den<br />

Gemeinden <strong>St</strong>. Andreas-<strong>St</strong>. <strong>Markus</strong> und Konfirmandinnen im Jahr 2003. Seine Amtszeit<br />

Auferstehung Verhandlungen auf. Die währte nur kurz; nach eineinhalb Jahren versetzte<br />

Gespräche scheiterten an unvereinbaren man ihn in eine landeskirchliche <strong>St</strong>elle.<br />

Nutzungs- und Finanzierungskonzepten,<br />

da keine Gemeinde bereit war, sich von ihren Gebäuden zu trennen<br />

und gemeinsam ein finanzielles Risiko zu übernehmen.<br />

Letztlich wurde die angestrebte „Regionenbildung“ mit dem Pfarrsprengel<br />

<strong>St</strong>. <strong>Markus</strong>, der aus den Gemeinden Lazarus und <strong>St</strong>. Andreas<br />

besteht, zum Teil (ohne Auferstehung) verwirklicht. So konnten die<br />

beiden Gemeinden einen gemeinsamen, begrenzten Personalbestand<br />

erhalten.<br />

Die langjährigen und einflussreichen Pfarrer Wilinski und <strong>St</strong>ein gingen<br />

1998 bzw. 2001 in den vorzeitigen Ruhestand, und es konnte nur<br />

73


Johannes Simang (seit 2005), zuvor Pfarrer in<br />

Eisenhüttenstadt und Müllrose, begleitet die Fusion<br />

von Lazarus und <strong>St</strong>. Andreas. Schwerpunkt seiner<br />

Tätigkeit ist die Intensivierung der Gemeindearbeit<br />

auf allen Feldern, besonders der kirchlichen Arbeit<br />

mit Kindern. Pfarrer Simang ist in der Männerarbeit<br />

der Landeskirche aktiv.<br />

74<br />

noch eine Pfarrstelle zur Besetzung<br />

ausgeschrieben werden. Nach einer<br />

einjährigen Vakanzzeit übernahm Pfarrer<br />

Heribert Süttmann das Pfarramt. Bereits<br />

nach eineinhalb Jahren wurde er in eine<br />

landeskirchliche <strong>St</strong>elle versetzt. Es folgte<br />

eine Vakanzverwaltung durch Pfarrer<br />

Beuse, der bereits früher Pfarrer an<br />

Lazarus gewesen war. Im Jahr 2005<br />

wählte der Gemeindekirchenrat<br />

Johannes Simang zum Pfarrer der<br />

Gemeinden des Pfarrsprengels <strong>St</strong>.<br />

<strong>Markus</strong>.<br />

Die <strong>Kirchengemeinde</strong> steht vor großen<br />

Herausforderungen, um in Zeiten<br />

rasanter gesellschaftlicher Veränderungen<br />

und bei knappen Ressourcen auf<br />

Menschen zuzugehen und sie zu<br />

gewinnen.


FAZIT<br />

Fasst man die 110jährige Gemeindegeschichte zusammen, so lassen<br />

sich drei bleibende Elemente ausmachen:<br />

1. Die innergemeindliche Auseinandersetzung zwischen<br />

unterschiedlichen theologischen Auffassungen, insbesondere<br />

zwischen konservativ-dogmatischen Ansätzen und eher<br />

religionsgeschichtlich bestimmten Positionen.<br />

Naturgemäß waren es die Pfarrer, die die verschiedenen <strong>St</strong>römungen<br />

repräsentierten, entweder indem sie Gruppen leiteten – wie z.B. Pfarrer<br />

v. Schneidemesser den Positiven Parochialverein – oder indem sie von<br />

einer die Gemeindegremien dominierenden „Partei“ gewählt wurden<br />

– z.B. Pfarrer Lagrange von den Deutschen Christen. Die Auseinandersetzungen<br />

wurden mit unterschiedlicher Schärfe geführt und<br />

beeinträchtigten zuweilen die Gemeindearbeit. In der Lazarus-Gemeinde<br />

hat stets die konservative Haltung überwogen. Eine Ausnahme<br />

bildete die Zeit des Nationalsozialismus, als die Deutschen Christen die<br />

Mehrheit hatten und versuchten, die Tradition der Kirche neu zu<br />

definieren und ihre Ordnung radikal zu verändern.<br />

2. Die Auseinandersetzung mit den gegebenen gesellschaftlichen<br />

und politischen Verhältnissen.<br />

Diese hatten in den geschichtlichen Epochen unterschiedliche<br />

Ausprägungen. In der Kaiserzeit haben die caritativen und seelsorgerlichen<br />

Aufgaben im Vordergrund gestanden. Während und nach der<br />

Novemberrevolution finden sich Hinweise für eine Politisierung der<br />

<strong>Kirchengemeinde</strong>. Dieses Phänomen zeigte sich vor allem bei den<br />

Pfarrern, deren „Gesinnung“ jetzt besonders beachtet wurde. Beispiele<br />

dafür sind Pfarrer Köhler oder die Auseinandersetzung zwischen den<br />

Pfarrern Kracht und Eichler. In der Zeit des Nationalsozialismus<br />

wirkten die gesellschaftlichen Verhältnisse am stärksten auf die innergemeindliche<br />

Situation zurück, so durch den Aufbau einer Gemeindegruppe<br />

der Deutschen Christen. Nach dem 2. Weltkrieg kam es zu einer<br />

andauernden Frontstellung zwischen dem atheistischen DDR-<strong>St</strong>aat<br />

und der <strong>Kirchengemeinde</strong>. Probleme ganz anderer Art ergaben sich<br />

für Lazarus – wie für alle anderen Gemeinden – nach der<br />

75


76<br />

Wiedervereinigung Deutschlands, da durch Sparzwang tiefgreifende<br />

<strong>St</strong>rukturveränderungen nötig wurden.<br />

3. Die Beschäftigung mit baulichen Problemen.<br />

Seit Bestehen der Lazarus-Gemeinde banden Baufragen Kräfte, Zeit<br />

und Finanzen. In der ersten Hälfte der Gemeindegeschichte ging es<br />

um die Ausweitung des Gebäudebestandes, z.B. Kirche, Kleinkinderschule,<br />

Gemeindehaus. Nach dem Krieg hatte man den Verlust von<br />

Kirche und Grundstück zu überwinden und musste den Saal des<br />

Gemeindehauses umgestalten. Seit den 90er Jahren sind die Unzweckmäßigkeit<br />

und der schlechte bauliche Zustand des Gebäudes ein<br />

Problem, das einer Lösung harrt.


AUSBLICK – von Pfarrerin Eva-Maria Menard<br />

Sieht man heute auf die Lazarus-Gemeinde, so zeigt sich ein eher<br />

trauriges Bild. Der Versuch zu bewahren, hat zu einem <strong>St</strong>illstand in<br />

der gemeindlichen und baulichen Entwicklung geführt. Der Zustand<br />

des Gebäudes in der Marchlewskistraße spiegelt die Situation anschaulich<br />

und drastisch wider.<br />

„Lazarus, Lazarus komm heraus!“ so ruft Jesus dem Menschen<br />

Lazarus zu, der seit drei Tagen tot im Grab liegt und „schon stinkt“<br />

wie die Leute sagen. „Lazarus, Lazarus komm heraus!“ möchte ich<br />

auch der Lazarus-Gemeinde zurufen. Komm heraus aus der<br />

theologischen Erstarrung! Komm heraus aus deiner Abgeschlossenheit<br />

gegenüber deinem (nichtchristlichen) Umfeld! Komm heraus aus<br />

deinem Gebäude, das schon ein wenig riecht! Komm heraus – zurück<br />

ins Leben!<br />

Ob es der Lazarus-Gemeinde gelingen wird? Ich finde, die Chancen<br />

für „eine Auferstehung“ stehen gut, auch wenn mir – gleich Martha –<br />

der Glaube daran manchmal zu schwinden droht. Ich spüre, es herrscht<br />

Aufbruchstimmung in der Lazarus-Gemeinde und bei den anderen<br />

Gemeinden im Friedrichshain. Der Kiez ist beliebt, viele junge Familien<br />

ziehen in die umliegenden <strong>St</strong>raßen, die Gemeinde ist jung und wächst.<br />

Sicher wird die Lazarus-Gemeinde, wenn sie den Aufbruch wagt,<br />

nicht als die herauskommen, die sie einst war. Sie wird mit der<br />

Nachbargemeinde <strong>St</strong>. Andreas fusionieren, der Name wird sich<br />

ändern. Sie wird viele Traditionen aufgeben müssen, wenn sie wieder<br />

leben will; sie muss ihr Haus verlassen; sie muss herauskommen wollen<br />

und zugehen auf die Menschen, die ungeübt sind im Glauben, und<br />

sie einladen ein <strong>St</strong>ück mit ihr, der Gemeinde zu gehen. Dafür wird sie<br />

Verbündete brauchen: andere <strong>Kirchengemeinde</strong>n mit anderen<br />

Mitarbeitern. Sie wird nicht mehr alles allein machen können, sie wird<br />

lernen müssen, loszulassen und zu kooperieren. Sie wird Verbündete<br />

brauchen im Kiez: freie Initiativen, diakonische Träger, Partner in der<br />

Ökumene, Bezirkspolitiker.<br />

Ja, die Chancen stehen gut. Denn Kirche gehört zur Gesellschaft,<br />

gehört mitten in sie hinein, gehört zum Netzwerk einer lebenswerten<br />

<strong>St</strong>adt. Die Menschen dieser <strong>St</strong>adt fragen nach Gott und suchen nach<br />

77


78<br />

Orten, wo sie Spuren lebendigen Glaubens an diesen Gott finden<br />

können.<br />

Auch die Männer, Frauen und Kinder im Friedrichshain brauchen<br />

darum Orte, die mitten in der lauten <strong>St</strong>adt für sie eine erholsame<br />

Herberge, ein Ort der Besinnung sein können – für kürzere Atempausen<br />

oder längere Aufenthalte.<br />

Ich wünsche der Lazarus-Gemeinde, dass sie mit ihrem neuen Pfarrer<br />

Johannes Simang einen Pfarrer hat, der die Menschen der Gemeinde<br />

herauslockt in den Kiez, sie wieder neugierig macht auf das Leben<br />

um sie herum, so dass die Menschen im Friedrichshain neugierig<br />

werden auf diesen Ort und auf die Menschen, die an diesem Ort<br />

Gott gefunden haben.<br />

Lazarus, komm heraus – die Menschen brauchen dich!<br />

Pfarrerin Eva-Maria Menard ist theologische Referentin im Kirchenkreis Berlin<br />

<strong>St</strong>adtmitte und leistet ehrenamtlich pfarramtliche Dienste in der Lazarus-<br />

Gemeinde.


ANHANG<br />

ERINNERUNGEN VON ZEITZEUGEN<br />

Hannelore Bolte, geb. Seidler – zum Gemeindeleben (50er Jahre)<br />

Geboren bin ich noch im Krieg, im Mai 1944, aber meine Taufe fand<br />

nicht mehr in der alten Kirche, im „Dom des Ostens“ statt, sondern<br />

im Gemeindehaus.<br />

Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, erinnere ich mich gern an<br />

den Besuch des Kindergottesdienstes, von Pfarrer Katzenstein und<br />

seiner Frau gestaltet, sowie an die Christenlehre, die im Gemeindehaus<br />

von der Diakonisse Schwester Irmgard Meißner unterrichtet wurde,<br />

von der ich auch einen Eintrag in meinem Poesie-Album habe.<br />

Sehr wichtig wurde für mich der Besuch der Kinder- und später<br />

Jugendkreise im Keller des Gemeindehauses. Wir spielten u.a.<br />

Tischtennis, „Reise nach Jerusalem“, sangen alle Lieder aus der<br />

„Mundorgel“, beteten und lasen gemeinsam Bibeltexte. Hier betreute<br />

uns Gisela Koch. Besonders schön war für uns die Gemeinschaft.<br />

Das spürten wir auch jeden Monat einmal bei unserer sog. „Monatsrüste“.<br />

Der Jugendpfarrer Noack (aus West-Berlin) hielt zunächst einen<br />

Gottesdienst in einer Friedrichshainer Gemeinde, und anschließend<br />

gab es ein gemütliches Beisammensein. Übrigens trugen wir Mädchen<br />

und Jungen der einzelnen Gemeinden sehr stolz unser Zeichen der<br />

Zugehörigkeit zur „Jungen Gemeinde“: das Kreuz auf der Weltkugel.<br />

Ich erinnere mich daran, wie ich doch öfter auf dieses Zeichen<br />

angesprochen wurde, auch, als ich am S-Bhf. Warschauer <strong>St</strong>r. für die<br />

„Innere Mission“ mit einer Sammelbüchse stand. Als ich mit 16 zur<br />

Tanzstunde ging, wunderte sich mein Tanzpartner, dass ich als<br />

Oberschülerin das Kugelkreuz tragen durfte. Da erklärte ich ihm, dass<br />

ich als Nicht-Pionier und als Konfirmandin – ohne die Absicht, je die<br />

Jugendweihe zu empfangen – nach der damals noch geltenden 8-<br />

Klassen-Schule nicht in die Oberschule aufgenommen worden war<br />

und daher in ein West-Berliner Gymnasium, in eine sog. „Ost-Klasse“<br />

mit Russisch als 1. Fremdsprache gewechselt hatte. Allerdings hörten<br />

wir von einer Freundin aus unserem Kreis, dass sie sich in ihrer<br />

Friedrichshainer Oberschule bei der FDJ-Sekretärin beschwerte, dass<br />

79


80<br />

ihr immer wieder das Kugelkreuz gestohlen würde, denn sie vergriffe<br />

sich ja auch nicht an den FDJ-Abzeichen. Dieser Mut lohnte sich, die<br />

Aktionen gegen sie unterblieben. Ich meine wirklich sagen zu können,<br />

dass die Zugehörigkeit zur christlichen Kirche für uns in jener Zeit ein<br />

Bollwerk gegen den kommunistischen, antikirchlichen <strong>St</strong>aat bedeutete.<br />

Noch etwas sollte nicht vergessen werden, und zwar die vielen<br />

kulturellen Anregungen in unseren Jugendkreisen. Zum Beispiel<br />

besuchten uns im o.a. Keller Schauspieler der „Vaganten“-Bühne aus<br />

West-Berlin und lasen Texte von Wolfgang Borchert. Etwa zwölf<br />

Jahre nach Kriegsende war das für uns junge Menschen sehr ergreifend,<br />

und ich bin noch heute von diesem Dichter fasziniert, der so jung an<br />

den Folgen des Krieges hat sterben müssen.<br />

Regelmäßig erhielten wir Karten für die „Hochschule für Musik“ in<br />

der Hardenbergstr.<br />

Zu Beginn der jeweiligen klassischen Konzerte hat ein Herr, dessen<br />

Namen ich nicht mehr weiß, eine kurze Einführung gegeben. Noch<br />

war Berlin eine <strong>St</strong>adt.<br />

Die für mich intensivste und prägendste Zeit in Lazarus war meine<br />

Konfirmandenzeit bei Herrn Pfarrer Gerhard Tscheuschner. Seine<br />

Persönlichkeit, seine packende Rhetorik und vor allem seine<br />

Glaubwürdigkeit haben einen in seinen Predigten und in seinem<br />

Konfirmandenunterricht nachhaltig beeindruckt. Unerschrocken trat<br />

er für den Glauben ein, betonte immer wieder, dass Gott mehr zu<br />

gehorchen sei als den Menschen.<br />

Dass wir nicht nur theoretisch etwas über Nächstenliebe erfuhren,<br />

wird mir immer im Gedächtnis bleiben. Pfarrer Tscheuschner fragte<br />

in seinem Unterricht nach, wer denn alte und kranke Gemeindemitglieder<br />

besuchen wollte. Einige wenige meldeten sich. Frau<br />

Tscheuschner lud uns dann zu sich nach Hause zum Kekse-Backen<br />

ein, die wir den Menschen brachten. Dazu hatte Christa Göbel, die<br />

heutige Pastorin und Tochter unserer Organistin Wera Göbel, mit<br />

mir das Lied „Großer Gott, wir loben dich.“ eingeübt. Das war für<br />

sie gar keine so leichte Aufgabe, denn Frau Göbel hatte mir bedauernd<br />

erklärt, mich wegen mangelnder <strong>St</strong>imme nicht in ihren großartigen<br />

