(1896 bis 2006) - Evangelische Kirchengemeinde St. Markus
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AUS DER GESCHICHTE DER LAZARUS-GEMEINDE<br />
ANLÄSSLICH IHRES 110JÄHRIGEN BESTEHENS<br />
(<strong>1896</strong> <strong>bis</strong> <strong>2006</strong>)
Text und Gestaltung: Henrik Schiemann (Küster)<br />
Herausgeber: Der gemeinsame Gemeindekirchenrat der Ev.<br />
<strong>Kirchengemeinde</strong> <strong>St</strong>. Andreas und der Ev. Lazarus-<strong>Kirchengemeinde</strong><br />
Ev. Lazarus-<strong>Kirchengemeinde</strong><br />
Marchlewskistr. 40<br />
10243 Berlin<br />
Tel./Fax.: 030 – 296 02 90
„Das alte Lazarus ist nicht mehr. Lazarus war immer ein heißer Boden, aber<br />
das Wirken in dieser echten Großstadt-Gemeinde war doch schön. [...] Es hat<br />
mich alles erinnert an viel Gnade Gottes und an viel Sünde der Menschen.“<br />
Pfr. Kracht 1951 in einem Brief an eine<br />
ehemalige Gemeindehelferin zu ihrem<br />
25jährigen Dienstjubiläum.
INHALTSVERZEICHNIS<br />
Vorwort 7<br />
Überblick 9<br />
Gründungszeit und Entfaltung des Gemeindelebens<br />
(<strong>1896</strong> <strong>bis</strong> 1933) 11<br />
Nationalsozialismus (1933 <strong>bis</strong> 1945) 31<br />
Nachkriegszeit (1945 <strong>bis</strong> 1950) 47<br />
DDR – frühe Jahre (1950 <strong>bis</strong> 1965) 53<br />
DDR – mittlere und späte Jahre (1965 <strong>bis</strong> 1990) 61<br />
Jüngste Vergangenheit (seit 1990) 73<br />
Fazit 75<br />
Ausblick - von Pfarrerin Eva-Maria Menard 77<br />
Anhang<br />
Erinnerungen von Zeitzeugen<br />
Hannelore Bolte, geb. Seidler –<br />
zum Gemeindeleben (50er Jahre) 79<br />
Ernst-Ulrich Katzenstein –<br />
zur Tätigkeit seines Vaters<br />
Pfarrer Artur Katzenstein (40er und 50er Jahre) 84<br />
Dr. Reinhard Müller-Matthesius –<br />
zur Tätigkeit seines Vaters<br />
Pfarrer Walter Müller-Matthesius (50er Jahre) 88<br />
5
6<br />
Prof. Dr. Reinhard Tscheuschner –<br />
zur Tätigkeit seines Vaters<br />
Pfarrer Gerhard Tscheuschner (50er Jahre) 94<br />
Prof. Georg Hadeler –<br />
zur Gestaltung der Altarwand (1960) 100<br />
Pfarrer Alfred Beuse –<br />
zur „Offenen Jugendarbeit“ (70er Jahre) 102<br />
„Man geht glatt über uns hinweg“ –<br />
aus der Handakte von Pfarrer Kracht (1945) 105<br />
<strong>St</strong>atistiken zum Gemeindeleben 115<br />
Biogramme der Pfarrer und<br />
Übersicht der „Pfarrer-Generationen“ 121<br />
Dokumente 129<br />
Zeitungsberichte 139<br />
Bildnachweis 146<br />
Archive und Literatur 147<br />
Danksagung 149
VORWORT<br />
Am 1. Februar <strong>2006</strong> ist es 110 Jahre her, dass die Lazarus-Gemeinde<br />
gegründet wurde. Dieses Jubiläum fällt zusammen mit dem Ende<br />
ihrer Selbstständigkeit durch Fusion mit der benachbarten <strong>St</strong>. Andreas-<br />
Gemeinde. 110 Jahre sind für eine <strong>Kirchengemeinde</strong> eine recht kurze<br />
Zeit, doch könnten Beginn und Ende der Existenz von Lazarus kaum<br />
gegensätzlicher sein. Waren am Ende des 19. Jahrhunderts durch das<br />
Bevölkerungswachstum Gemeindeteilungen und -neugründungen<br />
notwendig, so steht man gegenwärtig inmitten eines ungebremsten<br />
Schrumpfungsprozesses der Kirche an Mitgliedern, Finanzen und<br />
einstigen Gewissheiten; Gemeinden werden zusammengelegt, der<br />
Gebäude- und Personalbestand reduziert und man sucht nach neuen<br />
Ordnungen und Formen für die Gemeindearbeit.<br />
Die Geschichte der Lazarus-Gemeinde trägt – wie die eines<br />
Individuums – eigene, unverwechselbare Züge und steht in ihren<br />
Grundzügen doch exemplarisch für die Geschichte der meisten Ost-<br />
Berliner <strong>Kirchengemeinde</strong>n. Diese Schrift will einen Überblick geben<br />
und Interesse wecken, sich anhand eines konkreten Beispiels den<br />
Problemen der <strong>Kirchengemeinde</strong>n in den einzelnen geschichtlichen<br />
Epochen zu nähern.<br />
7
ÜBERBLICK<br />
Die Lazarus-Gemeinde liegt inmitten des Bezirkes Berlin-Friedrichshain<br />
und wird im Norden von der Karl-Marx-Allee, im Süden von der<br />
Revaler <strong>St</strong>raße, Helsingforser <strong>St</strong>raße und Singerstraße, im Westen von<br />
der Koppenstraße und im Osten von der Simon-Dach-<strong>St</strong>raße<br />
begrenzt.<br />
Der Gemeindebereich mit einer Fläche von 85 ha ist sowohl von der<br />
Bebauung als auch von der Wohnbevölkerung unterschiedlich<br />
strukturiert; um die Warschauer <strong>St</strong>raße dominieren Mietskasernen der<br />
Jahrhundertwende, im nördlichen und westlichen Bereich stehen<br />
vorwiegend Bauten der 50er Jahre, zum Teil auch Plattenbauten aus<br />
den 70er und frühen 80er Jahren.<br />
In den Altbauten wohnen viele junge Menschen, vor allem <strong>St</strong>udenten.<br />
Die Fluktuation ist hier hoch. Pro Monat erfolgen je 20 <strong>bis</strong> 50 Zuund<br />
Wegzüge. In den anderen Wohnvierteln leben vorrangig Menschen<br />
über 50 Jahre und junge Familien.<br />
Kartenausschnitt des Kirchenkreises Berlin <strong>St</strong>adtmitte.<br />
9
10<br />
Die Gemeinde hat 2.100 Mitglieder (14% der Einwohnerschaft).<br />
Damit ist sie im Vergleich zu den anderen Friedrichshainer Gemeinden<br />
von mittlerer Größe.<br />
Die alte Lazaruskirche wurde im letzten Krieg zerstört. Seit den 50er<br />
Jahren dient daher das Gemeindehaus mit Kirchsaal aus dem Jahre<br />
1931 als gottesdienstliche <strong>St</strong>ätte. Sie liegt zentral im Gemeindebereich<br />
in der Marchlewskistraße 40, wird aber wegen der nach hinten gesetzten<br />
Lage auf dem Grundstück kaum wahrgenommen und ist auch als<br />
kirchlicher Raum nicht auf den ersten Blick zu erkennen.<br />
In der Gemeinde kommen Menschen unterschiedlicher Generationen<br />
zusammen und tauschen sich aus. Es werden die traditionellen Formen<br />
der Gemeindearbeit gepflegt: Christenlehre, Konfirmandenunterricht,<br />
Junge Gemeinde, Seniorenkreis, Bibelkreis, Singekreis.<br />
Seit dem 1. Oktober 2000 ist Lazarus mit der <strong>St</strong>. Andreas-Gemeinde<br />
zu einem Pfarrsprengel unter dem Namen <strong>St</strong>. <strong>Markus</strong> verbunden,<br />
um miteinander die Gemeindearbeit zu gestalten und gemeinsames<br />
Personal (Pfarrer, Mitarbeiter für Kinder- und Jugendarbeit, Hausund<br />
Kirchwartin, Kirchenmusikerin, Küster) beschäftigen zu können.<br />
Doch wäre ohne das große Engagement Ehrenamtlicher die<br />
Gemeindearbeit nicht durchführbar.<br />
Seit 2004 gibt es auch eine gemeinsame Gemeindeleitung. Die Fusion<br />
und die Errichtung eines neuen Kirchengebäudes wurden beschlossen.
GRÜNDUNGSZEIT UND ENTFALTUNG DES<br />
GEMEINDELEBENS (<strong>1896</strong> <strong>bis</strong> 1933)<br />
Gemeindegründung am 1. Februar <strong>1896</strong> – Einweihung der<br />
Lazaruskirche am 14. Dezember 1907 – Pfarrer und<br />
Gemeindeleben – Einweihung des Gemeindehauses 1931 – mit<br />
70.000 Mitgliedern 1932 Berlins größte Gemeinde<br />
Im Februar <strong>1896</strong> informierten Plakate<br />
die evangelischen Bewohner jedes<br />
Hauses zwischen Rüdersdorfer <strong>St</strong>raße<br />
und Frankfurter Allee, zwischen<br />
Koppenstraße und Simon-Dach-<strong>St</strong>raße,<br />
dass sie aus ihrer <strong>bis</strong>herigen Gemeinde<br />
<strong>St</strong>. <strong>Markus</strong> (Kirche am <strong>St</strong>rausberger<br />
Platz) ausgemeindet worden waren und<br />
nunmehr zur Lazarus-Gemeinde<br />
gehörten. Über 54.000 Menschen waren<br />
davon betroffen. Neben Lazarus<br />
wurden auch Samariter und Auferstehung<br />
von <strong>St</strong>. <strong>Markus</strong> unabhängige,<br />
selbstständige Gemeinden.<br />
Diese Ausgründungen wurden einige<br />
Jahre vorbereitet. Damals war noch nicht<br />
das gesamte Gelände erschlossen. Es<br />
gibt ein eindrucksvolles Foto der<br />
Samariterkirche, das sie völlig freistehend<br />
auf Ackerland zeigt.<br />
Auch das später der Lazarus-Gemeinde<br />
zugewiesene Gebiet befand sich noch<br />
in städtebaulicher Entwicklung und<br />
wurde in den folgenden Jahren auf<br />
Grund starken Zuzugs mehr und mehr<br />
bebaut. Dabei dominierte die<br />
Mietskaserne, so dass die Zahl der<br />
Gemeindemitglieder rasch anstieg. Als<br />
Übergangslösung wurden für diesen<br />
Dieses Plakat informierte im Februar <strong>1896</strong> die ev.<br />
Christen rund um die Warschauer <strong>St</strong>raße über ihre<br />
neue Gemeindezugehörigkeit. Mehr als 54.000<br />
Menschen waren davon betroffen, für die in der<br />
Anfangszeit drei Pfarrer zuständig waren.<br />
11
Der erste Pfarrer war Otto Köster.<br />
49jährig und aus Wernigerode<br />
stammend, hatte er schon gut 10 Jahre<br />
an <strong>St</strong>. <strong>Markus</strong> amtiert und war dann mit<br />
dem Aufbau der neuen Gemeinde<br />
betraut worden. Drei Monate später, im<br />
Mai <strong>1896</strong>, wurde eine zweite Pfarrstelle<br />
eingerichtet und mit dem 30 Jahre alten<br />
Gutsbesitzersohn Max v. Gersdorff<br />
besetzt. In die dritte Pfarrstelle (am 1.<br />
Die Samariterkirche stand 1895 noch auf Februar 1897 geschaffen) berief man<br />
freiem Feld. Wenige Jahre später war sie von den ebenfalls 30 Jahre alten Johannes<br />
Mietskasernen umgeben. Lazarus erhielt eine große Roeber. Die drei Pfarrer begleiteten und<br />
Kirche erst 11 Jahre nach der Gemeindegründung. gestalteten die junge Gemeinde, und<br />
man rühmte besonders das Wirken<br />
Kösters (der Lazarus-Pfarrer Kracht pries ihn später als „selten<br />
geistesgewaltigen Prediger“). In ihre Amtszeit fielen der schwierige<br />
Beginn und die erste Entfaltung des Gemeindelebens.<br />
Der Bau einer großen Kirche wurde in Angriff genommen, war<br />
allerdings nicht einfach zu organisieren. Die Baupläne des Potsdamer<br />
Baurats Friedrich Wilhelm Wever lagen 1903 vor, aber es gab<br />
Schwierigkeiten, Baugrund zu finden und das Vorhaben zu finanzieren.<br />
So vergingen <strong>bis</strong> zur Grundsteinlegung in der Romintener <strong>St</strong>r. (heute<br />
Grünberger <strong>St</strong>r.)/Ecke Kadiner <strong>St</strong>raße volle zwei Jahre. Das<br />
Königshaus ließ sich zu diesem Ereignis am 20. Oktober 1905 durch<br />
den Kammerherrn v. Winterfeld vertreten, immerhin aber waren der<br />
Bürgermeister von Berlin und der <strong>St</strong>adtverordneten-Vorsteher neben<br />
12<br />
Bereich „Filialgottesdienste“ in der Aula<br />
der Schule in der Tilsiter <strong>St</strong>raße (heute<br />
Richard-Sorge-<strong>St</strong>raße) gehalten, <strong>bis</strong> dann<br />
die spätere Lazarus-Gemeinde am 19.<br />
Juni 1892 ein eigenes Gotteshaus erhielt,<br />
das aber bald den Ansprüchen nicht<br />
mehr genügte. Die Fachwerkkapelle bot<br />
700 Menschen Platz, war im Sommer<br />
heiß und an Festtagen überfüllt.
kirchlicher Prominenz<br />
anwesend. Die Einweihung<br />
der Kirche erfolgte<br />
am 14. Dezember 1907<br />
im Beisein des Kronprinzen.<br />
Der Berliner<br />
Lokalanzeiger berichtete<br />
am folgenden Tag: Als<br />
das Automobil des<br />
Kronprinzen am Portal<br />
vorfuhr, setzte ein Jubel der<br />
Jugend ein, der alles, auch die<br />
Begrüßungsansprache des<br />
Generalsuperintendenten<br />
Faber laut übertönte. Nach<br />
Übergabe des Schlüssels und<br />
Oeffnung der Kirchentür<br />
betrat der Kronprinz, dem<br />
zwei junge Damen [...]<br />
duftende Nelkensträuße für<br />
ihn und seine Gemahlin<br />
überreicht hatten, hinter den<br />
die heiligen Gefäße tragenden<br />
Kirchenältesten das strahlend<br />
Max v. Gersdorff (<strong>1896</strong>-<br />
1908) war neben Köster<br />
maßgeblich an der Gestaltung der<br />
Anfänge der Gemeindearbeit<br />
beteiligt. „Er macht einen sympathischen<br />
Eindruck, besitzt eine<br />
wohlklingende <strong>St</strong>imme” –<br />
urteilte der Generalsuperintendent<br />
von Magdeburg,<br />
nachdem er Gersdorffs Predigt am<br />
3. Advent 1907 in der<br />
Lazaruskirche gehört hatte.<br />
Otto Köster (<strong>1896</strong>-1910)<br />
kam von <strong>St</strong>. <strong>Markus</strong> und<br />
begleitete wesentlich die<br />
Ausgründung der Lazarus-<br />
Gemeinde. Unter seiner Leitung<br />
erfolgte der Bau der großen<br />
Lazaruskirche. „Ein selten<br />
geistesgewaltiger Prediger”<br />
lautete postum das Lob. Später<br />
wurde er Superintendent des<br />
Kirchenkreises Berlin <strong>St</strong>adt III<br />
(Teile von Prenzlauer Berg und<br />
Mitte).<br />
Ausschnitt aus einem Notizbuch, in dem Max v. Gersdorff als <strong>St</strong>udent seine Predigten niederschrieb.<br />
13
Wever war ein eindrucksvoller Bau<br />
gelungen; bald nannte der Volksmund<br />
die Lazaruskirche „Dom des Ostens“.<br />
Die Kirche mit einer Breite von 25<br />
Metern, einer Länge von 53 Metern und<br />
einer Höhe des Schiffes von 29 Metern<br />
bot Raum für 1.100 Sitzplätze (die<br />
maximale Besucherzahl wird mit 1.450<br />
angegeben). Auffällig waren der 66<br />
Meter hohe, eigenwillig gestaltete Turm<br />
und die Rosettenfenster an den Seiten –<br />
die größten in Berlin. Die Fenster des<br />
Altarraumes wurden allseits bewundert;<br />
sie stellten biblische Geschehnisse in<br />
Bethanien, der Heimat des Lazarus, dar.<br />
Reliefs mit Szenen aus den Evangelien<br />
Die „Interimskapelle” stellte eine schmückten die Emporen [s. Anhang].<br />
Zwischenlösung <strong>bis</strong> zum Bau der großen Lazaruskirche Um zusätzliche Mittel für die künstle-<br />
dar. Sie wurde am 19. Juni 1892 eingeweiht, war mit rische Ausstattung zu beschaffen, führte<br />
700 Plätzen jedoch bald zu klein für die Bedürfnisse Pfarrer Roeber mit 500 Mitspielern die<br />
der wachsenden Gemeinde. Heute steht die Festspiele „Luther und Melanchthon“<br />
Fachwerkkapelle in Lobetal.<br />
auf. Der aus den mehrfach wiederholten<br />
Veranstaltungen gewonnene Überschuss<br />
ermöglichte die Bezahlung sämtlicher Glasmalereien für die Fenster<br />
im Altarraum.<br />
14<br />
erleuchtete, <strong>bis</strong> auf das letzte Plätzchen gefüllte<br />
Innere der Kirche [...]<br />
Die Glocken für die Lazaruskirche hatte die Firma Voss & Sohn in<br />
<strong>St</strong>ettin gegossen. Es waren vier Bronze-Glocken, die in den Tönen<br />
„cis – e – g – b“ klangen und nach den Worten Kösters „ein vollendet<br />
schönes Geläut“ gaben. Die drei großen Glocken mussten im 1.<br />
Weltkrieg abgegeben werden, nur die kleinste verblieb der Gemeinde.<br />
Ersatz wurde erst 1922 durch drei von der Firma Ulrich und Weule,<br />
Apolda-Bockenem, gefertigten Eisenguss-Glocken mit den Tönen
„e – g – b“ geschaffen, zu deren<br />
Finanzierung man die letzte Bronze-<br />
Glocke verkaufte. Die Weihe des neuen<br />
Geläuts fand am 8. Oktober 1922 statt.<br />
Um 1908/1910 vollzog sich bei den<br />
Pfarrern ein Generationswechsel. Die<br />
drei <strong>bis</strong>herigen Pfarrer übernahmen<br />
andere Ämter. Köster ging zur Zions-<br />
Gemeinde in Berlin-Mitte, wurde<br />
Superintendent des Kirchenkreises Berlin<br />
<strong>St</strong>adt III (Teile von Prenzlauer Berg und<br />
Mitte) und blieb dort <strong>bis</strong> zu seiner<br />
Emeritierung im Jahre 1928. Roeber<br />
wurde Seemannsgeistlicher (wahrscheinlich<br />
in Brighton/England) und später<br />
Pfarrer der deutschen Gemeinde in<br />
Newcastle/England. Wegen des Beginns<br />
des 1. Weltkrieges – die deutsche<br />
Gemeinde wurde geschlossen – kam er<br />
nach vorübergehender Internierung in Der Altarraum der Kapelle.<br />
einem schottischen Lager nach<br />
Deutschland zurück, war zwei Jahre in der Altmark für die Betreuung<br />
mehrerer Dörfer zuständig und hatte ab 1916 das Pfarramt in Calbe/<br />
Saale inne. Er verstarb in Berlin und wurde auf dem Georgenfriedhof<br />
begraben.<br />
Pfarrer von Gersdorff bewarb sich um die 1. Domprediger-<strong>St</strong>elle in<br />
Naumburg/Saale. Sein Bewerbungsschreiben an das Domkapitel des<br />
Hochstifts Naumburg vom 30. Oktober 1907 gewährt Einblicke in<br />
die Zustände an der Lazarus-Gemeinde Anfang des 20. Jahrhunderts,<br />
die typisch für alle großen Berliner Gemeinden waren:<br />
„Im Dezember <strong>1896</strong> siedelten wir nach Berlin über; zur Bewerbung um meine<br />
jetzige <strong>St</strong>elle hatte mich besonders der Wunsch veranlaßt, eine größere Tätigkeit<br />
zu bekommen, und ich war dankbar, daß unter den 52 Bewerbern die Wahl auf<br />
mich fiel. In den 11 Jahren, die ich nun hier in einer Berliner Vorstadtgemeinde<br />
wirken darf, habe ich mich immer wohl und befriedigt gefühlt. Unter den großen,<br />
15
Die Lazaruskirche in der Romintener (heute<br />
Grünberger)/Ecke Kadiner <strong>St</strong>raße bestimmte weithin<br />
das <strong>St</strong>raßenbild und wurde im Volksmund „Dom des<br />
Ostens” genannt. Die massige Front des 66 Meter<br />
hoch aufragenden Turmes wirkte trutzig und ließ<br />
das Portal und die umgebenden Häuser klein<br />
erscheinen.<br />
16<br />
der Kirche entfremdeten Massen ist doch immer<br />
noch ein für Gottes Wort empfänglicher Kern.<br />
Wir haben guten Kirchenbesuch, und auch in<br />
der Sammlung von kleineren Kreisen zur<br />
Befestigung und Vertiefung in Gottes Wort ist<br />
die Arbeit nicht vergeblich gewesen. Wenn ich<br />
trotzdem daran denke, event. fortzugehen, so<br />
geschieht es hauptsächlich aus Rücksicht auf<br />
meine 3 Knaben, die im Alter von 13, 9 und 5<br />
Jahren stehen; ich kann mich bei meiner<br />
außerordentlich angespannten Berufstätigkeit in<br />
einer Gemeinde mit 70.000 Seelen – von denen<br />
20.000 etwa auf meinen Seelsorgebezirk<br />
kommen – wenig um die Erziehung meiner 3<br />
Kinder bekümmern und möchte ihnen auch<br />
etwas mehr Luft verschaffen [...]. Neben der<br />
Rücksicht auf meine Familie macht sich aber<br />
auch bei aller Befriedigung der Wunsch geltend,<br />
wieder einmal in überschaubare Verhältnisse<br />
zu kommen;<br />
man hat hier sehr oft das Gefühl, unter der<br />
uferlosen Fülle von Ansprüchen und<br />
Verpflichtungen zu ertrinken, und es muß<br />
manches, was man gern täte, aus Mangel an<br />
Zeit unterbleiben.“<br />
Der Generalsuperintendent von<br />
Magdeburg, der zur Beurteilung v.<br />
Gersdorffs dem Gottesdienst am 3.<br />
Advent um 18.00 Uhr beiwohnte,<br />
schilderte seine Eindrücke wie folgt: „Die Tags zuvor eingeweihte neue<br />
Kirche war <strong>bis</strong> auf den letzten Platz gefüllt. Ein neben mir sitzender Mann<br />
machte mich auf den am Altar erscheinenden Pastor aufmerksam: „das ist der<br />
Pastor v. Gersdorff, den höre ich gar zu gern!“ Die Zuhörerschaft schien,<br />
entsprechend dem Abendgottesdienst, meist den sog. Kleinen Leuten anzugehören.<br />
Den Umständen war dann auch die Predigt angemessen. [...] Überhaupt erscheint
Die Fenster des Altarraumes<br />
finanzierte man mit dem Erlös aus<br />
Aufführungen von christlichen<br />
Festspielen.<br />
Portal der Lazaruskirche. Rechts<br />
daneben eine Gedenktafel für die<br />
Gefallenen des 1. Weltkriegs.<br />
Die Lazaruskirche – vom Architekten Wever<br />
entworfen – wurde nach gut zweijähriger Bauzeit<br />
am Vorabend des 3. Advent, am 14. Dezember 1907,<br />
im Beisein des Kronprinzen eingeweiht.<br />
der Prediger als eine sehr ernste Persönlichkeit, der mehr an das Gewissen, als an<br />
den Intellekt seiner Hörer sich richtet.“<br />
Max v. Gersdorff wurde dann am 3. Mai 1908 in das Naumburger<br />
Amt gewählt und zugleich Superintendent. Er nahm sich am 1.<br />
November 1914 aus Kummer um seinen im Krieg gefallenen ältesten<br />
Sohn das Leben.<br />
17
„Die Auferweckung des Lazarus” – solche Reliefs mit Szenen der Heilsgeschichte schmückten die Emporen.<br />
18<br />
Das Innere der Lazaruskirche wirkte nicht<br />
wie ein Neubau, sondern mit roten Marmorsäulen<br />
und neugotischen Kreuz- und <strong>St</strong>erngewölben<br />
„geschichtlich geworden”. Der Kirchraum war reich<br />
geschmückt, u.a. mit Reliefs zu biblischen Szenen.<br />
Skulpturen an den Säulenkapitellen stellten neben<br />
anderen die Gesichter des ersten Pfarrers, Otto<br />
Köster, und des Architekten Friedrich Wilhelm<br />
Wever dar. Reiche Holzschnitzereien zierten Altar<br />
und Kanzel. Die drei großen elektrischen<br />
Kronleuchter waren der Kaiser-, Königs- und<br />
Kurfürstenkrone nachempfunden. Besonders die<br />
Fenstermalereien wurden gerühmt. Die Kirche<br />
verfügte über 1.100 Sitzplätze, das Kirchenschiff<br />
hatte eine Höhe von 29 Metern [s. Anhang].
Wegen der steigenden Zahl der Mitglieder wurden für die Lazarus-<br />
Gemeinde zwei weitere Pfarrstellen eingerichtet. In die 4. Pfarrstelle<br />
(1905 geschaffen) kam Hermann Wagner, in die 5. Pfarrstelle (1915)<br />
Otto Köhler. Köhler hatte (wie seine Enkelin Frau Ellen Lanz berichtet)<br />
eigentlich nicht – wie es der Vater wünschte – Pfarrer, sondern Offizier<br />
werden wollen und nahm auch am 1. und später am 2. Weltkrieg als<br />
Offizier teil. Ihm lag die „Kanzel“ nicht, aber er war ein aktiver und<br />
beliebter Seelsorger, der sein Amt auch für die Vertretung seiner<br />
politischen Ansichten zu nutzen verstand. Köhler besaß kirchenpolitischen<br />
Ehrgeiz und strebte eine Position in der Kirchenleitung an.<br />
Als sich dieses Ziel – vermutlich wegen seiner Zugehörigkeit zum<br />
Kreis um den ev. Pfarrer und Mitbegründer der liberalen Deutschen<br />
Demokratischen Partei Friedrich Naumann – nicht erfüllte, ging er aus<br />
Enttäuschung von Berlin fort und 1918 als Pfarrer an die <strong>St</strong>. Nikolaikirche<br />
nach Greifswald. Am 4. Januar 1946 verhaftete ihn die<br />
Johannes Roeber (1897-1908) hatte, bevor er nach Lazarus kam, an der <strong>St</strong>. <strong>Markus</strong>-<br />
Gemeinde amtiert. Dem Andenken Pfarrer Roebers widmete die Lazarus-Gemeinde später<br />
eine ihrer Kirchenglocken. Von 1909-1914 leitete er die dt. Gemeinde in Newcastle/<br />
England. Wegen des Ausbruchs des 1. Weltkrieges zeitweise in einem schottischen Lager<br />
interniert, kehrte er mittellos nach Deutschland zurück. Dieses Bild zeigt ihn (sitzend,<br />
in der Mitte) zusammen mit dem GKR der dt. Gemeinde in Newcastle im Jahre 1912.<br />
19
Otto Köhler (1915-1918)<br />
gehörte dem Kreis um den ev.<br />
Theologen und liberalen<br />
Politiker Friedrich Naumann<br />
an. Enttäuscht über fehlgeschlagene<br />
Bemühungen um<br />
eine Position in der Kirchenleitung<br />
ging er aus Berlin fort<br />
nach Greifswald. Nach dem 2.<br />
Weltkrieg wurde er unter<br />
falschen Anschuldigungen von<br />
sowjetischer Polizei verhaftet.<br />
Er verstarb in Lagerhaft.<br />
20<br />
sowjetische Militärpolizei in seinem Greifswalder<br />
Pfarrhaus. Man warf ihm die Zugehörigkeit zu einer an<br />
Kriegsverbrechen beteiligten Wehrmachtseinheit vor –<br />
eine Anschuldigung, die erwiesenermaßen unbegründet<br />
war – und verbrachte ihn in das Speziallager 10 in Torgau,<br />
wo er am Heiligen Abend 1946 infolge allgemeiner<br />
Erschöpfung starb. [Diese Informationen stellte uns<br />
freundlicherweise Sup. i.R. Rainer Neumann (Greifswald)<br />
zur Verfügung.] Köhler wird in das „Märtyrer-Buch“<br />
aufgenommen, dessen Herausgabe die EKD vorbereitet.<br />
In dieser „2. Pfarrer-Generation“ Anfang des 20.<br />
Jahrhunderts gab es häufig Wechsel in den Pfarrstellen,<br />
nur Hermann Wagner, Kurt Baumert und Otto Schulz<br />
blieben mit 14, 10 bzw. 7 Jahren länger im Amt. Vier<br />
von fünf Pfarrern verließen die Lazarus-Gemeinde in<br />
den Revolutionsjahren 1918/1919.<br />
Dann folgte eine Phase größerer Kontinuität. Alle fünf<br />
Pfarrstellen blieben die gesamte Zeit der Weimarer<br />
Republik bzw. darüber hinaus mit denselben Pfarrern<br />
besetzt. Diese hatten zwar ganz unterschiedliche<br />
Arbeitsweisen und theologische Ausrichtungen, dennoch<br />
wurden diese Jahre später als die „größten“ für Lazarus<br />
empfunden.<br />
Gustav Lengning, gebürtig in Seeburg/Ostpreußen als<br />
Sohn eines Amtsgerichtssekretärs, war schon 50 Jahre<br />
alt, als er 1916 das Pfarramt in der Gemeinde antrat.<br />
Besonders engagiert in der Jugendarbeit, sammelte er einen Kreis von<br />
Jugendlichen um sich. Am 2. Juli 1933 nahm er die Trauung von 47<br />
Brautpaaren der Deutschen Christen an Lazarus vor. Seine Emeritierung<br />
auf eigenen Wunsch erfolgte im gleichen Jahr.<br />
Der Berliner Fritz Sasse war noch keine 30 Jahre alt, als ihm 1918 die<br />
4. Pfarrstelle der Gemeinde übertragen wurde. Er hatte einen Hang<br />
zum Militärischen. Seit 1916 war er Festungsgarnisonpfarrer in Danzig<br />
und zum Ende des Krieges Feldgeistlicher. Während des Krieges erhielt<br />
er das Eiserne Kreuz II, die Rot-Kreuz-Medaille III, später auch das<br />
Ehrenkreuz für Frontkämpfer. Er gehörte der Loge „Zu den drei
Weltkugeln“ an, einer von neun, 1933 insgesamt 76.000<br />
Mitglieder umfassenden Freimaurer-Großlogen in<br />
Deutschland, und war ein Jahr lang deren Vorsitzender<br />
(„Meister vom <strong>St</strong>uhl“). Seine Frau leitete die Frauenhilfe<br />
der Gemeinde.<br />
Sasse wollte Lazarus verlassen, nachdem es offenbar<br />
Spannungen mit den Amtsbrüdern und der<br />
Gemeindeleitung gegeben hatte. Nach einer fehlgeschlagenen<br />
Bewerbung an einer anderen Berliner Gemeinde<br />
wollte er auch Berlin den Rücken kehren und bewarb<br />
sich 1932 in Krahne, Krs. Lehnin. In einem Empfehlungsschreiben<br />
aus der Superintendentur für den<br />
Superintendenten in Lehnin hieß es: „Er ist ein guter<br />
Prediger und ein treuer Seelsorger und durchaus national<br />
gesonnen.“ Sasses Passion für das Militärische geht auch<br />
aus seinem in Krahne gestellten Antrag auf Urlaub hervor.<br />
In diesem Urlaub wollte er an einer militärischen Übung<br />
teilnehmen, weil er dann im Kriegsfall gleich Offizier<br />
Gustav Lengning (1916-<br />
1933) nahm am 2. Juli 1933<br />
die berüchtigte Massentrauung<br />
der „Deutschen Christen” der<br />
Lazarus-Gemeinde vor.<br />
Glockenweihe am 8. Oktober 1922. Das ursprüngliche Bronze-Geläut hatte im 1. Weltkrieg<br />
abgegeben werden müssen. Die drei Eisenguss-Glocken - von der Firma Ulrich und Weule in Apolda-<br />
Bockenem gegossen - bildeten den Ersatz, <strong>bis</strong> 1936 erneut ein Bronze-Geläut angeschafft wurde.<br />
21
Fritz Sasse (1918-1932)<br />
gehörte der Freimaurerloge „Zu<br />
den drei Weltkugeln” an. Der<br />
Superintendent urteilte: „Er ist<br />
ein guter Prediger und ein treuer<br />
Seelsorger und durchaus<br />
national gesonnen.” Sasse geriet<br />
später in gefährliche Konflikte<br />
mit den Nazis. Seinem Sohn,<br />
wegen „politischer Äußerungen”<br />
verhaftet, hatte er das Todesurteil<br />
zu überbringen.<br />
22<br />
werden könne und ihm diese Übungen ein „Jungbrunnen<br />
für Leib und Seele“ seien.<br />
Einen Eindruck von Sasses Persönlichkeit vermitteln auch<br />
folgende Schilderungen: „Er sei ein Feuerwehrmann gewesen,<br />
auch Inspektor aller Freiwilligen Feuerwehren im Kreis Zauche-<br />
Belzig. Er sei sehr trinkfest gewesen. Gelegentlich habe er an langen<br />
Sonnabend-Versammlungen der Feuerwehr mitgemacht und sei dann<br />
erst am Sonntag morgens nach hause gekommen, habe sofort den<br />
Talar über die Feuerwehrkluft gezogen und Gottesdienst gehalten.“<br />
1939 wechselte Sasse nach Berlin-Johannisthal, nachdem<br />
es mit dem Ortsgruppen- bzw. Bezirksleiter der NSDAP<br />
gefährliche Spannungen gegeben hatte. Sein Sohn<br />
Johannes wurde als Unteroffizier wegen politischer<br />
Äußerungen verhaftet und am 19. Juni 1944 hingerichtet.<br />
Sasse hatte ihm das Urteil des Reichsgerichts zu überbringen<br />
und war in den letzten <strong>St</strong>unden und bei der<br />
Vollstreckung bei ihm. Pfarrer Sasse erkannte man später<br />
als „Opfer des Faschismus“ an. [Die Mitteilungen zu<br />
Pfarrer Sasse verdanken wir der freundlichen Mithilfe<br />
von Pfarrer i.R. Pachali, der 1974 nach Krahne kam und<br />
dort Menschen traf, die Pfarrer Sasse noch kannten.]<br />
Paul Eichler, 1864 in Delitzsch als Sohn eines Fabrikbesitzers<br />
geboren, war lange im Ausland als Pfarrer<br />
deutscher Gemeinden: an <strong>St</strong>. Petri in Kopenhagen (1895)<br />
und in Antwerpen (1899 <strong>bis</strong> 1919). Sein Amtsantritt in<br />
der Lazarus-Gemeinde im Jahre 1919 war nicht unumstritten; die<br />
Wahl fiel mit 22 gegen 16 <strong>St</strong>immen recht knapp aus. In einem<br />
Rundschreiben der „Positiven Fraktion der Lazarus-Kirchen-Gemeinde“<br />
(„Bibeltreue“) vom 28. Juli 1919 hieß es:<br />
„Sehr geehrter Herr Kollege! Am Sonntag, dem 3. August 1919, wird die<br />
Einführung des Pfarrers stattfinden. Unser Interesse an diesem Ereignis ist ja<br />
bekannt, da wir dem einzuführenden Herrn in religiöser Anschauung fremd<br />
gegenüberstehen. In Erwägung ziehen möchte ich jedoch, ob aus politischen Gründen<br />
eine Beteiligung unsererseits an dieser Einführung geboten scheint.<br />
Nach meinem Dafürhalten ja!
Ich würde es nicht für klug halten, wenn unsere Fraktion durch<br />
Abwesenheit demonstrieren sollte. Eine mündliche Besprechung halte<br />
ich nicht für nötig, stelle es jedem Mitgliede frei, selbst darüber zu<br />
bestimmen; würde aber eine Beteiligung mehrerer Herren immerhin<br />
begrüssen. Mit treu positivem Gruss! H. Helm, Vorsitzender“<br />
Diese Gruppe stand der „positiven Theologie“ nahe, einer<br />
konservativen Richtung, die im Gegensatz zur „liberalen“<br />
und „historisch-kritischen“ Betrachtungsweise an der<br />
biblischen Vorstellungswelt und den dogmatischen<br />
Aufbahrung Pfr. v. Schneidemessers in der<br />
Lazaruskirche für die Trauerfeier am 17. Oktober 1934<br />
vor seiner Überführung nach Naumburg/Saale.<br />
Johannes v. Schneidemesser<br />
(1919-1934), Sohn<br />
des Superintendenten, war<br />
Vorstands- und später Ehrenmitglied<br />
der „Glaubensgemeinschaft<br />
für biblisches Christentum”<br />
(„Positive Fraktion”) an<br />
der Lazarus-Gemeinde. Diese<br />
Gruppe stand im Gegensatz zur<br />
„liberalen Theologie” und hielt<br />
an der Bibel und den dogmatischen<br />
Traditionen fest.<br />
23
Traditionen (z.B. die Geburt Jesu von<br />
der Jungfrau) festhielt.<br />
Der „Positive Parochialverein“ gab ein<br />
eigenes Informationsblatt heraus und<br />
hatte in der Lazarus-Gemeinde <strong>bis</strong> in<br />
die 30er Jahre hinein Gewicht; dann<br />
wurde er von den Deutschen Christen<br />
verdrängt.<br />
Die „Positive Fraktion“ der Lazarus-<br />
Der Lazarus-Bote war ein Informationsblatt, das Gemeinde nahm auch weiterhin an<br />
die konservative und <strong>bis</strong> in die 30er Jahre einflussreiche Eichler Anstoß, der nach ihrem Empfin-<br />
„Positive Fraktion” herausgab.<br />
den die „Positiven“ herabwürdigte. Eichler<br />
wurde in der gesellschaftlich aufgeheizten<br />
Situation zu Beginn der Weimarer Republik darüber hinaus das<br />
Politisieren von der Kanzel vorgeworfen. Die spannungsgeladene<br />
Atmosphäre der Zeit wird auch an einem weiteren Beispiel deutlich.<br />
Pfarrer Kracht, der ebenfalls 1919 an die Lazarus-Gemeinde<br />
gekommen war, beschwerte sich beim Konsistorium, dass Eichler zu<br />
einer Gemeindeveranstaltung zum Thema der Kirchenwahlen 1920<br />
ein „rotes Plakat“ am „Jahrestag der russischen Revolution“ ausgehängt<br />
hatte, was sein „nationales Empfinden“ beleidige.<br />
Der Superintendent Dr. Karl v. Schneidemesser erlebte Eichler als ein<br />
„cholerisches Temperament von seltener Unverfrorenheit“ und als<br />
einen Mann „vieler Worte“. Eichlers Amtszeit endete 1933 mit der<br />
Emeritierung.<br />
Johannes v. Schneidemesser, 1882 in Schlesien geboren, war Sohn des<br />
Superintendenten von Berlin <strong>St</strong>adt I (Friedrichshain sowie kleine Teile<br />
von Prenzlauer Berg und Mitte) Dr. Karl v. Schneidemesser. Wie Sasse<br />
fand er seine Aufgabe lange beim Militär. Nach seiner Ordination im<br />
Jahre 1911 war er Militär-Hilfsgeistlicher, 1912 Divisionspfarrer in<br />
Diedenhofen/Lothringen und zum Ende des Krieges Divisionspfarrer<br />
in Essen (Ruhr). Von 1919 <strong>bis</strong> zu seinem frühen Tode im Jahre 1934<br />
hat er in der Gemeinde Spuren hinterlassen. Er war als Vorstandsund<br />
später Ehrenmitglied der Gemeindegruppe der „Glaubensgemeinschaft<br />
für Biblisches Christentum“ („Positive Fraktion“) gewissermaßen der<br />
Antipode zum „kritischen Theologen“ Eichler. Schneidemesser war<br />
auch in der Provinzialsynode im Bereich der Verwaltung aktiv. Seiner<br />
24
Bestattung in Naumburg/Saale ging eine große Trauerfeier<br />
in seiner Heimatgemeinde voraus. In der Zeit des<br />
„Kirchenkampfes“ seit 1933, als die „Positiven“ die<br />
Lehren und den Bestand der ev. Kirche nicht mehr<br />
vorrangig durch die „Kritischen“, sondern durch die<br />
Deutschen Christen mit ihrem Antijudaismus, dem<br />
völkischen Gedankengut und den unbiblischen Neuerungen<br />
verfälscht und gefährdet sahen, bekämpften sie diese<br />
neue Gruppe an der Lazarus-Gemeinde.<br />
Moritz Kracht, in Datzow/Rügen als Sohn eines<br />
Gutsbesitzers geboren, kam 1919 im Alter von 36 Jahren<br />
nach Lazarus. Zuvor hatte er zahlreiche andere Pfarrstellen<br />
inne, unterbrochen von seiner Teilnahme am Krieg von<br />
1914 <strong>bis</strong> 1916 (Eisernes Kreuz II). Danach war er Felddivisionspfarrer<br />
und Referent beim Korps. Kracht bekleidete<br />
mehrere Nebenämter, z.B. die geistliche Versorgung der<br />
Irrenanstalt und des Gefängnisses in Preußisch <strong>St</strong>argard<br />
sowie von Altersheimen. Er war Krankenhausseelsorger<br />
im Krankenhaus Friedrichshain und von 1936 <strong>bis</strong> 1942<br />
Dezernent für Kirchensteuern und Kirchhöfe in der<br />
<strong>St</strong>adtsynode. 30 Jahre hatte er die 5. Pfarrstelle der<br />
Gemeinde inne, so lange wie kein anderer Pfarrer. Er<br />
kümmete sich während seiner Amtszeit vor allem um<br />
das Kirchengebäude, die Orgel und die Glocken und<br />
führte lange die Geschäfte. Nach dem 2. Weltkrieg wurde<br />
er auf Betreiben seiner Kollegen und des<br />
Gemeindekirchenrats versetzt. Man hatte u.a. an Krachts<br />
Alleingängen und Anmaßungen, die dieser wohl aus seiner<br />
langen Dienstzeit ableitete, Anstoß genommen.<br />
Vom Gemeindeleben, das in seinen Grundzügen exemplarisch für<br />
die Arbeit einer Berliner <strong>Kirchengemeinde</strong> steht, ist lediglich<br />
Summarisches und wenig Konkretes zu erfahren. Sonntags gab es<br />
den Hauptgottesdienst um 10.00 Uhr, einen separaten Kindergottesdienst<br />
um 12.00 Uhr sowie einen Abendgottesdienst um 18.00 Uhr.<br />
An Gemeindeveranstaltungen finden besonders Aussprachekreise und<br />
Moritz Kracht (1919-1948)<br />
kümmerte sich während seiner<br />
langen Amtszeit vor allem um<br />
die Kirche, die Orgel und die<br />
Glocken. Er war u.a.<br />
Dezernent für Kirchensteuern<br />
und Kirchhöfe in der<br />
<strong>St</strong>adtsynode. Während der NS-<br />
Zeit stand er in Gegnerschaft<br />
zu den „Deutschen Christen”.<br />
(Hier auf einer Aufnahme aus<br />
dem Jahre 1954.)<br />
25
26<br />
Singabende Erwähnung. Es fanden große Konzerte statt, bei denen<br />
die Kirche – wie z.B. an den Karfreitags-Musiken – überfüllt war.<br />
Die Lazaruskirche diente stets als Ort für Veranstaltungen zahlreicher<br />
Vereine sowie gemeindlicher und übergemeindlicher Einrichtungen<br />
(z.B. 108. Jahrfeier der preußischen Hauptbibelgesellschaft, Bannerweihe<br />
des Arbeiter- und Volksvereins, Wimpelweihe des Jungmännervereins).<br />
An Einrichtungen sind zu erwähnen: die Oberlinstation IX,<br />
eine Diakonissenstation, die X. Pflegestation des „Kirchlichen<br />
Hülfsvereins“, eine Krankenpflegestation und eine Kleinkinderschule<br />
auf dem Kirchengrundstück. Es gab einen Verein Alter Frauen, die<br />
Oberlin-Frauenhilfe, einen Nähverein zur Unterstützung der Armen.<br />
Erwähnt werden auch ein Nähverein der Frauenhilfe, ein Gustav-<br />
Adolf-Verein und der Ev. Elternbund. Außerdem wurden kirchliche<br />
Jugendpflege und eine Kindertagesstätte betrieben. Zur Einrichtung<br />
der gemeindlichen Kleinkinderschule war in der Abendausgabe des<br />
Reichsboten vom 2. Juni 1920 zu lesen:<br />
„Eine Kleinkinderschule, ein schmucker Neubau hinter der Lazaruskirche, ist<br />
am Sonntag im Anschluß an den Vormittagsgottesdienst unter zahlreicher<br />
Beteiligung der Gemeindekörperschaften und vieler Kinderfreunde im kinderreichen<br />
Osten (die Lazarusgemeinde zählt über 65.000 Seelen) feierlich eröffnet. Pfarrer<br />
Lengning wies in seiner packenden Festansprache auf die in dunkler Gegenwart<br />
doppelt nötige Liebespflicht hin, die Kleinsten (3-6jährigen Kinder), deren Mütter<br />
tagsüber auf Arbeit sind, körperlich und sittlich stark zu machen, damit sie<br />
einst mithelfen können am Wiederaufbau des Vaterlandes. Seit Oberlin und<br />
seiner treuen Gehilfin Luise Scheppler (1779) ist diese Liebesarbeit von der<br />
evangelischen Kirche und ihrer Inneren Mission mit besonderem Eifer gepflegt. –<br />
22 Jahre hat die alte Schule in unzulänglichen Räumen, Gubener <strong>St</strong>r. 12a,<br />
bestanden; jetzt hat sie dank der Mithilfe der staatlichen, städtischen und kirchlichen<br />
Behörden ein neues Heim bezogen, und von Sonne umflutet können die Kleinen<br />
auf dem grünen Kirchenplatz sich nach Herzenslust tummeln. Pfarrer Eichler<br />
fügte zum Dank an alle Beteiligten die Bitte um Liebesgaben für die noch<br />
mangelhafte Inneneinrichtung, und eine sofortige Sammlung ergab 585 Mk. Der<br />
Bau selbst, bestehend aus dem 10 mal 6 Meter großen Schulsaal, Küche,<br />
Badezimmer und Krankenstube, kostet etwa 50.000 Mk. Es sind zur Zeit 60<br />
Kinder da, von denen die Hälfte täglich gespeist wird, unter der Leitung einer<br />
ausgebildeten Kleinkinderschullehrerin und einer Helferin.“
Einen ungefähren Eindruck von der kirchlichen Arbeit mit Kindern<br />
vor 1933 vermittelt ein Antrag des späteren Pfarrers und Leiters des<br />
Kinderhortes Pfarrer Lagrange auf einen finanziellen Zuschuss von<br />
der Kirche für diese Einrichtung vom 19. März 1934:<br />
„Seit meinem Amtsantritt am 1. Febr. dieses Jahres übernahm ich von meinem<br />
Vorgänger eine kinderhortähnliche Einrichtung, „Offene Tür“ genannt. Ihr Zweck<br />
war, für die Nachmittagsstunden des Tages die Kinder von der <strong>St</strong>raße zu ziehen<br />
und sie unter eine gewisse Aufsicht durch Hortnerinnen zu stellen. Die Mittel<br />
dazu wurden zunächst vom Freiwilligen Arbeitsdienst getragen, so lange die offenen<br />
Arbeitsdienstlager bestanden, später beschaffte mein Amtsvorgänger, Pfarrer<br />
Lengning, die notwendigsten Mittel aus privaten Quellen. Mit dem System der<br />
Offenen Tür verbundene Missstände führten zu der von verschiedenen Seiten<br />
erwogenen Forderung der völligen Abschaffung dieser „Kinderbewahranstalt“, und<br />
ich habe mich davon überzeugen können, dass die Klagen nicht unberechtigt waren,<br />
die Unternehmung aber an und für sich gut und dringend notwendig in unserer<br />
Gegend ist. Ich habe daher die „Offene Tür“ in einen regelrechten Kinderhort<br />
umgewandelt mit straffer Disziplin, festen Besuchszeiten, festem <strong>St</strong>undenplan und<br />
dergleichen.“<br />
Die Kadiner <strong>St</strong>raße mit Blick nach Süden zur Lazaruskirche. Die Häuserschluchten<br />
der Mietskasernen bildeten soziale Brennpunkte, derer sich die Lazarus-Gemeinde mittels<br />
verschiedener diakonischer Einrichtungen annahm, wie z.B. durch den Bau einer<br />
Kleinkinderschule.<br />
27
28<br />
Anfang der 30er Jahre war Lazarus mit 70.000 Mitgliedern größte<br />
Gemeinde Berlins. Deshalb machte man sich in der Gemeindeleitung<br />
Gedanken über die Ausweitung des Gebäudebestandes, um für die<br />
verschiedenen Zwecke entsprechende Räume zur Verfügung zu haben.<br />
Jedoch standen – wie schon bei der Errichtung der Kirche – auch<br />
beim Bau eines Gemeindehauses vor allem finanzielle Schwierigkeiten<br />
im Wege; die Gemeindeleitung musste sich daher von großen Plänen<br />
verabschieden. Regierungsbaumeister a.D. Hans Jessen projektierte<br />
einen Bau nach den Wünschen und Möglichkeiten der Gemeinde.<br />
Am Erntedanktag, dem 5. Oktober 1930, konnte nach langjährigen<br />
Verhandlungen um Grundstück und finanzielle Beihilfen der<br />
Grundstein in der Memeler <strong>St</strong>r. 53/54 (heute Marchlewskistr. 40) gelegt<br />
werden. Der Generalsuperintendent von Berlin, D. Karow, vollzog<br />
die Weihe des Grundsteins [s. Anhang]. Pfarrer v. Schneidemesser<br />
schrieb zu diesem Tag als Vorstand des „Positiven Parochialvereins“ der<br />
Lazarus-Gemeinde im Lazarus-Boten:<br />
Briefkopf des Architekten des Gemeindehauses in der Memeler <strong>St</strong>raße (heute<br />
Marchlewskistraße). Der namhafte Berliner Regierungsbaumeister a.D. Hans Jessen war<br />
ein Vertreter des modernen Bauens wie Bruno Taut (z.B. „Hufeisensiedlung”, Siedlung<br />
„Onkel-Toms-Hütte”) oder Walter Gropius. Da Jessen kurz nach der Grundsteinlegung<br />
verstarb, wurde der Bau unter Leitung des Architekten March fertiggestellt. March<br />
wurde später mit der Planung der Bauten für das ehem. Reichssportfeld (Olympiastadion,<br />
Olympisches und Marathon-Tor, Waldbühne, Glockenturm…) berühmt.
„Der Positive Parochialverein erlebt wieder<br />
eine Zeit wie damals, als vor 25 Jahren unsere<br />
schöne Kirche gebaut wurde. Viele unserer<br />
Mitglieder wissen noch davon. Da war es eine<br />
Freude, mitzuhelfen und zu spenden zur<br />
Inneneinrichtung der Kirche. [...] Heute wird<br />
die wirtschaftliche Not und die schwere Zeit<br />
nur kleine Gaben und Spenden zur<br />
Ausrüstung unseres Gemeindehauses gestatten,<br />
aber die Liebe muß auch wieder wach werden<br />
wie ehedem, und die Freude am Mitbauen und<br />
Aufbauen unseres Gemeindelebens, das im<br />
Gemeindehause einen neuen Mittelpunkt<br />
erhalten soll, soll Herzen und Hände unserer<br />
Glieder und Freunde wieder in Bewegung<br />
setzen.“<br />
Das Gemeindehaus wurde 1931 eingeweiht.<br />
Architektonisch und funktional gehörte es damals<br />
zu den modernsten Bauten der Umgegend.<br />
Regierungsbaumeister a.D. Hans Jessen starb am 17. November 1930<br />
kurz nach der Grundsteinlegung. Der Bau wurde 1931 unter Leitung<br />
von Architekt March fertiggestellt, der später u.a. im Zusammenhang<br />
mit dem Bau des Berliner Olympiastadions berühmt werden sollte.<br />
Die Einweihung des Gemeindehauses erfolgte am 25. Oktober 1931;<br />
die Weiherede hielt Generalsuperintendent D. Karow.<br />
29
NATIONALSOZIALISMUS (1933 <strong>bis</strong> 1945)<br />
Bewerbung Bonhoeffers – Massentrauung am 2. Juli 1933 –<br />
Deutsche Christen – Glocken – Zerstörung der Kirche am 13.<br />
April 1945<br />
Der Beginn und die Etablierung der<br />
nationalsozialistischen Herrschaft fielen in der Lazarus-<br />
Gemeinde auffällig mit einem abermaligen<br />
Generationswechsel der Pfarrer zusammen. Von den<br />
fünf Pfarrern der dritten Generation, die um 1919 in<br />
die Pfarrstellen gekommen waren, ging Sasse 1932 von<br />
Berlin fort, Eichler und Lengning wurden 1933 emeritiert<br />
und v. Schneidemesser starb 1934. Pfarrer Kracht bildete<br />
eine Ausnahme; er leitete daraus offenbar auch gewisse<br />
Ansprüche ab und versuchte, seinen Einfluss auszuweiten.<br />
Um eine der vakanten Pfarrstellen bewarb sich der<br />
gerade 27jährige <strong>St</strong>udentenpfarrer Dietrich Bonhoeffer,<br />
doch unterlag er bei der Wahl am 23. Mai 1933 seinem<br />
Mitbewerber Kurt Schwarz mit 33 zu 40 <strong>St</strong>immen.<br />
Bonhoeffer hatte – wie aus einem Brief an Pfarrer v.<br />
Schneidemesser hervorgeht – mit diesem Ergebnis<br />
Dietrich Bonhoeffer bewarb<br />
sich 1933 um ein Pfarramt in<br />
der Lazarus-Gemeinde. Er un-<br />
gerechnet und eine erneute Bewerbung nicht ausgeschlosterlag seinem Mitbewerber Kurt<br />
sen. Dazu kam es allerdings nicht mehr; wenige Wochen<br />
nach der Wahl im Mai 1933 wurde er angesprochen, ob<br />
Schwarz mit 33 zu 40 <strong>St</strong>immen.<br />
er als Auslandspfarrer nach London gehen würde. Im Oktober 1933<br />
trat er bei den dortigen deutschen Gemeinden Sydenham und <strong>St</strong>. Paul<br />
seinen Dienst an, kehrte später nach Deutschland zurück und griff<br />
aktiv in den Kirchenkampf ein.<br />
Anstelle des jungen Privatdozenten wählte die Lazarus-Gemeinde den<br />
49jährigen Kurt Schwarz. Seine erste Pfarrstelle hatte der gebürtige<br />
Berliner in Rampitz an der Oder und war dort durch seine<br />
unkonventionellen Methoden aufgefallen. „Als bei den ersten Predigten<br />
der Besuch spärlich war, verschob er kurzerhand den Gottesdienstbeginn um eine<br />
<strong>St</strong>unde, ging in alle Häuser und forderte, dass er um die neue Uhrzeit jemand aus<br />
dem Haus in der Kirche sehen wolle. Er hatte Erfolg, später kamen die<br />
Gottesdienstbesucher freiwillig, weil ihnen die Predigten gefielen“, berichtet sein<br />
31
Gleich nach dieser Wahl setzten die<br />
Deutschen Christen der Lazarus-Gemeinde<br />
ein über die engere Region hinaus<br />
wirkendes, eindrucksvolles Fanal, mit<br />
dem sie ihre Macht und ihre Veranke-<br />
Das Protokollbuch des Gemeindekirchenrung in weiten Teilen der ansässigen<br />
rates verzeichnete das Abstimmungsergebnis: Bevölkerung demonstrierten. Am 2. Juli<br />
Bonhoeffer unterlag seinem Mitbewerber Kurt<br />
1933 fand in der Lazaruskirche eine<br />
Schwarz mit 33 zu 40 <strong>St</strong>immen.<br />
Massentrauung der Deutschen Christen<br />
statt, an der 47 Brautpaare aus der<br />
Gemeinde teilnahmen. Fotos zeigen den festlichen Einzug der Eheleute,<br />
die Männer in SA-Uniform, unter der mit Hitlergruß jubelnden,<br />
zahlreich erschienenen Nachbarschaft. Der Altarraum war mit<br />
Hakenkreuzfahnen „geschmückt“. Die Trauung nahm Pfr. Lengning<br />
vor.<br />
Propagandaminister Goebbels kommentierte diese Massentrauung<br />
mit den Worten: „Zurückgewonnen für die Kirche durch die<br />
Glaubensbewegung der Deutschen Christen“. Die Glaubensbewegung<br />
Deutsche Christen (D.C.) war 1932 von Joachim Hossenfelder gegründet<br />
worden und stellte eine Bewegung innerhalb der Deutschen Ev. Kirche<br />
dar. Die D.C. erstrebten Veränderungen der kirchlichen Organisation<br />
32<br />
Neffe Wolfgang Schwarz. Sein Onkel<br />
sei ein sehr guter Germanist, brillanter<br />
Redner und scharfer Analytiker gewesen,<br />
der engagiert und in schwieriger Zeit<br />
hilfsbereit seinen Dienst versehen und<br />
viele Hausbesuche gemacht habe. Als<br />
Schwarz 1933 nach Lazarus kam, rangen<br />
die einzelnen Gemeindegruppen (Positive,<br />
Liberale, Deutsche Christen) um den<br />
maßgeblichen Einfluss, und es gibt<br />
Anhaltspunkte dafür, dass diese Pfarrwahl<br />
davon nicht unberührt geblieben<br />
ist. In der Folgezeit erwies sich Pfarrer<br />
Schwarz als Gegner der Deutschen<br />
Christen.