Chor aufnehmen zu können. Ich nahm aber einmal an einer Probe in<br />

der Weihnachtszeit teil und erlebte, wie die Chorleiterin am Ausdruck<br />

feilte. Bei dem wunderschönen Lied „Ich steh an deiner Krippen


Konfirmation am 30. März 1958 – Konfirmandengruppe von Pfarrer Tscheuschner.<br />

hier, o Jesu, du mein Leben“ sollten die Sätze „ich lag in tiefster<br />

Todesnacht“ und „du warest meine Sonne“ erfahrbar werden. Diese<br />

Sonne wird mir unvergesslich bleiben, das schrieb ich auch in meinem<br />

Kondolenzbrief an Christa Göbel nach dem Tode ihrer Mutter.<br />

Für Herrn Pfarrer Tscheuschner waren Kirchenlieder und besonders<br />

die von Paul Gerhardt ebenso wichtig. Meine Freundin, Rosemarie<br />

Bittner, geb. Marbach, erinnert sich an sein Lieblingslied: „Du meine<br />

Seele, singe“ mit besonderer Betonung der 5. <strong>St</strong>rophe: „Er weiß viel<br />

tausend Weisen, zu retten aus dem Tod, ernährt und gibet Speisen zur<br />

Zeit der Hungersnot, macht schöne rote Wangen oft bei geringem<br />

Mahl, und die da sind gefangen, die reißt er aus der Qual.“<br />

Was ich vor allem durch meinen Konfirmator vermittelt bekommen<br />

habe und in meinem ganzen Leben bewahren konnte, ist die Gewissheit,<br />

dass mich Gottes Hand behütet. Als wir uns für unsere Konfirmation<br />

am 30.3.1958 einen Konfirmationsspruch selbst aussuchen konnten,<br />

81


82<br />

wählte ich Joh 14,6: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben;<br />

niemand kommt zum Vater, denn durch mich.“ Es freute mich<br />

besonders, dass Herr Pfarrer Tscheuschner diesen Spruch auch zu<br />

seinem Predigttext ausgewählt hatte. Wenn ich mir heute unser<br />

Konfirmationsfoto ansehe, kann ich nur staunen: Wir sind 42<br />

Konfirmanden! Und Pfarrer Müller-Matthesius hatte ebenfalls eine<br />

Gruppe. Ende der 50er Jahre waren also Kirche und kirchliche<br />

Zeremonien noch ein fester Bestandteil auch in der Gesellschaft der<br />

DDR. Unsere kleinen Goldkettchen mit Kreuz, die wir zur Konfirmation<br />

geschenkt bekamen, trugen wir auch in den Friedrichshainer<br />

Schulen.<br />

Im Mai 1961 verließen meine Eltern und ich die DDR, vor allem in<br />

Sorge darum, dass etwas Einschneidendes passieren könnte, das mir<br />

verbietet, mein Gymnasium in Schöneberg weiter zu besuchen. Meinen<br />

Lebenstraum, Lehrerin zu werden, hätte ich dann nicht verwirklichen<br />

können. Der Abschied aus Ost-Berlin, vor allem aus unserer Lazarus-<br />

Gemeinde, ist mir unglaublich schwer gefallen. Da man keinen in die<br />

Fluchtabsicht einweihen konnte, musste man seine Gefühle für sich<br />

behalten, als man das letzte Mal einen Gottesdienst bzw. den<br />

Mädchenkreis besuchte. So dankbar wir waren, dass meine Mutter<br />

nach einer stundenlangen Kontrolle an der Grenze frei gelassen und<br />

nicht der beabsichtigten „Republikflucht“ verdächtigt wurde und wir<br />

heil im Westen angekommen sind, so fremd war uns manches.<br />

Insbesondere meine Kontaktaufnahme zu meiner neuen Jungen Gemeinde<br />

in Charlottenburg zeigte mir, dass das Engagement, das ich im Osten<br />

gewohnt war, nicht in dem Maße anzutreffen war. Die Zugehörigkeit<br />

hier war eine Aktivität unter vielen Möglichkeiten. Doch auch ich nutzte<br />

das schließlich aus und fuhr drei Jahre später begeistert als 20-Jährige<br />

mit einem Jugend-Kirchenkreis aus dem Bezirk Charlottenburg nach<br />

London.<br />

Zu meinem Konfirmator hielt ich durch Briefe, Telefonate und<br />

Besuche <strong>bis</strong> an sein Lebensende Kontakt. Besonders wohltuend war<br />

für mich eine Einladung zu ihm nach Hessen, als es mir persönlich<br />

nicht so gut ging. Vor drei Jahren, als ich seinen Sohn mit Familie<br />

besuchte, war ich auch am Grab von Ursula und Gerhard<br />

Tscheuschner. Ich werde diese beiden Menschen, die mir so viel und


so Nachhaltiges für mein Leben gegeben haben, in dankbarer und<br />

ehrender Erinnerung behalten.<br />

Als ich nun über den Sohn Prof. Dr. Reinhard Tscheuschner von dem<br />

anstehenden Jubiläum hörte, war ich ganz begeistert. Zuletzt nahm<br />

ich in Lazarus an einem Gottesdienst mit der Abkündigung von Frau<br />

Göbels Tod und Beisetzung teil; leider konnte ich ihr aus dienstlichen<br />

Gründen nicht das letzte Geleit geben. Für das Jahr 2008 hoffe ich<br />

auf die in meiner alten Gemeinde stattfindende Goldene Konfirmation,<br />

auch wenn es leider keine eigene Lazarus-Gemeinde mehr geben<br />

wird, wie ich hörte.<br />

Die Erinnerung an diese Gemeinde lebt aber, wie man sieht, in vielen<br />

Menschen weiter!<br />

Hannelore Bolte, geb. Seidler<br />

Berlin, den 31.10.2005<br />

83


84<br />

Ernst-Ulrich Katzenstein – zur Tätigkeit seines Vaters Pfarrer<br />

Artur Katzenstein (40er und 50er Jahre)<br />

Mein Vater hat am 1. August 1947 nach der Berufung durch die<br />

Kirchenleitung seinen Dienst in der Lazarus-<strong>Kirchengemeinde</strong><br />

angetreten. Sein Einführungsgottesdienst hat am 14. September 1947<br />

durch den zuständigen Superintendenten Pätzold stattgefunden. Pfarrer<br />

Kracht und Kalkof haben assistiert.<br />

Zum Vorleben: Mein Vater war von Anfang an Mitglied der Bekennenden<br />

Kirche (BK) bzw. schon des Pfarrernotbundes. Er war Vikar und<br />

Hilfsprediger der BK. Überall, wo ein Pfarrer Predigtverbot hatte<br />

oder gar verhaftet war, wurde er eingesetzt. Das hatte auch für die<br />

Familie seine Bedeutung. Meine Eltern waren drei Jahre befreundet,<br />

drei Jahre verlobt und drei Jahre verheiratet. Sie lebten wegen der<br />

ständig wechselnden Einsatzorte meines Vaters getrennt, <strong>bis</strong> sich meine<br />

Geburt ankündigte.<br />

Er suchte dann eine feste Pfarrstelle. Als Regimegegner hatte er nur<br />

die Chance in <strong>St</strong>epenitz, Kreis Pritzwalk, in der Ostprignitz. Die Gemeinde<br />

mit einigen dazu gehörenden Dörfern war Patronatspfarrstelle,<br />

unterstand also einigen brandenburgischen Adelshäusern, die nicht<br />

Nationalsozialisten waren. Die gaben ihm eine Chance.<br />

Meine frühen Kindheitserlebnisse waren unter anderem Hausdurchsuchungen<br />

durch die Gestapo und Flucht vor Verhaftung. Der Lehrer<br />

des Dorfes war Organist, meldete nach jedem Gottesdienst den Inhalt<br />

der Predigten meines Vaters. Dienstags rückte die Gestapo an.<br />

Dann wurde er Soldat. Heute weiß ich, dass die BK mit ihren<br />

Beziehungen seine Einberufung organisiert hatte, um ihn den ständigen<br />

Zugriffen durch die Gestapo zu entziehen.<br />

Was nach dem Kriege geschah, beschreibt er kurz so: „Wie sich die<br />

Bilder gleichen: Nach 1945 wurde ich trotz meiner Haltung im Dritten Reich als<br />

zurückgekehrter Soldat aus dem Haus geholt und nach Russland verschleppt.“<br />

Nach vierzehn Monaten kam er wieder nach Hause. Mein Vater und<br />

ein weiterer Kamerad haben als einzige von zweiundzwanzig<br />

Verschleppten überlebt.<br />

Nach Berlin berufen wurde er 1947. Früher mussten die jungen Pfarrer<br />

erst auf einem Dorf Dienst tun, bevor sie in die Großstadt durften.<br />

Das geschah 1947.


Er konnte sich damals zwischen Berlin-<strong>St</strong>eglitz und Lazarus<br />

entscheiden. Die Behörde bat ihn, in den Friedrichshain zu gehen, um<br />

einige Probleme in der Kirchgemeinde zu ordnen. Das hat er dann<br />

auch getan. Es war nicht das erste Mal in seiner Laufbahn als Pfarrer.<br />

Wenn ich mich recht erinnere, hatte Lazarus damals etwa 19.000<br />

Gemeindemitglieder. Das bedeutete: unzählige Bestattungen, vor allem<br />

aber viele Konfirmanden – <strong>bis</strong> zu zweihundert pro Jahrgang.<br />

Entsprechend groß waren die Unterrichtsgruppen, jeweils fünfzig<br />

junge Menschen.<br />

Für Vergangenheitsbewältigung war da keine Zeit. Im Gegenteil: Die<br />

politischen Verhältnisse im damaligen Ost-Berlin entwickelten sich<br />

schnell zu dem, was mein Vater schon einmal als junger Pfarrer erlebt<br />

hatte. Einige wenige kurze Sätze aus seinen Erinnerungen: „Als wir<br />

einmal nicht zur Wahl gegangen waren, kamen die Vertreter der Partei mit der<br />

Wahlurne ins Haus. Ich war Religionslehrer an der Schule in der Lasdehner<br />

<strong>St</strong>raße und wurde eines Tages nicht mehr hineingelassen. Als eine Kanzelabkündigung<br />

verlesen werden sollte, haben wir es zu Dreien getan, damit nicht einer<br />

herausgepickt wurde. Ich wurde eines Tages verhaftet, aber, da ich eine Beerdigung<br />

hatte, wieder freigelassen.“<br />

Als 1953 der Kampf gegen die Junge Gemeinde begann, hatte ihm die<br />

<strong>St</strong>asi einen Spitzel in den Jugendkreis gesetzt. Der war dann in den<br />

Westen gegangen. Meinen Vater wollten sie zur Verantwortung ziehen.<br />

In die Zeit seiner Tätigkeit in Lazarus fiel auch die Sprengung der<br />

Kirchenruine. Grund war vor allem: Mit dieser Sprengung bekam<br />

der <strong>St</strong>aat Anrecht auf das Grundstück.<br />

Auch das Gemeindehaus in der Memeler <strong>St</strong>raße, später Marchlewskistraße,<br />

gehörte zu den begehrten Objekten der politischen Behörden.<br />

Ohnehin hatten sie dort schon Kulturveranstaltungen durchgeführt.<br />

Als die Beschlagnahme des Hauses drohte, veranlasste mein Vater<br />

blitzschnell das Anbringen des Kreuzes auf dem Haus und eine<br />

Veränderung des <strong>bis</strong>herigen Kinogestühls zu unbeweglichen<br />

Kirchenstühlen.<br />

Noch eines ist mir neben vielem im Gedächtnis: Der Küster der<br />

Gemeinde wohnte in West-Berlin. Er hatte immer die Kirchenzeitung<br />

vom Verlag in der Kochstraße zu holen. Die musste dann in der<br />

Gemeinde selbst verteilt werden. Am 17. Juni 1953 ist er plötzlich<br />

verschwunden. Man dachte, er sei wegen der damals geschlossenen<br />

85


Grenze nicht gekommen, <strong>bis</strong> seine Frau<br />

auf Umwegen bei Lazarus nachfragen<br />

ließ, wo denn ihr Mann abgeblieben sei.<br />

Genau so zufällig erfuhr mein Vater über<br />

gewisse Kanäle, dass er im Gefängnis<br />

saß und sein Prozess kurz bevorstand.<br />

So konnte er sich einschalten: einen<br />

Gutachter, der gute Beziehungen zu<br />

sowjetischen Dienststellen hatte, einen<br />

Kollegen, der früher einmal Jurist war<br />

Kindergottesdienst – ein Ausflug mit Armgard als Verteidiger. So dauerte der Prozess<br />

und Artur Katzenstein.<br />

dann statt der üblichen dreißig Minuten<br />

mehrere <strong>St</strong>unden. Das <strong>St</strong>rafmaß wegen<br />

politischer Äußerungen vom Küster, die er in der U-Bahn gemacht<br />

hatte, wurde von zehn Jahren auf achtzehn Monate<br />

„heruntergehandelt“. Die musste er absitzen. Bei seiner Entlassung<br />

wurden ihm dann auch die Kirchenzeitungen wieder ausgehändigt,<br />

die natürlich in der Gemeinde etwa zwei Jahre zu spät angekommen<br />

wären.<br />

Anfang 1954 wurde gegen mich selbst auf meiner damaligen Schule<br />

ein Schauprozess vorbereitet. Hauptanklagepunkt war meine Aktivität<br />

in der Jungen Gemeinde: Ich sei Leiter und <strong>St</strong>ütze einer Gruppe, die<br />

gegen die Regierung arbeitet. Dasselbe habe ich dann wieder bei<br />

Einsicht in die <strong>St</strong>asiakten meines Vaters gefunden: Der Sohn soll<br />

leitendes Mitglied einer Untergrundgruppe sein.<br />

Wiederum über viele Kanäle habe ich rechtzeitig davon erfahren und<br />

konnte so den damaligen „Demokratischen Sektor“ Berlins vor meiner<br />

Verhaftung verlassen.<br />

Die Kirchenbehörde hat dann im Herbst 1954 meinen Vater nach<br />

<strong>St</strong>aaken-Gartenstadt berufen. Eigentlich war das ein ähnlicher Vorgang<br />

wie der der Einberufung meines Vaters zum Militär, um ihn damals<br />

vor dem ständigen Zugriff der Gestapo zu bewahren. Deren Rolle<br />

hatte in dieser Zeit der <strong>St</strong>aatssicherheitsdienst übernommen.<br />

Mein Vater hat das Problem „Kirche und <strong>St</strong>aat“ in beiden Systemen<br />

immer so umschrieben: „Unter Hitler hat man den Gemeinden die Pfarrer<br />

genommen, aber die Gemeinden haben weiter existiert. In der so genannten DDR<br />

hat man daraus gelernt und den Pfarrern die Gemeinden genommen.“ Wie das<br />

86


gegangen ist und was daraus geworden<br />

ist, ist hinreichend bekannt. Diese Entwicklung<br />

ist allerdings erst nach 1954 voll<br />

zum Zuge gekommen, unter anderem<br />

mit der Einführung der so genannten<br />

sozialistischen Familienfeiern.<br />

Zu seiner Zeit war mein Vater noch<br />

zuständig für den Kindergottesdienst im<br />

Kirchenkreis. In Lazarus selbst waren es<br />

Hunderte von Kindern die verhältnismäßig<br />

regelmässig daran teilnahmen,<br />

auch an den damals noch üblichen<br />

Ausflügen.<br />

Außerdem war er verantwortlich für den sozialen Einsatz<br />

der Inneren Mission im Kirchenkreis. Die hatte ihr Büro im<br />

Kirchgemeindehaus Lazarus. An drei Mitarbeiterinnen<br />

kann ich mich noch erinnern: Ilsa von Rauschenplath, eine<br />

Frau von Zitzewitz und Elisabeth Rotschuh. Letztere war<br />

die Tochter des Erbauers der ersten Berliner Hoch- und<br />

U-Bahn sowie der Bagdadbahn. Die Damen wohnten<br />

in West-Berlin, waren also nach Schließung der Grenze<br />

nicht mehr verfügbar.<br />

Jene Jahre gehörten zur „schlechten“ Zeit. Darum war<br />

das Gelände vor und hinter dem Gemeindehaus in<br />

Pflanzgärten für die Mitarbeiter aufgeteilt. Hinten in der<br />

Gartenecke hatten wir einen kleinen Hühnerhof. Die<br />

Hühner wurden morgens in einer Kiste in den Garten<br />

getragen, abends wieder in die Wohnung, wo sie im<br />

Badezimmer übernachteten.<br />

Bedeutsam war damals auch die Jugendarbeit. Neben Achim Giering,<br />

Heinz Leschonski und Ronald Kutsche können sicher noch andere<br />

über diese Arbeit berichten.<br />

Ernst-Ulrich Katzenstein<br />

Basel, den 23.12.2005<br />

Der Gemeindekindergarten. Hinten rechts der<br />

Kurator Lehmann.<br />

Hühnerzucht im Garten<br />

hinter dem Gemeindehaus.<br />

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88<br />

Dr. Reinhard Müller-Matthesius – zur Tätigkeit seines Vaters<br />

Pfarrer Walter Müller-Matthesius (50er Jahre; geschildert auf der<br />

Basis von Aufzeichnungen aus dem Nachlass seines Vaters)<br />

Mein Vater, der seit Mai 1930 Pfarrer in dem uckermärkischen Dorf<br />

Parstein war und von dort aus eine Reihe weiterer Dörfer betreute,<br />

strebte Ende der 1940er Jahre eine Pfarrstelle in Berlin an. Zu den<br />

Beweggründen gehörte eine zunehmende Kirchenfeindlichkeit in jener<br />

Gegend nach dem Kriege. Zudem wollte er mir, seinem Sohn<br />

Reinhard, den Besuch eines Gymnasiums ermöglichen, der in der<br />

damaligen Zeit in jener Gegend nicht oder schlecht möglich war.<br />

Von den Kirchenbehörden wurde meinem Vater angeboten, dass er<br />

sich um eine Pfarrstelle an der Berliner Lazarus-Gemeinde bewerben<br />

könne, die durch den Tod des Pfarrers Kalkof vakant geworden<br />

war. Pfarrer Kalkof, ein wissenschaftlich und literarisch hoch begabter<br />

Mann, war am 1. Oktober 1949 im Alter von nur 54 Jahren verstorben.<br />

Als mein Vater den geschäftsführenden Pfarrer an Lazarus, Artur<br />

Katzenstein, aufsuchte, waren seine ersten Eindrücke von der in<br />

Aussicht gestellten Wirkungsstätte nicht durchweg positiv. Man muss<br />

wissen, dass damals in dieser Gegend Berlins noch viele Häuser in<br />

Schutt und Asche lagen und die eindrucksvolle Lazaruskirche, die von<br />

der Gemeinde stolz „Dom des Ostens“ genannt wurde, 1945 ein<br />

Opfer der Bombenangriffe geworden war. Es standen nur noch das<br />

1931 erbaute Gemeindehaus und ein Kirchsaal. Das Eingangstor zu<br />

dem Grundstück war so unscheinbar, dass mein Vater zunächst daran<br />

vorbeilief.<br />

Mein Vater schreibt über seinen ersten Kontakt mit der Lazarus-<br />

Gemeinde: „Erst als ich umkehrte und die <strong>St</strong>raße noch einmal genauer<br />

betrachtete, entdeckte ich hinter einem verfallenen Gemäuer das Gebäude und<br />

über einem eisernen Eingangstor ein Schild mit Kreuz und der Inschrift „Lazarus-<br />

Gemeinde“. Hinter dem Tor aber war ein anheimelnder Rasenplatz mit Rosen<br />

und Sonnenblumen und kriechendem Wacholder und die Wände und Mauern<br />

entlang Haselnussgebüsch und Flieder. Es kam mir der Gedanke „Noch kannst<br />

du umkehren“ doch setzte ich meinen Weg fort in der Überzeugung: „Nein sagen


kannst du noch immer und ansehen kostet<br />

nichts“. Ich stieg also die <strong>St</strong>ufen zur Pfarrwohnung<br />

empor, klingelte und stand Pfarrer<br />

Katzenstein gegenüber, der, als er erfuhr wer<br />

ich wäre, mich freundlich empfing und sogleich<br />

in sein Arbeitszimmer führte. Es war ein<br />

kluger und tüchtiger Mann, und ich hoffte, da<br />

ich mit meinen Amtsbrüdern immer gut<br />

ausgekommen war, auch hier auf ein<br />

befriedigendes Zusammenarbeiten. Wir machten<br />

also gleich einen Termin für eine Gastpredigt<br />

an Lazarus aus, besichtigten die<br />

Gemeinderäume samt Kirchsaal und<br />

verabschiedeten uns in freundlichem<br />

Einvernehmen. Die Gemeinde aber schien mir<br />

nicht übel zu sein.“<br />

Am 20. August 1950 hielt mein Vater<br />

dann eine Gastpredigt über Römer 8,<br />

Verse 35-39. Hierzu vermerkt er: „Der<br />

Besuch war trotz des herrlichen Sommerwetters<br />

und trotz der Hauptreisezeit gut, die innere<br />

Beteiligung der Gemeinde erfreulich. Ich reichte<br />

also meine Bewerbung um die vakante<br />

Pfarrstelle ein, Pfarrer Katzenstein betrieb die<br />

formalen Dinge geschickt und in kürzester Frist,<br />

die Pfarrwahl fand statt: der Gemeindekirchenrat<br />

wählte mich zum Pfarrer an Lazarus, was<br />

so einstimmig in diesem Gremium noch nicht<br />

vorgekommen war. Das Konsistorium berief<br />

mich zum 1. November 1950 an die Pfarrstelle,<br />

doch bat ich darum, erst am 1. Januar 1951<br />

das Amt antreten zu dürfen, um meine alten<br />

Gemeinden über Weihnachten noch versorgen<br />

zu können.“<br />

Bibelfreizeit – vermutlich in Grünheide.<br />

In der Pfarrwohnung Neue Königstr. 67 –<br />

vermutlich der Helferkreis.<br />

In der Pfarrwohnung – Gemeindeschwestern und<br />

Frau Johanna Wendland, Leiterin der Frauenhilfe und<br />

Mitglied des Helferkreises.<br />

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90<br />

Goldene Konfirmation 1954. Links Pfr. Tscheuschner, rechts Pfr. Müller-Matthesius.<br />

Am 1. Januar 1951 hielt mein Vater in Gegenwart des Superintendenten<br />

Pätzold und des Oberkonsistorialrats Schwartskopff die<br />

Einführungspredigt an Lazarus.<br />

Die Wohnungsfrage konnte dadurch gelöst werden, dass wir die<br />

Wohnung seines Amtsvorgängers Kalkof in der (heute nicht mehr<br />

existierenden) Neuen Königsstraße 67 übernehmen konnten, nachdem<br />

die Witwe ausgezogen war. Diese Wohnung lag allerdings außerhalb<br />

der Gemeinde in der Nähe des Alexanderplatzes.<br />

Zu der Zeit, als mein Vater seine Tätigkeit an Lazarus begann, amtierten<br />

dort neben dem geschäftsführenden Pfarrer Katzenstein noch zwei<br />

Pastoren kommissarisch: Latkowski und Tscheuschner. Dadurch, dass<br />

mein Vater nun eine planmäßige Pfarrstelle an Lazarus erhielt, kam es<br />

zu der Frage, welcher von beiden die dritte an Lazarus noch zu<br />

vergebende <strong>St</strong>elle erhalten sollte. Der Gemeindekirchenrat entschied<br />

sich mehrheitlich für Pfarrer Tscheuschner. Pastor Latkowski, ein<br />

begabter und in der Gemeinde beliebter Theologe, erhielt eine<br />

Pfarrstelle in Konradshöhe. Er starb jedoch wenige Jahre später im<br />

Alter von nur 44 Jahren an den Folgen einer Darmtuberkulose.


Wiedersehen über die Mauer im Herbst 1961. Durch geheime Verabredung<br />

besuchten meine Eltern den Gottesdienst in der Versöhnungskirche in der Bernauer<br />

<strong>St</strong>raße. Von einem gegenüberliegenden Balkon konnte ich sie erstmals wiedersehen, als sie<br />

die Kirche verließen. Winken war ihnen verboten; die Kirchenbesucher wischten sich mit<br />

einem Taschentuch den Schweiß von der <strong>St</strong>irn!<br />

Im Jahre 1954 verließ Pfarrer Katzenstein die Lazarus-Gemeinde und<br />

ging nach Berlin-Spandau. Sein Nachfolger wurde Pfarrer Kreitschmann,<br />

der auch die Dienstwohnung im Gemeindehaus Marchlewskistraße<br />

bezog.<br />

Nach Pfarrer Tscheuschner übernahm mein Vater das Amt des<br />

geschäftsführenden Pfarrers. In diese Zeit fällt die Anstellung eines<br />

neuen Küsters, Herr Walter Neumann, einer neuen Gemeindehelferin,<br />

Frau Emma Krüger, und eines neuen Hauswartsehepaars Kühn. Es<br />

wurde auch eine neue Schuke-Orgel für 28.000,- DM aufgestellt, die<br />

Pfarrer Tscheuschner initiiert hatte, und es wurden Kindertagesstätte,<br />

Treppenaufgänge, Konfirmandenzimmer und Küsterei renoviert.<br />

Außerdem führte mein Vater die Vorarbeiten für den Umbau des<br />

Kirchsaals in seine heutige Form durch, der dann unter der<br />

Amtsführung von Pfarrer Kreitschmann vollendet wurde.<br />

91


92<br />

Neben den Gottesdiensten und der Konfirmandenarbeit lagen<br />

meinem Vater besonders die Bibelfreizeiten am Herzen, auf denen es<br />

durch Spiele und Gesang immer fröhlich zuging. Bereits wenige Monate<br />

nach seinem Amtsantritt führte er eine erste Bibelfreizeit in Haus Chorin<br />

durch, die er dort und an anderen Orten mehrfach wiederholte. Diese<br />

Freizeiten wurden für Lazarus insofern bedeutsam, als aus ihnen ein<br />

treuer Helferkreis entstand.<br />

Im Laufe der Jahre war meinem Vater die Tätigkeit an Lazarus so<br />

sehr ans Herz gewachsen, dass er ausführte: „... eine bessere und passendere<br />

Gemeinde in Berlin hätte ich kaum finden können. So war es gut, daß mein Weg<br />

mich in die Marchlewskistrasse geführt hatte.“<br />

Ergänzende Angaben<br />

Die Schilderung der Tätigkeit meines Vaters an Lazarus, basierend<br />

auf seinem handschriftlichen Entwurf, möchte ich wie folgt ergänzen:<br />

Mit dem unseligen Mauerbau vom 13. August 1961 trat für meine<br />

Eltern und mich, wie für viele andere Menschen auch, ein schicksalhaftes<br />

Ereignis ein. Ich befand mich gerade westlich der Grenze und<br />

konnte von einem Tag auf den anderen nicht mehr in die elterliche<br />

Wohnung in Ost-Berlin zurückkehren. Ich setzte mein <strong>St</strong>udium an<br />

der Universität in Münster/Westfalen fort, ohne die Eltern für mehrere<br />

Jahre sehen zu können. Diese Trennung war sicher Anlass, dass mein<br />

Vater eine vorzeitige Pensionierung und eine Übersiedlung nach West-<br />

Berlin anstrebte, die dann am 28. September 1965 mit Genehmigung<br />

der Behörden erfolgte.<br />

Meine Eltern wohnten <strong>bis</strong> Herbst 1980 in einer 2 1 / 2 Zimmer-<br />

Wohnung in Berlin-Spandau. Nachdem mein Vater 1978 einen<br />

Schlaganfall erlitten hatte, aber mit bewundernswerter Energie wieder<br />

sprechen und schreiben lernte, entschlossen wir uns, meine Eltern nach<br />

Marburg/Lahn zu nehmen, wo ich als Chemiker in den Behringwerken<br />

tätig war. Nur wenige Monate nach dieser Übersiedlung, kurz nach<br />

seinem 80. Geburtstag, starb mein Vater am 16. Februar 1981 plötzlich<br />

und unerwartet an Herzversagen. Seine letzte Ruhestätte befindet sich


auf dem <strong>St</strong>ädtischen Friedhof in Marburg/Lahn. Dort liegt seit März<br />

1992 auch meine Mutter, die am 25. Februar 1992, wenige Wochen<br />

vor ihrem 90. Geburtstag, aus diesem Leben abgerufen wurde.<br />

Dr. Reinhard Müller-Matthesius<br />

Herbst 2005<br />

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94<br />

Prof. Dr. Reinhard Tscheuschner – zur Tätigkeit seines Vaters<br />

Pfarrer Gerhard Tscheuschner (50er Jahre)<br />

Gerhard Tscheuschner<br />

Pfarrer an der Lazarus-<strong>Kirchengemeinde</strong><br />

vom 1. November 1949 <strong>bis</strong> 31.12.1964 (30.03.1967)<br />

„Ich bin Pfarrer aus Berufung”<br />

geb. 8. April 1917 gest. 27. Januar 1993<br />

Neustadt/Warthe Egelsbach<br />

• Ein Leben für Jesus Christus, die Bibel im Gedächtnis und<br />

erfüllt mit vielen Glaubenserfahrungen<br />

• Auf die Menschen zugehend, Ansprecher und Zuhörer<br />

zugleich<br />

• Glauben vermittelnd<br />

• Lebensnah und praktisch helfend<br />

• Gradlinig, konsequent (seit 1936 Mitglied der Bekennenden<br />

Kirche)<br />

• Beharrlich, zielstrebig<br />

• Mutig, unerschütterlich (dem SED-Regime gegenüber)<br />

• Vorbildcharakter


Pfarrer G. Tscheuschner<br />

- Mein Lebensbericht (Auszüge) -<br />

Am 8. April 1917 (Ostersonntag) wurde ich als Sohn des Lehrers und<br />

Kantors Oskar Tscheuschner und seiner Frau Margarethe in Neustadt<br />

a. W. geboren. 1921 zog die Familie mit 4 Kindern nach Berlin -<br />

Lichtenberg um, wo ich auch die Schule besuchte. Nach bestandener<br />

Reifeprüfung im Frühjahr 1936 ging ich zum Arbeits- und Heeresdienst<br />

(Potsdam, Halle).<br />

Schon als Sekundaner war ich Mitglied der Bekennenden Kirche (BK)<br />

und habe während der weiteren Schul- und <strong>St</strong>udienzeit an allen<br />

kirchlichen Vorkommnissen besonderer Art teilgenommen. Die<br />

Verbindung zu dem BK-Bruderkreis (Niemöller, Fischer, Osterloh)<br />

hatte ich nach meiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft wieder<br />

aufgenommen und an den regelmäßigen Veranstaltungen des BK-<br />

Bruderkreises teilgenommen.<br />

Im Herbst 1938 begann ich an der Friedrich-Wilhelm-Universität in<br />

Berlin mit dem philologischen und theologischen <strong>St</strong>udium, das ich<br />

infolge meiner erneuten Einberufung zum Heeresdienst im Herbst<br />

1939 unterbrechen musste. Die erforderlichen Sprachprüfungen hatte<br />

ich zu Beginn des <strong>St</strong>udium nachgeholt.<br />

Während des Krieges (Polen, Frankreich und Russland) erhielt ich<br />

mehrmals längere Zeit <strong>St</strong>udienurlaub, zuletzt aufgrund eines damals<br />

anerkannten KB-Schadens.<br />

Am 1. und 2. April 1941 legte ich vor dem <strong>Evangelische</strong>n Konsistorium<br />

Berlin-Brandenburg das 1. theologische und am 15. Januar 1945 das<br />

2. Examen ab. In der dazwischen liegenden Zeit war ich vorübergehend<br />

als Vikar in Österreich und auch Berlin tätig.<br />

In der Pfarrkirche zu Berlin-Lichtenberg wurde ich am 18. Februar<br />

1945 ordiniert und als Pfarrvikar eingestellt. Zu einer vorübergehenden<br />

Entlassung aus dem Heeresdienst, um in Berlin zu promovieren ist es<br />

durch die eingetroffenen Kriegsereignisse nicht mehr gekommen. Im<br />

März 1945 wurde ich erneut als Nachrichtenoffizier zu den Kampfhandlungen<br />

in Berlin eingesetzt und geriet am 27. April 1945 in russische<br />

Gefangenschaft. Unter furchtbar bedrückenden Verhältnissen wurde<br />

ich nach Aufenthalten in Sagan und Oppeln von Breslau aus im Januar<br />

1946 nach Aserbaidschan (zwischen Tiflis und Baku) gebracht und<br />

95


96<br />

unter schwersten Bedingungen zur Arbeit als Kriegsgefangener<br />

eingesetzt. In dieser besonderen Zwangslage gab es während der<br />

ganzen Zeit keine nennenswerten Erleichterungen…<br />

Als Spätheimkehrer traf ich am 23. August 1949 in Berlin ein und<br />

wurde nach längerem Krankenhausaufenthalt mit Wirkung vom 01.<br />

November 1949 kommissarisch an die Lazarus-Gemeinde in Berlin-<br />

Friedrichshain berufen und später nach erfolgter Gemeindewahl in<br />

mein Amt eingeführt, das ich <strong>bis</strong> zur Übersiedlung im Frühjahr 1967<br />

innehatte. Am 01. April 1953 übernahm ich den Vorsitz im Gemeindekirchenrat<br />

an dieser großen Gemeinde mit drei Pfarrern und wurde<br />

später auch Mitglied der Provinzialsynode Berlin-Brandenburg…<br />

Viele Ereignisse und Erfahrungen haben meinen theologischen<br />

<strong>St</strong>andort bestimmt, der aus Anfechtung und persönlicher Bewahrung<br />

geboren wurde, aber immer neu im Glauben gewonnen werden<br />

musste, wenn Bewährung gefordert war, was sich in den Entscheidungssituationen<br />

oft ergab.<br />

Aus Gewissensgründen bin ich daher auch inmitten eines aggressiven<br />

Atheismus geblieben, so lange es meine physischen und psychischen<br />

Kräfte zuließen und war bemüht, mir über den nächsten Schritt<br />

vorbehaltlos Klarheit zu verschaffen. ... Die Gewissensbelastungen<br />

politischer und persönlicher Art und meine angegriffene Gesundheit<br />

machten einen Milieuwechsel unumgänglich. ... Nach großen<br />

Schwierigkeiten erfolgte am 30. März 1967 mit meiner Familie ein<br />

Wechsel nach Westdeutschland.<br />

23. August 1969 Pfr. Gerhard Tscheuschner


Reinhard Tscheuschner<br />

Sohn von Pfarrer Tscheuschner<br />

- Prägendes und Fragmente -<br />

Meine erste Begegnung mit der Lazarus-Gemeinde war meine Taufe<br />

am 03.09.1950, die mein Vater selbst vollzog und die unter großer<br />

Anteilnahme der Gemeinde stattfand. Gerne besuchte ich später den<br />

Kindergottesdienst, der von den Katechetinnen Schwester Gertrud<br />

und Schwester Irmgard mit spannenden Geschichten gehalten wurde.<br />

Der „Dom des Ostens”, die Lazaruskirche, wurde im Krieg zerstört.<br />

Für Gottesdienste stand nur noch das Gemeindehaus zur Verfügung,<br />

das die neuen Machthaber als Kino mit entsprechenden Klappstühlen<br />

umfunktioniert hatten. Die Atmosphäre während des Gottesdienstes<br />

und das geräuschvolle Klappen der <strong>St</strong>ühle, wenn sich die Gottesdienstbesucher<br />

erhoben, sind gut vorstellbar. Als feststand, dass ein<br />

Wiederaufbau der Lazaruskirche bedauerlicher Weise nicht möglich<br />

war, setzte sich mein Vater für die Renovierung und zusammen mit<br />

der Organistin Wera Göbel für die Beschaffung einer Orgel ein. Das<br />

war ein langer mühevoller Weg, der durch viele Spender zum Erfolg<br />

führte. Ich erinnere mich, dass Bischof Dibelius unsere Gemeinde<br />

anlässlich der Renovierung besuchte und ich als kleiner, aufgeregter<br />

Junge dem Bischof etwas aufsagen sollte und Blumen überreichte.<br />

Aus Erzählungen weiß ich, dass im Zusammenhang mit dem 17. Juni<br />

1953 der Küster der Gemeinde verhaftet wurde. Mein Vater setzte<br />

sich für ihn ein, ließ nach ihm suchen und unterstützte ihn im „Prozess“.<br />

Spätestens von diesem Zeitpunkt an wurde mein Vater vom <strong>St</strong>asi<br />

beobachtet. So wurden während der Gottesdienste Predigten eifrig<br />

mitgeschrieben und selbst bei Beerdigungen folgten ihm Männer in<br />

den berüchtigten schwarzen Ledermänteln. Das beunruhigte besonders<br />

meine Mutter.<br />

Zu den Schwerpunkten der Arbeit meines Vaters gehörte die Seelsorge:<br />

Besuche der Gemeindeglieder, Unterstützung und praktische Hilfen<br />

für den Alltag. Ich erinnere mich, dass ich als Junge meinen Vater<br />

97


98<br />

manchmal bei seinen Besuchen begleitete. Ein weiteres wichtiges<br />

Aufgabengebiet war für ihn die Krankenhausseelsorge.<br />

Es bestand eine gute Zusammenarbeit mit dem Superintendenten<br />

Pfarrer Ringler von der Samariter-Gemeinde sowie mit Pfarrer<br />

Kunzendorf von der Erlöser-Gemeinde. Oft bekam mein Vater den<br />

Konflikt zwischen Kirche und <strong>St</strong>aat direkt zu spüren. Wie andere<br />