(z.B. mit der Forderung nach einer straff zentralisierten,<br />
einheitlichen ev. Reichskirche) und eine Verkündigung nach<br />
nationalsozialistischen Grundsätzen (Ausscheidung aller<br />
„jüdischen Elemente“, Betonung des völkischen<br />
Gedankens, Einfügung der Kirche in die nationalsozialistische<br />
Politik). Die Glaubensbewegung Deutsche Christen<br />
bildete die Plattform für Christen, die Mitglied der<br />
NSDAP waren und trotzdem nicht aus der Kirche<br />
austreten wollten.<br />
Die Massentrauung stand im Kontext mit den Wahlen<br />
zu den Gemeindekörperschaften im Bereich der Landeskirche<br />
am 23. Juli 1933 – es war Wahlkampfzeit! Die<br />
preußischen Generalsuperintendenten hatten für Sonntag,<br />
den 2. Juli 1933, zu einem „Buß- und Betgottesdienst“<br />
aufgerufen, der deutsch-christliche Oberkirchenrat<br />
forderte dagegen ein der „nationalsozialistischen<br />
Revolution“ ergebenes und bekennendes Zeichen in Form<br />
von „Dankgottesdiensten“. An diesem Tag sollten nach<br />
Anordnung der deutsch-christlichen Kirchenleitungen in<br />
ganz Preußen diese „Dankgottesdienste“ unter Beflaggung<br />
der Kirchen auch mit der Hakenkreuzfahne gefeiert<br />
werden. Auf diese Weise musste es zu einer für alle<br />
sichtbaren Entscheidung der Gemeinden kommen;<br />
entweder dafür (mit der in Aussicht gestellten „Ruhe“)<br />
oder dagegen (mit den zu erwartenden Konsequenzen). Den<br />
tatsächlichen Machtverhältnissen entsprechend fanden an diesem Tag<br />
überall in Berlin von den Deutschen Christen initiierte und inszenierte<br />
Dank-, Fest- und Bittgottesdienste in mit Hakenkreuzfahnen behängten<br />
Kirchen statt.<br />
In Lazarus hatte man sich für eine Massentrauung entschieden. Doch<br />
scheint dieses Vorhaben, wenn es auch mit Effekt inszeniert und dazu<br />
geeignet war, den Rückhalt der deutsch-christlichen Bewegung in der<br />
Bevölkerung zu demonstrieren, kaum Unterstützung in der Pfarrerschaft<br />
gefunden zu haben. Es steht zu vermuten, dass sich so leicht<br />
kein Pfarrer fand, der diesen Missbrauch einer kirchlichen Handlung<br />
für Demonstrationszwecke unterstützte. Lengning stellte sich<br />
Kurt Schwarz (1933-1949)<br />
versuchte, den Einfluss der<br />
„Deutschen Christen” an der<br />
Gemeinde zurückzudrängen.<br />
Er geriet nach dem Krieg in<br />
Konflikt mit den neuen Machthabern<br />
und ging nach West-<br />
Berlin, um seine Familie zu<br />
schützen.<br />
33
Machtdemonstration der „Deutschen Christen” von Lazarus im Jahre 1933: Die Brautpaare<br />
werden auf dem Weg zur Kirche von der Bevölkerung gefeiert.<br />
34<br />
möglicherweise nur zur Verfügung, weil er unmittelbar vor seiner<br />
Emeritierung stand. Die Veranstaltung wurde ohne Beschluss der<br />
Gemeindeleitung organisiert und durchgeführt. Die Pfarrerschaft und<br />
der Gemeindekirchenrat auf der einen und ein großer Teil der Gesamtgemeinde<br />
auf der anderen Seite vertraten zu dieser Zeit kirchlichreligiös<br />
und politisch divergierende Anschauungen. Noch waren die<br />
Deutschen Christen mit nur fünf von 13 Kirchenältesten in der Gemeindeleitung<br />
unterrepräsentiert.<br />
Das änderte sich mit der Kirchenwahl vom 23. Juli 1933. Sie brachte<br />
den Deutschen Christen der Lazarus-Gemeinde einen überwältigenden<br />
Sieg. Mit 13 Kirchenältesten gegen vier Gewählte der gegnerischen
Mit der Massentrauung der „Deutschen Christen” in der Lazaruskirche am 2. Juli 1933 ging die<br />
Gemeinde in die Geschichtsbücher ein. 47 Brautpaare – die Ehemänner in SA-Uniform – ließen sich an<br />
diesem Tag vor dem mit Hakenkreuzfahnen verhängten Altar von Pfarrer Lengning trauen. Goebbels<br />
kommentierte diese Massentrauung mit den Worten: „Zurückgewonnen für die Kirche durch die<br />
Glaubensbewegung der Deutschen Christen”.<br />
Liste „Evangelium und Kirche“ dominierten sie fortan den Gemeindekirchenrat.<br />
Ihr Mandatsanteil betrug 76%. Im Kirchenkreis lag das<br />
Ergebnis bei 66%. Andererseits stellte der Wahlsieg keine Ausnahme<br />
dar, denn nur in mindestens drei von 142 Berliner Gemeinden (Dahlem<br />
mit Niemöller, Nikolassee und die Nikolai-Gemeinde in Berlin-Mitte)<br />
konnte diese „Glaubensbewegung“ keine Mehrheit erzielen.<br />
Der Einfluss der Deutschen Christen festigte sich weiter, als Lengning<br />
und Eichler in den Ruhestand gingen und zwei neue, deutschchristliche<br />
Pfarrer gewählt wurden.<br />
35
In Lengnings <strong>St</strong>elle kam der 34jährige Richard Lagrange,<br />
in Berlin als Sohn eines Kaufmanns hugenottischer<br />
Abstammung geboren. Sein Theologiestudium hatte eine<br />
historisch-kritische Ausrichtung. Die Wahl in Lazarus<br />
gewann Lagrange mit deutlichem Erfolg (56 von 60<br />
<strong>St</strong>immen entfielen auf ihn). Er blieb jedoch nur gut ein<br />
Jahr und nahm dann das Pfarramt in der Französischreformierten<br />
Louisenstadt-Gemeinde in Berlin wahr.<br />
Obwohl Lagrange sein Amt nur kurze Zeit ausübte,<br />
entfaltete er eine rege Tätigkeit. Er leitete die<br />
Gemeindegruppe der Deutschen Christen zusammen mit<br />
Pfarrer Guhl und engagierte sich für die kirchliche Arbeit<br />
mit Kindern.<br />
Richard Lagrange (1934-<br />
Lothar Guhl, Eichlers Nachfolger, war ungefähr gleichen<br />
1935) organisierte zusammen<br />
mit Pfarrer Guhl den Aufbau<br />
Alters wie Lagrange und in Königsberg/Preußen als Sohn<br />
der Gemeindegruppe der eines Zahlmeisteraspiranten geboren. Er besaß eine<br />
„Deutschen Christen”. Er enga- herausragende musikalische Begabung. Sein Theologiegierte<br />
sich besonders für die studium unterbrach er, um <strong>St</strong>ellungen als Kapellmeister<br />
kirchliche Arbeit mit Kindern. am <strong>St</strong>adttheater Schneidemühl (1921/22) und als 1.<br />
Lagrange war hugenottischer Dirigent am <strong>St</strong>adttheater Brandenburg/Havel (1922)<br />
Abstammung und wechselte anzunehmen. Guhl hatte von seiner Ordination 1927 <strong>bis</strong><br />
daher in ein Pfarramt an der zu seinem Beginn in der Lazarus-Gemeinde 1934 drei<br />
Französisch-reformierten<br />
Pfarrstellen inne. Er war nach eigenen Worten „stolz, der<br />
Louisenstadt-Gemeinde in<br />
Bewegung der Deutschen Christen anzugehören“. Die<br />
Berlin.<br />
hiesigen Deutschen Christen hatten ihn als Kandidat aufgestellt,<br />
und seine Wahl erfolgte mit 39 gegen 11 <strong>St</strong>immen. Dass in<br />
diesem Fall erstmalig in Lazarus Einspruch gegen eine Pfarrwahl<br />
erhoben wurde, zeigt die zunehmenden Spannungen innerhalb der<br />
Gemeinde in der Frage nach dem Weg, den sie unter den gegebenen<br />
Verhältnissen zu gehen habe. Der Einspruch von fünf Gemeindemitgliedern,<br />
der „Glaubensgemeinschaft für biblisches Christentum“ bzw.<br />
dem „Positiven Parochialverein“ angehörig, wurde abgewiesen.<br />
36<br />
Die Deutschen Christen der Lazarus-Gemeinde unterhielten ein<br />
Mitteilungsblatt, das zuerst von Lagrange herausgegeben und dann<br />
von Guhl fortgeführt wurde. Es enthielt neben dem Gottesdienstplan<br />
auch Aufrufe, Mitglied zu werden sowie Einladungen zu Mitglieder-
vesammlungen und Veranstaltungen. Es fanden Vorträge<br />
und wöchentliche Schulungsabende vornehmlich zu den<br />
Thesen der Deutschen Christen statt: „Die Kirche als<br />
Volksgenosse und Kamerad des 3. Reiches“,<br />
„Widerspricht das Bekenntnis zu Blut und Rasse dem<br />
Bekenntnis der Kirche?“, „Wie müsste ein echter deutschchristlicher<br />
Gottesdienst verlaufen?“<br />
Später waren die von Pfarrer Guhl gehaltenen D.C.-<br />
Abende nicht sonderlich gut besucht. 1941 kamen zu einer<br />
solchen Veranstaltung lediglich 20 Interessierte. Offenbar<br />
war das Engagement der Nationalsozialisten in der<br />
Lazarus-Gemeinde zurückgegangen, was auch mit der<br />
Entwicklung der allgemeinen Kirchenpolitik des nationalsozialistischen<br />
Regimes zusammenhängen mochte, das<br />
nach einem anfänglich kirchenfreundlichen Kurs eine<br />
zunehmende Distanz pflegte und dann zur Bekämpfung<br />
des Christentums überging. Zu Hitlers Geburtstag jedoch,<br />
am 20. April 1941, fand um 18.00 Uhr in der Lazaruskirche<br />
noch einmal ein großer Gottesdienst statt, in dem<br />
Reichs<strong>bis</strong>chof Müller die Predigt hielt und die Kirche<br />
mit 518 Besuchern vergleichsweise sehr gut gefüllt war.<br />
Zum Gottesdienst am gleichen Tag um 10.00 Uhr mit<br />
Pfarrer Schwarz versammelten sich nur 93 Menschen; an<br />
gewöhnlichen Sonntagen kamen sonst nur um die 60 <strong>bis</strong><br />
80 Christen in die Lazaruskirche.<br />
Der D.C.-dominierte Gemeindekirchenrat (GKR) bereitete zuerst<br />
Pfarrer v. Schneidemesser, später dann vor allem Pfarrer Schwarz<br />
und auch Pfarrer Kracht Probleme. Der Konflikt spitzte sich im Laufe<br />
der Zeit weiter zu, so dass sich Kracht im Mai 1936 zu einem<br />
Beschwerdebrief an den Provinzialkirchenausschuss genötigt sah.<br />
Kracht beklagte, dass der GKR von den Beschlüssen der Fraktion<br />
der D.C. abhängig sei, welche ihrerseits von der Ortsgruppe bzw.<br />
vom Gau Anweisungen erhielten. Er sei also keine Instanz der<br />
Gemeinde, welche „in der Verteilung der Amtshandlungen, des<br />
Konfirmandenunterrichts und im Besuch der Gottesdienste zeigt, dass<br />
sie nicht zu den deutschen Christen gehört“.<br />
Lothar Guhl (1934-1945)<br />
war ein musikalischer Pfarrer,<br />
der sich zeitweise als<br />
Kapellmeister und Dirigent sein<br />
Theologiestudium finanzierte.<br />
„Mit Fleiß und Treue” verwaltete<br />
er sein Gemeindeamt und verstand,<br />
„die Leute zu fesseln.”<br />
Nach eigenen Worten war er<br />
„stolz, der Bewegung der<br />
Deutschen Christen anzugehören”.<br />
Kurz vor Kriegsende nahm<br />
er sich auf der Flucht nach<br />
Westen das Leben.<br />
37
Schwarz und Kracht stellten dann im<br />
September des gleichen Jahres beim<br />
Konsistorium einen Antrag auf<br />
Auflösung der Gemeindeleitung.<br />
Schwarz berichtete dem Konsistorium<br />
von Spannungen im GKR mit den<br />
Deutschen Christen, besonders mit dem<br />
Rendanten der Kirchenkasse und D.C.-<br />
Führer Golisch. Als Begründung für<br />
ihren Antrag führten die Pfarrer an,<br />
dass weder monatliche, noch<br />
überhaupt ausreichend Sitzungen<br />
stattfänden, von denen zudem einige<br />
nicht beschlussfähig gewesen seien.<br />
Als Pfarrer Lagrange Lazarus verlassen<br />
hatte und die vakante <strong>St</strong>elle erneut<br />
besetzt werden sollte, focht Schwarz<br />
die Wahl des neuen D.C.-Pfarrers Dr.<br />
Bauke erfolgreich an. Es gab weiter<br />
gegenseitige Beschwerden bei der<br />
Superintendentur, deren Verwalter<br />
offensichtlich die Situation verkannte,<br />
wenn er die Spannungen Pfarrer<br />
Schwarz anlastete, dem angeblich die<br />
„überlegene Ruhe“ fehle, um die<br />
In der Lazaruskirche fand an Hitlers GKR-Sitzungen leiten zu können.<br />
Geburtstag am 20. April 1941 ein großer<br />
Mit Billigung von Pfarrer Schwarz ver-<br />
Gottesdienst statt, bei dem Reichs<strong>bis</strong>chof Müller<br />
suchte Kracht offenbar, die Neuwahl<br />
die Predigt hielt; 518 Besucher waren anwesend.<br />
eines D.C.-Pfarrers zu verhindern. Er<br />
wandte sich mit einem Schreiben an das<br />
Konsistorium und bat – unter Hinweis auf zahlreiche Formfehler –<br />
darum, die 2. Pfarrstelle nicht mehr zu besetzen, da man schon<br />
während der länger andauernden Vakanzen mit Hilfskräften gut<br />
ausgekommen sei. Um ein Übergewicht deutsch-christlicher Pfarrer<br />
zu verhindern, so scheint es, sollten Pfarrgehilfinnen und Vikare die<br />
Arbeit von Kracht und Schwarz unterstützen.<br />
38
Schließlich wurde die <strong>St</strong>elle doch mit dem den Deutschen<br />
Christen zumindest nahestehenden Pfarrer Werner<br />
Hannasky besetzt. Er wurde 1893 in Kaisermühl, Krs.<br />
Lebus, als Sohn eines <strong>St</strong>ationsvorstehers geboren und<br />
hatte nach seiner Ordination im Jahre 1920 drei<br />
verschiedene Pfarrstellen inne, <strong>bis</strong> er 1937 Pfarrer der<br />
Lazarus-Gemeinde wurde. Wie der spätere „Ausschuß<br />
zur Wiederherstellung eines Schrift und Bekenntnis<br />
gebundenen Pfarrerstandes“ 1947 feststellte, war<br />
Hannasky in Lazarus „mit Rücksicht auf seine<br />
Zugehörigkeit zur Partei“ gewählt worden, in die er im<br />
Mai 1933 eingetreten war. In einem Bericht der<br />
Superintendentur über diese Pfarrwahl hieß es: „Die Wahl Werner Hannasky (1937des<br />
Herrn Pfarrer Hannasky ist einmütig erfolgt, auch Herr 1946) wirkte nur kurz an der<br />
Pfarrer Schwarz hat für ihn gestimmt. Die Spannung zwischen Lazarus-Gemeinde, da er gleich<br />
der D.C.Gruppe und Herrn Pfarrer Schwarz ist erheblich mit Kriegsbeginn als Haupt-<br />
abgeschwächt, beide Kreise sind offenbar bemüht, Zusammenstöße mann zum Militär ging. Er war<br />
möglichst zu vermeiden, zumal neben Herrn Pfarrer Kracht Pfarrer Mitglied der „Deutschen<br />
Guhl bestrebt ist, auszugleichen und zu mildern.“ Es ist nicht Christen”. Nach dem Krieg<br />
wurde Hannasky an die<br />
sicher, ob diese Einschätzung der Superintendentur<br />
benachbarte Auferstehungszutreffend<br />
war. Die „Entspannung“ könnte auch darin<br />
<strong>Kirchengemeinde</strong> versetzt: „An<br />
begründet sein, dass der von den Deutschen Christen Lazarus drohten ihm Schwie-<br />
dominierte Gemeindekirchenrat zusammen mit den rigkeiten von der KPD”, schrieb<br />
beiden D.C.-Pfarrern die Gemeinde nunmehr in ihrem der Superintendent.<br />
Sinne gestalten konnte. Zudem pflegte Kracht nach<br />
eigenen Worten mit Guhl ein freundschaftliches Verhältnis,<br />
so dass Schwarz allein vermutlich ohne jedes Gewicht war.<br />
Ein weiteres Beispiel mag die Durchsetzungskraft der Deutschen Christen<br />
belegen. Es ging um die Glocken der Lazaruskirche. Pfarrer Kracht<br />
hatte sich des Klanges wegen für den Austausch der Eisenguss-Glocken<br />
von 1922 durch neue Bronze-Glocken eingesetzt und Vorbehalte<br />
bezüglich der Notwendigkeit und Finanzierbarkeit eines solchen<br />
Vorhabens überwunden. Nun war über die Inschriften für die vier<br />
neuen Glocken zu entscheiden. Kracht hatte diesbezüglich einen<br />
Vorschlag unterbreitet, der sich an die Inschriften der alten Glocken<br />
anlehnte:<br />
39
Die Glocken trafen am 26. März 1936 aus Apolda auf dem Schlesischen Güterbahnhof ein; sie wurden<br />
festlich zur Kirche transportiert: „Die ersten Zugteilnehmer sind erschienen.”<br />
„Auf dem Wege durch die Mühlenstraße (1.<br />
Reihe: Küster Höft, Pfr. Kracht, Pfr. Guhl).”<br />
40<br />
„Küsters Eleonore ist gerade so groß wie die größte<br />
der Glocken.”<br />
Das neue Bronze-Geläut aus dem Jahre 1936<br />
ersetzte die Eisenguss-Glocken von 1922, weil<br />
Pfarrer Kracht mit deren Klang nicht zufrieden<br />
gewesen war. Die Originalbeschriftung der Bilder<br />
ist erhalten:
„Die größte und die kleinste Glocke auf dem Wege über den Küstriner Platz.”<br />
„Die kleinste Glocke wird zuerst hochgezogen.” „Die letzte Glocke ist oben.”<br />
41
42<br />
1. Große Glocke (1.900 kg) Ton: „des”<br />
Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid!<br />
Gegossen im Jahre 1936, im vierten Jahre seit der Machtübernahme durch<br />
unseren Führer Adolf Hitler. Diese vier Glocken treten an die <strong>St</strong>elle der<br />
alten Bronzeglocken, welche 1907 durch G. Voss & Sohn in <strong>St</strong>ettin gegossen<br />
wurden.<br />
2. Glocke (900 kg) Ton: „f”<br />
Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.<br />
Diese Glocke ist dem Andenken des Pfarrers Johannes Roeber gewidmet, der<br />
vom 1. Februar 1897 <strong>bis</strong> 30. Juni 1908 Pfarrer an der Lazarusgemeinde<br />
war und am 22. Juni 1930 heimgegangen ist.<br />
3. Glocke (550 kg) Ton: „as”<br />
Wach auf, du Geist der ersten Zeugen!<br />
Als diese Kirche am Vorabend des 3. Advent 1907 geweiht wurde, waren<br />
an ihr die Pfarrer Köster, von Gersdorff, Roeber und Wagner tätig.<br />
4. Glocke (370 kg) Ton: „b”<br />
Ich bin die Auferstehung und das Leben!<br />
Dem Gedächtnis der im Weltkriege 1914 – 1918 aus der Gemeinde gefallenen<br />
Helden.<br />
Die Inschriften der zweiten und dritten Glocke waren allerdings nicht<br />
verhandelbar, sondern Bedingung für eine angekündigte anonyme<br />
Großspende (die Pfarrwitwe Margarete Roeber trug mit ihrer Spende<br />
von 2.000 Reichsmark fast ein Drittel der Kosten für das neue Geläut).<br />
Die Deutschen Christen im Gemeindekirchenrat (Golisch, Kaltschmidt,<br />
<strong>St</strong>rohfeldt und Peters) setzten durch, dass die große Glocke zusätzlich<br />
mit dem Hakenkreuz und die kleinste mit dem Eisernen Kreuz<br />
versehen werden sollten.<br />
Die neuen Bronzeglocken, von der Hofglockengießerei Franz Schilling,<br />
Apolda in Thüringen am 15. Februar 1936 gegossen, trafen am 26.<br />
März am Schlesischen Güterbahnhof in Berlin ein und wurden am<br />
Palmsonntag, dem 5. April 1936, durch Superintendent Zimmermann<br />
geweiht. Die Gemeinde in Plaue/Havel kaufte die alten Eisenguss-<br />
Glocken, wo sie noch heute läuten.
Die Anschaffung des neuen Geläuts hatte, trotz umfangreicher<br />
Spendenbereitschaft, eigentlich die finanziellen Möglichkeiten der<br />
Gemeinde überstiegen, denn erst 1939 konnten sie vollständig abgezahlt<br />
werden. Es war daher von besonderer Tragik, dass nicht einmal ein<br />
Jahr später Görings „Anordnung zur Durchführung des Vierjahresplans<br />
über die Erfassung von Nichteisenmetallen“ (1940) die <strong>Kirchengemeinde</strong>n<br />
zur Abgabe ihrer Bronzeglocken an das „Deutsche Reich“<br />
für Kriegszwecke verpflichtete. Bis zur Abnahme der drei großen<br />
Glocken vergingen dann noch zwei Jahre; ab dem 2. März 1942<br />
läutete die Lazaruskirche nur noch mit der kleinen Glocke.<br />
Die zunehmenden Luftkämpfe um Berlin hatten Beschädigungen auch<br />
an den Gebäuden der Lazarus-Gemeinde zur Folge.<br />
Kracht schrieb am 29. November 1943 an das Konsistorium:<br />
„Dem <strong>Evangelische</strong>n Konsistorium teile ich mit, dass unser Gemeindehaus, Memeler<br />
<strong>St</strong>rasse 53/54, auch am Dienstag, dem 23.11. von Brandbomben getroffen ist.<br />
Neben den am 23.11. gemeldeten Schäden sind Fensterscheiben zu beklagen. Der<br />
Schaden ist von uns notdürftig in Ordnung gebracht. Die Benutzung ist<br />
ununterbrochen weiter möglich. Wieder haben wir der Ortsgruppe Weberwiese<br />
und der Hitlerjugend sehr zu danken, dass sie uns geholfen haben, unser Haus zu<br />
schützen. Wir benutzen zur Zeit nur die Küsterei und den noch unbeschädigten<br />
Konfirmandensaal. – Der beschädigte Konfirmandensaal ist noch nicht wieder<br />
hergestellt. – Die übrigen Räume werden von der <strong>St</strong>adt für die Kartenstelle und<br />
für die Betreuung der Bombengeschädigten, sowie von der Geschäftsstelle der Inneren<br />
Mission und unserem Kinderhort benötigt. Es ist mir gelungen, den uns verbliebenen<br />
Konfirmandensaal für den Unterricht aller Pfarrer und für die Bibelstunden<br />
reibungslos zu verteilen.<br />
Am Dienstag ist nun auch unsere Lazaruskirche erheblich beschädigt. Durch die<br />
auf das Schulgrundstück in der Lasdehner <strong>St</strong>rasse gefallenen Bomben ist das<br />
grosse runde Fenster, Berlins grösste Rosette, in Trümmer gegangen, dazu ein<br />
anderes grosses Fenster, beide auf der Gartenseite. Ferner ist das Dach stark<br />
durchlöchert, wodurch für das Gebäude bei Regen und Schnee Gefahr besteht.<br />
Ferner ist eine Bombe durch das Gewölbe geschlagen und auf dem Fussboden<br />
unschädlich gemacht. Eine Brandbombe war im Dachstuhl steckengeblieben und<br />
ist von der Wache mit erheblichen Schwierigkeiten abgelöscht worden. Ich habe als<br />
Betriebsluftschutzleiter und Betriebsführer die Benutzung der Kirche und das Betreten<br />
43
44<br />
Nutzung der Kirche vor dem 2. Weltkrieg.<br />
des Mittelganges verboten, nachdem ich mich von der Beschädigung des Gewölbes<br />
überzeugt hatte. Ich wäre sehr dankbar, wenn der Bausachverständige des Konsistoriums<br />
mit mir einmal die Kirche und das Gemeindehaus besichtigen wollte, um<br />
mich zwecks Beseitigung der Schäden zu beraten. Unsere Kirche könnte m.E. zu<br />
Weihnacht wiederhergestellt werden. Bis dahin können wir uns behelfen. Allzusehr<br />
ist sie nicht beschädigt. Ich würde gerne die beschädigten Fenster zumachen, am<br />
liebsten mit Zement. Die Schäden sind dem Bezirksamt bereits gemeldet, und es<br />
ist mir zugesagt worden, dass sie baldigst repariert werden sollen. Da die Schule
Lasdehner <strong>St</strong>rasse jetzt doch Hilfskrankenhaus<br />
wird, hat die <strong>St</strong>adt vielleicht Interesse an der<br />
Möglichkeit, die drei freien Räume in der Kirche<br />
bei Luftangriffen zu belegen. Es handelt sich<br />
um 3 im Winter wegen Heizungsschwierigkeiten<br />
leerstehende Konfirmandenräume. Ich<br />
würde es auch für richtig halten, wenn bei<br />
erneutem Angriff unsere Kirche, wie jetzt das<br />
Gemeindehaus, zur Betreuung von Bombengeschädigten<br />
auf einige Tage benutzt würde.<br />
Ich habe mich persönlich auch für solche Zwecke<br />
der <strong>St</strong>adt zur Verfügung gestellt.<br />
Die kirchliche Arbeit geht selbstverständlich<br />
weiter. Der Gottesdienst am 1. Advent ist in<br />
der Kapelle gehalten worden. Wir hatten die<br />
Vorhalle und den gegenüberliegenden Konfirmandensaal<br />
dazu göffnet und alle drei Räume<br />
geheizt. Der Besuch war sehr erfreulich. Der<br />
Berliner geht ja gerne in Gottesdienste, wo er<br />
eng sitzen muss.<br />
Trotzdem müssen wir darauf Wert legen, dass<br />
wir zu Weihnacht unser Gotteshaus wieder Ruine der Lazaruskirche, die am 13. April 1945<br />
benutzen können.<br />
bei Luftangriffen schwer beschädigt worden war.<br />
Pfarrer Kracht machte sich Hoffnungen auf einen<br />
Der Kirchenälteste Lehmann, Cadiner <strong>St</strong>rasse,<br />
Wiederaufbau, doch allein die Aufräumarbeiten auf<br />
hat sich als Führer der Wache sehr verdient<br />
dem Grundstück sollten 40.000 Reichsmark kosten.<br />
gemacht. Ich würde es für richtig halten, wenn<br />
sein treues Eintreten für unser Gotteshaus durch<br />
Verleihung der Dankurkunde anerkannt<br />
werden könnte.<br />
Ich habe noch zu berichten, dass Herr Pfarrer Kalkof und Herr Pfarrer Schwarz<br />
in ihren Wohnungen Fensterschaden erlitten haben, beide in erheblichem Umfange.<br />
Das Haus Grosse Frankfurter <strong>St</strong>rasse 123 war am Dienstag sehr bedroht.<br />
Unsere beiden grossen und massiven Fabrikgebäude konnten nicht gehalten werden<br />
und brannten nieder bzw. aus. Das Vorderhaus mit seinen schönen Wohnungen<br />
ist verschont geblieben. In meiner Wohnung ist nur eine Fensterscheibe entzwei<br />
gegangen. [...]“<br />
45
46<br />
Im Herbst 1944 wurden die letzten Gottesdienste in dem bereits<br />
offenen Kirchenschiff gehalten. Danach fanden sie im Gemeindehaus<br />
statt. Kurz vor Kriegsende schließlich, am 13. April 1945, brannte die<br />
Lazaruskirche vollständig aus. Die Gemeinde stand vor dem Verlust<br />
des imposanten und für die Gemeinde integrativen Kirchengebäudes,<br />
sie hatte zahlreiche Gemeindemitglieder verloren und büßte wesentliche<br />
Teile des kirchlichen Lebens ein. Die Existenz der Gemeinde schien<br />
fraglich.<br />
Das Gebiet westlich der Kirche ist nach den<br />
Zerstörungen weitgehend beräumt, um für die<br />
Realisierung der neuen <strong>St</strong>adtplanung Platz zu<br />
schaffen. Dabei „störte” der Kirchbau.
NACHKRIEGSZEIT (1945 <strong>bis</strong> 1950)<br />
Auseinandersetzungen mit den staatlichen Behörden –<br />
Sprengung der Kirche am 10. September 1949 – materielle<br />
Notlage – Weggang langjähriger, einflussreicher Pfarrer<br />
„Lazarus hat über erfreuliche Tatsachen leider gar nicht zu berichten. Besonders<br />
erschwerend ist, dass für keinen Pfarrer eine Wohnung in der Gemeinde zu finden<br />
war. [...] Die Gemeinde ist unendlich stark zerbombt. Ich schätze, dass wir keine<br />
20.000 Seelen mehr haben, gegenüber 41.000 vor dem Kriege. Unsere Kirche hat<br />
noch immer nicht angefangen werden können. Wir bekommen kein Material, es<br />
liegt alles darnieder, wir haben noch nicht einmal<br />
aufräumen können. Uns liegt ein<br />
Kostenanschlag über RM. 40.000,- allein für<br />
das Aufräumen des Kirchengrundstücks vor.<br />
Wir leiden unter dem Fehlen unserer Kirche.<br />
Die schöne Lazaruskirche zog die Gemeinde<br />
an, und wir konnten die schönen Gottesdienste<br />
im Hause des Herrn halten. Das fehlt uns<br />
sehr und drückt uns nieder. Wir waren zu der<br />
Zeit vor 33 volle Kirchen gewohnt, und es war<br />
eine Freude, in Lazarus das Wort zu verkünden.<br />
Der Gottesdienstbesuch ist seit 33 jammervoll.<br />
Er hebt sich jetzt etwas, aber er steht in<br />
keinem Verhältnis zu dem, was Lazarus<br />
gewohnt war. Der Wiederaufbau der Gemeinde<br />
ist schwer.<br />
Wir stehen fast täglich an Särgen. Die Zahl<br />
der Taufen ist gering, die der Trauungen<br />
verschwindend.“<br />
So fasste am 18. Juni 1946 Pfarrer<br />
Kracht die gemeindliche Situation der<br />
Nachkriegszeit zusammen.<br />
Die letzten Kriegsjahre und die unmittelbare<br />
Nachkriegszeit stellten einen<br />
tiefgreifenden Bruch in der Geschichte<br />
Die Sprengung der Lazaruskirche am 10.<br />
September 1949 diente in erster Linie dem Ziel der<br />
staatlichen Behörden, in den Besitz des Grundstücks<br />
zu kommen.<br />
47
48<br />
der Lazarus-Gemeinde dar. Das kirchliche Leben kam für einige Zeit<br />
nahezu zum Erliegen, erholte sich nur schwer und wandelte sich zudem<br />
grundlegend in seinem Charakter. Die Situation war gekennzeichnet<br />
vom Verlust des Kirchengebäudes, zahlreicher Gemeindemitglieder<br />
und einer immerhin respektierten <strong>St</strong>ellung in der Gesellschaft. Waren<br />
die Jahre zuvor bestimmt von einer mehr innergemeindlichen<br />
Auseinandersetzung um das Verhältnis zum Nationalsozialismus (neben<br />
den stets vordringlichen Bau- und Finanzangelegenheiten), so stand<br />
die Gemeinde mit dem Ende des Hitler-Regimes vor einer neuartigen,<br />
<strong>bis</strong>her ungekannten Herausforderung. In bemerkenswert kurzer Zeit<br />
zeigte man eine Frontstellung nach außen, gegenüber der sich neu<br />
etablierenden Herrschaft.<br />
Zwei Beispiele belegen eindrücklich, wie die Behörden die Gemeinde<br />
schikanierten und sich Rechte anmaßten. Deutlich wird dies in einem<br />
Briefwechsel, den Pfarrer Kracht mit den beteiligten Personen und<br />
Institutionen führte.<br />
Es ging um in den Augen der neuen Machthaber mißliebiges<br />
Gemeindepersonal. Gegen den Hauswart erhob man Vorwürfe<br />
wegen seiner politischen Vergangenheit und versuchte vergebens, ihn<br />
durch falsche Behauptungen, persönliche Angriffe und Schikanen aus<br />
seiner beruflichen <strong>St</strong>ellung zu drängen und durch einen der neuen<br />
politischen Herrschaft ergebenen Mann zu ersetzen.<br />
In den Methoden ähnlich und in engem Zusammenhang mit der<br />
„Personalangelegenheit“ verliefen die Auseinandersetzungen um die<br />
Fremdnutzung des Saals im Gemeindehaus durch das „Volksbildungsamt<br />
Friedrichshain“. Dieses Amt benötigte für kulturelle und<br />
Parteiveranstaltungen einen geeigneten Raum. Da alle größeren Säle<br />
im Friedrichshain durch Kriegseinwirkung zerstört oder unbenutzbar<br />
waren, gab es Begehrlichkeiten hinsichtlich des nur geringfügig in<br />
Mitleidenschaft gezogenen Hauses der Lazarus-Gemeinde. Das<br />
„Volksbildungsamt“ versuchte, in dem sehr weitgesteckten Rahmen<br />
eines Nutzungsvertrages größtmögliche Ansprüche für sich geltend<br />
zu machen. Das führte zu Konflikten mit der Gemeinde, die ihre<br />
Rechte am Saal und am Gemeindehaus gewahrt wissen wollte.<br />
Darüber entspann sich ein über mehrere Monate hinziehender<br />
Briefwechsel, in den sich auch kirchliche Behörden einschalteten. In<br />
der Summe zeigt diese Auseinandersetzung, wie die <strong>Kirchengemeinde</strong>
schon in der unmittelbaren Nachkriegssituation von den neuen<br />
Machthabern übergangen und an den Rand gedrängt wurde.<br />
Der Briefwechsel wird wegen seiner Bedeutung auszugsweise im<br />
Anhang wiedergegeben. Er spiegelt anschaulich die Situation der<br />
Gemeinde und des leitenden Pfarrers wider und zeigt außerdem eine<br />
erste Auseinandersetzung mit der Rolle der Gemeinde während der<br />
Zeit des Nationalsozialismus.<br />
Auch die Frage der baulichen Zukunft band für die nächsten Jahre<br />
Aufmerksamkeit und Kräfte der Gemeinde. Vor allem Pfarrer Kracht<br />
hegte Hoffnungen, die stark beschädigte Lazaruskirche wieder<br />
herrichten zu können. Diesbezüglich schrieb ihm das Bezirksamt<br />
Friedrichshain, Abteilung Bau- und Wohnungswesen, am 3. März 1946:<br />
„Nach <strong>St</strong>ellungnahme des Planungsamtes und örtlicher Besichtigungen erscheint<br />
der Wiederaufbau der Kirche bezw. behelfsmäßige Anbauten aus städtebaulichen<br />
Gründen nicht förderungswürdig. Aus Zweckmäßigkeitsgründen wäre es<br />
empfehlenswert einen Neubau zu projektieren. Mit Rücksicht auf die derzeitige<br />
Anspannung des Baumarktes und die vordringlichen Aufgaben auf dem Gebiete<br />
des Wohnungsbaues kann jedoch vorerst eine Genehmigung nicht erteilt werden.<br />
Bevor Sie irgendwelche Planungsabsichten verwirklichen wollen, empfehle ich Ihnen,<br />
sich mit unserem Planungsamt [...] ins Benehmen zu setzen. Gez. Krause“<br />
Kracht erwiderte am 23. März 1946 dem Bezirksrat Krause:<br />
„Der Wiederaufbau unserer Kirche ist längst genehmigt. Das Bezirksamt hat<br />
uns den grossen Saal unseres Gemeindehauses genommen und durch die Kulturstätte<br />
unser Gemeindehaus zu einer <strong>St</strong>ätte gemacht, in welcher Gottesdienst kaum noch<br />
gehalten werden kann. Unsere grosse Gemeinde braucht dringend irgend eine<br />
Andachtsstätte und kann nicht mehr länger warten. Die städtebauliche Planung<br />
muss dann eben geändert werden, wenn die Kirche stören sollte. Ich bin sehr erstaunt,<br />
auf solche Anschauung in der heutigen Zeit zu stossen. Die Kirche steht da und<br />
bleibt stehen. Ein Neubau ist nicht notwendig, dauert uns auch zu lange. Ich will<br />
das Turmgebäude zu Wohnungszwecken ausbauen, wodurch im Bezirk<br />
Friedrichshain wieder einige Wohnungen frei würden. Ich möchte Sie aber bitten,<br />
mir eine <strong>St</strong>unde zu sagen, wo ich Sie bestimmt antreffe, um mit Ihnen meine Pläne<br />
zu besprechen. Wir werden uns schon verständigen. Nur warten kann ich nicht<br />
49
Ähnlich den Veränderungen um das Jahr 1933, fiel auch<br />
die Phase der Nachkriegszeit mit einer Diskontinuität in<br />
der Pfarrerschaft zusammen.<br />
Guhl, 11 Jahre Pfarrer an Lazarus, hatte sich auf der<br />
Flucht nach Westen das Leben genommen.<br />
Hannasky, neun Jahre im Pfarramt, wurde versetzt. „An<br />
Lazarus drohten ihm Schwierigkeiten von der KPD; infolgedessen<br />
habe ich ihm einen Auftrag zur Vertretung an Auferstehung<br />
Johannes Kalkof (1940- gegeben.“ schrieb Superintendent Pätzold am 5. März 1946<br />
1949) war ein historisch und an den Generalsuperintendenten. Hannaskys <strong>St</strong>elle blieb<br />
literarisch interessierter Mann, <strong>bis</strong> 1950 unbesetzt.<br />
der diese Interessen in die Kracht, der mit nahezu 30 Jahren Amtszeit dienstälteste<br />
Gemeindearbeit einbrachte. Im Pfarrer der Gemeinde, wurde ebenfalls versetzt,<br />
Nebenamt war er Kranken- nachdem es Spannungen mit dem Gemeindekirchenrat<br />
hausseelsorger im Krankenhaus und besonders mit dem neuen Pfarrer Artur Katzenstein<br />
Friedrichshain.<br />
gegeben hatte. Damit wurde die sogenannte „Ära<br />
Kracht“ beendet.<br />
Schwarz geriet in Konflikt mit den neuen politischen Machthabern<br />
und verließ nach 16 Jahren Pfarrdienst die Gemeinde nach West-<br />
Berlin, um seine Familie zu schützen, nachdem sein Bruder – Pfarrer<br />
in <strong>St</strong>ücken bei Potsdam – „von der Kanzel weg verhaftet und im<br />
Gefängnis in Potsdam länger inhaftiert“ wurde (so Wolfgang Schwarz);<br />
Kurt Schwarz nahm 1949 ein Pfarramt an der Luther-Gemeinde in<br />
Berlin-Schöneberg an.<br />
50<br />
und vergeblich kommen auch nicht. Meine Zeit ist sehr stark in<br />
Anspruch genommen. Kracht, Pfarrer an Lazarus“<br />
Trotz aller Bemühungen wurde die Kirche am 10.<br />
September 1949 gesprengt.<br />
Angesichts der Schwierigkeiten, denen sich die Lazarus-Gemeinde<br />
gegenübersah, erscheint es umso erstaunlicher, dass das Gemeindeleben<br />
aktiv blieb. Zahlreiche Veranstaltungen mit hohem inhaltlichem<br />
Anspruch wurden von den Pfarrern Katzenstein und Kalkof<br />
angeboten. Johannes Kalkof, Jahrgang 1895 und aus Thüringen<br />
stammend, war nach zahlreichen anderen Pfarrstellen und seiner
vorübergehenden Emeritierung 1940 gewählt worden.<br />
Von ihm ist bekannt, dass er ein historisch interessierter<br />
Mann war. Er starb im Jahr 1949. Artur Katzstein, 1907<br />
in Berlin-Wedding geboren, wechselte 1947 von<br />
<strong>St</strong>epenitz/Prignitz nach Lazarus [s. Anhang].<br />
Die beiden Pfarrer hielten regelmäßig Vorträge zu<br />
Themen wie „Goethes letzter Aufenthalt in Frankfurt“<br />
oder „Christliche Erzähler: Peter Rosegger“. Es gab <strong>bis</strong><br />
zu neun Bibelstunden im Monat; eine spezielle<br />
„Lutherstunde“ und eine „<strong>St</strong>unde der Besinnung“ zu<br />
einem Bibelwort waren etabliert.<br />
Für die Jugend organisierte man neben dem<br />
selbstverständlichen Vorkonfirmanden- und Konfirmandenunterricht<br />
spezielle Jugendgottesdienste, eine<br />
Jugendevangelisation mit spezifischer Themenreihe und<br />
Theaterspiel. Daneben bestanden ein Jungmädelkreis, die<br />
Jungschar und ein Jungmännerkreis. Die Kantorin leitete<br />
einen Kirchenchor.<br />
Artur Katzenstein (1947-<br />
1954) begleitete die Gemeinde in<br />
der schwierigen Nachkriegszeit:<br />
Er verhinderte die Beschlagnahmung<br />
des Gemeindehauses<br />
durch Anbringung des Kreuzes<br />
auf dem Dach und den Einbau<br />
festen Gestühls, er verteidigte<br />
den im Zuge des 17. Juni 1953<br />
angeklagten Küster und geriet<br />
selbst in Konflikt mit dem<br />
DDR-Regime.<br />
51
52<br />
Im Nachrichtenblatt vom August 1955 sind dezidierte Erwartungen an die<br />
Gemeindemitglieder aufgelistet.
DDR – FRÜHE JAHRE (1950 <strong>bis</strong> 1965)<br />
dauerhafte Reduzierung von fünf auf drei Pfarrstellen –<br />
Konflikte mit den staatlichen Behörden – 60-Jahr-Feier,<br />
Orgelbau und Umgestaltung des Kirchsaals – Veränderungen<br />
im Gemeindeleben – „Kirchenzucht“ und Pressekampagne<br />
gegen Pfarrer Kreitschmann<br />
Seit 1950 befand sich die Gemeinde während der politisch<br />
aufgeheizten <strong>St</strong>immung in einer Frontstellung zum<br />
<strong>St</strong>aat. Gleichzeitig und im Zusammenhang mit der<br />
gesellschaftlichen Entwicklung vollzog sich ein<br />
Schrumpfungsprozess im kirchlichen Leben. Beides<br />
bildete den Rahmen für die weitere Entwicklung der<br />
Lazarus-Gemeinde. Der Dienstantritt der Pfarrer Müller-<br />
Matthesius, Tscheuschner und Kreitschmann bedeutete<br />
zudem einen erneuten Generationswechsel in der<br />
Pfarrerschaft.<br />
Der Berliner Walter Müller-Matthesius, Jahrgang 1901,<br />
war vor dem Krieg Pfarrer u.a. in Parstein/Uckermark<br />
und kam 1951 nach Lazarus [s. Anhang]. Gerhard<br />
Tscheuschner, geboren 1917 in Neustadt/Warthe, war<br />
schon einige Zeit Pastor (Geistlicher ohne Pfarrstelle) in<br />
der Lazarus-Gemeinde, <strong>bis</strong> er, ebenfalls 1951, die 3. Pfarrstelle<br />
übernahm [s. Anhang]. Sein Dienstantritt war<br />
überschattet von Protesten mancher Gemeindemitglieder.<br />
Viele hätten damals lieber Pastor Latkowski, der in dieser<br />
Zeit hier Dienste tat, als Pfarrer gesehen.<br />
Gerhard Kreitschmann, gleichen Alters wie Tscheuschner,<br />
stammte aus Groß Retzken, Krs. Treuburg/Ostpreußen.<br />
Nachdem Pfarrer Katzenstein aus politischen Gründen<br />
die DDR verlassen und ein Pfarramt in Berlin-<strong>St</strong>aaken-<br />
Gartenstadt übernommen hatte, wurde Kreitschmann als<br />
Hilfsprediger 1954 die 1. Pfarrstelle zunächst zur kommissarischen<br />
Verwaltung, ab 1955 dann zum regulären Pfarrdienst übertragen. Die<br />
4. und die 5. Pfarrstelle wurden aus finanziellen Gründen und in<br />
Walter Müller-<br />
Matthesius (1951-1964):<br />
„... eine bessere und passendere<br />
Gemeinde in Berlin hätte ich<br />
kaum finden können.” Neben<br />
den Gottesdiensten und der<br />
Konfirmandenarbeit waren ihm<br />
Bibelfreizeiten wichtig, aus<br />
denen ein treuer Helferkreis<br />
erwuchs. Er leitete den Umbau<br />
des Kirchsaals in seine heutige<br />
Form ein.<br />
53
Wie bereits 1945 kam es in der sich Anfang der 50er<br />
Jahre zuspitzenden politischen Lage erneut zu Auseinandersetzungen<br />
mit den Behörden um einen Beschäftigten<br />
der Lazarus-Gemeinde. Im Zuge des Aufstandes von<br />
1953 wurde der Küster N. verhaftet.<br />
N. wohnte in Berlin-Wittenau und fuhr täglich zur Arbeit<br />
in den „demokratischen Sektor“. Am 17. Juni 1953 traf<br />
er mit aufgebrachten Menschengruppen zusammen und<br />
äußerte sich – aus DDR-Sicht in provokanter Weise –<br />
über die politische Lage. Er wurde am 3. Juli 1953 in<br />
Gerhard Tscheuschner einem Schnellverfahren zu einem Jahr und fünf Monaten<br />
(1951-1964) initiierte den Haft sowie den dazugehörigen Sühnemaßnahmen<br />
Einbau der neuen Schuke-<br />
(Verbot, ein öffentliches Amt zu bekleiden, Verlust des<br />
Orgel, die am 7. Juni 1959<br />
Rechtsanspruches auf Pension sowie des Rechtes zu<br />
eingeweiht wurde, und verfasste<br />
wählen oder sich irgendwie politisch zu betätigen usw.)<br />
den geschichtlichen Bericht zur<br />
60-Jahr-Feier. Er beeindruckte verurteilt.<br />
durch „seine Persönlichkeit, Das Vorleben N.s wirkte sich maßgeblich auf die Urteils-<br />
seine packende Rhetorik und findung aus: von 1932 <strong>bis</strong> 1945 hatte er der NSDAP<br />
vor allem durch seine angehört; er war lange Freikorpskämpfer und mit 27<br />
Glaubwürdigkeit.” Auszeichnungen (darunter das hohe und selten vergebene<br />
„Ritterkreuz“) hochdekorierter Soldat gewesen.<br />
Ursprünglich, so wird berichtet, hatte N. mit 10 Jahren Gefängnis<br />
bestraft werden sollen, doch sei das Urteil durch die Fürsprache<br />
besonders der Pfarrer Katzenstein und Tscheuschner aus Rücksicht<br />
auf die Malariakrankheit des Angeklagten sowie einige positiv<br />
bewertete Umstände („Herr N. hat, als seine Gemeinde in ihrem Hause<br />
anläßlich der Weltfestspiele über 250 FDJ-ler untergebracht hatte, in fürsorglicher<br />
Hinsicht vorbildlich mitgewirkt“ – so die Gemeindeleitung) abgemildert<br />
worden.<br />
Der Gemeindekirchenrat stellte einen Tag nach der Urteilsverkündung<br />
beim Generalstaatsanwalt ein Gnadengesuch:<br />
„Da wir aber Herrn N. als anderen Menschen zu kennen glauben, der sich<br />
eingestandenermaßen von seinem Tun abgewendet hat und wir ihn als Kirche noch<br />
anders entwickeln können, bitten wir um seine Entlassung aus der Haft, damit<br />
54<br />
Anpassung an die reduzierte Gemeindegröße dauerhaft<br />
nicht mehr besetzt.