Pfarrer auch, wurde er zur damaligen SED-Obrigkeit einbestellt. Die<br />

<strong>St</strong>örung und Unterdrückung des kirchlichen Lebens und einzelner<br />

Menschen geschah immer wieder mit anderen Mitteln – oft auch subtil.<br />

Die Vorstellungen, Forderungen und Zwänge des Regimes gegenüber<br />

seiner Bevölkerung reichten tief in die Privatsphäre hinein und<br />

versuchten christlichen Glauben zu behindern, um eine atheistische<br />

Gesellschaft zu bilden.<br />

Dem setzte mein Vater Lebens- und Glaubenserfahrung entgegen:<br />

„Wir müssen Gott mehr gehorchen als Menschen“. Das war vielen<br />

Menschen im Gewissenskonflikt eine gute Entscheidungshilfe, sich<br />

Konfirmation 1964.


Gott anzuvertrauen und auf die Bibel zu verlassen. Mit diesem<br />

Rüstzeug habe ich meine „etwas“ besondere Schulzeit als Christ (weder<br />

Junger Pionier noch FDJ-ler) und Sohn eines Pfarrers gut überstanden.<br />

Das waren für mich prägende Jahre.<br />

Christenlehre (freiwilliger Religionsunterricht nachmittags in den<br />

<strong>Kirchengemeinde</strong>n) und später dann der zweijährige Konfirmandenunterricht<br />

hatten die Teilnehmer allein schon wegen des äußeren Drucks<br />

eng zusammengeführt. Diese Teilnahme war meist klar im Glauben<br />

begründet. Das war für die ganze betroffene Familie eine Entscheidung,<br />

die deutliche Konsequenzen nach sich ziehen konnte. Uns<br />

Konfirmanden unterrichtete mein Vater, der recht streng und trotzdem<br />

sehr beliebt war. Wir mussten viel lernen. Das Bild zeigt uns nach<br />

unserer Konfirmation 1964. Ich stehe direkt vor meinem Vater. Gerne<br />

wüsste ich, wie es den anderen geht. In der Jungen Gemeinde trafen<br />

sich Konfirmierte in den Kellerräumen der Lazarus-Gemeinde.<br />

Bei uns Zuhause gingen auch viele Gemeindeglieder ein und aus. Ich<br />

erinnere mich noch besonders an Christa, Rosi und Hannelore, die<br />

meine Mutter zum Weihnachtsplätzchenbacken zu uns einlud. Die<br />

jungen Mädchen sangen bei kranken und alten Menschen und verteilten<br />

das Gebäck. Christa hat später Theologie studiert. Rosi und Hannelore<br />

besuchten uns, d.h. meine Eltern, in unserer neuen Heimat verschiedentlich.<br />

Ein freundschaftlicher Kontakt besteht <strong>bis</strong> heute. Auch das gehört<br />

zu dem, was Gott durch Gemeinde und christlichen Glauben uns an<br />

menschlichen Verbindungen schenkt.<br />

Für mich steht fest, ein Engagement in der<br />

Gemeinde und für Jesus lohnt sich. Es hilft<br />

Schwierigkeiten im Leben besser zu<br />

überwinden, schafft Kontakte zu Menschen<br />

und bereitet Freude.<br />

16.01.<strong>2006</strong>, Prof. Dr. Reinhard Tscheuschner<br />

99


100<br />

Georg Hadeler – zur Gestaltung der Altarwand (1960)<br />

Das kirchliche Bauamt beim Ev. Konsistorium Berlin-Brandenburg hatte 1959/<br />

1960 einen Wettbewerb für die Gestaltung der Altarwand im Kirchsaal der<br />

Lazarus-Gemeinde ausgeschrieben und u.a. die Abteilung für „Angewandte<br />

Malerei“ der Muthesius-Werkkunstschule in Kiel aufgefordert, sich daran zu<br />

beteiligen. Der Entwurf des jungen Kunststudenten Georg Hadeler gewann den<br />

1. Preis und kam zur Ausführung. Hadeler reiste für die Realisierung des Projekts<br />

nach Berlin.<br />

Georg Hadeler, geboren am 27. Februar 1939 in Treuenfeld/Niedersachsen,<br />

begann sein <strong>St</strong>udium an der Kieler Kunstschule 1957. 1964 erhielt er ein<br />

<strong>St</strong>ipendium für einen einjährigen <strong>St</strong>udienaufenthalt in den Niederlanden. Nach<br />

wenigen Monaten wurde er Dozent an der Freien Akademie Den Haag. Bis<br />

2001 lehrte er als Kunstprofessor an der Königlichen Akademie Den Haag.<br />

Neben der Malerei widmet sich Hadeler der Lithographie; seine Werke werden<br />

weltweit ausgestellt: in den USA, in Kanada, Peru, Japan und natürlich Europa.<br />

Georg Hadeler lebt in Den Haag.<br />

Zur Altarwandgestaltung im Kirchsaal der Lazarus-Gemeinde schreibt Hadeler:<br />

In seinem Atelier in Den Haag, im Jahre 2002.<br />

Die Idee zu diesem Projekt<br />

Der gegebene Raum war sehr<br />

rechteckig, ich habe darum probiert, mit<br />

vertikalen Linien einen spielerischen<br />

Effekt zu erreichen. Da diese Linien in<br />

den Beton geschnitten sind, entsteht<br />

durch das wechselnde Licht von den<br />

Seiten her eine Veränderung des<br />

Schattens!<br />

Die Ausführung<br />

Von West-Berlin aus, wo ich bei einem<br />

Freund wohnen konnte, machten wir mit<br />

dem Auto verschiedene Besuche via<br />

Check-Point Charlie zur Marchlewskistraße.<br />

Ich war damals so naiv, um leere<br />

Konservenbüchsen (Erbsen-Wurzeln


usw.) mitzunehmen, um Farbtöne<br />

mischen zu können, und ein großes<br />

Paket Tempo-Taschentücher zum<br />

Saubermachen!<br />

Wir haben fast 3 <strong>St</strong>unden an der Grenze<br />

warten müssen, alle Etiketten wurden<br />

entfernt und auf geheime Nachrichten<br />

untersucht. Auch das große Tempo-<br />

Taschentücherpaket wurde total<br />

auseinandergerissen. Der Kommentar<br />

war: Wofür haben Sie diese Konservenbüchsen<br />

nötig? Ich sagte: Zum Farbenmischen.<br />

Darauf bekam ich als Antwort:<br />

Die haben wir in der DDR auch.<br />

Spontan habe ich gesagt: Dann können<br />

Sie die leeren Büchsen hierbehalten. ......<br />

Georg Hadeler, „After Inquisition”, Gemälde<br />

Dieses hätte ich niemals sagen dürfen, 100 x 100 cm<br />

sagte mein Berliner Freund, so konnten<br />

wir warten ...... warten ...... warten ...... und warten.<br />

Eine andere Geschichte:<br />

Als die Kirche fertig war, hatte ich mitten in der Kirche<br />

ein Gespräch mit dem Pastor (den Namen habe ich leider<br />

vergessen). Wir haben über alles Mögliche gesprochen,<br />

natürlich auch über Politik, während der Organist mit<br />

voller Lautstärke gespielt hat. Dies war nötig, um nicht<br />

abgehört zu werden!<br />

Heute kann man sich dieses nicht mehr vorstellen!<br />

Ich habe <strong>bis</strong> heute nicht vergessen können, wie machtlos<br />

man sich bei einem Grenzübergang fühlen kann.<br />

Georg Hadeler<br />

Den Haag, im November 2005<br />

Georg Hadeler, im Jahre 2002.<br />

101


102<br />

Pfarrer Alfred Beuse – zur „Offenen Jugendarbeit“ (70er Jahre)<br />

Die Kellerräume, die während des 2. Weltkrieges als Luftschutzbunker<br />

dienten, wurden Mitte der 70er Jahre für eine „Offene Jugendarbeit“<br />

genutzt. Die Initiative ging von <strong>St</strong>udenten der Predigerschule<br />

„Paulinum“ aus. Meine Frau und ich wohnten damals in der Pfarrwohnung<br />

des Gemeindehauses, und da diese Jugendlichen von der <strong>St</strong>raße<br />

so ziemlich jeden Tag in den Keller wollten, sind wir stark in die<br />

Sache hineingezogen worden.<br />

Als wir am 11.10.1975 begannen, hatten wir im Keller ein „volles<br />

Haus“. Und dann setzte der <strong>St</strong>rom von der <strong>St</strong>raße ein. Da waren die<br />

Anfänge mit M. im Mittelpunkt. B. hielt Kontakt zur „Kleinen<br />

Katakombe“, der bald der „Arm des Gesetzes“ ein Ende machte.<br />

Oft war aber auch keiner der Helfer da und wir standen allein den<br />

anströmenden Scharen gegenüber. I., einer der jungen Leute, – schon<br />

etwas vom christlichen Glauben angezogen – wollte im Keller „in die<br />

<strong>St</strong>ille“ gehen und verschwand dann auch wieder ganz still. <strong>St</strong>attdessen<br />

drangen recht laute Zeitgenossen da unten ein, die meine Frau<br />

couragiert an die Luft setzte.<br />

Dicker Zigarettenrauch meist im Keller, ich kam mir oft wie ein<br />

Räuchermännchen vor. Einmal wurde auch die Haustür geräuchert,<br />

oder sollte sie gar einem lustigen Feuerchen dienen? Aus den Scharen<br />

von der <strong>St</strong>raße hoben sich die Glaubenshelfer mit dem Holzkreuz<br />

auf der Brust sichtbar ab. Schnell kam es zu Bußen und Bekehrungen,<br />

aber wohl zu schnell. Ich denke an manchen, der uns bald mehr<br />

Ärgernis als Hilfe war. Da war M., der eine mit viel Bibelzitaten<br />

gespickte Bekehrungsgeschichte schriftlich niederlegte, mit viel<br />

christlichen Traktaten und Aufklebern der Jesus-People-Bewegung<br />

zu sehen war. Viele Gespräche mit den Eltern. Hochdramatisch wurde<br />

es, als er mir mit einem langen Brief ordentlich die Leviten las.<br />

Nachdem ich den Brief zerrissen hatte, mußte ich mich ziemlich<br />

anstrengen, durch eine Kriegslist wieder ins Haus hineinzukommen.<br />

Der Vater tröstete mich, daß ich noch gut weggekommen sei, ohne<br />

Prügel zu bekommen. Da ich nicht so von der Qualität seiner Bekehrung<br />

überzeugt war, forderte ich M. das Kreuz wieder ab.


Lazarus war zu einem offenen Haus<br />

geworden. M.s diakonische Neigungen<br />

brachten mir P. ins Haus, den Alkoholiker:<br />

Schnaps, Bier u. mehrmals ein<br />

Geldbetrag für Alkohol, damit fing´s an.<br />

Nächtliche Abholung durch Kranken-<br />

Rettungsdienst, Besuch vor dem<br />

Geburtstag meiner Frau um Mitternacht<br />

mit Bewirtung durch Brühsuppe, Abholung<br />

aus der Kneipe, Briefe u. Besuche<br />

im Gefängnis – so fing´s an, und wie<br />

wird sein Weg aufhören...? Heute weiß<br />

ich – er ist vom Alkohol frei geworden<br />

und zu einem lebendigen Glauben<br />

gekommen.<br />

Wie viele haben inzwischen im Übernachtungsraum<br />

im Keller ihr müdes<br />

Haupt zur Ruhe gelegt, auch ältere Gäste<br />

wie der „große Rauschgift-Kriminalist“<br />

H.J., der verkrachte Lehrer J.D...<br />

Manchmal verlor ich die Übersicht, wie<br />

in jener Maien-Nacht, als insgesamt 10<br />

Schläfer sich da unten eingefunden<br />

hatten. 3 „Polen“ wurden uns gegen 24<br />

Uhr gebracht, später noch der 16-jährige<br />

seinen Eltern weggelaufene B. Besonders<br />

lange war C.L. untergetaucht, und ich<br />

konnte nach vielen Wochen wieder eine<br />

Familienzusammenführung arrangieren.<br />

Mißbrauchte Gastfreundschaft hat uns<br />

A. geliefert, der sich das Tonbandgerät<br />

der „Katakombe“ „auslieh“. Auf ähnliche<br />

Art verschwand mancherlei: Geld,<br />

Brieftasche, Koffer-Radio u.s.w. Ein<br />

Sonderzweig der Arbeit war die<br />

Eheberatung mit Z., unser Gast mit<br />

seinem Hund; nächtlicher Besuch zum<br />

<strong>St</strong>udenten der kirchlichen Ausbildungsstätte<br />

„Paulinum” organisierten die “Offene Jugendarbeit”.<br />

F. – ein zeitweiliger Gast im Gemeindehaus.<br />

103


104<br />

Seelsorgegespräch, Übernachtung, Weckdienst und als fröhlicher<br />

Nackedei dem Nachtlager entsprungen.<br />

<strong>St</strong>ammgast für fast 1/4 Jahr wurde F.; war das ein „<strong>St</strong>reß“ als er Tag<br />

für Tag nach dem Ulmenhof zur Arbeit fuhr. Ein Wanderer mit wenig<br />

Gepäck und geringen kosmetischen Bedürfnissen. Einmal spielte F.<br />

den freundlichen Gastgeber für eine ganze Schar von Pennern, die ich<br />

dann am andern Morgen um 6 Uhr durch´s Hinterpförtchen ins Freie<br />

entließ. „Freund und Helfer“ [„Abschnittsbevollmächtigter“ (ABV)<br />

der DDR-Volkspolizei] hatte sie aber doch noch schnell zu einer Musterung<br />

vor ihrer Weiterfahrt zu sich eingeladen.<br />

Turbulent ging´s oft her. Vorsicht war bei Kuchen und Obst geboten,<br />

die wir gern vor der Wohnungstür kaltstellten. Mal wurde uns der<br />

Eingang mit großen, alten Möbeln verbarrikadiert; im Winter kam´s<br />

zur Schneeballschlacht mit Zielschießen ins Badezimmer. Schärferes<br />

Geschütz in Form von Mauersteinen wurde gegen den Schaukasten<br />

angewandt. Mal kam´s fast zur Prügelei im Treppenhaus. Schließlich<br />

muß „Freund und Helfer“ kommen, um unserer Forderung zum<br />

Verlassen des Geländes Nachdruck zu verleihen. Das letzte Mal haben<br />

wir nachts um 0.30 Uhr den Notruf bedient, als A. und U. uns einen<br />

Besuch machen wollten. Aber mit viel Promille in den Gliedern ist<br />

man kein guter Springer mehr. U. mußte es mit dem Bruch des<br />

Sprungbeins büßen und wurde zu seiner Familie und von dort ins<br />

Krankenhaus befördert. Die Nacht hat uns nicht nur mancherlei<br />

Besuche, sondern auch allerlei Telefonanrufe eingebracht (z.B. die<br />

seelsorgerliche Aussprache des falschen Bruders aus der Offenbarungsgemeinde).<br />

Da ist´s besser, daß wir nun Klingel und Telefonwecker<br />

des Nachts abgestellt haben.<br />

Z.Zt. ist´s ruhig in der „Katakombe“, zu ruhig – „Friedhofsruhe“?<br />

Ist sie noch offen für Menschen, die den rechten Weg suchen? Warum<br />

war für den Alkoholiker M. kein Platz? Wie wird diese Arbeit<br />

weitergehen???<br />

Alfred Beuse<br />

Anfang der 80er Jahre


„MAN GEHT GLATT ÜBER UNS HINWEG“ – AUS DER<br />

HANDAKTE VON PFARRER KRACHT (1945)<br />

Briefwechsel über die Auseinandersetzung um die Nutzung des<br />

Saals im Gemeindehaus durch das Volksbildungsamt<br />

Friedrichshain sowie über die Forderung nach der Entlassung<br />

des Hauswartes - Auszüge<br />

Die große Lazaruskirche war am 13. April 1945 Opfer eines Fliegerangriffs<br />

geworden. Die Zerstörungen waren so stark, dass allein das<br />

Gemeindehaus den gemeindlichen Zwecken diente. Allerdings erhob<br />

auch das Volksbildungsamt des Bezirkes Friedrichshain aus<br />

Ermangelung an Alternativen Ansprüche auf den Saal und weitere<br />

Räume. Am 27. Mai 1945 wurde in einem Nutzungsvertrag vereinbart,<br />

dass der Gemeindesaal „am Dienstag, Mittwoch u. Sonnabend jeder<br />

Woche der Bürgermeisterei zum Zweck der Durchführung kultureller<br />

Veranstaltungen zur Verfügung steht.“<br />

Schon bald kam es zu Konflikten, die sich an einzelnen konkreten<br />

Punkten entzündeten, schnell jedoch eine grundsätzliche Dimension<br />

annahmen. Binnen kurzem ging es um nichts Geringeres als um die<br />

Existenz der Gemeinde. Verknüpft war der Vorgang mit Forderungen,<br />

den Hauswart der Gemeinde wegen seiner politischen Vergangenheit<br />

zu entlassen.<br />

Am 3. Juli 1945 wurde der Lazarus-Gemeinde vom Büro des Pfarrers<br />

Grüber – Beirat für kirchliche Angelegenheiten – Referat ev. Kirche<br />

beim Magistrat der <strong>St</strong>adt Berlin ein Schreiben des Friedrichshainer<br />

Bürgermeisters weitergeleitet, ergänzt mit der Bitte, „das Weitere zu<br />

veranlassen“ und „<strong>bis</strong> zum 15. Juli zu berichten“. Das „Büro Pfr.<br />

Grüber“ war ab 1938 eine kirchliche Hilfsstelle für „nichtarische“<br />

Christen, dessen Leiter Grüber gewesen war, <strong>bis</strong> er 1940 in KZ-Haft<br />

genommen wurde. Grüber wurde im Laufe des Jahres 1945 Probst<br />

in Berlin und Mitglied der Kirchenleitung. In dem Brief des<br />

Bürgermeisters – Personalstelle – (26. Juni 1945) hieß es:<br />

„Wie wir in Erfahrung gebracht haben, befindet sich im Dienste des ev.<br />

Gemeindehauses O. 34, Memelerstr. 54/55, ein Mitglied der NSDAP als<br />

105


106<br />

Hausmeister. Sein Verhalten hat nach Beweisen, die uns zugegangen sind, unter<br />

der dortigen Bevölkerung lebhaften Unwillen hervorgerufen, und wir sehen uns<br />

veranlasst, den ev. Kirchenbeirat der <strong>St</strong>adt Berlin zu bitten, das Dienstverhältnis<br />

dieses Mannes zu lösen und aus dem Gemeindehaus zu entfernen. Als Ersatz<br />

schlagen wir vor, Herrn [...] als Gemeindehausmeister einzusetzen.“<br />

Am 5. Juli antwortete Pfarrer Kracht dem „Büro Pfarrer Grüber“:<br />

„Zu Ihrem Schreiben vom 3. Juli 1945 Dr. <strong>St</strong>./El. erwidere ich Ihnen, dass<br />

meine Geduld jetzt zu ende ist. Wen der Gemeindekirchenrat als Hauswart<br />

beschäftigt, geht die <strong>St</strong>adt Berlin, Personalstelle, gar nichts an. Den Hauswart<br />

suchen wir uns allein aus. Wir können nur kirchliche Leute gebrauchen. Ich habe<br />

es schon sehr bitter empfunden, dass uns damals von der NSDAP der Hauswart<br />

W. aufgezwungen worden ist. Das ist in der unglücklichen Zeit geschehen, als der<br />

Vorsitz im Gemeindekirchenrat wechselte und Herr Pfarrer von Schneidemesser<br />

damals die Geschäfte führte und durch die Deutschen Christen und die Partei in<br />

seiner Energie stark behindert war, auch meinen Vorstellungen nicht Gehör<br />

schenkte.<br />

Inzwischen hat sich W. als ein kirchlicher Mann bewiesen und uns mancherlei<br />

Hilfe gegenüber den Übergriffen der Partei geleistet. Ich sehe keinen Rechtsgrund,<br />

dass ich W. entlassen könnte. Er hat kein höheres Amt in der Partei bekleidet,<br />

sondern war nur als Bezirksarmenvorsteher in der NSV [Nationalsozialistische<br />

Volkswohlfahrt] tätig. Solange die Kirche noch Pfarrer im Dienst lässt, welche<br />

der Partei angehören und in ihr höhere Ämter bekleidet haben, ihnen sogar<br />

Konfirmanden überlässt, sehe ich keine Rechtsgrundlage, seitens der Kirche gegen<br />

W. vorzugehen. Ich habe die <strong>St</strong>elle von Pfarrer von Schneidemesser fünf Jahre<br />

verteidigt, obgleich ich einen DC-Gemeindekirchenrat hatte, und das Konsistorium<br />

wie das Ministerium gegen die Kirche immer wieder versucht haben, ihren Willen<br />

durchzusetzen. Wo ist die Logik, wenn ich unter diesen Umständen gegen W.<br />

vorgehen soll?<br />

In unser Gemeindehaus, Memelerstr. 53/54 hat sich in meiner Abwesenheit das<br />

Volksbildungsamt Friedrichshain eingenistet. Es ist zwischen dem Herrn<br />

Bürgermeister und Herrn Pfarrer Hannasky (Pg. und DC) anliegender Vertrag<br />

geschlossen. Ein gewisser Herr Oe. oder Oe. – den genauen Namen kenne ich<br />

nicht – hat daraufhin den Versuch gemacht, die <strong>Kirchengemeinde</strong> aus dem grossen<br />

Saal völlig zu entfernen. Es kam ein Schreiben vom Volksbildungsamt, nach


welchem der stellvertretende russische Kommandant befohlen haben soll, den grossen<br />

Saal jeden Tag, auch Sonntag Abend, für die Zwecke des Volksbildungsamtes<br />

auszunutzen. [...] Es gibt dauernd Reibereien zwischen dem Oe. und dem Hauswart<br />

W. Ich möchte annehmen, dass das Schreiben der Personalstelle von Oe. veranlasst<br />

ist. Oe. hat sich viele Übergriffe zuschulden kommen lassen, er hat sich unsere<br />

sämtlichen Schlüssel angeeignet und das Verfügungsrecht über unsere Räume. Ich<br />

habe gegen ihn erst die Hilfe der Polizei in Anspruch nehmen müssen.<br />

Der Hauswart W. war auf drei Tage von den Russen verhaftet, ist dann entlassen<br />

worden mit dem Bemerken, dass gegen ihn nichts weiter vorliegt und er in seinem<br />

Dienst bleiben kann. In dieser Zeit sind seine Hühner abgeschlachtet und jedenfalls<br />

unter Mithilfe des Oe. verzehrt worden. Oe. fand im Keller einen Sack Erbsen<br />

und hat ihn einfach verteilt. Ich bitte, unter diesen Umständen gegen Oe. vorzugehen,<br />

die Sache zu klären und soweit er schuldig ist, seine gerichtliche Bestrafung<br />

herbeizuführen.<br />

Unsere schöne Lazaruskirche ist völlig zerstört. Der grosse Saal im Gemeindehaus<br />

ist unsere einzige gottesdienstliche <strong>St</strong>ätte. Ich würde dankbar sein, wenn es möglich<br />

wäre, das Volksbildungsamt aus unserem Saale zu entfernen. Eine Gemeinde von<br />

41.000 Seelen mit fünf Pfarrstellen muss wenigsten eine gottesdienstliche <strong>St</strong>ätte<br />

haben. Der Saal ist so umgebaut und für unsere Zwecke verschandelt, dass es<br />

kaum möglich ist, ihn in diesem Zustande als gottesdienstliche <strong>St</strong>ätte anzusprechen.<br />

Es müssten sich doch auch andere Räume finden lassen, in welchen das<br />

Volksbildungsamt seine Arbeit tun kann. Durch diese Zustände wird der Aufbau<br />

der Lazarusgemeinde unmöglich gemacht. Wir müssen den grossen Saal im<br />

Gemeindehaus wieder so herrichten, wie er für die Zwecke des Gottesdienstes<br />

hergerichtet werden muss. Die Arbeit des Volksbildungsamtes gehört nicht in<br />

gottesdienstliche Räume. [...]<br />

Wenn die Personalstelle von W. schreibt: „Sein Verhalten hat nach Beweisen, die<br />

uns zugegangen sind, unter der dortigen Bevölkerung lebhaften Unwillen<br />

hervorgerufen“, so sind das allgemeine Behauptungen, welche etwas näher substanziert<br />

werden müssten. Ich bin vielmehr der Ansicht, dass W. als Armenvorsteher sogar<br />

verfolgten Kommunisten in wahrhaft christlicher Weise geholfen hat und berufe<br />

mich auf das Zeugnis des Herrn Heinrich Z. Ich habe an W. mancherlei<br />

auszusetzen und bin in keiner Weise mit ihm zufrieden. Das sind aber ganz<br />

andere Sachen. Diese Art der Verfolgung und der Rache kann nicht dem Neuaufbau<br />

107


108<br />

des Lebens dienen. Die Schuldigen soll man bestrafen, aber diese Hetze und der<br />

Hass müssen aufhören.<br />

Es wäre mir sehr interessant, eilt aber nicht, wenn Sie mir verraten würden, auf<br />

Grund welchen Rechtstitels Sie den Gemeindekirchenrat veranlassen und zu einem<br />

befristeten Bericht auffordern.“<br />

Am 14. Juli 1945 schrieb der Vertrauensmann der ev. Kirche, Pfarrer<br />

Dr. Harnisch, an Pfarrer Kracht. Dr. Harnisch war seit 1931 Pfarrer<br />

an der benachbarten Samariter-Gemeinde gewesen. Er hatte während<br />

der NS-Zeit der Bekennenden Kirche angehört, die das Eindringen der<br />

nationalsozialistischen Ideologie in den Bereich der Kirche bekämpfte.<br />

Schweren Angriffen und Denunziationen von Seiten der Deutschen<br />

Christen seiner Gemeinde ausgesetzt, vorübergehend suspendiert und<br />

kurzzeitig in KZ-Haft, war Pfarrer Dr. Harnisch wegen der anhaltenden<br />

Konflikte in der Samariter-Gemeinde vom Konsistorium zwangsversetzt<br />

worden.<br />

In dem Brief hieß es:<br />

„Lieber Bruder Kracht!<br />

Ich habe seiner Zeit, Ihrem Wunsch entsprechend, Ihren Brief betreffend Gemeindesaal<br />

an Herrn Bürgermeister <strong>St</strong>arck weitergegeben. Erst hinterher habe ich<br />

gehört, dass Sie denselben Saal früher der SA zur Verfügung gestellt haben.<br />

Dadurch kommen wir als Kirche natürlich in ein sehr schiefes Licht. Ich bin der<br />

Ansicht, wenn Sie den kirchenfeindlichen Nazis den Saal nicht versagt haben,<br />

dann können Sie es auch nicht gut tun bei einer Gruppe, die der Kirche <strong>bis</strong>her alle<br />

Freiheiten gewährt, die uns die Nazis vorenthalten haben.<br />

Ich habe heute mit dem Herrn Bürgermeister gesprochen und dabei erfahren, daß<br />

keine Gemeinde ihm so viel Kopfzerbrechen bereitet, wie gerade die Lazarusgemeinde.<br />

Gerade die Verhältnisse sind geeignet, das <strong>bis</strong>her gute Verhältnis zwischen Kirche<br />

und Magistrat zu stören.<br />

Da die Verhältnisse nun soweit gediehen sind, daß der große Saal von der<br />

Kulturgemeinde benutzt wird, so schlage ich vor, dass Sie dem Bürgermeister<br />

schreiben: Sie würden vorläufig für die sonntäglichen Gottesdienste auf den großen<br />

Saal verzichten, müßten aber dafür erwarten, daß Ihnen alle Nebenräumen in<br />

ordentlichem Zustande überlassen würden.


Damit der Magistrat aus den Reparaturen kein Besitzrecht konstruieren kann,<br />

schlage ich vor, dass Sie sich alle Reparaturrechnungen zwecks Bezahlung aushändigen<br />

lassen.<br />

Soweit der Magistrat (aus den Reparaturen) sie bezahlt hat, verrechnen Sie mit<br />

der Miete, die der Magistrat für die Benutzung des Saales zu entrichten hat.<br />

Dabei würde ich einen ordnungsmäßigen Mietsvertrag aufsetzen, in dem die Klausel<br />

aufgenommen wird, dass für die großen Feste und Konfirmationen, kurz für alle<br />

Fälle, wo mit einem starken Gottesdienstbesuch zu rechnen ist, der Raum in<br />

würdiger Weise der <strong>Kirchengemeinde</strong> zur Verfügung zu stellen ist. Für die übrigen<br />

Sonntage würde ich mich mit einem der Konfirmandenräume oder mit dem<br />

Luthersaal begnügen.<br />

Mit amtsbrüderlichem Gruß Ihr...“<br />

Darauf am 24. Juli 1945 Pfarrer Kracht an Dr. Harnisch:<br />

„Lieber Bruder Harnisch!<br />

Auf Ihr Schreiben vom 14.7.45. erwidere ich Ihnen, dass erstens die S.A. unseren<br />

Saal niemals benutzt hat. Wir haben vielmehr auf Grund des Kriegsschlichtungsgesetzes<br />

gegen unseren Willen vorübergehend für einige Wochen die <strong>St</strong>abag (Betreuung<br />

französischer Kriegsgefangener) in unserem Saal gehabt, außerdem die Betreuung<br />

der Ausgebombten nach Luftangriffen. Beide Einrichtungen haben niemals den<br />

Gottesdienst gestört.<br />

Zweitens: Wenn der Bürgermeister ausgesprochen hat, dass keine Gemeinde ihm<br />

so viel Kopfzerbrechen bereitet, wie gerade die Lazarusgemeinde, so muß es einmal<br />

ausgesprochen werden, dass diese ständigen Schwierigkeiten uns durch das<br />

Volksbildungsamt und seinen Vertreter Herrn Oe. bereitet werden. Was uns von<br />

dieser Seite geboten wurde, ist wirklich nicht geeignet ein gutes Einvernehmen zu<br />

erhalten. Nicht nur, dass vom Volksbildungsamt Veränderungen, Lichtanlagen<br />

etc. ohne mein Wissen angebracht werden, der Saal ohne mein Wissen der K.P.D.<br />

zu einer Versammlung zur Verfügung gestellt wird mischt es sich obendrein in<br />

unsere ureigensten Angelegenheiten. Herr Oe. weist Handwerker in die Räume<br />

der Inneren Mission ein, lässt vor einigen dieser Räume ein Schloß anbringen und<br />

hält ihn unter Verschluß, dann setzt er die Handwerker ohne mein Wissen in die<br />

Küche [...] im Parterre und läßt ebenfalls einen Extraschlüssel anfertigen und die<br />

Küche verschließen, er entlässt den Hauswart des Gemeindehauses, hält bei ihm<br />

109


110<br />

persönlich Haussuchung, entnimmt einen Sack Erbsen und verteilt sie, verzehrt<br />

die abgeschlachteten Hühner des Hauswarts, erklärt der Hauswartsfrau vor<br />

Zeugen, dass sie zu viel Möbel habe und er als ausgebombter einen Teil derselben<br />

abholen würde. Eine Kindergärtnerin hat zufällig gehört, wie er sich gerade darüber<br />

ausließ, dass er die Horträume auch noch nehmen werde. Er hat von sich aus<br />

<strong>St</strong>ellungen im Kindergarten vergeben wollen, in einem Raum des Hortes und in<br />

die Hortküche hat er den Tischler B. gewiesen und ist ihm beim Transport seiner<br />

Möbel in die Horträume behilflich gewesen. Vor allem aber macht er uns ständig<br />

mit Anzeigen gegen den Hauswart zu schaffen. Sämtliche Schlüssel hatte er sich<br />

im Anfang vom Gemeindehaus angeeignet.<br />

Drittens: Zu der Benutzung des Saales am Sonntag ist noch zu bemerken, daß es<br />

nie zur Debatte gestanden hat, auch für den Hauptgottesdienst auf den großen<br />