wir für ihn eine Bürgschaft übernehmen können, soweit man das<br />
überhaupt für einen Menschen tun kann. Wir sind keine Kirche<br />
des Faschismus, sondern des Friedens! Falls sich bei ihm noch Reste<br />
faschistischer Gesinnung bemerkbar machen sollten, wollen wir als<br />
Kirche und Lazarus-Gemeinde (inmitten der Neubauten der<br />
<strong>St</strong>alinallee) alles tun, um ihn davon gründlich zu befreien.“<br />
Das Gnadengesuch wurde jedoch abgelehnt. N. musste<br />
die Haft antreten und erhielt danach eine <strong>St</strong>elle in West-<br />
Berlin.<br />
Auch in der Frage der Gebäudeplanung geriet die<br />
Gemeinde in Konflikt mit dem DDR-Regime. War die<br />
Sprengung der Lazaruskirche 1949 schon mehr Akt Gerhard Kreitschmann<br />
staatlicher Willkür als den baulichen Notwendigkeiten (1955-1972) vertrat nach<br />
geschuldet, steigerte sich die Machtdemonstration der<br />
eigenen Worten eine „fundamentalistische<br />
Theologie”: Er<br />
Behörden noch, als sie der Gemeinde das Grundstück<br />
drohte Konfirmanden, die an der<br />
entzogen. Der Magistrat von Groß-Berlin, Abteilung<br />
„Jugendweihe” teilnehmen<br />
Aufbau, schrieb diesbezüglich am 13. November 1951 wollten, mit dem Entzug der<br />
an das kirchliche Bauamt: „Das Grundstück der zerstörten kirchlichen Rechte – die Folge<br />
Lazaruskirche wird zur Erweiterung der vorhandenen benachbarten waren inszenierte Einwohnerver-<br />
Schulanlage benötigt. Die Inanspruchnahme wird zu gegebener Zeit sammlungen, Pressekampagnen<br />
auf der Grundlage der aufbaugesetzlichen Bestimmungen erfolgen.“ und Flugblattaktionen. Er<br />
Trotz verschiedener mündlicher Zusagen stellten die lehnte Urnenbeisetzungen ab<br />
staatlichen Behörden der Gemeinde kein Ersatzgrund- und beendete jedweden Kontakt<br />
stück zur Verfügung; jahrelange zermürbende Verhand-<br />
mit der katholischen Kirche –<br />
ein „falscher Prophet” und<br />
lungen schlugen fehl und die einst angekündigte Entschä-<br />
„Sektierer”, urteilten seine<br />
digung blieb aus.<br />
Amtsbrüder im Kirchenkreis.<br />
Diese Erfahrungen nährten die Befürchtung, auch das<br />
Grundstück in der Memeler <strong>St</strong>raße an Henselmanns<br />
<strong>St</strong>adtplanung zu verlieren. Dort strebte die Gemeinde den Bau einer<br />
Kirche an, ein Vorhaben, das der Berliner <strong>St</strong>adtsynodalverband (B<strong>St</strong>V)<br />
auf Grund der schlechten Finanzlage ablehnte. Wegen der Undurchführbarkeit<br />
größerer Pläne entschloss man sich, den Saal im Gemeindehaus<br />
schrittweise zu einem sakralen Raum umzugestalten.<br />
55
In dieser Situation feierte die Gemeinde<br />
ihr 60jähriges Bestehen; das 50. Jubiläum<br />
war unter den schwierigen Bedingungen<br />
der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht<br />
begangen worden. Am 21. Oktober 1956<br />
fand der Festgottesdienst statt, bei dem<br />
Oberkonsistorialrat Kehr (in Vertretung<br />
des Bischofs) predigte. In der sich anschließenden<br />
Festversammlung hielt die<br />
Gemeinde geschichtlichen Rückblick, der<br />
in Form eines kleinen Heftes erhalten ist<br />
und deutlich macht, wie sehr man damals<br />
die unmittelbare Vergangenheit und die<br />
Gegenwart als eine Zeit des Umbruchs<br />
empfand.<br />
Der Kirchsaal vor der Umgestaltung Ende<br />
der 50er Jahre verfügte über eine feste Bestuhlung<br />
Eigentlich sollte zur Feier des Jubiläums<br />
und einen bühnenartigen Altarraum. Einige Jahre die neue Schuke-Orgel fertiggestellt sein<br />
hatte das Bezirksamt Friedrichshain versucht, in (die alte Sauer-Orgel war mit der Kirche<br />
den Besitz des Gemeindehauses zu kommen und den zerstört worden); jedoch gab es Verzöge-<br />
Saal für kulturelle Veranstaltungen und als Kino rungen, so dass das Instrument erst drei<br />
genutzt. Nachdem sich der Bau einer Kirche als Jahre später, am 7. Juni 1959, feierlich<br />
nicht durchführbar erwies, entschloss sich die eingeweiht werden konnte. Generalsuper-<br />
Gemeinde zur Umgestaltung des Kirchsaals.<br />
intendent Führ hielt zu diesem Anlass die<br />
Gastpredigt.<br />
Auch der Umbau des Kirchsaals nahm mehrere Jahre in Anspruch<br />
und bestand vor allem in der Neugestaltung des Altarraumes sowie<br />
dem Austausch des Gestühls durch Kirchenbänke. Architekt war der<br />
Kirchenbaurat Werner Richter aus der Bauabteilung des Konsistoriums.<br />
Das ehemals weit nach hinten reichende Bühnenpodest, das 1945 für<br />
das Volksbildungsamt Friedrichshain so attraktiv gewesen war und<br />
für verschiedene Veranstaltungen als Bühne gedient hatte, wurde<br />
verschlossen. Den gewonnenen Raum nutzte die Gemeinde seither<br />
als Jugend- und Konfirmandenraum. Die Altarwand mit dem großen,<br />
aus alten <strong>St</strong>raßenbahnschienen gefertigten Kreuz wurde von dem<br />
jungen Kunststudenten Georg Hadeler gestaltet [s. Anhang]. Aus dieser<br />
Zeit stammen auch Altartisch, Altarkreuz und -leuchter sowie Taufe<br />
und Kanzel. Von der liturgischen Ausstattung der alten Lazaruskirche<br />
56
ist u.a. noch das Abendmahlsgerät erhalten,<br />
das sich nach wie vor in Gebrauch<br />
befindet. Eingeweiht wurde der<br />
Kirchsaal 1961 in Anwesenheit von<br />
Bischof Dibelius, der den Altarteppich<br />
gestiftet hatte.<br />
Der zunehmende politische Druck auf<br />
Christen und die Neuordnung des<br />
Kirchensteuerwesens ab 1. Januar 1953<br />
(Ende des automatischen Kirchensteuerabzugs<br />
durch die Finanzämter und<br />
Übergabe der Zuständigkeit in die<br />
Selbstverantwortung der <strong>Kirchengemeinde</strong>n<br />
und ihrer Mitglieder)<br />
brachten auch der Lazarus-Gemeinde<br />
eine Welle von Kirchenaustritten. Die<br />
Zahlen waren 1953 sprunghaft angestiegen<br />
und erreichten ihren Höhepunkt<br />
1955, als 369 Gemeindemitglieder in<br />
einem Jahr aus der Kirche austraten.<br />
Der Altarraum reichte ehemals weit nach hinten.<br />
Nachdem man diesen Teil verschlossen hatte, stand<br />
ein zusätzlicher Raum zur Verfügung. Altar,<br />
Kruzifix und Leuchter stammten aus der alten<br />
Lazaruskapelle und wurden im Zuge der Kirchsaalerneurung<br />
ersetzt.<br />
Zudem setzte auf allen Gebieten des Gemeindelebens ein anhaltender<br />
Rückgang bei den Teilnehmerzahlen ein, der auch der Umstrukturierung<br />
des Gemeindebereiches durch den Bau der <strong>St</strong>alinallee geschuldet<br />
war. Viele Christen wurden durch die Sanierung verdrängt und durch<br />
systemkonforme, der Kirche fernstehende Menschen ersetzt. Kirche<br />
wurde hier als „störend“ empfunden.<br />
Es gibt Anzeichen dafür, dass besonders Pfarrer Kreitschmann die<br />
hergebrachten Formen des Gemeindelebens wertschätzte und<br />
jedweder Neuerung skeptisch gegenüberstand. Dies zeigte sich im<br />
Zusammenhang mit staatlichen Repressalien, aber auch als Reaktion<br />
auf das im Bereich der Kirche einsetzende kritische Hinterfragen vieler<br />
<strong>bis</strong>her in Geltung stehender Glaubensgewissheiten. Die zunehmende<br />
„Liberalisierung“ kirchlicher Praktiken widerstrebte ihm. Mit Ernst<br />
wurde jeder vermeintlichen „Verflachung“ des Gemeindelebens<br />
entgegengewirkt. Im Nachrichtenblatt vom August 1955 sind<br />
dezidierte Erwartungen an die Gemeindemitglieder aufgelistet. Auch<br />
57
Die Altarwand mit dem Kreuz aus alten<br />
<strong>St</strong>raßenbahnschienen entwarf der junge Kunststudent<br />
Georg Hadeler und gewann damit den 1. Preis des<br />
Wettbewerbs.<br />
Das Abendmahlsgerät gehört zu den wenigen<br />
Gegenständen, die aus den Tagen der alten Kirche<br />
erhalten sind. Es ist noch heute in Gebrauch.<br />
58<br />
am Umfang der angebotenen Gemeindeveranstaltungen<br />
hielt man lange fest.<br />
So wurde in den 50er Jahren sonntags<br />
regelmäßig zwei Mal (10.00 und 18.00<br />
Uhr) Gottesdienst gefeiert, stets mit der<br />
damals noch üblichen Kollektivbeichte;<br />
in den Fürbitten gedachte man der durch<br />
das DDR-Regime inhaftierten Christen.<br />
Der Abendgottesdienst musste dann –<br />
vergleichsweise spät – Mitte der 60er<br />
Jahre mit Rücksicht auf die geringe<br />
Beteiligung eingestellt werden. Die Zahl<br />
der Besucher lag auf einem aus heutiger<br />
Sicht hohen Niveau. 1950 kamen zu<br />
jedem Gottesdienst im Durchschnitt 276<br />
Menschen zusammen, jedoch zeigte sich<br />
schon in dieser Zeit ein stark rückläufiger<br />
Trend: zehn Jahre später waren es nur<br />
noch durchschnittlich 156 Teilnehmer.<br />
Zu den hohen Festen (Heiligabend,<br />
Karfreitag, Ostern, Erntedank) strömten<br />
zwischen 300 und 400 Gemeindemitglieder<br />
in den Kirchsaal.<br />
Im Anschluss an den sonntäglichen<br />
Gottesdienst fand das Abendmahl statt.<br />
Im Jahr 1950 nahmen insgesamt 2.390<br />
Menschen am Abendmahl teil; 1957<br />
waren es noch 1.522, und erst seit Ende<br />
der 60er Jahre ging die Zahl der<br />
Abendmahlsgäste auf 400 <strong>bis</strong> 600<br />
zurück. Die Integration des Abendmahls<br />
in den Gottesdienst erfolgte erst ab 1974<br />
– deutlich später als bei den benachbarten<br />
Gemeinden.<br />
In den 50er Jahren spendeten die Pfarrer<br />
noch relativ häufig (zwischen 50 und 60<br />
Mal) das Haus- bzw. Krankenabend-
mahl. Am Ende der Woche kam ein<br />
vertrauter Gemeindekreis (um 20<br />
Personen) zur Wochenschlussandacht<br />
zusammen, an die sich eine Betstunde<br />
anschloss. Über das Kirchenjahr wurden<br />
zusätzliche Gottesdienste gefeiert<br />
(Passions-, Adventsandachten). Daneben<br />
gab es regelmäßig besondere Veranstaltungen,<br />
wie Verkündigungsspiele und<br />
Vorträge zu verschiedenen Themen.<br />
Die kirchliche Arbeit mit Kindern und<br />
Jugendlichen bildete – neben den<br />
weiteren spezifischen Arbeitsfeldern wie<br />
Männerarbeit, Frauenarbeit, Kirchenmusik,<br />
Elternarbeit – einen Schwerpunkt<br />
[s. Anhang]. Für Kinder war ein separater<br />
Kindergottesdienst (12.00 Uhr) eingerichtet,<br />
an dem Anfang der 50er Jahre<br />
jeden Sonntag 200 <strong>bis</strong> 500 Kinder<br />
teilnahmen. Es gab fünf verschiedene,<br />
nach Geschlechtern getrennte Kinderund<br />
Jugendkreise.<br />
Zum Ende der 50er Jahre beklagte die<br />
Gemeinde, dass wegen schulischer<br />
Beanspruchung immer weniger Kinder<br />
den Kindergottesdienst und die<br />
Bischof Otto Dibelius kam zur Einweihung<br />
des Kirchsaals 1961 in die Lazarus-Gemeinde. Er<br />
hatte den Altarteppich gestiftet.<br />
Christenlehre besuchten. Hinter allem stand auch ein politischer und<br />
sozialer Druck, den <strong>St</strong>aat und Gesellschaft auf Kinder und Eltern<br />
ausübten. Der zunehmenden Neigung zur Anpassung an die<br />
Verhältnisse begegnete besonders Pfarrer Kreitschmann zunächst mit<br />
einem rigiden, unversöhnlichen Kurs und versuchte auf diese Weise,<br />
die <strong>St</strong>ellung der Kirche im atheistischen Umfeld zu behaupten. Als<br />
1958 vier Konfirmanden ankündigten nach der Konfirmation an der<br />
Jugenweihe teilzunehmen, drohte Pfarrer Kreitschmann (gemäß den<br />
konsistorialen Richtlinien) mit der sogenannten „Kirchenzucht“, das<br />
heißt mit dem Einsatz kirchlicher <strong>St</strong>rafmittel. Dies bedeutete im<br />
59
60<br />
konkreten Fall für die vier Jugendlichen den Entzug der kirchlichen<br />
Rechte. Daraufhin inszenierten die politischen Behörden<br />
Einwohnerversammlungen, Protestbriefe in der Presse sowie<br />
Flugblattaktionen gegen Pfarrer Kreitschmann. Die Kirchenleitung<br />
nahm sich dieses Themas an. Im Anhang sind die in ihrer Aufmachung<br />
ebenso durchsichtigen wie diffamierenden Zeitungsartikel<br />
dokumentiert.<br />
Es war symptomatisch für das Verhältnis zwischen der jungen DDR<br />
und der Kirche, dass die meisten damals an der Lazarus-Gemeinde<br />
tätigen Pfarrer diesen <strong>St</strong>aat verließen. Müller-Matthesius beendete auf<br />
eigenen Wunsch 1964 seinen Pfarrdienst und bemühte sich um die<br />
Übersiedlung nach West-Berlin, die 1965 erfolgte. Tscheuschner ließ<br />
sich zwar ebenfalls vorzeitig 1965 emeritieren, jedoch vornehmlich<br />
aus gesundheitlichen Gründen. Nach weiterem pfarramtlichem Dienst<br />
an der Lazarus-Gemeinde <strong>bis</strong> 1967 siedelte er in die Bundesrepublik<br />
über.<br />
In der darauffolgenden Phase – unter den Bedingungen der etablierten<br />
DDR – verminderten sich über die Jahre die scharfen Spannungen<br />
zwischen <strong>St</strong>aat und Gemeinde.
DDR – MITTLERE UND SPÄTE JAHRE (1965 <strong>bis</strong> 1990)<br />
gescheiterte Pfarrstellenbesetzungen – Ablehnung von<br />
Feuerbestattungen und Kontakten zur katholischen Kirche –<br />
Verbot des Nachrichtenblattes – Diakonische Arbeit – „Offene<br />
Jugendarbeit“ – Schwierigkeiten, das Gebäude zu unterhalten<br />
Nachdem Mitte der 60er Jahre die Pfarrer Müller-Matthesius und<br />
Tscheuschner aus ihrem Dienst ausgeschieden waren, blieb<br />
Kreitschmann, unterstützt von Pastor Latkowski, allein mit der<br />
Versorgung der etwa 15.000 Gemeindemitglieder. Kreitschmann<br />
entwickelte sich zu einer bestimmenden Figur von dauerndem Einfluss.<br />
Unter seiner Leitung kam es in der Gemeinde zu einer gewissen<br />
Verfestigung in den theologischen Positionen und zu einer Abschottung,<br />
die sowohl in einer verbreiteten Neigung für althergebrachte und<br />
wertgeschätzte Traditionen, als auch in der Person und in den<br />
Anschauungen Pfarrer Kreitschmanns ihre Wurzel hatten.<br />
Kreitschmann schilderte 1965 die Rahmenbedingungen in einem<br />
Bericht an die Superintendentur folgendermaßen: „Unsere Gemeinde<br />
steht unter äusseren und inneren Schwierigkeiten. Zu den äusseren Schwierigkeiten<br />
gehört vornehmlich die Tatsache, dass die Gemeinde in besonderer Weise von der<br />
sog. gesellschaftlichen Umstrukturierung betroffen ist (Karl-Marx-Allee und die<br />
von daher geprägten anderen <strong>St</strong>rassenzüge u.a.m.).“ Zu den inneren Nöten<br />
zählte er neben dem von ihm allein zu versehenden Pfarrdienst, dass<br />
sich einige Kirchenälteste „nur selten zum Gottesdienst und gar nicht<br />
zu den Wochenveranstaltungen einladen“ ließen. Er beklagte zudem<br />
den bescheidenen Zuspruch für die Junge Gemeinde; auch die Kinderund<br />
Konfirmandenarbeit sei schwierig wegen der genannten<br />
Umstrukturierung und gleichgültiger Eltern. Der Bericht schloss mit<br />
der Feststellung: „Unsere Erfahrungen mit den politischen Instanzen sind negativ.<br />
Ich sehe mich nicht in der Lage, bei dem der Kirche gewährten Existenzminimum<br />
und den auf Schritt und Tritt auftretenden Befremdlichkeiten der politischen<br />
Seite – von positiven Erfahrungen zu sprechen.“<br />
Zu den „inneren Schwierigkeiten“ der Lazarus-Gemeinde gehörte<br />
auch die lange Vakanz, die sich an das Ausscheiden der Pfarrer Müller-<br />
Matthesius und Tscheuschner anschloss. Langfristig konnte aus<br />
61
62<br />
finanziellen Gründen neben der 1. nur die 3. Pfarrstelle wieder besetzt<br />
werden, doch gab es hierbei Probleme, die sich über Jahre hinzogen<br />
und die Gemeinde in eine unsichere Situation brachten.<br />
Nach der Ausschreibung gingen fünf Bewerbungen ein, die sich aber<br />
sämtlich zerschlugen, so dass eine Neuausschreibung notwendig wurde.<br />
1966 wählte der Gemeindekirchenrat Pfarrer Reinhold Schmidt aus<br />
Neu Zauche (b. Lübben) gegen den allerdings Kreitschmann starke<br />
Vorbehalte hatte, weil er nicht an die buchstäbliche Jungfrauengeburt,<br />
Auferstehung und Himmelfahrt Christi glaube. Kreitschmann äußerte<br />
sich so: „Ich kann einen irrenden Bruder neben mir dulden, aber keinen Irrlehrer“.<br />
Schmidt nahm dann die Wahl nicht an, weil er (trotz Bekräftigung<br />
seiner Kirchlichkeit und Dogmentreue) auf ein vertrauensvolles<br />
Zusammenarbeiten mit Pfarrer Kreitschmann nicht mehr hoffen<br />
konnte.<br />
1966 wählte die Gemeindeleitung Pfarrer Joachim Conzendorf aus<br />
Ossling, Krs. Kamenz. Doch der Magistrat von Groß-Berlin erteilte<br />
für den neu Gewählten keine Zuzugsgenehmigung mit der Begründung,<br />
dass Wohnungen knapp seien. Trotz zahlreicher Versuche auf<br />
allen kirchlichen Ebenen scheiterte die Pfarrstellenbesetzung an der<br />
Weigerung der staatlichen Behörden, den Geistlichen nach Berlin zu<br />
lassen. 1970 schließlich gab Conzendorf den Versuch auf, seine<br />
Pfarrstelle anzutreten.<br />
Dass Pfarrer Kreitschmann nach seinen eigenen Worten eine<br />
„fundamentalistische Theologie“ vertrat, wird – neben dem Scheitern<br />
der Zusammenarbeit mit Pfarrer Schmidt – auch an einem anderen<br />
Beispiel deutlich. Kreitschmann lehnte es ab, Urnenbeisetzungen<br />
vorzunehmen, weil er diese für nicht biblisch begründet und daher<br />
für unchristlich hielt. Hausbesuche, ein aus Bibelzitaten<br />
zusammengestellter begründender Brief und ein ebensolches Plakat<br />
neben der Küstereitür sollten die zunehmende Neigung zu Feuerbestattungen<br />
eindämmen. Konsequent setzte Kreitschmann aus Anlass<br />
eines konkreten Falles den einmütigen Beschluss des Gemeindekirchenrates<br />
durch, von Feuerbestatteten keine Erbschaften anzunehmen. Dass<br />
dies keineswegs nur eine Einzelmeinung oder ein „einsamer<br />
Gremiumsbeschluss“ war, wird daraus ersichtlich, dass diese<br />
Entscheidung mit Zustimmung des aus ehrenamtlichen Mitarbeitern
und aktiven Gemeindemitgliedern gebildeten Gemeindebeirates<br />
erfolgte. Die Folgen, die diese konsequente Haltung für die Gemeinde<br />
hatte, lassen sich schwer abschätzen. Für Pfarrer Kreitschmann<br />
bedeutete sie eine Isolierung im Pfarrkonvent, wo man ihn als „falschen<br />
Propheten“ und „Sektierer“ bezeichnete. Diese Emotionalisierung kam<br />
wohl auch zustande, weil Kreitschmann diejenigen Amtsbrüder<br />
herabsetzte, die diese Urnenbeisetzungen (notgedrungen) übernahmen.<br />
Das Konsistorium erkannte zwar Kreitschmanns Gewissensnöte in<br />
bezug auf die Feuerbestattung an, lehnte jedoch die theologische<br />
Begründung, die selbstisolierende und starre Position sowie die Angriffe<br />
auf die anderen Geistlichen ab.<br />
Ein weiteres Beispiel zeigt die Tendenz der Lazarus-Gemeinde, unter<br />
dem alleinigen Pfarrdienst von Pfarrer Kreitschmann zum Teil rigorose<br />
Positionen einzunehmen. Auf das Jahr 1970 datiert ein Beschluss des<br />
Gemeindekirchenrates – wiederum im Einklang mit dem<br />
Gemeindebeirat – sich als Lazarus-Gemeinde an keiner gemeinsamen<br />
Veranstaltung mit der katholischen Kirche zu beteiligen und solche<br />
Veranstaltungen auch nicht bekanntzugeben.<br />
Hinter all dem stand ein religiöser Ernst, der dazu führte, bestimmte<br />
evangelische Auffassungen und Bekenntnisse als nicht verhandelbar<br />
zu erklären, der aber auch die Gefahr barg, in Isolation und Verhärtung<br />
zu geraten.<br />
Es kam weiterhin zu Konflikten mit dem <strong>St</strong>aatsapparat. Pfarrer<br />
Kreitschmann hatte aus Anlass des Einmarsches von Truppen des<br />
Warschauer Pakts in die CSSR im Gottesdienst am 8. September 1968<br />
den „Brief der Kirchenleitung an die im Ökumenischen Rat zusammengeschlossenen<br />
Kirchen in der CSSR“ verlesen. Die anschließende Fürbitte enthielt die<br />
Formulierung, „Gott möge Frieden und Freiheit und den Abzug der<br />
fremden Truppen schenken“. Diese Formulierung Kreitschmanns, der<br />
ohnehin unter Beobachtung der <strong>St</strong>aatssicherheit stand, war offenbar<br />
von einem Spitzel den Bezirksbehörden gemeldet und der Sachverhalt<br />
aufgebauscht worden. Man verweigerte daraufhin der Lazarus-<br />
Gemeinde die Druckgenehmigung für das Nachrichtenblatt. Zwar<br />
versuchte die Superintendentur, beim Rat des <strong>St</strong>adtbezirkes<br />
Friedrichshain eine Klarstellung zu erreichen, doch blieb es bei dessen<br />
Entscheidung. Das Verbot des Nachrichtenblattes wurde erst zum<br />
63
64<br />
Ende des Jahres 1974 aufgehoben, was wahrscheinlich mit dem<br />
Weggang Pfarrer Kreitschmanns in die Bundesrepublik zusammenhing.<br />
Auch danach gab es Schwierigkeiten, eine Druckerlaubnis für<br />
die gewünschten Texte zu erhalten, die über die Bekanntgabe der<br />
Gottesdienstpläne und Veranstaltungen hinausgingen.<br />
Die Gemeindeveranstaltungen waren Mitte der 60er Jahre im Vergleich<br />
zu heute noch sehr gut besucht, obwohl sich bereits in dieser Zeit ein<br />
dauerhafter Rückgang der Teilnehmerzahlen ankündigte: an den beiden<br />
Christvespern 1966 nahmen mehr als 550 Menschen teil, 1967 war<br />
der Vormittags-Gottesdienst zum Reformationstag (450. Jubiläum),<br />
obwohl erstmals kein staatlicher Feiertag mehr, mit 123 Teilnehmern<br />
„wie in allen Jahren gut besucht“, zum Erntedank-Gottesdienst 1968<br />
kamen 259 Erwachsene und 80 Kinder. Die durchschnittliche Zahl<br />
der Teilnehmer pro Gottesdienst lag in jenen Jahren zwischen 100<br />
und 130. Auch die Anzahl der Abendmahlsgäste verringerte sich.<br />
1962 nahmen noch insgesamt 938 Christen am Abendmahl teil, fünf<br />
Jahre später, 1967, waren es nur noch 643. Auch beim sonntäglichen<br />
Kindergottesdient war die Abnahme spürbar. Im gleichen Zeitraum<br />
ging die durchschnittliche Zahl der teilnehmenden Kinder von 30 auf<br />
19 zurück.<br />
Ab Mitte der 60er Jahre reagierte die Gemeindeleitung auf die<br />
rückläufigen Zahlen und auf die Tatsache, dass vorerst nur ein Pfarrer<br />
für den Gemeindedienst zur Verfügung stand, indem man den Umfang<br />
der Veranstaltungen reduzierte. Auch die Abendgottesdienste am<br />
Sonntag wurden gestrichen. Diese schwierige Lage trug sicher dazu<br />
bei, dass 1968 der Gemeindekirchenrat der Verkleinerung des<br />
Gemeindegebietes im Osten ohne Proteste zustimmte. Das <strong>St</strong>raßen-<br />
Dreieck zwischen Simon-Dach-<strong>St</strong>raße und Revaler <strong>St</strong>raße bzw.<br />
Simplonstraße <strong>bis</strong> zum Bahnhof Ostkreuz wurde 1969 an die<br />
benachbarte <strong>Kirchengemeinde</strong> Offenbarung abgetreten.<br />
Die Lazarus-Gemeinde hatte – wie alle Gemeinden – seit ihrer<br />
Gründung eine Diakonissenstation. Jedoch musste auch der Umfang<br />
der diakonischen Arbeit während der DDR-Zeit reduziert werden.<br />
Nachdem 1965 zwei Diakonissen in den Ruhestand gegangen waren,<br />
begann die letzte Lazarus-Diakonisse aus dem Oberlinhaus Potsdam-
Babelsberg, Elfriede Rauhöft, ihren<br />
langjährigen Dienst in der Krankenpflege.<br />
In den Gemeindeversammlungen<br />
gab die Schwester in Tätigkeitsberichten<br />
jährlich Auskunft. Ein Ausschnitt<br />
daraus mag das Arbeitsethos der<br />
Diakonisse verdeutlichen, ergänzt um<br />
einige (Durchschnitts-) Zahlen zu Art<br />
und Umfang ihrer Arbeit:<br />
„Rückschauend auf das vergangene Jahr<br />
streifen meine Gedanken noch einmal über alle<br />
Ereignisse, und dabei möchte ich nicht versäumen,<br />
für die Gnade Gottes und für Seine Hilfe bei<br />
der täglichen Arbeit in der Gemeinde von<br />
ganzem Herzen zu danken und um neue<br />
<strong>St</strong>ärkung zu bitten. Wir spüren Sein<br />
Einwirken auf unser Herz, und diesen<br />
mächtigen Ansporn brauchen wir so nötig<br />
angesichts der erschütternden Begebenheiten des<br />
menschlichen Lebens, der Härte des Alltages<br />
Schwester Elfriede Rauhöft war die letzte<br />
und der immer von neuem vereitelten Möglich-<br />
Diakonisse in der Lazarus-Gemeinde.<br />
keiten, mit unserer Botschaft des Heils der Welt<br />
an die noch abseits stehenden Mitmenschen<br />
heranzutreten, damit auch sie die Liebe unseres<br />
Herrgottes begreifen und es lernen, auf Ihn zu<br />
hören. [...]<br />
Auch im abgelaufenen Jahr gab es viel Arbeit an Krankenbetten und in anderen<br />
Pflegefällen. Es ist aber gerade dieser Dienst, der uns mit den Kranken und mit<br />
ihren Angehörigen so nahe zusammenführt und den menschlichen Kontakt herstellt,<br />
der uns Trost gibt und uns zum Dank für alle erwiesene Gnade an den Herrn<br />
verweist, der unser Schicksal in Seinen Händen hält.<br />
Ich hatte mehrere schwere Fälle von Krebskranken, zu denen ich täglich 4-5x<br />