Saal zu verzichten. Der Nachmittagsgottesdienst könnte, was die Besucherzahl<br />

betrifft, im Sommer im Konfirmandensaal stattfinden. Wir werden aber durch die<br />

laute Musik (Proben etc.) in dem kleinen Saal so gestört, daß es für die Pfarrer<br />

fast unmöglich ist, dabei Bibelstunde oder Gottesdienste abzuhalten. Einstweilen<br />

haben wir den großen Saal noch für die Abendgottesdienste. Trotzdem ist vom<br />

Volksbildungsamt auch am 22. Juli zur Zeit des Gottesdienstes ohne unser Wissen<br />

ein Konzert angesetzt. Man stelle sich die Unzuträglichkeiten vor, wenn Gottesdienst<br />

und Konzert im selben Raum und zur selben Zeit angesetzt werden. Man geht<br />

glatt über uns hinweg. Unser Küstereibüro verschließt nach Dienstschluß seine<br />

Schränke und Räume. Zweimal sind am anderen Morgen bei zwar verschlossenem<br />

Raum die Schränke offen und durchsucht vorgefunden worden. Es fehlt ein Posten<br />

Schreibpapier. Wer durchsucht unsere Akten?<br />

Unser Entgegenkommen gegenüber dem Magistrat haben wir erst neuerdings<br />

bewiesen, durch Verhandlungen über die Einrichtung eines Flüchtlings-<br />

(Übernachtungsheims) Durchgangsheims. Das Verhalten aber des<br />

Volksbildungsamtes und des Herrn Oe. ist aber für uns völlig untragbar.<br />

Mit brüderlichem Gruß Ihr...“<br />

Das Bezirksamt Friedrichshain/Amt für Volksbildung strebte an, den<br />

Gemeindesaal auch am Sonntagvormittag zu nutzen. Pfarrer Kracht<br />

wurde darüber durch ein Schreiben vom 16. August 1945 in Kenntnis<br />

gesetzt:


„Sehr geehrter Herr Pfarrer!<br />

Am Sonntag, den 2. September 1945, findet die Eröffnungsfeierlichkeit unserer<br />

Volkshochschule statt, in deren Mittelpunkt ein Referat des Leiters der Volksbildungsabteilung<br />

Gross-Berlin, Herrn <strong>St</strong>adtrat Otto Winzer, stehen soll.<br />

Wir sind aus verschiedenen Gründen leider gezwungen, diese Veranstaltung am<br />

Vormittag von 10 – 12 Uhr durchzuführen, und müssen Sie daher bitten, uns<br />

ausnahmsweise den grossen Saal für diese Zeit zur Verfügung zu stellen.<br />

Wir bedauern, dass die allerdings beispiellos ungünstigen Raumverhältnisse in<br />

unserem Bezirk – es steht uns im gesamten Bezirk kein einziger Saal zur<br />

Verfügung – immer wieder zu Kollisionen zwischen dem Amt für Volksbildung<br />

und der Lazaruskirchengemeinde führen. Um eine endgültige Klarstellung<br />

herbeizuführen, die den beiderseitigen Interessen Rechnung trägt, möchte ich Sie<br />

bitten, Ihrerseits einen Zeitpunkt für eine Unterredung zwischen uns zu bestimmen.<br />

Ich würde Sie gern selbst in dieser Angelegenheit aufsuchen.<br />

Ergebenst gez. Schmidt“<br />

Aus einer Randnotiz auf diesem Brief geht hervor, dass Pfarrer Kracht<br />

die Kräfte ausgingen und er sich mit dem Gedanken trug, die<br />

Gemeinde zu verlassen: „Sehr geehrter Herr Moeller! [Präses der<br />

Provinzialsynode] Ich bitte um Ihre Hilfe, wenn ich mich wegen dieser<br />

Unverschämtheit energisch zur Wehr setze. Ich hänge sehr an meiner Gemeinde.<br />

Aber wenn ich eine andere <strong>St</strong>elle finde, gehe ich fort. Keine Wohnung, keine<br />

Kirche, keine Orgel [...]<br />

Pfarrer Kracht wehrte sich gegen die schrittweise Ausweitung der<br />

Ansprüche der Behörde und antwortete am 17. August 1945:<br />

„Sehr geehrter Herr Schmidt!<br />

Es ist ganz ausgeschlossen, dass die <strong>Kirchengemeinde</strong> Lazarus den grossen Saal in<br />

der Zeit von 10 – 12 h am Sonntag, 2. September Ihnen zur Verfügung stellt.<br />

Die Zeit am Sonntag von 10 – 12 h ist durch das Gesetz über die Sonntagsruhe<br />

für den Gottesdienst geschützt. Versammlungen irgend welcher Art dürfen am<br />

Sonntag erst um 12 h beginnen. Diese Vorschrift ist erst in der Nazi-Zeit<br />

fortgefallen.<br />

Wir wollen Ihnen aber entgegen kommen und Ihnen den Saal am 2. September<br />

um 12 h frei geben. Dieses Entgegenkommen seitens der <strong>Kirchengemeinde</strong> setzt<br />

111


112<br />

voraus, dass Sie auch den Interessen der <strong>Kirchengemeinde</strong> mehr Rechnung tragen<br />

als <strong>bis</strong>her.<br />

Es wäre mir sehr lieb, wenn Sie Zeit fänden, mich einmal aufzusuchen, damit wir<br />

die Punkte einmal besprechen könnten, in welchen die <strong>Kirchengemeinde</strong> in ihren<br />

Rechten durch Sie verletzt ist.<br />

Ich mache darauf aufmerksam, das z.B. das Amt für Volksbildung noch nichts<br />

für die Benutzung des Saales gezahlt hat, dass aber Ihr Herr K. über den Saal<br />

und das ganze Haus mehrmals verfügt hat, als ob es sein und nicht unser Eigentum<br />

wäre.<br />

Ich bitte Sie, sich vorher anzumelden, da ich durch mein Amt sehr stark in<br />

Anspruch genommen bin und weder eine Wohnung, noch einen Dienstraum im<br />

Gemeindehaus zur Verfügung habe.<br />

Ergebenst...“<br />

Das Bezirksamt Friedrichshain, Amt für Volksbildung, am 18. August<br />

1945:<br />

„Sehr geehrter Herr Pfarrer!<br />

Auf Ihr Schreiben vom 17. August erwidern wir Ihnen folgendes:<br />

Das Volksbildungsamt Friedrichshain nimmt für sich unbedingt das Recht in<br />

Anspruch, daß ihm im Bezirk wenigstens ein größerer Saal jederzeit zur<br />

Durchführung kultureller Veranstaltungen zur Verfügung steht. Hierfür ist allein<br />

der von jeher völlig unkirchliche, profanen Charakter tragende Bühnensaal in der<br />

Memeler <strong>St</strong>r. 54 als geeignet befunden und daher unter erheblichem Kostenaufwand<br />

von uns wieder hergerichtet worden. Wir können nun keinesfalls der Lazarus-<br />

Gemeinde als einer einzigen <strong>Kirchengemeinde</strong> des Bezirkes das moralische Recht<br />

zuerkennen, Ansprüche geltend zu machen, die uns in der Durchführung unseres<br />

Programms behindern, zumal die Gemeinde über kleinere Räume verfügt, die als<br />

für sie zur Zeit ausreichend angesehen werden können. Allerdings steht der Lazarus-<br />

Gemeinde formal-juristisch auch das Eigentumsrecht an dem großen Saale zu.<br />

Aus diesem Grunde sind wir zur Zahlung einer Entschädigung an die Gemeinde<br />

verpflichtet und zum Abschluß eines entsprechenden Vertrages bereit. Wir müssen<br />

aber dabei darauf verweisen, daß wir allein auf die Einnahmen unserer<br />

Veranstaltungen angewiesen sind und keinerlei Zuschüsse erhalten. Ferner ist<br />

dabei zu berücksichtigen, daß die Lazarus-Gemeinde den großen Saal zur<br />

Abhaltung ihres Sonntags-Gottesdienstes <strong>bis</strong> heute noch nicht zur Verfügung


gehabt hätte, wenn er nicht von uns unter erheblichem Kostenaufwand wieder<br />

hergestellt worden wäre. Denn unter Berücksichtigung der gegebenen Verhältnisse<br />

– insbesondere auch im Hinblick auf die Materialschwierigkeiten – hätte die<br />

Gemeinde als solche niemals die Möglichkeit gehabt, den Saal für ihre Zwecke<br />

herzurichten.<br />

Wir sind grundsätzlich bereit, den Sonntag Vormittag auch weiterhin für die<br />

Kirche freizuhalten, müssen aber unbedingt darauf bestehen, die<br />

Eröffnungsfeierlichkeit für unsere Volkshochschule am Sonntag, d. 2.9.45, von<br />

10 – 12 Uhr durchzuführen. Veranstaltungen dieser Art und von dieser<br />

kulturellen Bedeutung, bei denen führende Männer der Berliner <strong>St</strong>adtverwaltung<br />

das Hauptreferat übernommen haben, sind durchweg in allen Bezirken um diese<br />

Zeit durchgeführt worden.<br />

In der nächsten Woche werde ich Sie zwecks mündlicher Besprechung zur<br />

Vorbereitung eines Vertragsabschlusses nach vorheriger Anmeldung aufsuchen.<br />

Ergebenst...“<br />

Am 31. Oktober 1945 kam es dann zum Abschluss eines ordentlichen<br />

Mietvertrages zwischen der Lazarus-Gemeinde und dem Volksbildungsamt.<br />

Wichtige Anliegen der <strong>Kirchengemeinde</strong> wie Entschädigung,<br />

Nutzungszeiten und Kostenbeteiligungen waren darin<br />

berücksichtigt.<br />

Es gab im Jahr 1946 noch weitere Versuche durch das Bezirksamt<br />

Friedrichshain, in die Nutzung des Gemeindehauses zu kommen, so<br />

durch die Inanspruchnahme des Bunkers unter dem großen Saal für<br />

eine Tbc-<strong>St</strong>ation. Dies wurde abgewendet.<br />

113


114


STATISTIKEN ZUM GEMEINDELEBEN<br />

Gemeindemitglieder<br />

Die Grafik veranschaulicht die Veränderung der Gemeindegröße.<br />

Jedoch ist das Datenmaterial mit Vorsicht zu betrachten, denn aufgrund<br />

unzureichender kirchlicher <strong>St</strong>atistiken sind die Zahlen meist<br />

unzuverlässige Schätzungen und zudem lückenhaft. Immerhin kann<br />

man den Trend ablesen, den die Entwicklung der Mitgliederzahlen<br />

im Verlauf der 110jährigen Gemeindegeschichte genommen hat.<br />

Während der ersten 36 Jahre ihres Bestehens wuchs die Gemeinde<br />

stetig um durchschnittlich über 400 Mitglieder pro Jahr. Diese Zunahme<br />

resultierte aus der durch Zuzug und Geburten wachsenden<br />

Bevölkerungszahl im Gemeindegebiet und forderte eine Anpassung<br />

der gemeindlichen <strong>St</strong>rukturen: die Anzahl der Pfarrstellen wurde erhöht,<br />

der Gebäudebestand ausgeweitet.<br />

Zu Beginn der NS-Zeit sank die Mitgliederzahl um 43%. Das war<br />

eine erhebliche Reduzierung. Sie übertraf deutlich die Abnahme der<br />

„<strong>Evangelische</strong>n“ im gesamten Kirchenkreis Berlin <strong>St</strong>adt I (Friedrichshain<br />

sowie kleine Teile von Mitte und Prenzlauer Berg) (25%), dem<br />

die Lazarus-Gemeinde damals angehörte. Mit 40.000 Mitgliedern war<br />

die Gemeinde allerdings immer noch doppelt so groß wie der<br />

Durchschnitt der Berliner Gemeinden. Wahrscheinlich ist dieser<br />

abrupte Rückgang auf eine veränderte statistische Erhebungsgrundlage<br />

zurückzuführen. Der Mitgliederschwund stand jedenfalls nicht im<br />

Zusammenhang mit Kirchenaustritten, da gerade zum Anfang des<br />

Hitler-Regimes die Gemeinden Zulauf durch Wiedereintrittswillige<br />

hatten. Über die gesamte NS-Zeit blieb die Gemeindegröße stabil.<br />

Erst zum Ende des 2. Weltkriegs halbierte sich die Zahl der<br />

Gemeindemitglieder infolge der schweren Kämpfe im Bezirk<br />

Friedrichshain.<br />

Dass es keine erneute Zunahme nach den Kriegsverwüstungen gab,<br />

erklärt sich zum einen aus der seither geringeren Bevölkerungsdichte<br />

im Gemeindebereich, zum anderen aus der Verdrängung vieler<br />

Christen durch die kommunistische Umstrukturierung des Wohngebietes,<br />

deren Auswirkungen seinerzeit Pfarrer Kreitschmann in Berichten<br />

an die kirchlichen Behörden beklagt hatte.<br />

115


116<br />

70.000<br />

60.000<br />

50.000<br />

40.000<br />

30.000<br />

20.000<br />

10.000<br />

0<br />

Anzahl der Gemeindemitglieder<br />

(Quelle: Kirchliche <strong>St</strong>atistiken)<br />

1895 1905 1915 1925 1935 1945 1955 1965 1975 1985 1995 2005<br />

Die Gemeindesituation blieb nicht nur schlecht, sondern sie verschärfte<br />

sich weiter. Innerhalb von 20 Jahren (von 1952 <strong>bis</strong> 1972) schrumpfte<br />

die Gemeinde erneut um die Hälfte ihrer Mitglieder. Ursache waren<br />

mehrere Faktoren: 1. die zunehmenden Kirchenaustritte, die zum Teil<br />

Ergebnis des gesellschaftlichen Drucks durch den atheistischen <strong>St</strong>aat,<br />

zum Teil Folge des veränderten Kirchensteuerrechts von 1953 waren,<br />

2. die Verkleinerung des Gemeindebereiches im Jahre 1969, 3. die<br />

anhaltende Verdrängung von Christen durch die Sanierung des<br />

Wohngebietes und die Bevorzugung systemkonformer, der Kirche<br />

fernstehender Menschen und 4. der demographische Wandel mit der<br />

rückläufigen Geburtenrate.<br />

Während der 80er Jahre verringerte sich (auch wenn aus dieser Zeit<br />

keine vergleichbaren Zahlen vorliegen) die Gemeindegröße nochmals.<br />

Dieser Rückgang wirkte sich auf alle Bereiche des Gemeindelebens<br />

erschwerend aus. Auch das Personal musste reduziert werden. 1907<br />

hatte der Anteil der „<strong>Evangelische</strong>n“ an der Wohnbevölkerung 85%,<br />