gehen mußte, um ihnen durch eine Injektion ihre grausamen Schmerzen zu lindern,<br />
<strong>bis</strong> sie endlich heimgehen durften zu ihrem himmlischen Vater. Auch einer lieben<br />
Blinden durfte ich in den letzten Wochen ihres Erdenlebens mit Hilfe und Tat zur<br />
Seite stehen, denn im Hause gab es niemanden, der sich um die Kranke kümmerte.<br />
65
66<br />
So fing ich des Morgens mit dem Heizen, Waschen, Füttern und Trockenlegen<br />
an. 3-4x ging ich zu ihr, niemand war da, um ihr einen Schluck Wasser zu<br />
reichen. Doch hörte sie gerne die Losung, und wir sagten beide Lieder auf; dann<br />
schlief sie ruhig und still für immer ein.<br />
Zwischendurch wurden alle Zuckerkranken mit Insulin versorgt. Es gibt doch<br />
unendlich viel alte und einsame Menschen, die alle auf eine Hilfeleistung von der<br />
Schwester warten. Eine alte Frau hatte ich in meiner Arbeit, die vollkommen irre<br />
ist, die nur die Gashähne aufläßt und Feuer in der Wohnung macht; doch keiner<br />
hilft und keiner hat Macht, die Frau fortzubringen, weil nirgends Betten frei sind.<br />
Trotz aller Lauferei zu den Ärzten und Amtsärzten ist nichts zu erreichen. Ja,<br />
es ist manchmal ein schweres Arbeiten, wenn der Geist bei den Altchen vollkommen<br />
aussetzt. Doch der Heiland liebt alle Menschen, trotz ihrer Schwachheiten.“<br />
Schwester Elfriede Rauhöft besuchte im Jahr etwa 300 Familien,<br />
erledigte um 4.000 Pflegegänge und 350 Besuche bei Alten und<br />
Einsamen, nahm 260 Beratungen und 600 Hilfeleistungen auf der<br />
<strong>St</strong>ation (Warschauer <strong>St</strong>raße 16) vor, ging 160 Mal für Patienten zum<br />
Arzt und zur Apotheke, gab 3.000 Spritzen und hielt Nachtwachen<br />
bei <strong>St</strong>erbenden. Dass keineswegs nur gläubige Gemeindemitglieder<br />
versorgt wurden, belegt ihr Eindruck von den Alten und Kranken:<br />
„Auch sind etliche darunter, die keinen Glauben haben oder dagegen sind. So ist<br />
es doch eine kleine Freude, wenn sie so allmählich doch danach greifen und ein<br />
Fünklein mitbekommen von der großen Liebe unseres Heilandes.“<br />
Die diakonische Arbeit wurde Mitte der 70er Jahre noch als<br />
gesamtgemeindliche Aufgabe verstanden: Konfirmanden erledigten<br />
Einkäufe für alte Gemeindemitglieder, das Essenkochen und die Hilfe<br />
bei der Wohnungsreinigung. Und im Keller des Gemeindehauses<br />
standen vier Betten als Übernachtungsmöglichkeit für Bedürftige zur<br />
Verfügung.<br />
Nachdem Pfarrer Kreitschmann, mit dem es verschiedentlich<br />
Spannungen gegeben hatte und der sich schließlich um die Ausreise in<br />
die Bundesrepublik bemühte, 1972 versetzt worden war, musste die<br />
Gemeinde einige Zeit von außen verwaltet werden.<br />
Dann wählte 1973 der Gemeindekirchenrat Alfred Beuse als Pfarrer.<br />
Beuse, Jahrgang 1934 und aus Schlesien stammend, war zuvor 2. Pfarrer
an der Martins-Gemeinde in Köthen/<br />
Anhalt und im Nebenamt seit 1969<br />
Landesmissionspfarrer in der dortigen<br />
Landeskirche. Er vollzog einen<br />
Richtungswechsel hin zu gemäßigteren<br />
Positionen, als sie Pfarrer Kreitschmann<br />
vertreten hatte. So setzte Beuse mit<br />
Unterstützung des Konsistoriums 1974<br />
die Aufhebung des Gemeindekirchenrats-Beschlusses<br />
von 1970 durch, der<br />
jeden Kontakt mit der katholischen<br />
Kirche beendet hatte. Der neue Pfarrer<br />
stieß damit nicht auf einhellige Zustimmung:<br />
im Gemeindekirchenrat schlossen<br />
sich nur zwei Älteste der Meinung Pfarrer<br />
Beuses an, zwei waren gegen die<br />
Aufhebung, einer enthielt sich. Im<br />
Gemeindebeirat war das Votum mit<br />
sechs Ja- gegen vier Nein-<strong>St</strong>immen<br />
ebenfalls gespalten.<br />
Pfarrer Beuse änderte auch die Gottesdienstordnung<br />
und führte die sogenannte<br />
Alfred Beuse (1974-1980) wollte der Gemeinde<br />
„Form B“ der Gottesdienstagende ein. mit offeneren theologischen Angeboten eine neue<br />
Sie blieb <strong>bis</strong> in das Jahr 2005 in Kraft. Richtung geben: Er änderte die Gottesdienstordnung,<br />
Damit verbunden war die – im Vergleich probierte neue Formen der kirchlichen Arbeit mit<br />
zu den Nachbargemeinden späte – Jugendlichen und organisierte Gemeindeausflüge.<br />
Integration des Abendmahls in den Von 2004 <strong>bis</strong> 2005 übernahm er während der<br />
Gottesdienst.<br />
Vakanz in Lazarus erneut pfarramtliche Dienste.<br />
Es wurden neue, offene Formen in der<br />
Jugendarbeit ausprobiert und mit (zumindest zeitweisem) Erfolg<br />
etabliert. Die Jugendtreffen in der sogenannten „Katakombe“ im<br />
Keller des Gemeindehauses waren zu dieser Zeit im gesamten<br />
Kirchenkreis bekannt. Allerdings gab es auch Vorbehalte gegen das<br />
Verhalten mancher Jugendlicher und Beschwerden bei der Polizei.<br />
Pfarrer Beuse berichtet, dass er in diesem Zusammenhang mit den<br />
staatlichen Behörden („Abschnittsbevollmächtigter“ (ABV) der Polizei,<br />
67
<strong>St</strong>aatsanwaltschaft, „Amt für<br />
Wiedereingliederung“) gut zusammenarbeiten<br />
konnte [s. Anhang].<br />
<strong>St</strong>ets war, nach den Aussagen Pfarrer<br />
Beuses, die Jugendarbeit biblisch<br />
orientiert und wurde durch Theologiestudenten<br />
der kirchlichen Ausbildungsstätte<br />
„Paulinum“ geleitet, während z.B.<br />
in der benachbarten Samariter-<br />
Gemeinde unter Pfarrer Eppelmann die<br />
Jugendarbeit stärker von politischen<br />
Joachim <strong>St</strong>ein (1976-2001) stand Neuerungen<br />
skeptisch gegenüber und pflegte einen traditionellen<br />
Gottesdienst. Viele Gemeindemitglieder schätzten<br />
seine sprachlich gediegenen und theologisch fundierten<br />
Predigten. Hier (2. von rechts) am Tag seiner<br />
Ordination am 27. April 1975 in der Lazarus-<br />
Gemeinde. Die Zeremonie leitete Gen.sup.<br />
bzw. oppositionellen Interessen<br />
bestimmt war.<br />
Die Auffassung, dass politische Fragen<br />
zwar erörtert werden müssten, aber nicht<br />
zu sehr die kirchliche Arbeit dominieren<br />
sollten, teilte auch Pfarrer Joachim <strong>St</strong>ein.<br />
Grünbaum, von Dr. Gartenschläger und Dr. Furian Er wurde, knapp 33jährig, 1975 in der<br />
assistiert. <strong>St</strong>ein war mit 25 Jahren Pfarrdienst Lazarus-Gemeinde ordiniert und über-<br />
außergewöhnlich lange im Amt. Während seiner nahm 1976 die 1. Pfarrstelle, die er <strong>bis</strong><br />
Dienstzeit wurde der konservative Charakter der<br />
Gemeinde gefestigt – ein Erbe, das besonders Pfarrer<br />
Kreitschmann hinterlassen hatte.<br />
dahin kommissarisch verwaltet hatte.<br />
Bereits 1978 berief ihn der Kirchenkreis<br />
in das Amt des Archivpflegers, was<br />
seinen Neigungen entgegenkam. Pfarrer<br />
<strong>St</strong>ein nahm in dieser Funktion an der Visitation der Friedrichshainer<br />
Gemeinden teil.<br />
Trotz des tendenziell eher unpolitischen Amtsverständnisses ihrer<br />
beiden Pfarrer geriet die Lazarus-Gemeinde weiter in Konflikte mit<br />
dem <strong>St</strong>aat. Diese entzündeten sich am „Wehrkundeunterricht“ der<br />
Schulen, den die Kirche kritisch betrachtete. Im Schaukasten der<br />
Lazarus-Gemeinde war die diesbezügliche kirchliche <strong>St</strong>ellungnahme<br />
öffentlich gemacht worden, was bei den örtlichen <strong>St</strong>aatsorganen<br />
Missfallen auslöste. Der Friedrichshainer Bezirksrat K. wandte sich<br />
mit einer Beschwerde an den Generalsuperintendenten. Daraufhin<br />
traf am 13. Juli 1978 ein Brief des Konsistoriums an die Pfarrer<br />
Beuse und <strong>St</strong>ein ein:<br />
68
„Liebe Brüder, wie wir erfahren, haben Sie<br />
das Wort der Konferenz der <strong>Evangelische</strong>n<br />
Kirchenleitungen vom 14.6.1978 an die<br />
Gemeinden in Sachen Wehrkundeunterricht mit<br />
der Abschrift eines Briefes des Pfarrkonvents<br />
des Kirchenkreises Friedrichshain an das Volksbildungsministerium<br />
in dem Schaukasten Ihrer<br />
Gemeinde ausgehängt.<br />
Unsere Kirchenleitung hatte beschlossen, daß<br />
das Wort der Konferenz an die Gemeinden im<br />
Gottesdienst am 25.6.1978 in geeigneter Form<br />
bekanntgegeben werden solle (unsere Verfügung<br />
vom 20.6.1978 – K. Ia Nr. 1034/78 –).<br />
Indem wir davon ausgehen, daß Sie hinsichtlich<br />
der Verbreitung des Wortes unsere Verfügung<br />
mißverstanden haben, fordern wir Sie auf, das<br />
Wort sofort aus dem Schaukasten zu entfernen.<br />
Nach unseren Informationen hat auch der<br />
Pfarrkonvent des Kirchenkreises Friedrichshain<br />
nicht beschlossen, daß sein Brief an das<br />
Volksbildungsministerium allgemein öffentlich<br />
bekanntgemacht oder über die vorgesehenen Konfirmandengruppe von Pfr. <strong>St</strong>ein am 30. 05.1976.<br />
Adressaten hinaus weiter verbreitet werden soll.<br />
Deshalb müssen wir auch die sofortige<br />
Entfernung dieses Briefes aus Ihrem<br />
Schaukasten fordern.<br />
Ein Grundsatzgespräch mit Ihnen über die Schaukastenarbeit stellen wir zu<br />
einem späteren Zeitpunkt in Aussicht.“<br />
Die Entfernung der besagten Schreiben erfolgte – gegen die eigene<br />
Überzeugung – noch am gleichen Tag, dennoch konnten die<br />
Spannungen zwischen Gemeinde und Bezirk nicht beigelegt werden.<br />
Lazarus hätte „schon wieder eine Sache gegen Wehrerziehung im<br />
Schaukasten“, es hätte „Anrufe aus der Bevölkerung“ gegeben,<br />
beschwerte sich der Bezirksrat bei der Superintendentin Laudien. <strong>St</strong>reitpunkt<br />
war die Bekanntmachung einer nicht angemeldeten und nicht<br />
genehmigten Veranstaltung in der Galiläa-Gemeinde, bei der auch<br />
69
70<br />
das Thema „Wehrkundeunterricht“ eine<br />
Rolle spielen sollte. Die Gemeinde blieb<br />
im Fokus der Behörden. Es wird<br />
berichtet, dass zuweilen die<br />
„<strong>St</strong>aatssicherheit“ die Gottesdienste<br />
beobachtete und die Predigten auf<br />
„staatsfeindliche“ Inhalte prüfte.<br />
1980 verließ Pfarrer Beuse die Lazarus-<br />
Gemeinde, der er u.a. mit offeneren<br />
theologischen Ansätzen, diakonischer<br />
Arbeit und Gemeindeausflügen neue<br />
Impulse hatte geben wollen, und<br />
wechselte in eine Pfarrstelle in<br />
Schönebeck-Salzelmen, b. Magdeburg.<br />
Später kam er noch einmal an die<br />
Lazarus-Gemeinde zurück und<br />
übernahm 2004 für ein Jahr<br />
Detlef Wilinski (1981-1998) war ein pfarramtliche Aufgaben und die<br />
traditionsbewusster Pfarrer, der den Schwerpunkt Vakanzverwaltung.<br />
seiner Tätigkeit in der seelsorgerlichen Arbeit an den Nach Beuse besetzte 1981 Pfarrer<br />
Gemeindemitgliedern sah. Zeitweilig hatte er das Amt Detlef Wilinski, 1941 in Berlin geboren,<br />
des Superintendenten inne.<br />
die 3. Pfarrstelle. Er hatte zuvor 12 Jahre<br />
in der benachbarten <strong>Kirchengemeinde</strong><br />
<strong>St</strong>. Andreas-<strong>St</strong>. <strong>Markus</strong> gewirkt. Viele Jahre war er Mitglied des<br />
Kreiskirchenrates und stellvertretender Superintendent, zeitweilig dann<br />
Superintendent des Kirchenkreises Friedrichshain.<br />
Die Lazarus-Gemeinde wurde vom Kirchenkreis und den benachbarten<br />
Gemeinden als „konservativ“ wahrgenommen, was – wie ein<br />
Visitationsbericht von 1983 belegt – eher kritisch und distanziert<br />
gemeint war. Diese Einschätzung entsprach durchaus dem Selbstverständnis<br />
der beiden Pfarrer und gewiss auch vieler Gemeindemitglieder,<br />
jedoch in einem ganz positiven Sinn. In Lazarus vertraute man auf<br />
den Wert und die Kraft gewachsener Formen des Gemeindelebens<br />
und versuchte, überlieferte Glaubensgewissheiten gegen – wie man<br />
fand – vorschnelle und leicht in die Irre führenden Neuerungen und
Modernisierungen zu verteidigen. Diese Haltung hatte eine lange<br />
Tradition, die sich über Pfarrer Kreitschmann <strong>bis</strong> in die Zeiten des<br />
„Positiven Parochialvereins“ zurückverfolgen lässt.<br />
<strong>St</strong>ein und Wilinski legten im Gottesdienst Wert auf eine traditionelle<br />
Liturgie sowie auf theologisch fundierte und sprachlich gediegene<br />
Predigten. Auch andere Gemeindeveranstaltungen waren stets an der<br />
biblischen Botschaft orientiert und inhaltsreich.<br />
Die 80er Jahre brachten Lazarus zunehmende Personal- und Bauprobleme.<br />
So beklagte die Gemeinde ihre ungenügende Versorgung<br />
hinsichtlich des katechetischen Dienstes durch den Kirchenkreis. Zudem<br />
gab es eine hohe Fluktuation bei den Beschäftigten. Zeitweise fehlten<br />
Hausmeister und Heizer, so dass die Pfarrer Wilinski und <strong>St</strong>ein das<br />
Heizen des großen Gemeindehauses mit Kindergarten und Pfarrwohnung<br />
übernehmen mussten und viele Tonnen Kohle und Asche<br />
bewegten.<br />
Der Garten des Kindergartens auf der Rückseite des Gemeindehauses. Die<br />
Einrichtung musste 1999 wegen andauernder Unterbelegung geschlossen werden. Zudem<br />
waren Investitionen in das Gebäude unterblieben, so dass die Bausubstanz nunmehr<br />
stark angegriffen ist. Die umliegenden Fabriken wurden Mitte der 70er Jahre abgerissen.<br />
71
72<br />
Bei der geringen Finanzausstattung für die Unterhaltung des<br />
Gemeindehauses – pro Jahr wurden der Gemeinde für Bauaufgaben<br />
lediglich 5.000 Mark zugeteilt – konnten nur die allernotwendigsten<br />
Reparaturen, Anschaffungen und malermäßigen Instandhaltungen<br />
geleistet werden. Investitionen in das Gebäude unterblieben über Jahrzehnte,<br />
so dass die Bausubstanz zunehmend angegriffen wurde. Das<br />
letzte größere Bauprojekt der Lazarus-Gemeinde war die Sanierung<br />
der Heizungsanlage zu Beginn der 90er Jahre. Das gesamte<br />
Gemeindehaus befindet sich nunmehr in einem sehr schlechten Zustand<br />
und ist zum Problem für die Gemeinde geworden.<br />
Neben den Pfarrern haben natürlich auch die vielen beruflichen und<br />
ehrenamtlichen Mitarbeiter das Gemeindeleben wesentlich getragen:<br />
die langjährig tätige Kantorin, die Küsterinnen, die Hausmeisterehepaare,<br />
die Reinigungskräfte, die Katechetinnen und Diakone, die<br />
Mitarbeiterinnen im gemeindeeigenen Kindergarten und die<br />
Gemeindehelferinnen. Allerdings musste seit Ende der DDR-Zeit<br />
wegen der sich verschlechternden Finanzlage der Personalbestand<br />
reduziert werden. Besonders einschneidend in den Folgen für die<br />
Gemeinde war die Schließung des Kindergartens 1999 wegen andauernder<br />
Unterbelegung.
JÜNGSTE VERGANGENHEIT (seit 1990)<br />
„Regionenbildung“ – Zusammenarbeit mit der <strong>St</strong>. Andreas-<br />
Gemeinde im Pfarrsprengel <strong>St</strong>. <strong>Markus</strong><br />
Die Rahmenbedingungen für die<br />
ostdeutschen <strong>Kirchengemeinde</strong>n hatten<br />
sich nach dem Ende der DDR fundamental<br />
geändert – gesellschaftspolitisch,<br />
aber auch in den kirchlichen Leitungsund<br />
Finanzstrukturen. So wurde der<br />
Kirchenkreis Friedrichshain mit den<br />
Kreisen Berlin <strong>St</strong>adt I, <strong>St</strong>adt III, Kreuzberg<br />
und Tiergarten-Friedrichswerder<br />
zum neuen Kirchenkreis Berlin<br />
<strong>St</strong>adtmitte zusammengelegt. Der Rückgang<br />
des Kirchensteueraufkommens<br />
zwang dazu, die Organisation zu straffen<br />
und effizienter zu gestalten. Der<br />
Kirchenkreis forcierte diesen Prozess,<br />
indem er die Gemeinden zur Bildung<br />
von „Regionen“ aufforderte.<br />
Die Lazarus-Gemeinde nahm diesbezüglich<br />
mit den benachbarten<br />
Heribert Süttmann (2002-2004) mit den<br />
Gemeinden <strong>St</strong>. Andreas-<strong>St</strong>. <strong>Markus</strong> und Konfirmandinnen im Jahr 2003. Seine Amtszeit<br />
Auferstehung Verhandlungen auf. Die währte nur kurz; nach eineinhalb Jahren versetzte<br />
Gespräche scheiterten an unvereinbaren man ihn in eine landeskirchliche <strong>St</strong>elle.<br />
Nutzungs- und Finanzierungskonzepten,<br />
da keine Gemeinde bereit war, sich von ihren Gebäuden zu trennen<br />
und gemeinsam ein finanzielles Risiko zu übernehmen.<br />
Letztlich wurde die angestrebte „Regionenbildung“ mit dem Pfarrsprengel<br />
<strong>St</strong>. <strong>Markus</strong>, der aus den Gemeinden Lazarus und <strong>St</strong>. Andreas<br />
besteht, zum Teil (ohne Auferstehung) verwirklicht. So konnten die<br />
beiden Gemeinden einen gemeinsamen, begrenzten Personalbestand<br />
erhalten.<br />
Die langjährigen und einflussreichen Pfarrer Wilinski und <strong>St</strong>ein gingen<br />
1998 bzw. 2001 in den vorzeitigen Ruhestand, und es konnte nur<br />
73
Johannes Simang (seit 2005), zuvor Pfarrer in<br />
Eisenhüttenstadt und Müllrose, begleitet die Fusion<br />
von Lazarus und <strong>St</strong>. Andreas. Schwerpunkt seiner<br />
Tätigkeit ist die Intensivierung der Gemeindearbeit<br />
auf allen Feldern, besonders der kirchlichen Arbeit<br />
mit Kindern. Pfarrer Simang ist in der Männerarbeit<br />
der Landeskirche aktiv.<br />
74<br />
noch eine Pfarrstelle zur Besetzung<br />
ausgeschrieben werden. Nach einer<br />
einjährigen Vakanzzeit übernahm Pfarrer<br />
Heribert Süttmann das Pfarramt. Bereits<br />
nach eineinhalb Jahren wurde er in eine<br />
landeskirchliche <strong>St</strong>elle versetzt. Es folgte<br />
eine Vakanzverwaltung durch Pfarrer<br />
Beuse, der bereits früher Pfarrer an<br />
Lazarus gewesen war. Im Jahr 2005<br />
wählte der Gemeindekirchenrat<br />
Johannes Simang zum Pfarrer der<br />
Gemeinden des Pfarrsprengels <strong>St</strong>.<br />
<strong>Markus</strong>.<br />
Die <strong>Kirchengemeinde</strong> steht vor großen<br />
Herausforderungen, um in Zeiten<br />
rasanter gesellschaftlicher Veränderungen<br />
und bei knappen Ressourcen auf<br />
Menschen zuzugehen und sie zu<br />
gewinnen.
FAZIT<br />
Fasst man die 110jährige Gemeindegeschichte zusammen, so lassen<br />
sich drei bleibende Elemente ausmachen:<br />
1. Die innergemeindliche Auseinandersetzung zwischen<br />
unterschiedlichen theologischen Auffassungen, insbesondere<br />
zwischen konservativ-dogmatischen Ansätzen und eher<br />
religionsgeschichtlich bestimmten Positionen.<br />
Naturgemäß waren es die Pfarrer, die die verschiedenen <strong>St</strong>römungen<br />
repräsentierten, entweder indem sie Gruppen leiteten – wie z.B. Pfarrer<br />
v. Schneidemesser den Positiven Parochialverein – oder indem sie von<br />
einer die Gemeindegremien dominierenden „Partei“ gewählt wurden<br />
– z.B. Pfarrer Lagrange von den Deutschen Christen. Die Auseinandersetzungen<br />
wurden mit unterschiedlicher Schärfe geführt und<br />
beeinträchtigten zuweilen die Gemeindearbeit. In der Lazarus-Gemeinde<br />
hat stets die konservative Haltung überwogen. Eine Ausnahme<br />
bildete die Zeit des Nationalsozialismus, als die Deutschen Christen die<br />
Mehrheit hatten und versuchten, die Tradition der Kirche neu zu<br />
definieren und ihre Ordnung radikal zu verändern.<br />
2. Die Auseinandersetzung mit den gegebenen gesellschaftlichen<br />
und politischen Verhältnissen.<br />
Diese hatten in den geschichtlichen Epochen unterschiedliche<br />
Ausprägungen. In der Kaiserzeit haben die caritativen und seelsorgerlichen<br />
Aufgaben im Vordergrund gestanden. Während und nach der<br />
Novemberrevolution finden sich Hinweise für eine Politisierung der<br />
<strong>Kirchengemeinde</strong>. Dieses Phänomen zeigte sich vor allem bei den<br />
Pfarrern, deren „Gesinnung“ jetzt besonders beachtet wurde. Beispiele<br />
dafür sind Pfarrer Köhler oder die Auseinandersetzung zwischen den<br />
Pfarrern Kracht und Eichler. In der Zeit des Nationalsozialismus<br />
wirkten die gesellschaftlichen Verhältnisse am stärksten auf die innergemeindliche<br />
Situation zurück, so durch den Aufbau einer Gemeindegruppe<br />
der Deutschen Christen. Nach dem 2. Weltkrieg kam es zu einer<br />
andauernden Frontstellung zwischen dem atheistischen DDR-<strong>St</strong>aat<br />
und der <strong>Kirchengemeinde</strong>. Probleme ganz anderer Art ergaben sich<br />
für Lazarus – wie für alle anderen Gemeinden – nach der<br />
75
76<br />
Wiedervereinigung Deutschlands, da durch Sparzwang tiefgreifende<br />
<strong>St</strong>rukturveränderungen nötig wurden.<br />
3. Die Beschäftigung mit baulichen Problemen.<br />
Seit Bestehen der Lazarus-Gemeinde banden Baufragen Kräfte, Zeit<br />
und Finanzen. In der ersten Hälfte der Gemeindegeschichte ging es<br />
um die Ausweitung des Gebäudebestandes, z.B. Kirche, Kleinkinderschule,<br />
Gemeindehaus. Nach dem Krieg hatte man den Verlust von<br />
Kirche und Grundstück zu überwinden und musste den Saal des<br />
Gemeindehauses umgestalten. Seit den 90er Jahren sind die Unzweckmäßigkeit<br />
und der schlechte bauliche Zustand des Gebäudes ein<br />
Problem, das einer Lösung harrt.
AUSBLICK – von Pfarrerin Eva-Maria Menard<br />
Sieht man heute auf die Lazarus-Gemeinde, so zeigt sich ein eher<br />
trauriges Bild. Der Versuch zu bewahren, hat zu einem <strong>St</strong>illstand in<br />
der gemeindlichen und baulichen Entwicklung geführt. Der Zustand<br />
des Gebäudes in der Marchlewskistraße spiegelt die Situation anschaulich<br />
und drastisch wider.<br />
„Lazarus, Lazarus komm heraus!“ so ruft Jesus dem Menschen<br />
Lazarus zu, der seit drei Tagen tot im Grab liegt und „schon stinkt“<br />
wie die Leute sagen. „Lazarus, Lazarus komm heraus!“ möchte ich<br />
auch der Lazarus-Gemeinde zurufen. Komm heraus aus der<br />
theologischen Erstarrung! Komm heraus aus deiner Abgeschlossenheit<br />
gegenüber deinem (nichtchristlichen) Umfeld! Komm heraus aus<br />
deinem Gebäude, das schon ein wenig riecht! Komm heraus – zurück<br />
ins Leben!<br />
Ob es der Lazarus-Gemeinde gelingen wird? Ich finde, die Chancen<br />
für „eine Auferstehung“ stehen gut, auch wenn mir – gleich Martha –<br />
der Glaube daran manchmal zu schwinden droht. Ich spüre, es herrscht<br />
Aufbruchstimmung in der Lazarus-Gemeinde und bei den anderen<br />
Gemeinden im Friedrichshain. Der Kiez ist beliebt, viele junge Familien<br />
ziehen in die umliegenden <strong>St</strong>raßen, die Gemeinde ist jung und wächst.<br />
Sicher wird die Lazarus-Gemeinde, wenn sie den Aufbruch wagt,<br />
nicht als die herauskommen, die sie einst war. Sie wird mit der<br />
Nachbargemeinde <strong>St</strong>. Andreas fusionieren, der Name wird sich<br />
ändern. Sie wird viele Traditionen aufgeben müssen, wenn sie wieder<br />
leben will; sie muss ihr Haus verlassen; sie muss herauskommen wollen<br />
und zugehen auf die Menschen, die ungeübt sind im Glauben, und<br />
sie einladen ein <strong>St</strong>ück mit ihr, der Gemeinde zu gehen. Dafür wird sie<br />
Verbündete brauchen: andere <strong>Kirchengemeinde</strong>n mit anderen<br />
Mitarbeitern. Sie wird nicht mehr alles allein machen können, sie wird<br />
lernen müssen, loszulassen und zu kooperieren. Sie wird Verbündete<br />
brauchen im Kiez: freie Initiativen, diakonische Träger, Partner in der<br />
Ökumene, Bezirkspolitiker.<br />
Ja, die Chancen stehen gut. Denn Kirche gehört zur Gesellschaft,<br />
gehört mitten in sie hinein, gehört zum Netzwerk einer lebenswerten<br />
<strong>St</strong>adt. Die Menschen dieser <strong>St</strong>adt fragen nach Gott und suchen nach<br />
77
78<br />
Orten, wo sie Spuren lebendigen Glaubens an diesen Gott finden<br />
können.<br />
Auch die Männer, Frauen und Kinder im Friedrichshain brauchen<br />
darum Orte, die mitten in der lauten <strong>St</strong>adt für sie eine erholsame<br />
Herberge, ein Ort der Besinnung sein können – für kürzere Atempausen<br />
oder längere Aufenthalte.<br />
Ich wünsche der Lazarus-Gemeinde, dass sie mit ihrem neuen Pfarrer<br />
Johannes Simang einen Pfarrer hat, der die Menschen der Gemeinde<br />
herauslockt in den Kiez, sie wieder neugierig macht auf das Leben<br />
um sie herum, so dass die Menschen im Friedrichshain neugierig<br />
werden auf diesen Ort und auf die Menschen, die an diesem Ort<br />
Gott gefunden haben.<br />
Lazarus, komm heraus – die Menschen brauchen dich!<br />
Pfarrerin Eva-Maria Menard ist theologische Referentin im Kirchenkreis Berlin<br />
<strong>St</strong>adtmitte und leistet ehrenamtlich pfarramtliche Dienste in der Lazarus-<br />
Gemeinde.
ANHANG<br />
ERINNERUNGEN VON ZEITZEUGEN<br />
Hannelore Bolte, geb. Seidler – zum Gemeindeleben (50er Jahre)<br />
Geboren bin ich noch im Krieg, im Mai 1944, aber meine Taufe fand<br />
nicht mehr in der alten Kirche, im „Dom des Ostens“ statt, sondern<br />
im Gemeindehaus.<br />
Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, erinnere ich mich gern an<br />
den Besuch des Kindergottesdienstes, von Pfarrer Katzenstein und<br />
seiner Frau gestaltet, sowie an die Christenlehre, die im Gemeindehaus<br />
von der Diakonisse Schwester Irmgard Meißner unterrichtet wurde,<br />
von der ich auch einen Eintrag in meinem Poesie-Album habe.<br />
Sehr wichtig wurde für mich der Besuch der Kinder- und später<br />
Jugendkreise im Keller des Gemeindehauses. Wir spielten u.a.<br />
Tischtennis, „Reise nach Jerusalem“, sangen alle Lieder aus der<br />
„Mundorgel“, beteten und lasen gemeinsam Bibeltexte. Hier betreute<br />
uns Gisela Koch. Besonders schön war für uns die Gemeinschaft.<br />
Das spürten wir auch jeden Monat einmal bei unserer sog. „Monatsrüste“.<br />
Der Jugendpfarrer Noack (aus West-Berlin) hielt zunächst einen<br />
Gottesdienst in einer Friedrichshainer Gemeinde, und anschließend<br />
gab es ein gemütliches Beisammensein. Übrigens trugen wir Mädchen<br />
und Jungen der einzelnen Gemeinden sehr stolz unser Zeichen der<br />
Zugehörigkeit zur „Jungen Gemeinde“: das Kreuz auf der Weltkugel.<br />
Ich erinnere mich daran, wie ich doch öfter auf dieses Zeichen<br />
angesprochen wurde, auch, als ich am S-Bhf. Warschauer <strong>St</strong>r. für die<br />
„Innere Mission“ mit einer Sammelbüchse stand. Als ich mit 16 zur<br />
Tanzstunde ging, wunderte sich mein Tanzpartner, dass ich als<br />
Oberschülerin das Kugelkreuz tragen durfte. Da erklärte ich ihm, dass<br />
ich als Nicht-Pionier und als Konfirmandin – ohne die Absicht, je die<br />
Jugendweihe zu empfangen – nach der damals noch geltenden 8-<br />
Klassen-Schule nicht in die Oberschule aufgenommen worden war<br />
und daher in ein West-Berliner Gymnasium, in eine sog. „Ost-Klasse“<br />
mit Russisch als 1. Fremdsprache gewechselt hatte. Allerdings hörten<br />
wir von einer Freundin aus unserem Kreis, dass sie sich in ihrer<br />
Friedrichshainer Oberschule bei der FDJ-Sekretärin beschwerte, dass<br />
79
80<br />
ihr immer wieder das Kugelkreuz gestohlen würde, denn sie vergriffe<br />
sich ja auch nicht an den FDJ-Abzeichen. Dieser Mut lohnte sich, die<br />
Aktionen gegen sie unterblieben. Ich meine wirklich sagen zu können,<br />
dass die Zugehörigkeit zur christlichen Kirche für uns in jener Zeit ein<br />
Bollwerk gegen den kommunistischen, antikirchlichen <strong>St</strong>aat bedeutete.<br />
Noch etwas sollte nicht vergessen werden, und zwar die vielen<br />
kulturellen Anregungen in unseren Jugendkreisen. Zum Beispiel<br />
besuchten uns im o.a. Keller Schauspieler der „Vaganten“-Bühne aus<br />
West-Berlin und lasen Texte von Wolfgang Borchert. Etwa zwölf<br />
Jahre nach Kriegsende war das für uns junge Menschen sehr ergreifend,<br />
und ich bin noch heute von diesem Dichter fasziniert, der so jung an<br />
den Folgen des Krieges hat sterben müssen.<br />
Regelmäßig erhielten wir Karten für die „Hochschule für Musik“ in<br />
der Hardenbergstr.<br />
Zu Beginn der jeweiligen klassischen Konzerte hat ein Herr, dessen<br />
Namen ich nicht mehr weiß, eine kurze Einführung gegeben. Noch<br />
war Berlin eine <strong>St</strong>adt.<br />
Die für mich intensivste und prägendste Zeit in Lazarus war meine<br />
Konfirmandenzeit bei Herrn Pfarrer Gerhard Tscheuschner. Seine<br />
Persönlichkeit, seine packende Rhetorik und vor allem seine<br />
Glaubwürdigkeit haben einen in seinen Predigten und in seinem<br />
Konfirmandenunterricht nachhaltig beeindruckt. Unerschrocken trat<br />
er für den Glauben ein, betonte immer wieder, dass Gott mehr zu<br />
gehorchen sei als den Menschen.<br />
Dass wir nicht nur theoretisch etwas über Nächstenliebe erfuhren,<br />
wird mir immer im Gedächtnis bleiben. Pfarrer Tscheuschner fragte<br />
in seinem Unterricht nach, wer denn alte und kranke Gemeindemitglieder<br />
besuchen wollte. Einige wenige meldeten sich. Frau<br />
Tscheuschner lud uns dann zu sich nach Hause zum Kekse-Backen<br />
ein, die wir den Menschen brachten. Dazu hatte Christa Göbel, die<br />
heutige Pastorin und Tochter unserer Organistin Wera Göbel, mit<br />
mir das Lied „Großer Gott, wir loben dich.“ eingeübt. Das war für<br />
sie gar keine so leichte Aufgabe, denn Frau Göbel hatte mir bedauernd<br />
erklärt, mich wegen mangelnder <strong>St</strong>imme nicht in ihren großartigen<br />
Chor aufnehmen zu können. Ich nahm aber einmal an einer Probe in<br />
der Weihnachtszeit teil und erlebte, wie die Chorleiterin am Ausdruck<br />
feilte. Bei dem wunderschönen Lied „Ich steh an deiner Krippen
Konfirmation am 30. März 1958 – Konfirmandengruppe von Pfarrer Tscheuschner.<br />
hier, o Jesu, du mein Leben“ sollten die Sätze „ich lag in tiefster<br />
Todesnacht“ und „du warest meine Sonne“ erfahrbar werden. Diese<br />
Sonne wird mir unvergesslich bleiben, das schrieb ich auch in meinem<br />
Kondolenzbrief an Christa Göbel nach dem Tode ihrer Mutter.<br />
Für Herrn Pfarrer Tscheuschner waren Kirchenlieder und besonders<br />
die von Paul Gerhardt ebenso wichtig. Meine Freundin, Rosemarie<br />
Bittner, geb. Marbach, erinnert sich an sein Lieblingslied: „Du meine<br />
Seele, singe“ mit besonderer Betonung der 5. <strong>St</strong>rophe: „Er weiß viel<br />
tausend Weisen, zu retten aus dem Tod, ernährt und gibet Speisen zur<br />
Zeit der Hungersnot, macht schöne rote Wangen oft bei geringem<br />
Mahl, und die da sind gefangen, die reißt er aus der Qual.“<br />
Was ich vor allem durch meinen Konfirmator vermittelt bekommen<br />
habe und in meinem ganzen Leben bewahren konnte, ist die Gewissheit,<br />
dass mich Gottes Hand behütet. Als wir uns für unsere Konfirmation<br />
am 30.3.1958 einen Konfirmationsspruch selbst aussuchen konnten,<br />
81
82<br />
wählte ich Joh 14,6: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben;<br />
niemand kommt zum Vater, denn durch mich.“ Es freute mich<br />
besonders, dass Herr Pfarrer Tscheuschner diesen Spruch auch zu<br />
seinem Predigttext ausgewählt hatte. Wenn ich mir heute unser<br />
Konfirmationsfoto ansehe, kann ich nur staunen: Wir sind 42<br />
Konfirmanden! Und Pfarrer Müller-Matthesius hatte ebenfalls eine<br />
Gruppe. Ende der 50er Jahre waren also Kirche und kirchliche<br />
Zeremonien noch ein fester Bestandteil auch in der Gesellschaft der<br />
DDR. Unsere kleinen Goldkettchen mit Kreuz, die wir zur Konfirmation<br />
geschenkt bekamen, trugen wir auch in den Friedrichshainer<br />
Schulen.<br />
Im Mai 1961 verließen meine Eltern und ich die DDR, vor allem in<br />
Sorge darum, dass etwas Einschneidendes passieren könnte, das mir<br />
verbietet, mein Gymnasium in Schöneberg weiter zu besuchen. Meinen<br />
Lebenstraum, Lehrerin zu werden, hätte ich dann nicht verwirklichen<br />
können. Der Abschied aus Ost-Berlin, vor allem aus unserer Lazarus-<br />
Gemeinde, ist mir unglaublich schwer gefallen. Da man keinen in die<br />
Fluchtabsicht einweihen konnte, musste man seine Gefühle für sich<br />
behalten, als man das letzte Mal einen Gottesdienst bzw. den<br />
Mädchenkreis besuchte. So dankbar wir waren, dass meine Mutter<br />
nach einer stundenlangen Kontrolle an der Grenze frei gelassen und<br />
nicht der beabsichtigten „Republikflucht“ verdächtigt wurde und wir<br />
heil im Westen angekommen sind, so fremd war uns manches.<br />
Insbesondere meine Kontaktaufnahme zu meiner neuen Jungen Gemeinde<br />
in Charlottenburg zeigte mir, dass das Engagement, das ich im Osten<br />
gewohnt war, nicht in dem Maße anzutreffen war. Die Zugehörigkeit<br />
hier war eine Aktivität unter vielen Möglichkeiten. Doch auch ich nutzte<br />
das schließlich aus und fuhr drei Jahre später begeistert als 20-Jährige<br />
mit einem Jugend-Kirchenkreis aus dem Bezirk Charlottenburg nach<br />
London.<br />
Zu meinem Konfirmator hielt ich durch Briefe, Telefonate und<br />
Besuche <strong>bis</strong> an sein Lebensende Kontakt. Besonders wohltuend war<br />
für mich eine Einladung zu ihm nach Hessen, als es mir persönlich<br />
nicht so gut ging. Vor drei Jahren, als ich seinen Sohn mit Familie<br />
besuchte, war ich auch am Grab von Ursula und Gerhard<br />
Tscheuschner. Ich werde diese beiden Menschen, die mir so viel und
so Nachhaltiges für mein Leben gegeben haben, in dankbarer und<br />
ehrender Erinnerung behalten.<br />
Als ich nun über den Sohn Prof. Dr. Reinhard Tscheuschner von dem<br />
anstehenden Jubiläum hörte, war ich ganz begeistert. Zuletzt nahm<br />
ich in Lazarus an einem Gottesdienst mit der Abkündigung von Frau<br />
Göbels Tod und Beisetzung teil; leider konnte ich ihr aus dienstlichen<br />
Gründen nicht das letzte Geleit geben. Für das Jahr 2008 hoffe ich<br />
auf die in meiner alten Gemeinde stattfindende Goldene Konfirmation,<br />
auch wenn es leider keine eigene Lazarus-Gemeinde mehr geben<br />
wird, wie ich hörte.<br />
Die Erinnerung an diese Gemeinde lebt aber, wie man sieht, in vielen<br />
Menschen weiter!<br />
Hannelore Bolte, geb. Seidler<br />
Berlin, den 31.10.2005<br />
83
84<br />
Ernst-Ulrich Katzenstein – zur Tätigkeit seines Vaters Pfarrer<br />
Artur Katzenstein (40er und 50er Jahre)<br />
Mein Vater hat am 1. August 1947 nach der Berufung durch die<br />
Kirchenleitung seinen Dienst in der Lazarus-<strong>Kirchengemeinde</strong><br />
angetreten. Sein Einführungsgottesdienst hat am 14. September 1947<br />
durch den zuständigen Superintendenten Pätzold stattgefunden. Pfarrer<br />
Kracht und Kalkof haben assistiert.<br />
Zum Vorleben: Mein Vater war von Anfang an Mitglied der Bekennenden<br />
Kirche (BK) bzw. schon des Pfarrernotbundes. Er war Vikar und<br />
Hilfsprediger der BK. Überall, wo ein Pfarrer Predigtverbot hatte<br />
oder gar verhaftet war, wurde er eingesetzt. Das hatte auch für die<br />
Familie seine Bedeutung. Meine Eltern waren drei Jahre befreundet,<br />
drei Jahre verlobt und drei Jahre verheiratet. Sie lebten wegen der<br />
ständig wechselnden Einsatzorte meines Vaters getrennt, <strong>bis</strong> sich meine<br />
Geburt ankündigte.<br />
Er suchte dann eine feste Pfarrstelle. Als Regimegegner hatte er nur<br />
die Chance in <strong>St</strong>epenitz, Kreis Pritzwalk, in der Ostprignitz. Die Gemeinde<br />
mit einigen dazu gehörenden Dörfern war Patronatspfarrstelle,<br />
unterstand also einigen brandenburgischen Adelshäusern, die nicht<br />
Nationalsozialisten waren. Die gaben ihm eine Chance.<br />
Meine frühen Kindheitserlebnisse waren unter anderem Hausdurchsuchungen<br />
durch die Gestapo und Flucht vor Verhaftung. Der Lehrer<br />
des Dorfes war Organist, meldete nach jedem Gottesdienst den Inhalt<br />
der Predigten meines Vaters. Dienstags rückte die Gestapo an.<br />
Dann wurde er Soldat. Heute weiß ich, dass die BK mit ihren<br />
Beziehungen seine Einberufung organisiert hatte, um ihn den ständigen<br />
Zugriffen durch die Gestapo zu entziehen.<br />
Was nach dem Kriege geschah, beschreibt er kurz so: „Wie sich die<br />
Bilder gleichen: Nach 1945 wurde ich trotz meiner Haltung im Dritten Reich als<br />
zurückgekehrter Soldat aus dem Haus geholt und nach Russland verschleppt.“<br />
Nach vierzehn Monaten kam er wieder nach Hause. Mein Vater und<br />
ein weiterer Kamerad haben als einzige von zweiundzwanzig<br />
Verschleppten überlebt.<br />
Nach Berlin berufen wurde er 1947. Früher mussten die jungen Pfarrer<br />
erst auf einem Dorf Dienst tun, bevor sie in die Großstadt durften.<br />
Das geschah 1947.
Er konnte sich damals zwischen Berlin-<strong>St</strong>eglitz und Lazarus<br />
entscheiden. Die Behörde bat ihn, in den Friedrichshain zu gehen, um<br />
einige Probleme in der Kirchgemeinde zu ordnen. Das hat er dann<br />
auch getan. Es war nicht das erste Mal in seiner Laufbahn als Pfarrer.<br />
Wenn ich mich recht erinnere, hatte Lazarus damals etwa 19.000<br />
Gemeindemitglieder. Das bedeutete: unzählige Bestattungen, vor allem<br />
aber viele Konfirmanden – <strong>bis</strong> zu zweihundert pro Jahrgang.<br />
Entsprechend groß waren die Unterrichtsgruppen, jeweils fünfzig<br />
junge Menschen.<br />
Für Vergangenheitsbewältigung war da keine Zeit. Im Gegenteil: Die<br />
politischen Verhältnisse im damaligen Ost-Berlin entwickelten sich<br />
schnell zu dem, was mein Vater schon einmal als junger Pfarrer erlebt<br />
hatte. Einige wenige kurze Sätze aus seinen Erinnerungen: „Als wir<br />
einmal nicht zur Wahl gegangen waren, kamen die Vertreter der Partei mit der<br />
Wahlurne ins Haus. Ich war Religionslehrer an der Schule in der Lasdehner<br />
<strong>St</strong>raße und wurde eines Tages nicht mehr hineingelassen. Als eine Kanzelabkündigung<br />
verlesen werden sollte, haben wir es zu Dreien getan, damit nicht einer<br />
herausgepickt wurde. Ich wurde eines Tages verhaftet, aber, da ich eine Beerdigung<br />
hatte, wieder freigelassen.“<br />
Als 1953 der Kampf gegen die Junge Gemeinde begann, hatte ihm die<br />
<strong>St</strong>asi einen Spitzel in den Jugendkreis gesetzt. Der war dann in den<br />
Westen gegangen. Meinen Vater wollten sie zur Verantwortung ziehen.<br />
In die Zeit seiner Tätigkeit in Lazarus fiel auch die Sprengung der<br />
Kirchenruine. Grund war vor allem: Mit dieser Sprengung bekam<br />
der <strong>St</strong>aat Anrecht auf das Grundstück.<br />
Auch das Gemeindehaus in der Memeler <strong>St</strong>raße, später Marchlewskistraße,<br />
gehörte zu den begehrten Objekten der politischen Behörden.<br />
Ohnehin hatten sie dort schon Kulturveranstaltungen durchgeführt.<br />
Als die Beschlagnahme des Hauses drohte, veranlasste mein Vater<br />
blitzschnell das Anbringen des Kreuzes auf dem Haus und eine<br />
Veränderung des <strong>bis</strong>herigen Kinogestühls zu unbeweglichen<br />
Kirchenstühlen.<br />
Noch eines ist mir neben vielem im Gedächtnis: Der Küster der<br />
Gemeinde wohnte in West-Berlin. Er hatte immer die Kirchenzeitung<br />
vom Verlag in der Kochstraße zu holen. Die musste dann in der<br />
Gemeinde selbst verteilt werden. Am 17. Juni 1953 ist er plötzlich<br />
verschwunden. Man dachte, er sei wegen der damals geschlossenen<br />
85
Grenze nicht gekommen, <strong>bis</strong> seine Frau<br />
auf Umwegen bei Lazarus nachfragen<br />
ließ, wo denn ihr Mann abgeblieben sei.<br />
Genau so zufällig erfuhr mein Vater über<br />
gewisse Kanäle, dass er im Gefängnis<br />
saß und sein Prozess kurz bevorstand.<br />
So konnte er sich einschalten: einen<br />
Gutachter, der gute Beziehungen zu<br />
sowjetischen Dienststellen hatte, einen<br />
Kollegen, der früher einmal Jurist war<br />
Kindergottesdienst – ein Ausflug mit Armgard als Verteidiger. So dauerte der Prozess<br />
und Artur Katzenstein.<br />
dann statt der üblichen dreißig Minuten<br />
mehrere <strong>St</strong>unden. Das <strong>St</strong>rafmaß wegen<br />
politischer Äußerungen vom Küster, die er in der U-Bahn gemacht<br />
hatte, wurde von zehn Jahren auf achtzehn Monate<br />
„heruntergehandelt“. Die musste er absitzen. Bei seiner Entlassung<br />
wurden ihm dann auch die Kirchenzeitungen wieder ausgehändigt,<br />
die natürlich in der Gemeinde etwa zwei Jahre zu spät angekommen<br />
wären.<br />
Anfang 1954 wurde gegen mich selbst auf meiner damaligen Schule<br />
ein Schauprozess vorbereitet. Hauptanklagepunkt war meine Aktivität<br />
in der Jungen Gemeinde: Ich sei Leiter und <strong>St</strong>ütze einer Gruppe, die<br />
gegen die Regierung arbeitet. Dasselbe habe ich dann wieder bei<br />
Einsicht in die <strong>St</strong>asiakten meines Vaters gefunden: Der Sohn soll<br />
leitendes Mitglied einer Untergrundgruppe sein.<br />
Wiederum über viele Kanäle habe ich rechtzeitig davon erfahren und<br />
konnte so den damaligen „Demokratischen Sektor“ Berlins vor meiner<br />
Verhaftung verlassen.<br />
Die Kirchenbehörde hat dann im Herbst 1954 meinen Vater nach<br />
<strong>St</strong>aaken-Gartenstadt berufen. Eigentlich war das ein ähnlicher Vorgang<br />
wie der der Einberufung meines Vaters zum Militär, um ihn damals<br />
vor dem ständigen Zugriff der Gestapo zu bewahren. Deren Rolle<br />
hatte in dieser Zeit der <strong>St</strong>aatssicherheitsdienst übernommen.<br />
Mein Vater hat das Problem „Kirche und <strong>St</strong>aat“ in beiden Systemen<br />
immer so umschrieben: „Unter Hitler hat man den Gemeinden die Pfarrer<br />
genommen, aber die Gemeinden haben weiter existiert. In der so genannten DDR<br />
hat man daraus gelernt und den Pfarrern die Gemeinden genommen.“ Wie das<br />
86
gegangen ist und was daraus geworden<br />
ist, ist hinreichend bekannt. Diese Entwicklung<br />
ist allerdings erst nach 1954 voll<br />
zum Zuge gekommen, unter anderem<br />
mit der Einführung der so genannten<br />
sozialistischen Familienfeiern.<br />
Zu seiner Zeit war mein Vater noch<br />
zuständig für den Kindergottesdienst im<br />
Kirchenkreis. In Lazarus selbst waren es<br />
Hunderte von Kindern die verhältnismäßig<br />
regelmässig daran teilnahmen,<br />
auch an den damals noch üblichen<br />
Ausflügen.<br />
Außerdem war er verantwortlich für den sozialen Einsatz<br />
der Inneren Mission im Kirchenkreis. Die hatte ihr Büro im<br />
Kirchgemeindehaus Lazarus. An drei Mitarbeiterinnen<br />
kann ich mich noch erinnern: Ilsa von Rauschenplath, eine<br />
Frau von Zitzewitz und Elisabeth Rotschuh. Letztere war<br />
die Tochter des Erbauers der ersten Berliner Hoch- und<br />
U-Bahn sowie der Bagdadbahn. Die Damen wohnten<br />
in West-Berlin, waren also nach Schließung der Grenze<br />
nicht mehr verfügbar.<br />
Jene Jahre gehörten zur „schlechten“ Zeit. Darum war<br />
das Gelände vor und hinter dem Gemeindehaus in<br />
Pflanzgärten für die Mitarbeiter aufgeteilt. Hinten in der<br />
Gartenecke hatten wir einen kleinen Hühnerhof. Die<br />
Hühner wurden morgens in einer Kiste in den Garten<br />
getragen, abends wieder in die Wohnung, wo sie im<br />
Badezimmer übernachteten.<br />
Bedeutsam war damals auch die Jugendarbeit. Neben Achim Giering,<br />
Heinz Leschonski und Ronald Kutsche können sicher noch andere<br />
über diese Arbeit berichten.<br />
Ernst-Ulrich Katzenstein<br />
Basel, den 23.12.2005<br />
Der Gemeindekindergarten. Hinten rechts der<br />
Kurator Lehmann.<br />
Hühnerzucht im Garten<br />
hinter dem Gemeindehaus.<br />
87
88<br />
Dr. Reinhard Müller-Matthesius – zur Tätigkeit seines Vaters<br />
Pfarrer Walter Müller-Matthesius (50er Jahre; geschildert auf der<br />
Basis von Aufzeichnungen aus dem Nachlass seines Vaters)<br />
Mein Vater, der seit Mai 1930 Pfarrer in dem uckermärkischen Dorf<br />
Parstein war und von dort aus eine Reihe weiterer Dörfer betreute,<br />
strebte Ende der 1940er Jahre eine Pfarrstelle in Berlin an. Zu den<br />
Beweggründen gehörte eine zunehmende Kirchenfeindlichkeit in jener<br />
Gegend nach dem Kriege. Zudem wollte er mir, seinem Sohn<br />
Reinhard, den Besuch eines Gymnasiums ermöglichen, der in der<br />
damaligen Zeit in jener Gegend nicht oder schlecht möglich war.<br />
Von den Kirchenbehörden wurde meinem Vater angeboten, dass er<br />
sich um eine Pfarrstelle an der Berliner Lazarus-Gemeinde bewerben<br />
könne, die durch den Tod des Pfarrers Kalkof vakant geworden<br />
war. Pfarrer Kalkof, ein wissenschaftlich und literarisch hoch begabter<br />
Mann, war am 1. Oktober 1949 im Alter von nur 54 Jahren verstorben.<br />
Als mein Vater den geschäftsführenden Pfarrer an Lazarus, Artur<br />
Katzenstein, aufsuchte, waren seine ersten Eindrücke von der in<br />
Aussicht gestellten Wirkungsstätte nicht durchweg positiv. Man muss<br />
wissen, dass damals in dieser Gegend Berlins noch viele Häuser in<br />
Schutt und Asche lagen und die eindrucksvolle Lazaruskirche, die von<br />
der Gemeinde stolz „Dom des Ostens“ genannt wurde, 1945 ein<br />
Opfer der Bombenangriffe geworden war. Es standen nur noch das<br />
1931 erbaute Gemeindehaus und ein Kirchsaal. Das Eingangstor zu<br />
dem Grundstück war so unscheinbar, dass mein Vater zunächst daran<br />
vorbeilief.<br />
Mein Vater schreibt über seinen ersten Kontakt mit der Lazarus-<br />
Gemeinde: „Erst als ich umkehrte und die <strong>St</strong>raße noch einmal genauer<br />
betrachtete, entdeckte ich hinter einem verfallenen Gemäuer das Gebäude und<br />
über einem eisernen Eingangstor ein Schild mit Kreuz und der Inschrift „Lazarus-<br />
Gemeinde“. Hinter dem Tor aber war ein anheimelnder Rasenplatz mit Rosen<br />
und Sonnenblumen und kriechendem Wacholder und die Wände und Mauern<br />
entlang Haselnussgebüsch und Flieder. Es kam mir der Gedanke „Noch kannst<br />
du umkehren“ doch setzte ich meinen Weg fort in der Überzeugung: „Nein sagen
kannst du noch immer und ansehen kostet<br />
nichts“. Ich stieg also die <strong>St</strong>ufen zur Pfarrwohnung<br />
empor, klingelte und stand Pfarrer<br />
Katzenstein gegenüber, der, als er erfuhr wer<br />
ich wäre, mich freundlich empfing und sogleich<br />
in sein Arbeitszimmer führte. Es war ein<br />
kluger und tüchtiger Mann, und ich hoffte, da<br />
ich mit meinen Amtsbrüdern immer gut<br />
ausgekommen war, auch hier auf ein<br />
befriedigendes Zusammenarbeiten. Wir machten<br />
also gleich einen Termin für eine Gastpredigt<br />
an Lazarus aus, besichtigten die<br />
Gemeinderäume samt Kirchsaal und<br />
verabschiedeten uns in freundlichem<br />
Einvernehmen. Die Gemeinde aber schien mir<br />
nicht übel zu sein.“<br />
Am 20. August 1950 hielt mein Vater<br />
dann eine Gastpredigt über Römer 8,<br />
Verse 35-39. Hierzu vermerkt er: „Der<br />
Besuch war trotz des herrlichen Sommerwetters<br />
und trotz der Hauptreisezeit gut, die innere<br />
Beteiligung der Gemeinde erfreulich. Ich reichte<br />
also meine Bewerbung um die vakante<br />
Pfarrstelle ein, Pfarrer Katzenstein betrieb die<br />
formalen Dinge geschickt und in kürzester Frist,<br />
die Pfarrwahl fand statt: der Gemeindekirchenrat<br />
wählte mich zum Pfarrer an Lazarus, was<br />
so einstimmig in diesem Gremium noch nicht<br />
vorgekommen war. Das Konsistorium berief<br />
mich zum 1. November 1950 an die Pfarrstelle,<br />
doch bat ich darum, erst am 1. Januar 1951<br />
das Amt antreten zu dürfen, um meine alten<br />
Gemeinden über Weihnachten noch versorgen<br />
zu können.“<br />
Bibelfreizeit – vermutlich in Grünheide.<br />
In der Pfarrwohnung Neue Königstr. 67 –<br />
vermutlich der Helferkreis.<br />
In der Pfarrwohnung – Gemeindeschwestern und<br />
Frau Johanna Wendland, Leiterin der Frauenhilfe und<br />
Mitglied des Helferkreises.<br />
89
90<br />
Goldene Konfirmation 1954. Links Pfr. Tscheuschner, rechts Pfr. Müller-Matthesius.<br />
Am 1. Januar 1951 hielt mein Vater in Gegenwart des Superintendenten<br />
Pätzold und des Oberkonsistorialrats Schwartskopff die<br />
Einführungspredigt an Lazarus.<br />
Die Wohnungsfrage konnte dadurch gelöst werden, dass wir die<br />
Wohnung seines Amtsvorgängers Kalkof in der (heute nicht mehr<br />
existierenden) Neuen Königsstraße 67 übernehmen konnten, nachdem<br />
die Witwe ausgezogen war. Diese Wohnung lag allerdings außerhalb<br />
der Gemeinde in der Nähe des Alexanderplatzes.<br />
Zu der Zeit, als mein Vater seine Tätigkeit an Lazarus begann, amtierten<br />
dort neben dem geschäftsführenden Pfarrer Katzenstein noch zwei<br />
Pastoren kommissarisch: Latkowski und Tscheuschner. Dadurch, dass<br />
mein Vater nun eine planmäßige Pfarrstelle an Lazarus erhielt, kam es<br />
zu der Frage, welcher von beiden die dritte an Lazarus noch zu<br />
vergebende <strong>St</strong>elle erhalten sollte. Der Gemeindekirchenrat entschied<br />
sich mehrheitlich für Pfarrer Tscheuschner. Pastor Latkowski, ein<br />
begabter und in der Gemeinde beliebter Theologe, erhielt eine<br />
Pfarrstelle in Konradshöhe. Er starb jedoch wenige Jahre später im<br />
Alter von nur 44 Jahren an den Folgen einer Darmtuberkulose.