1933 noch 65% betragen. Im Jahr 2003 lag er mit 14% auf marginalem<br />

Niveau, was die Verdrängung der <strong>Kirchengemeinde</strong> aus der


umgebenden Gesellschaft verdeutlicht. Lazarus stellte mit dieser<br />

Entwicklung allerdings keine Ausnahme dar, sondern steht<br />

exemplarisch für die Situation der meisten Ost-Berliner Gemeinden.<br />

Amtshandlungen<br />

Kirchliches Handeln wird auch in Amtshandlungen deutlich. Die<br />

Häufigkeit von Taufen, Trauungen und kirchlichen Bestattungen<br />

unterlag im Verlauf der Gemeindegeschichte großen Veränderungen.<br />

Besonders die Beobachtung über einen langen Zeitraum und unter<br />

Berücksichtigung der Entwicklung der Gemeindegröße lässt<br />

Rückschlüsse über die sich wandelnde Situation der Gemeinde im<br />

gesellschaftlichen Kontext zu. Die Grafik der jährlichen Taufen,<br />

Trauungen und Bestattungen zeigt Kurven von ähnlicher Charakteristik.<br />

Dies erklärt sich aus zwei sich überlagernden Prozessen: der<br />

allgemeinen demographischen Entwicklung und der fortschreitenden<br />

Entchristlichung der Bevölkerung. Letzteres wird insbesondere dann<br />

deutlich, wenn man die Anzahl der Amtshandlungen nach der<br />

Gemeindegröße berechnet (pro 1.000 Gemeindemitglieder).<br />

In den ersten 10 Jahren der Gemeindegeschichte nahmen alle<br />

Amtshandlungsarten stark zu. Die Anzahl der Taufen und Trauungen<br />

erreichte ihren Höhepunkt mit der Fertigstellung der großen<br />

Lazaruskirche, die kirchlichen Bestattungen etwas früher. Zum Teil<br />

spiegelt diese Zunahme die wachsende Zahl der Mitglieder der neu<br />

gegründeten Gemeinde wider, zum anderen wird darin der Prozess<br />

ihrer Etablierung innerhalb des Wohngebietes deutlich: die Taufen<br />

und Trauungen nahmen auch bezogen auf die wachsende<br />

Gemeindegröße zu. Lediglich bei den Bestattungen ist ein leichter<br />

Rückgang feststellbar.<br />

Nach 1910 <strong>bis</strong> zum Ende der Weimarer Zeit setzte besonders bei<br />

den Taufen ein dramatischer Rückgang ein, während die Zahl der<br />

Trauungen und kirchlichen Bestattungen langsamer abnahm. Ursache<br />

war in erster Linie die allgemeine Bevölkerungsentwicklung: zum Ende<br />

des 1. Weltkriegs war durch die Notlage der Bevölkerung die<br />

<strong>St</strong>erblichkeit höher als sonst; danach nahm die Zahl der<br />

Eheschließungen sowie die Anzahl der Geburten wieder zu – folglich<br />

117


118<br />

1.600<br />

1.400<br />

1.200<br />

1.000<br />

20<br />

18<br />

16<br />

14<br />

12<br />

10<br />

8<br />

6<br />

4<br />

2<br />

0<br />

800<br />

600<br />

400<br />

200<br />

0<br />

Amtshandlungen in der Lazaruskirche<br />

(Quelle: Kirchenbücher)<br />

Taufen<br />

Trauungen<br />

Bestattungen<br />

1895 1905 1915 1925 1935 1945 1955 1965 1975 1985 1995 2005<br />

Amtshandlungen je 1.000 Gemeindemitglieder<br />

Taufen<br />

Trauungen<br />

Bestattungen<br />

<strong>1896</strong> 1911 1929 1934 1942 1949 1952 1972 1994 2002 2005


auch die Zahl der Trauungen und Taufen. Bezieht man in die Betrachtung<br />

jedoch die Gemeindegröße ein, so zeigt sich, dass der Rückgang<br />

auch mit einer schleichenden Entfremdung der Bevölkerung von der<br />

Kirche zusammenhing: Formal gehörten zwar noch zahlreiche<br />

Menschen der Gemeinde an, die Zahl der Mitglieder wuchs in diesem<br />

Zeitraum sogar, jedoch wurden kirchliche Amtshandlungen nicht mehr<br />

in dem Maße für wichtig erachtet und wahrgenommen wie noch um<br />

die Jahrhundertwende. Am stärksten davon betroffen waren die<br />

Taufen und Bestattungen (die Anzahl der Bestattungen im Jahr 1929<br />

ist eine verlässliche Schätzung), am wenigsten die Trauungen.<br />

Zu Beginn des Nationalsozialismus stieg die Zahl der Bestattungen<br />

mäßig, die der Taufen und Trauungen sprunghaft weit über das Niveau<br />

der Vorjahre. Auch wenn man die während der NS-Zeit erhöhten<br />

Zahlen von Geburten und Eheschließungen berücksichtigt, nahmen<br />

die entsprechenden Amtshandlungen doch überproportional zu. Hier<br />

zeigte sich der offenbar verbreitete Wunsch der Menschen, sich der<br />

Kirche, ihrer Ordnung und ihren Ritualen wieder anzunähern. Dies<br />

trifft am meisten auf die Trauungen zu, steht doch die von den Deutschen<br />

Christen der Lazarus-Gemeinde organisierte Massentrauung von 47<br />

Brautpaaren 1933 beispielhaft für die zeitweise Parallelität der<br />

Entwicklungen im neuen <strong>St</strong>aat und in der evangelischen Kirche. Die<br />

vielleicht von der Kirchenleitung erhoffte Re-Christianisierung der<br />

Massen der Bevölkerung erwies sich indes als Wunschtraum: die<br />

erhöhte Anzahl der Trauungen war nur ein „<strong>St</strong>rohfeuer“, das nach<br />

drei Jahren ausgebrannt war bzw. durch eine zunehmend<br />

kirchenfeindliche Politik des NS-Regimes ausgetreten wurde. Das<br />

Kriegsende war zugleich der Tiefpunkt bei den Amtshandlungen.<br />

In der Nachkriegszeit <strong>bis</strong> in die Mitte der 50er Jahre stabilisierten<br />

sich die Zahlen der Taufen, Trauungen und Bestattungen auf (im<br />

Vergleich zu früheren Zeiten der Gemeindegeschichte) niedrigem<br />

Niveau. Dieser Rückgang korrespondierte mit den deutlich gesunkenen<br />

Gemeindemitgliederzahlen infolge der Kriegswirkungen. Legt man<br />

die im Vergleich zu den Vorkriegszeiten halbierte Gemeindegröße<br />

zugrunde, so ist sogar eine Intensivierung dieses Feldes kirchlichen<br />

Handelns festzustellen.<br />

119


120<br />

Mit zunehmender Etablierung des DDR-Regimes wuchs gegenüber<br />

der Kirche und den ihr nahestehenden Menschen der politische Druck.<br />

Er war vor dem Hintergrund einer allgemeinen Säkularisierung der<br />

Gesellschaft folgenreich: Die Gemeindemitgliederzahl reduzierte sich<br />

dramatisch, und Trauungen fanden ab den 60er Jahren, Taufen etwas<br />

später in kaum mehr nennenswertem Umfang statt. Der Prozess der<br />

Entchristlichung wird besonders deutlich, wenn man die Taufen und<br />

Trauungen in Bezug zur Gemeindegröße setzt. Bei den kirchlichen<br />

Bestattungen hat sich dieser Prozess zeitlich verzögert ausgewirkt. Zwar<br />

sanken die Zahlen auch hier, aber ein Niveau der Marginalität war<br />

erst gegen Ende der 80er Jahre erreicht, seit sich die Familien der<br />

Verstorbenen nachhaltig der Kirche entfremdet hatten und eine<br />

kirchliche Beisetzung ihrer verstorbenen Eltern und Verwandten nicht<br />

mehr in Erwägung zogen.<br />

Fazit<br />

Die Rückschau auf die 110jährige Gemeindegeschichte anhand der<br />

Zahlen der Amtshandlungen lässt zu jeder Zeit Wechselwirkungen<br />

zwischen Gemeinde und Gesellschaft erkennen. Es wird deutlich, dass<br />

die Lazarus-Gemeinde nur in den ersten Jahrzehnten ihrer Geschichte<br />

eine feste <strong>St</strong>ellung innerhalb der Kommune und Bindekraft gegenüber<br />

allen Altersgruppen erlangen und behaupten konnte. Danach verlor<br />

sie zunehmend an Einfluss. Nach dem 2. Weltkrieg hat sich zudem<br />

die Gewichtung der verschiedenen Amtshandlungsarten – dem<br />

demographischen Wandel folgend – verschoben. Der Schwerpunkt<br />

liegt seither nicht mehr bei den Taufen, sondern bei den Bestattungen.<br />

Offenbar ist gemeindliche Arbeit noch am ehesten für ältere Menschen<br />

von Wichtigkeit, während sich die Jugend und die jungen Erwachsenen<br />

kaum von der Gemeinde angesprochen fühlen. Es handelt sich hierbei<br />

jedoch um gesellschaftliche Prozesse, die sich der <strong>St</strong>euerung durch<br />

die Gemeinde und ihre Pfarrerschaft weitgehend entziehen.


BIOGRAMME DER PFARRER UND<br />

ÜBERSICHT DER „PFARRER-GENERATIONEN“<br />

Otto Köster (<strong>1896</strong>-1910)<br />

geb. 20. August 1855 in Wernigerode, gest. 3. Juli 1934, Sohn<br />

eines Schneidermeisters, Ord. 1883, 1883 Archidiakon in<br />

Querfurt, 1885 4. Pfr. an <strong>St</strong>. <strong>Markus</strong> in Berlin, <strong>1896</strong> <strong>bis</strong> 1910<br />

1. Pfr. an Lazarus, danach Pfr. an Zion in Berlin und<br />

Superintendent von Berlin <strong>St</strong>adt III, emer. 1928<br />

Max v. Gersdorff (<strong>1896</strong>-1908)<br />

geb. 23. Februar 1866 in Ober-Guhren b. Züllichau/Neumark,<br />

gest. 1. November 1914 in Blankenburg/Thüringen, Sohn<br />

eines Gutsbesitzers, Ord. 1891, danach Hilfsprediger in<br />

Wernigerode, 1892 Pfr. in <strong>St</strong>ötterlingen/a.Harz (b. Osterwieck),<br />

<strong>1896</strong> <strong>bis</strong> 1908 2. Pfr. an Lazarus, danach <strong>bis</strong> 1914<br />

Oberdomprediger und Superintendent in Naumburg/Saale<br />

Johannes Roeber (1897-1908)<br />

geb. 14. Mai 1867 in <strong>St</strong>endal/Altmark, gest. 22. Juni 1930 in<br />

Berlin-Lankwitz, Ord. 1894, 1894 <strong>bis</strong> 1897 Hilfspred. an <strong>St</strong>.<br />

<strong>Markus</strong> in Berlin, 1897 <strong>bis</strong> 1908 3. Pfr. an Lazarus, danach<br />

Seemannsgeistlicher in Brighton/England, 1909 <strong>bis</strong> 1914 Pfr.<br />

der deutschen Gemeinde in Newcastle/England, 1915 <strong>bis</strong><br />

1916 Hilfspred. in Kehnert/Altmark (b. Tangerhütte), zuletzt<br />

ab 1916 Pfarrer an Laurentius in Calbe/Saale, emer. 1928<br />

Hermann Wagner (1905-1919)<br />

geb. 26. Oktober 1856 in Sangerhausen, gest. in Halle/Saale,<br />

Sohn eines Landgerichtssekretärs, Ord. 1885, Diakon und<br />

Pfr. in mehreren Gemeinden, 1905 <strong>bis</strong> 1911 4. Pfr. an Lazarus,<br />

1911 <strong>bis</strong> 1919 1. Pfr. an Lazarus, emer. 1919<br />

Georg May (1908-1910)<br />

geb. 4. März 1869 in Bromberg/Posen, Ord. <strong>1896</strong>, 1897<br />

Div.-Pfr., 1908 2. Pfr. an Lazarus, 1910 Pfr. in Wittgendorf/<br />

Schlesien, 1917 3. Pfr. in Lauban/Schlesien<br />

121


122<br />

Kurt Baumert (1908-1918)<br />

geb. 19. Oktober 1872 in Glogau/Schlesien, Sohn eines Juweliers,<br />

Ord. 1899, 1899 Diakon in Breslau/Schlesien, 1908 <strong>bis</strong><br />

1918 3. Pfr. an Lazarus, 1919 Pfr. in Rohrbeck, Krs. Potsdam,<br />

1927 Superintendent und Oberpfr. in <strong>St</strong>orkow, emer. 1934<br />

Maximilian Raunau (1911-1914)<br />

geb. 31. Dezember 1864 in Nauen/Havelland, gest. 14.<br />

Dezember 1923 in <strong>St</strong>ettin, Sohn eines Uhrmachers, Ord.<br />

1899, danach in Adlershof und Oderlin, Krs. Königs<br />

Wusterhausen, 1911 <strong>bis</strong> 1914 2. Pfr. an Lazarus, 1914 Pfr. in<br />

Pitzerwitz, Krs. Soldin/Neumark, emer. 1923<br />

Otto Schulz (1911-1918)<br />

geb. 7. September 1875 in Krugsdorf b. Ückermünde, Sohn<br />

eines Schmiedemeisters, 1895 <strong>bis</strong> 1904 Volksschullehrer, Ord.<br />

1908, 1908 Hilfsprediger, 1908 2. Pfr. an Bethanien in Berlin,<br />

1911 <strong>bis</strong> 1918 4. Pfr. an Lazarus, ab 1918 Pfr. an der<br />

Bethlehemskirche in Berlin<br />

Dr. Hermann Franke (1914-1916)<br />

geb. 1. März 1861 in Langensalza/Thüringen, gest. 11.<br />

Dezember 1936 in Berlin, Sohn eines Ober-Telegrafen-<br />

Assistenten., Ord. 1889, Hilfsprediger in Halle/Saale, 1891<br />

Pfr. in Bruchstedt/Thüringen, 1904 2. Pfr. an Peter und Paul in<br />

Liegnitz/Schlesien, 1914 <strong>bis</strong> 1916 2. Pfr. an Lazarus, 1916 1.<br />

Pfr. an Advent in Berlin, emer. 1931<br />

Otto Köhler (1915-1918)<br />

geb. 8. März 1883 in Trebnitz/Schlesien, Sohn eines<br />

Postbeamten, gest. 24. Dezember 1946 in Torgau, Ord. 1908,<br />

1908 Hilfsprediger, 1909 4. Pfr. in Grünberg/Schlesien, 1915<br />

<strong>bis</strong> 1918 5. Pfr. an Lazarus, 1918 <strong>bis</strong> 1946 Pfr. an <strong>St</strong>. Nikolai<br />

in Greifswald, von sowjetischer Polizei am 4. Januar 1946<br />

verhaftet und in einem Torgauer NKWD-Lager interniert


Gustav Lengning (1916-1933)<br />

geb. 11. November 1865 in Seeburg/Ostpreußen, gest. 9.<br />

Januar 1947 in Vaffin/Pommern, Sohn eines Amtsgerichtssekretärs,<br />

Ord. 1892, 1892 2. Pfr. an Johannis in Memel/<br />

Ostpreußen, 1916 <strong>bis</strong> 1933 2. Pfr. an Lazarus, emer. 1933<br />

Fritz Sasse (1918-1932)<br />

geb. 4. September 1889 in Berlin, gest. 17. September 1956,<br />

Sohn eines Lehrers, Ord. 1913, 1913 Hilfspred., 1915 Pfr. in<br />

Schlotheim/Thüringen, 1916 Festungsgarnisonpfr. in Danzig,<br />

1918 Feldgeistlicher, 1918 <strong>bis</strong> 1932 4. Pfr. an Lazarus, 1932<br />

Pfr. in Krahne, Krs. Lehnin, ab 1939 Pfr. in Berlin-Johannisthal<br />

Paul Eichler (1919-1933)<br />

geb. 3. Mai 1864 in Delitzsch, gest. 12. Juni 1940 in Berlin,<br />

Sohn eines Fabrikbesitzers, Ord. 1895, 1891 Ziv.-Erzieher<br />

am Kad.-Korps in Köslin/Pommern, 1895 2. Pfr. an <strong>St</strong>. Petri<br />

in Kopenhagen/Dänemark, 1899 <strong>bis</strong> 1919 Pfr. in<br />

Antwerpen/Belgien, 1919 <strong>bis</strong> 1933 1. Pfr. an Lazarus, emer.<br />

1933<br />

Johannes v. Schneidemesser (1919-1934)<br />

geb. 27. März 1881 in Hohenliebenthal, Krs. Schönau a.d.<br />

Katzbach/Schlesien, gest. 15. Oktober 1934 in Berlin-<br />

Schmargendorf, Sohn des Superintendenten von Berlin <strong>St</strong>adt<br />

I Dr. Karl v. Schneidemesser, Ord. 1911, 1911 Militär-<br />

Hilfsgeistlicher, 1912 Div.-Pfr. in Diedenhofen/Lothringen,<br />

1918 Div.-Pfr. in Essen (Ruhr), 1919 <strong>bis</strong> 1934 3. Pfr. an Lazarus<br />

Moritz Kracht (1919-1948)<br />

geb. 26. Januar 1884 in Datzow/Rügen, gest. 30. November<br />

1958, Sohn eines Gutsbesitzers, Ord. 1909, 1909 Hilfspred.,<br />

1912 2. Pfr. in Schloppe, Krs. Deutsch-Krone/Westpreußen,<br />

1914 Pfr. in Sassenheim/Posen, Kriegsteilnehmer 1914 <strong>bis</strong><br />

1916 (Eisernes Kreuz II), Felddivisionspfr. der 3.<br />

Landwehrdivision und Referent beim Korps, im Nebenamt<br />

Versorgung der Irrenanstalt und des Gefängnisses in Preußisch<br />

123


124<br />

<strong>St</strong>argard/Westpreußen und von Altersheimen, 1918 Geistlicher<br />

der <strong>St</strong>ädt. Anstalten in Buch b. Berlin, 1919 <strong>bis</strong> 1948 5.<br />

Pfr. an Lazarus, im Nebenamt Krankenhausseelsorger im<br />

Krkhs. Friedrichshain, Dezernent für Kirchensteuern und<br />

Kirchhöfe in der Berliner <strong>St</strong>adtsynode von 1936 <strong>bis</strong> 1942,<br />

1949 Pfr. an Gnaden in Berlin, emer. 1956<br />

Kurt Schwarz (1933-1949)<br />

geb. 4. Januar 1884 in Berlin-Schöneberg, gest. 11. Juli 1957<br />

in Bad Aibling, Sohn eines Rechnungsrats, Ord. 1910, 1910<br />

Hilfspred., 1913 Pfr. in Rampitz a.d. Oder/Neumark, 1930<br />

Pfr. in Rehfelde, Krs. <strong>St</strong>rausberg, 1933 <strong>bis</strong> 1949 4. Pfr. an<br />

Lazarus, ab 1949 Pfr. an Luther in Berlin-Schöneberg<br />

Richard Lagrange (1934-1935)<br />

geb. 2. April 1899 in Berlin, gest. 23. Juni 1999 in Ludwigsburg/Württemberg,<br />

Sohn eines Kaufmanns hugenottischer<br />

Abstammung, 1917-1918 Teilnahme am 1. Weltkrieg, <strong>bis</strong> 1919<br />

engl. Kriegsgefangenschaft, Ord. 1926, 1926 Hilfspred. in<br />

Gr. Fahlenwerder, Krs. Soldin/Neumark, 1927 dort Pfr., 1934<br />

<strong>bis</strong> 1935 2. Pfr. an Lazarus, 1935 Pfr. an Franz-ref.<br />

Louisenstadt-Gemeinde in Berlin, 1943-1948 Kriegsteilnahme<br />

und anschließende Gefangenschaft, 1947 Vakanzverwalter in<br />

Walddorf/Württemberg, ab 1948 Pfr. in Sigmaringen/<br />

Württemberg, ab 1951 Pfr. in Ludwigsburg/Württemberg,<br />

emer. 1965<br />

Lothar Guhl (1934-1945)<br />

geb. 8. Januar 1899 in Königsberg/Preußen, gest. 26. April<br />

1945 in Berlin-Biesdorf, Sohn eines Zahlmeisteraspiranten,<br />

Ord. 1927, 1927 Pfr. in Prawdzisken, Krs. Lyck/Ostpreußen,<br />

1929 Pfr. in Landsberg/Ostpreußen, 1931 Pfr. in Kreuzburg/<br />

Ostpreußen, 1934 <strong>bis</strong> 1945 1. Pfr. an Lazarus, <strong>bis</strong> 1941<br />

Heeresdienst


Werner Hannasky (1937-1946)<br />

geb. 21. Januar 1893 in Kaisermühl, Krs. Lebus/Neumark,<br />

gest. 10. August 1956, Sohn eines <strong>St</strong>ationsvorstehers, Ord.<br />

1920, 1920 Pfarrvikar, 1921 Pfr. in Niedercosel, 1922 Pfr. in<br />

<strong>St</strong>riegau/Schlesien, 1931 Pfr. in Behle/Netzekreis, 1937 <strong>bis</strong><br />

1946 2. Pfr. an Lazarus, 1939 <strong>bis</strong> 1941 Kriegsdienst als<br />

Hauptmann, ab 1946 kommissarisch an Auferstehung in Berlin,<br />

ab 1947 dort Pfr.<br />

Johannes Kalkof (1940-1949)<br />

geb. 31. August 1895 in Bad Rastenberg/Thüringen, gest. 1.<br />

Oktober 1949 Berlin, Sohn eines Kaufmanns, Ord. 1920,<br />

1920 Hilfspred., 1922 Pfr. in Pfiffelbach/Thüringen (b.<br />

Apolda), 1926 Pfr. an <strong>St</strong>. Johannis in Magdeburg, 1929 Pfr. in<br />

Luckau, 1931 Pfr. in Putlitz, Krs. Pritzwalk, aus gesundheitl.<br />

Gründen emer. 1937 <strong>bis</strong> 1938, 1939 Hilfsprediger in Berlin-<br />

Borsigwalde, 1940 <strong>bis</strong> 1949 4. Pfr. an Lazarus, Krankenhausseelsorger<br />

im Krkhs. Friedrichshain und im Ost-Krkhs.<br />

Artur Katzenstein (1947-1954)<br />

geb. 11. März 1907 in Berlin-Wedding, gest. 16. August 1991<br />

in Berlin-Spandau, Sohn eines Ober-Telegrafen-Sekretärs,<br />

Ord. 1935, 1935 Hilfspred., 1936 Pfr. in <strong>St</strong>epenitz, Krs.<br />

Pritzwalk, 1947 <strong>bis</strong> 1954 1. Pfr. an Lazarus, 1954 Pfr. in Berlin-<br />

<strong>St</strong>aaken-Gartenstadt<br />

Walter Müller-Matthesius (1951-1964)<br />

geb. 31. Januar 1901 in Berlin, gest. 16. Februar 1981 in<br />

Marburg/Lahn, Ord. 1928, 1928 Pfr. in Eberswalde, 1930<br />

Pfr. in Parstein/Uckermark, 1951 <strong>bis</strong> 1964 2. Pfr. an Lazarus,<br />

emer. 1964, 1965 Übersiedlung nach West-Berlin<br />

Gerhard Tscheuschner (1951-1964)<br />

geb. 8. April 1917 in Neustadt/Warthe, gest. 27. Januar 1993<br />

in Egelsbach/Hessen, 1951 <strong>bis</strong> 1964 3. Pfr. an Lazarus, emer.<br />

1964, <strong>bis</strong> 1967 pfarramtliche Dienste in Lazarus, 1967<br />

Übersiedlung in die Bundesrepublik<br />

125


126<br />

Gerhard Kreitschmann (1955-1972)<br />

geb. 28. April 1917 in Groß Retzken, Krs. Treuburg/<br />

Ostpreußen, langjährige Teilnahme am 2. Weltkrieg, 1954<br />

Hilfspred. mit kommissarischer Verwaltung der 1. Pfarrstelle<br />

in Lazarus, 1955 <strong>bis</strong> 1972 1. Pfr. an Lazarus, Übersiedlung in<br />

die Bundesrepublik<br />

Alfred Beuse (1973-1980 und 2004-2005)<br />

geb. 22. Mai 1934 in Obernigk b. Breslau/Schlesien, Ord.<br />

1959, 1960 2. Pfr. an Martin in Köthen/Anhalt, im Nebenamt<br />

seit 1969 Landesmissionspfarrer in Anhalt, 1973 <strong>bis</strong> 1980 3.<br />

Pfr. an Lazarus, danach Pfr. an <strong>St</strong>. Johannis in Schönebeck-<br />

Salzelmen (b. Magdeburg), 2004 <strong>bis</strong> 2005 Vakanzverwaltung<br />

im Pfarrsprengel <strong>St</strong>. <strong>Markus</strong> (Lazarus und <strong>St</strong>. Andreas)<br />

Joachim <strong>St</strong>ein (1976-2001)<br />

geb. 6. Mai 1941 in Berlin-Lichtenberg, Ord. 1975 in Lazarus,<br />

danach Verwaltung der 1. Pfarrstelle, 1976 <strong>bis</strong> 2001 1. Pfr. an<br />

Lazarus, ab 1978 im Nebenamt Archivpfleger des Kirchenkreises<br />

Friedrichshain, emer. 2001<br />

Detlef Wilinski (1981-1998)<br />

geb. 6. Dezember 1941 in Berlin-Prenzlauer Berg, Ord. 1968,<br />

1969 <strong>bis</strong> 1981 Pfr. an <strong>St</strong>. Andreas-<strong>St</strong>. <strong>Markus</strong> in Berlin, 1981<br />

<strong>bis</strong> 1998 3. Pfr. an Lazarus, zeitweise Superintendent des<br />

Kirchenkreises Friedrichshain, emer. 1998<br />

Heribert Süttmann (2002-2004)<br />

geb. 12. März 1958 in Oldenburg, 1977 Übertritt von der<br />

kath. in die ev.-lt. Kirche, Dipl.-Politikwissenschaftler und Ev.<br />

Theologe, Ord. 1995 (reformiert), <strong>bis</strong> 2002 Pfr. im<br />

Entsendungsdienst im Kirchenkreis Berlin-Wilmersdorf im<br />

Gemeindedienst an der Hochmeistergemeinde, 2002 <strong>bis</strong> 2004<br />

(1.) Pfr. der Gemeinden des Pfarrsprengels <strong>St</strong>. <strong>Markus</strong> (Lazarus<br />

und <strong>St</strong>. Andreas), Versetzung in eine landeskirchliche Pfarrstelle


Johannes Simang (seit 2005)<br />

geb. 21. Oktober 1952 in Marburg/Lahn, Ord. 1991, Pastorat<br />

in der Dorfkirchengemeinde <strong>St</strong>aaken, 1994 <strong>bis</strong> 1998 Pfr. der<br />

Friedens-<strong>Kirchengemeinde</strong> in Eisenhüttenstadt, 1998 <strong>bis</strong> 2005<br />

Pfr. in Müllrose, seit 1. Oktober 2005 (1.) Pfr. der Gemeinden<br />

des Pfarrsprengels <strong>St</strong>. <strong>Markus</strong> (Lazarus und <strong>St</strong>. Andreas)<br />

127


128


DOKUMENTE<br />

Bericht von Pfarrer Köster über den Beginn der Lazarus-Gemeinde. Das Dokument war eine<br />

der Beigaben bei der Grundsteinlegung zur Lazaruskirche und befand sich in der Grundsteinkassette,<br />

die am 10. Januar 1950 bei Aufräumarbeiten nach der Sprengung der Kirche geborgen wurde.<br />

129


130


131


132


Ordnung der Grundsteinlegung der Lazaruskirche am 20. Oktober 1905.<br />

133


134<br />

Parochialplan der Lazarus-Gemeinde mit der Einteilung in vier Seelsorgebezirke, um 1906.


135


136<br />

Ordnung der Grundsteinlegung des Gemeindehauses.


Patenschein von 1938.<br />

BILDNACHWEIS<br />

137


138<br />

Konfirmationsschein von 1944.


ZEITUNGSBERICHTE<br />

Zur Anschaffung der Glocken 1936<br />

Berliner Lokalanzeiger vom 2. April 1936.<br />

139


140<br />

<strong>St</strong>adt- und Land-Zeitung im Kreise Calbe vom 17. April 1936.


Zur Sprengung der Lazaruskirche<br />

Nachtexpress, Nr. 221, 1949.<br />

141


142<br />

Zur Geschichte der Lazarus-Gemeinde und ihrer Kirche<br />

Neue Zeit, Nr. 43, 1956.<br />

Folgende Seite: Der Friedrichshainer, Nr. 16, 1958.


Pressekampagne gegen Pfarrer Kreitschmann<br />

143


144<br />

Der Friedrichshainer, Nr. 15, 1958.


BZ am Abend, Nr. 175, 1958.<br />

145


146<br />

BILDNACHWEIS<br />

DIZ Dokumentations- und InformationsZentrum München GmbH<br />

(SV-Bilderdienst): S. 35.<br />

<strong>Evangelische</strong>s Landeskirchliches Archiv: S. 16, 17 l.u., 37, 45, 47.<br />

Pfarramt der Dt. Gemeinde in Newcastle/England: S.19.<br />

<strong>St</strong>attbau: S. 9.<br />

Torge, <strong>St</strong>. Nikolai und seine Tochtergemeinden: S. 12, 17 r.<br />

Ullstein Bild GmbH: S. 34.<br />

Privat<br />

Alfred Beuse: S. 67, 103 o., u.<br />

Hannelore Bolte: S. 81.<br />

Bernhard v. Gersdorff: S. 13 l.<br />

Ernst-Ulrich Katzenstein: S. 86, 87 o., u.<br />

Eve Lagrange: S. 36.<br />

Ellen Lanz: S. 20.<br />

Christian Maechler: S. 31.<br />

Reinhard Müller-Matthesius: S. 53, 59 o., u., 89 o., m., u., 90, 91.<br />

Mathias Orgeldinger: S. 100, 101 u.<br />

Elfriede Sasse: S. 22.<br />

Herwarth v. Schneidemesser: S. 21 u., 23 o., u.<br />

Wolfgang Schwarz: S. 33.<br />

Johannes Simang: S. 74.<br />

Reinhard Tscheuschner: S. 94, 98, 99.<br />

Detlef Wilinski: S. 70.<br />

Alle übrigen Abbildungen sind dem Bestand des Archivs der Lazarus-<br />

Gemeinde entnommen bzw. wurden für diese Schrift angefertigt.


ARCHIVE UND LITERATUR<br />

Diese Schrift stützt sich weitgehend auf Aktenmaterial des im Jahre<br />

2005 von Dr. Rainer Kramer professionell verzeichneten und<br />

geordneten Archivs der Lazarus-Gemeinde. Unter anderem fanden<br />

folgende Akten Verwendung: Kirchbau, Gemeindehausbau,<br />

Gemeindekirchenrat, Gemeindegeschichte, „Deutsche Christen“,<br />

<strong>St</strong>atistik, Nachrichtenblatt, Gemeindeberichte, Glocken, Kirchenbücher<br />

sowie der „Bericht aus der Geschichte der Lazarus-Gemeinde<br />

anlässlich ihres 60jährigen Bestehens“ von Pfarrer Tscheuschner aus<br />

dem Jahre 1956.<br />

Darüber hinaus wurde Material folgender Archive verwendet: Archiv<br />

der Superintendentur Berlin <strong>St</strong>adtmitte mit den Akten der ehemaligen<br />

Superintendenturen Berlin <strong>St</strong>adt I und Friedrichshain (Informationen<br />

zu den Pfarrern),<br />

Ev. Landeskirchliches Archiv (Zeitungsbericht von der Eröffnung der<br />

Kleinkinderschule sowie einige Details zu den Gebäuden, zum<br />

Gemeindeleben, zu Angestellten und Pfarrern),<br />

Archiv des Domstifts Naumburg (Dokumente zu Pfarrer v.<br />

Gersdorff),<br />

Archiv des Interdisziplinären Zentrums für Pietismusforschung der<br />

Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg in Verbindung mit den<br />

Franckeschen <strong>St</strong>iftungen zu Halle (Saale) (Informationen zu Pfarrer<br />

Roeber).<br />

Die grundlegenden Angaben zu den Pfarrern vor dem 2. Weltkrieg<br />

wurden dem vom Brandenburgischen Provinzialsynodalverband<br />

herausgegebenen „<strong>Evangelische</strong>n Pfarrerbuch für die Mark<br />

Brandenburg seit der Reformation“ entnommen.<br />

Der Zeitungsbericht von der Einweihung der Lazaruskirche ist<br />

abgedruckt in: Feustel, J., Verschwundenes Friedrichshain. Bauten und<br />

Denkmale im Berliner Osten, Begleitmaterial zur Ausstellung, hrsg.<br />

vom Bezirksamt Berlin-Friedrichshain-Kreuzberg, Heimatmuseum<br />

Friedrichshain, Berlin 2001, S. 13.<br />

147


148<br />

Detailreich zur Baugeschichte der Friedrichshainer <strong>Kirchengemeinde</strong>n<br />

ist Feustels Buch: Turmkreuze über Hinterhäusern. Kirchen im Bezirk<br />

Berlin-Friedrichshain, Berlin 1999; zur Lazaruskirche S. 75-84.<br />

Die Hintergründe für die Massentrauung am 2. Juli 1933 sind dargelegt<br />

in: Scholder, K., Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 1, Frankfurt<br />

a.M., Berlin, Wien 1977, S. 455ff. und 468ff. In diesem Buch findet<br />

sich auch Goebbels Kommentierung der Massentrauung.<br />

Die Angaben zu den Pfarrern Grüber und Dr. Harnisch stammen<br />

aus: Gailus, M., Protestantismus und Nationalsozialismus. <strong>St</strong>udien zur<br />

nationalsozialistischen Durchdringung des protestantischen Sozialmilieus<br />

in Berlin, Köln, Weimar, Wien 2001, S. 674. Diesem Buch sind<br />

auch die Ergebnisse der Kirchenwahlen vom 23. Juli 1933 in Berlin<br />

entnommen, S. 120 und 685.<br />

Ein Überblick über die frühe Geschichte des Kirchenkreises Berlin<br />

<strong>St</strong>adt I und der Lazarus-Gemeinde findet sich in: Torge, P., <strong>St</strong>. Nikolai<br />

und seine Tochtergemeinden, Berlin 1927.


DANKSAGUNG<br />

Angehörige und Bekannte sowie Pfarrämter späterer Gemeinden der<br />

Lazarus-Pfarrer haben die Sammlung des Materials zu den Pfarrern<br />

und zum Gemeindeleben sehr unterstützt. Für ihre Mitteilungen,<br />

weiterführenden Hinweise auf Personen und Literatur sowie für die<br />

Überlassung von Dokumenten und Fotografien wird gedankt:<br />

Herrn Prof. Bernhard v. Gersdorff, Frau I. Hellen (Dt. Gemeinde in<br />

Newcastle/England), Herrn Martin Heyn (Interdisziplinäres Zentrum<br />

für Pietismusforschung), Frau Dr. Karin Köhler (Ev. Landeskirchliches<br />

Archiv Berlin-Brandenburg), Frau Eve Lagrange, Frau Ellen Lanz,<br />

Herrn Christian Maechler, Frau Nagel (Archiv und Bibliothek des<br />

Domstifts Naumburg), Sup. i.R. Rainer Neumann (Greifswald),<br />

Mathias Orgeldinger, Pfr. i.R. Gerke Pachali (Krahne), Frau Dr. Elfriede<br />

Sasse, Herrn Herwarth v. Schneidemesser, Frau Ursula Schöning (ehem.<br />

Superintendentur Berlin-Schöneberg), Frau Schröter, Herrn Wolfgang<br />

Schwarz, Herrn Dr. Dr. Manfred <strong>St</strong>ürzbecher, Herrn R. Violet (Franz.ref.<br />

Gemeinde Berlin-Luisenstadt) und Pfr. Wenzlaf (Calbe/Saale).<br />

Besonderer Dank gilt Frau Hannelore Bolte, Herrn Pfr. Alfred Beuse,<br />

Herrn Prof. Georg Hadeler, Herrn Ernst-Ulrich Katzenstein, Herrn<br />

Dr. Reinhard Müller-Matthesius und Herrn Prof. Dr. Reinhard<br />

Tscheuschner, die mit ihren persönlichen Erinnerungen diese Schrift<br />

wesentlich bereichert haben.<br />

Gedankt wird Udo Postler und Lars Peter Frank für die Hilfe bei der<br />

technischen Umsetzung.<br />

149

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