Wiedersehen über die Mauer im Herbst 1961. Durch geheime Verabredung<br />
besuchten meine Eltern den Gottesdienst in der Versöhnungskirche in der Bernauer<br />
<strong>St</strong>raße. Von einem gegenüberliegenden Balkon konnte ich sie erstmals wiedersehen, als sie<br />
die Kirche verließen. Winken war ihnen verboten; die Kirchenbesucher wischten sich mit<br />
einem Taschentuch den Schweiß von der <strong>St</strong>irn!<br />
Im Jahre 1954 verließ Pfarrer Katzenstein die Lazarus-Gemeinde und<br />
ging nach Berlin-Spandau. Sein Nachfolger wurde Pfarrer Kreitschmann,<br />
der auch die Dienstwohnung im Gemeindehaus Marchlewskistraße<br />
bezog.<br />
Nach Pfarrer Tscheuschner übernahm mein Vater das Amt des<br />
geschäftsführenden Pfarrers. In diese Zeit fällt die Anstellung eines<br />
neuen Küsters, Herr Walter Neumann, einer neuen Gemeindehelferin,<br />
Frau Emma Krüger, und eines neuen Hauswartsehepaars Kühn. Es<br />
wurde auch eine neue Schuke-Orgel für 28.000,- DM aufgestellt, die<br />
Pfarrer Tscheuschner initiiert hatte, und es wurden Kindertagesstätte,<br />
Treppenaufgänge, Konfirmandenzimmer und Küsterei renoviert.<br />
Außerdem führte mein Vater die Vorarbeiten für den Umbau des<br />
Kirchsaals in seine heutige Form durch, der dann unter der<br />
Amtsführung von Pfarrer Kreitschmann vollendet wurde.<br />
91
92<br />
Neben den Gottesdiensten und der Konfirmandenarbeit lagen<br />
meinem Vater besonders die Bibelfreizeiten am Herzen, auf denen es<br />
durch Spiele und Gesang immer fröhlich zuging. Bereits wenige Monate<br />
nach seinem Amtsantritt führte er eine erste Bibelfreizeit in Haus Chorin<br />
durch, die er dort und an anderen Orten mehrfach wiederholte. Diese<br />
Freizeiten wurden für Lazarus insofern bedeutsam, als aus ihnen ein<br />
treuer Helferkreis entstand.<br />
Im Laufe der Jahre war meinem Vater die Tätigkeit an Lazarus so<br />
sehr ans Herz gewachsen, dass er ausführte: „... eine bessere und passendere<br />
Gemeinde in Berlin hätte ich kaum finden können. So war es gut, daß mein Weg<br />
mich in die Marchlewskistrasse geführt hatte.“<br />
Ergänzende Angaben<br />
Die Schilderung der Tätigkeit meines Vaters an Lazarus, basierend<br />
auf seinem handschriftlichen Entwurf, möchte ich wie folgt ergänzen:<br />
Mit dem unseligen Mauerbau vom 13. August 1961 trat für meine<br />
Eltern und mich, wie für viele andere Menschen auch, ein schicksalhaftes<br />
Ereignis ein. Ich befand mich gerade westlich der Grenze und<br />
konnte von einem Tag auf den anderen nicht mehr in die elterliche<br />
Wohnung in Ost-Berlin zurückkehren. Ich setzte mein <strong>St</strong>udium an<br />
der Universität in Münster/Westfalen fort, ohne die Eltern für mehrere<br />
Jahre sehen zu können. Diese Trennung war sicher Anlass, dass mein<br />
Vater eine vorzeitige Pensionierung und eine Übersiedlung nach West-<br />
Berlin anstrebte, die dann am 28. September 1965 mit Genehmigung<br />
der Behörden erfolgte.<br />
Meine Eltern wohnten <strong>bis</strong> Herbst 1980 in einer 2 1 / 2 Zimmer-<br />
Wohnung in Berlin-Spandau. Nachdem mein Vater 1978 einen<br />
Schlaganfall erlitten hatte, aber mit bewundernswerter Energie wieder<br />
sprechen und schreiben lernte, entschlossen wir uns, meine Eltern nach<br />
Marburg/Lahn zu nehmen, wo ich als Chemiker in den Behringwerken<br />
tätig war. Nur wenige Monate nach dieser Übersiedlung, kurz nach<br />
seinem 80. Geburtstag, starb mein Vater am 16. Februar 1981 plötzlich<br />
und unerwartet an Herzversagen. Seine letzte Ruhestätte befindet sich
auf dem <strong>St</strong>ädtischen Friedhof in Marburg/Lahn. Dort liegt seit März<br />
1992 auch meine Mutter, die am 25. Februar 1992, wenige Wochen<br />
vor ihrem 90. Geburtstag, aus diesem Leben abgerufen wurde.<br />
Dr. Reinhard Müller-Matthesius<br />
Herbst 2005<br />
93
94<br />
Prof. Dr. Reinhard Tscheuschner – zur Tätigkeit seines Vaters<br />
Pfarrer Gerhard Tscheuschner (50er Jahre)<br />
Gerhard Tscheuschner<br />
Pfarrer an der Lazarus-<strong>Kirchengemeinde</strong><br />
vom 1. November 1949 <strong>bis</strong> 31.12.1964 (30.03.1967)<br />
„Ich bin Pfarrer aus Berufung”<br />
geb. 8. April 1917 gest. 27. Januar 1993<br />
Neustadt/Warthe Egelsbach<br />
• Ein Leben für Jesus Christus, die Bibel im Gedächtnis und<br />
erfüllt mit vielen Glaubenserfahrungen<br />
• Auf die Menschen zugehend, Ansprecher und Zuhörer<br />
zugleich<br />
• Glauben vermittelnd<br />
• Lebensnah und praktisch helfend<br />
• Gradlinig, konsequent (seit 1936 Mitglied der Bekennenden<br />
Kirche)<br />
• Beharrlich, zielstrebig<br />
• Mutig, unerschütterlich (dem SED-Regime gegenüber)<br />
• Vorbildcharakter
Pfarrer G. Tscheuschner<br />
- Mein Lebensbericht (Auszüge) -<br />
Am 8. April 1917 (Ostersonntag) wurde ich als Sohn des Lehrers und<br />
Kantors Oskar Tscheuschner und seiner Frau Margarethe in Neustadt<br />
a. W. geboren. 1921 zog die Familie mit 4 Kindern nach Berlin -<br />
Lichtenberg um, wo ich auch die Schule besuchte. Nach bestandener<br />
Reifeprüfung im Frühjahr 1936 ging ich zum Arbeits- und Heeresdienst<br />
(Potsdam, Halle).<br />
Schon als Sekundaner war ich Mitglied der Bekennenden Kirche (BK)<br />
und habe während der weiteren Schul- und <strong>St</strong>udienzeit an allen<br />
kirchlichen Vorkommnissen besonderer Art teilgenommen. Die<br />
Verbindung zu dem BK-Bruderkreis (Niemöller, Fischer, Osterloh)<br />
hatte ich nach meiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft wieder<br />
aufgenommen und an den regelmäßigen Veranstaltungen des BK-<br />
Bruderkreises teilgenommen.<br />
Im Herbst 1938 begann ich an der Friedrich-Wilhelm-Universität in<br />
Berlin mit dem philologischen und theologischen <strong>St</strong>udium, das ich<br />
infolge meiner erneuten Einberufung zum Heeresdienst im Herbst<br />
1939 unterbrechen musste. Die erforderlichen Sprachprüfungen hatte<br />
ich zu Beginn des <strong>St</strong>udium nachgeholt.<br />
Während des Krieges (Polen, Frankreich und Russland) erhielt ich<br />
mehrmals längere Zeit <strong>St</strong>udienurlaub, zuletzt aufgrund eines damals<br />
anerkannten KB-Schadens.<br />
Am 1. und 2. April 1941 legte ich vor dem <strong>Evangelische</strong>n Konsistorium<br />
Berlin-Brandenburg das 1. theologische und am 15. Januar 1945 das<br />
2. Examen ab. In der dazwischen liegenden Zeit war ich vorübergehend<br />
als Vikar in Österreich und auch Berlin tätig.<br />
In der Pfarrkirche zu Berlin-Lichtenberg wurde ich am 18. Februar<br />
1945 ordiniert und als Pfarrvikar eingestellt. Zu einer vorübergehenden<br />
Entlassung aus dem Heeresdienst, um in Berlin zu promovieren ist es<br />
durch die eingetroffenen Kriegsereignisse nicht mehr gekommen. Im<br />
März 1945 wurde ich erneut als Nachrichtenoffizier zu den Kampfhandlungen<br />
in Berlin eingesetzt und geriet am 27. April 1945 in russische<br />
Gefangenschaft. Unter furchtbar bedrückenden Verhältnissen wurde<br />
ich nach Aufenthalten in Sagan und Oppeln von Breslau aus im Januar<br />
1946 nach Aserbaidschan (zwischen Tiflis und Baku) gebracht und<br />
95
96<br />
unter schwersten Bedingungen zur Arbeit als Kriegsgefangener<br />
eingesetzt. In dieser besonderen Zwangslage gab es während der<br />
ganzen Zeit keine nennenswerten Erleichterungen…<br />
Als Spätheimkehrer traf ich am 23. August 1949 in Berlin ein und<br />
wurde nach längerem Krankenhausaufenthalt mit Wirkung vom 01.<br />
November 1949 kommissarisch an die Lazarus-Gemeinde in Berlin-<br />
Friedrichshain berufen und später nach erfolgter Gemeindewahl in<br />
mein Amt eingeführt, das ich <strong>bis</strong> zur Übersiedlung im Frühjahr 1967<br />
innehatte. Am 01. April 1953 übernahm ich den Vorsitz im Gemeindekirchenrat<br />
an dieser großen Gemeinde mit drei Pfarrern und wurde<br />
später auch Mitglied der Provinzialsynode Berlin-Brandenburg…<br />
Viele Ereignisse und Erfahrungen haben meinen theologischen<br />
<strong>St</strong>andort bestimmt, der aus Anfechtung und persönlicher Bewahrung<br />
geboren wurde, aber immer neu im Glauben gewonnen werden<br />
musste, wenn Bewährung gefordert war, was sich in den Entscheidungssituationen<br />
oft ergab.<br />
Aus Gewissensgründen bin ich daher auch inmitten eines aggressiven<br />
Atheismus geblieben, so lange es meine physischen und psychischen<br />
Kräfte zuließen und war bemüht, mir über den nächsten Schritt<br />
vorbehaltlos Klarheit zu verschaffen. ... Die Gewissensbelastungen<br />
politischer und persönlicher Art und meine angegriffene Gesundheit<br />
machten einen Milieuwechsel unumgänglich. ... Nach großen<br />
Schwierigkeiten erfolgte am 30. März 1967 mit meiner Familie ein<br />
Wechsel nach Westdeutschland.<br />
23. August 1969 Pfr. Gerhard Tscheuschner
Reinhard Tscheuschner<br />
Sohn von Pfarrer Tscheuschner<br />
- Prägendes und Fragmente -<br />
Meine erste Begegnung mit der Lazarus-Gemeinde war meine Taufe<br />
am 03.09.1950, die mein Vater selbst vollzog und die unter großer<br />
Anteilnahme der Gemeinde stattfand. Gerne besuchte ich später den<br />
Kindergottesdienst, der von den Katechetinnen Schwester Gertrud<br />
und Schwester Irmgard mit spannenden Geschichten gehalten wurde.<br />
Der „Dom des Ostens”, die Lazaruskirche, wurde im Krieg zerstört.<br />
Für Gottesdienste stand nur noch das Gemeindehaus zur Verfügung,<br />
das die neuen Machthaber als Kino mit entsprechenden Klappstühlen<br />
umfunktioniert hatten. Die Atmosphäre während des Gottesdienstes<br />
und das geräuschvolle Klappen der <strong>St</strong>ühle, wenn sich die Gottesdienstbesucher<br />
erhoben, sind gut vorstellbar. Als feststand, dass ein<br />
Wiederaufbau der Lazaruskirche bedauerlicher Weise nicht möglich<br />
war, setzte sich mein Vater für die Renovierung und zusammen mit<br />
der Organistin Wera Göbel für die Beschaffung einer Orgel ein. Das<br />
war ein langer mühevoller Weg, der durch viele Spender zum Erfolg<br />
führte. Ich erinnere mich, dass Bischof Dibelius unsere Gemeinde<br />
anlässlich der Renovierung besuchte und ich als kleiner, aufgeregter<br />
Junge dem Bischof etwas aufsagen sollte und Blumen überreichte.<br />
Aus Erzählungen weiß ich, dass im Zusammenhang mit dem 17. Juni<br />
1953 der Küster der Gemeinde verhaftet wurde. Mein Vater setzte<br />
sich für ihn ein, ließ nach ihm suchen und unterstützte ihn im „Prozess“.<br />
Spätestens von diesem Zeitpunkt an wurde mein Vater vom <strong>St</strong>asi<br />
beobachtet. So wurden während der Gottesdienste Predigten eifrig<br />
mitgeschrieben und selbst bei Beerdigungen folgten ihm Männer in<br />
den berüchtigten schwarzen Ledermänteln. Das beunruhigte besonders<br />
meine Mutter.<br />
Zu den Schwerpunkten der Arbeit meines Vaters gehörte die Seelsorge:<br />
Besuche der Gemeindeglieder, Unterstützung und praktische Hilfen<br />
für den Alltag. Ich erinnere mich, dass ich als Junge meinen Vater<br />
97
98<br />
manchmal bei seinen Besuchen begleitete. Ein weiteres wichtiges<br />
Aufgabengebiet war für ihn die Krankenhausseelsorge.<br />
Es bestand eine gute Zusammenarbeit mit dem Superintendenten<br />
Pfarrer Ringler von der Samariter-Gemeinde sowie mit Pfarrer<br />
Kunzendorf von der Erlöser-Gemeinde. Oft bekam mein Vater den<br />
Konflikt zwischen Kirche und <strong>St</strong>aat direkt zu spüren. Wie andere<br />
Pfarrer auch, wurde er zur damaligen SED-Obrigkeit einbestellt. Die<br />
<strong>St</strong>örung und Unterdrückung des kirchlichen Lebens und einzelner<br />
Menschen geschah immer wieder mit anderen Mitteln – oft auch subtil.<br />
Die Vorstellungen, Forderungen und Zwänge des Regimes gegenüber<br />
seiner Bevölkerung reichten tief in die Privatsphäre hinein und<br />
versuchten christlichen Glauben zu behindern, um eine atheistische<br />
Gesellschaft zu bilden.<br />
Dem setzte mein Vater Lebens- und Glaubenserfahrung entgegen:<br />
„Wir müssen Gott mehr gehorchen als Menschen“. Das war vielen<br />
Menschen im Gewissenskonflikt eine gute Entscheidungshilfe, sich<br />
Konfirmation 1964.
Gott anzuvertrauen und auf die Bibel zu verlassen. Mit diesem<br />
Rüstzeug habe ich meine „etwas“ besondere Schulzeit als Christ (weder<br />
Junger Pionier noch FDJ-ler) und Sohn eines Pfarrers gut überstanden.<br />
Das waren für mich prägende Jahre.<br />
Christenlehre (freiwilliger Religionsunterricht nachmittags in den<br />
<strong>Kirchengemeinde</strong>n) und später dann der zweijährige Konfirmandenunterricht<br />
hatten die Teilnehmer allein schon wegen des äußeren Drucks<br />
eng zusammengeführt. Diese Teilnahme war meist klar im Glauben<br />
begründet. Das war für die ganze betroffene Familie eine Entscheidung,<br />
die deutliche Konsequenzen nach sich ziehen konnte. Uns<br />
Konfirmanden unterrichtete mein Vater, der recht streng und trotzdem<br />
sehr beliebt war. Wir mussten viel lernen. Das Bild zeigt uns nach<br />
unserer Konfirmation 1964. Ich stehe direkt vor meinem Vater. Gerne<br />
wüsste ich, wie es den anderen geht. In der Jungen Gemeinde trafen<br />
sich Konfirmierte in den Kellerräumen der Lazarus-Gemeinde.<br />
Bei uns Zuhause gingen auch viele Gemeindeglieder ein und aus. Ich<br />
erinnere mich noch besonders an Christa, Rosi und Hannelore, die<br />
meine Mutter zum Weihnachtsplätzchenbacken zu uns einlud. Die<br />
jungen Mädchen sangen bei kranken und alten Menschen und verteilten<br />
das Gebäck. Christa hat später Theologie studiert. Rosi und Hannelore<br />
besuchten uns, d.h. meine Eltern, in unserer neuen Heimat verschiedentlich.<br />
Ein freundschaftlicher Kontakt besteht <strong>bis</strong> heute. Auch das gehört<br />
zu dem, was Gott durch Gemeinde und christlichen Glauben uns an<br />
menschlichen Verbindungen schenkt.<br />
Für mich steht fest, ein Engagement in der<br />
Gemeinde und für Jesus lohnt sich. Es hilft<br />
Schwierigkeiten im Leben besser zu<br />
überwinden, schafft Kontakte zu Menschen<br />
und bereitet Freude.<br />
16.01.<strong>2006</strong>, Prof. Dr. Reinhard Tscheuschner<br />
99
100<br />
Georg Hadeler – zur Gestaltung der Altarwand (1960)<br />
Das kirchliche Bauamt beim Ev. Konsistorium Berlin-Brandenburg hatte 1959/<br />
1960 einen Wettbewerb für die Gestaltung der Altarwand im Kirchsaal der<br />
Lazarus-Gemeinde ausgeschrieben und u.a. die Abteilung für „Angewandte<br />
Malerei“ der Muthesius-Werkkunstschule in Kiel aufgefordert, sich daran zu<br />
beteiligen. Der Entwurf des jungen Kunststudenten Georg Hadeler gewann den<br />
1. Preis und kam zur Ausführung. Hadeler reiste für die Realisierung des Projekts<br />
nach Berlin.<br />
Georg Hadeler, geboren am 27. Februar 1939 in Treuenfeld/Niedersachsen,<br />
begann sein <strong>St</strong>udium an der Kieler Kunstschule 1957. 1964 erhielt er ein<br />
<strong>St</strong>ipendium für einen einjährigen <strong>St</strong>udienaufenthalt in den Niederlanden. Nach<br />
wenigen Monaten wurde er Dozent an der Freien Akademie Den Haag. Bis<br />
2001 lehrte er als Kunstprofessor an der Königlichen Akademie Den Haag.<br />
Neben der Malerei widmet sich Hadeler der Lithographie; seine Werke werden<br />
weltweit ausgestellt: in den USA, in Kanada, Peru, Japan und natürlich Europa.<br />
Georg Hadeler lebt in Den Haag.<br />
Zur Altarwandgestaltung im Kirchsaal der Lazarus-Gemeinde schreibt Hadeler:<br />
In seinem Atelier in Den Haag, im Jahre 2002.<br />
Die Idee zu diesem Projekt<br />
Der gegebene Raum war sehr<br />
rechteckig, ich habe darum probiert, mit<br />
vertikalen Linien einen spielerischen<br />
Effekt zu erreichen. Da diese Linien in<br />
den Beton geschnitten sind, entsteht<br />
durch das wechselnde Licht von den<br />
Seiten her eine Veränderung des<br />
Schattens!<br />
Die Ausführung<br />
Von West-Berlin aus, wo ich bei einem<br />
Freund wohnen konnte, machten wir mit<br />
dem Auto verschiedene Besuche via<br />
Check-Point Charlie zur Marchlewskistraße.<br />
Ich war damals so naiv, um leere<br />
Konservenbüchsen (Erbsen-Wurzeln
usw.) mitzunehmen, um Farbtöne<br />
mischen zu können, und ein großes<br />
Paket Tempo-Taschentücher zum<br />
Saubermachen!<br />
Wir haben fast 3 <strong>St</strong>unden an der Grenze<br />
warten müssen, alle Etiketten wurden<br />
entfernt und auf geheime Nachrichten<br />
untersucht. Auch das große Tempo-<br />
Taschentücherpaket wurde total<br />
auseinandergerissen. Der Kommentar<br />
war: Wofür haben Sie diese Konservenbüchsen<br />
nötig? Ich sagte: Zum Farbenmischen.<br />
Darauf bekam ich als Antwort:<br />
Die haben wir in der DDR auch.<br />
Spontan habe ich gesagt: Dann können<br />
Sie die leeren Büchsen hierbehalten. ......<br />
Georg Hadeler, „After Inquisition”, Gemälde<br />
Dieses hätte ich niemals sagen dürfen, 100 x 100 cm<br />
sagte mein Berliner Freund, so konnten<br />
wir warten ...... warten ...... warten ...... und warten.<br />
Eine andere Geschichte:<br />
Als die Kirche fertig war, hatte ich mitten in der Kirche<br />
ein Gespräch mit dem Pastor (den Namen habe ich leider<br />
vergessen). Wir haben über alles Mögliche gesprochen,<br />
natürlich auch über Politik, während der Organist mit<br />
voller Lautstärke gespielt hat. Dies war nötig, um nicht<br />
abgehört zu werden!<br />
Heute kann man sich dieses nicht mehr vorstellen!<br />
Ich habe <strong>bis</strong> heute nicht vergessen können, wie machtlos<br />
man sich bei einem Grenzübergang fühlen kann.<br />
Georg Hadeler<br />
Den Haag, im November 2005<br />
Georg Hadeler, im Jahre 2002.<br />
101
102<br />
Pfarrer Alfred Beuse – zur „Offenen Jugendarbeit“ (70er Jahre)<br />
Die Kellerräume, die während des 2. Weltkrieges als Luftschutzbunker<br />
dienten, wurden Mitte der 70er Jahre für eine „Offene Jugendarbeit“<br />
genutzt. Die Initiative ging von <strong>St</strong>udenten der Predigerschule<br />
„Paulinum“ aus. Meine Frau und ich wohnten damals in der Pfarrwohnung<br />
des Gemeindehauses, und da diese Jugendlichen von der <strong>St</strong>raße<br />
so ziemlich jeden Tag in den Keller wollten, sind wir stark in die<br />
Sache hineingezogen worden.<br />
Als wir am 11.10.1975 begannen, hatten wir im Keller ein „volles<br />
Haus“. Und dann setzte der <strong>St</strong>rom von der <strong>St</strong>raße ein. Da waren die<br />
Anfänge mit M. im Mittelpunkt. B. hielt Kontakt zur „Kleinen<br />
Katakombe“, der bald der „Arm des Gesetzes“ ein Ende machte.<br />
Oft war aber auch keiner der Helfer da und wir standen allein den<br />
anströmenden Scharen gegenüber. I., einer der jungen Leute, – schon<br />
etwas vom christlichen Glauben angezogen – wollte im Keller „in die<br />
<strong>St</strong>ille“ gehen und verschwand dann auch wieder ganz still. <strong>St</strong>attdessen<br />
drangen recht laute Zeitgenossen da unten ein, die meine Frau<br />
couragiert an die Luft setzte.<br />
Dicker Zigarettenrauch meist im Keller, ich kam mir oft wie ein<br />
Räuchermännchen vor. Einmal wurde auch die Haustür geräuchert,<br />
oder sollte sie gar einem lustigen Feuerchen dienen? Aus den Scharen<br />
von der <strong>St</strong>raße hoben sich die Glaubenshelfer mit dem Holzkreuz<br />
auf der Brust sichtbar ab. Schnell kam es zu Bußen und Bekehrungen,<br />
aber wohl zu schnell. Ich denke an manchen, der uns bald mehr<br />
Ärgernis als Hilfe war. Da war M., der eine mit viel Bibelzitaten<br />
gespickte Bekehrungsgeschichte schriftlich niederlegte, mit viel<br />
christlichen Traktaten und Aufklebern der Jesus-People-Bewegung<br />
zu sehen war. Viele Gespräche mit den Eltern. Hochdramatisch wurde<br />
es, als er mir mit einem langen Brief ordentlich die Leviten las.<br />
Nachdem ich den Brief zerrissen hatte, mußte ich mich ziemlich<br />
anstrengen, durch eine Kriegslist wieder ins Haus hineinzukommen.<br />
Der Vater tröstete mich, daß ich noch gut weggekommen sei, ohne<br />
Prügel zu bekommen. Da ich nicht so von der Qualität seiner Bekehrung<br />
überzeugt war, forderte ich M. das Kreuz wieder ab.
Lazarus war zu einem offenen Haus<br />
geworden. M.s diakonische Neigungen<br />
brachten mir P. ins Haus, den Alkoholiker:<br />
Schnaps, Bier u. mehrmals ein<br />
Geldbetrag für Alkohol, damit fing´s an.<br />
Nächtliche Abholung durch Kranken-<br />
Rettungsdienst, Besuch vor dem<br />
Geburtstag meiner Frau um Mitternacht<br />
mit Bewirtung durch Brühsuppe, Abholung<br />
aus der Kneipe, Briefe u. Besuche<br />
im Gefängnis – so fing´s an, und wie<br />
wird sein Weg aufhören...? Heute weiß<br />
ich – er ist vom Alkohol frei geworden<br />
und zu einem lebendigen Glauben<br />
gekommen.<br />
Wie viele haben inzwischen im Übernachtungsraum<br />
im Keller ihr müdes<br />
Haupt zur Ruhe gelegt, auch ältere Gäste<br />
wie der „große Rauschgift-Kriminalist“<br />
H.J., der verkrachte Lehrer J.D...<br />
Manchmal verlor ich die Übersicht, wie<br />
in jener Maien-Nacht, als insgesamt 10<br />
Schläfer sich da unten eingefunden<br />
hatten. 3 „Polen“ wurden uns gegen 24<br />
Uhr gebracht, später noch der 16-jährige<br />
seinen Eltern weggelaufene B. Besonders<br />
lange war C.L. untergetaucht, und ich<br />
konnte nach vielen Wochen wieder eine<br />
Familienzusammenführung arrangieren.<br />
Mißbrauchte Gastfreundschaft hat uns<br />
A. geliefert, der sich das Tonbandgerät<br />
der „Katakombe“ „auslieh“. Auf ähnliche<br />
Art verschwand mancherlei: Geld,<br />
Brieftasche, Koffer-Radio u.s.w. Ein<br />
Sonderzweig der Arbeit war die<br />
Eheberatung mit Z., unser Gast mit<br />
seinem Hund; nächtlicher Besuch zum<br />
<strong>St</strong>udenten der kirchlichen Ausbildungsstätte<br />
„Paulinum” organisierten die “Offene Jugendarbeit”.<br />
F. – ein zeitweiliger Gast im Gemeindehaus.<br />
103
104<br />
Seelsorgegespräch, Übernachtung, Weckdienst und als fröhlicher<br />
Nackedei dem Nachtlager entsprungen.<br />
<strong>St</strong>ammgast für fast 1/4 Jahr wurde F.; war das ein „<strong>St</strong>reß“ als er Tag<br />
für Tag nach dem Ulmenhof zur Arbeit fuhr. Ein Wanderer mit wenig<br />
Gepäck und geringen kosmetischen Bedürfnissen. Einmal spielte F.<br />
den freundlichen Gastgeber für eine ganze Schar von Pennern, die ich<br />
dann am andern Morgen um 6 Uhr durch´s Hinterpförtchen ins Freie<br />
entließ. „Freund und Helfer“ [„Abschnittsbevollmächtigter“ (ABV)<br />
der DDR-Volkspolizei] hatte sie aber doch noch schnell zu einer Musterung<br />
vor ihrer Weiterfahrt zu sich eingeladen.<br />
Turbulent ging´s oft her. Vorsicht war bei Kuchen und Obst geboten,<br />
die wir gern vor der Wohnungstür kaltstellten. Mal wurde uns der<br />
Eingang mit großen, alten Möbeln verbarrikadiert; im Winter kam´s<br />
zur Schneeballschlacht mit Zielschießen ins Badezimmer. Schärferes<br />
Geschütz in Form von Mauersteinen wurde gegen den Schaukasten<br />
angewandt. Mal kam´s fast zur Prügelei im Treppenhaus. Schließlich<br />
muß „Freund und Helfer“ kommen, um unserer Forderung zum<br />
Verlassen des Geländes Nachdruck zu verleihen. Das letzte Mal haben<br />
wir nachts um 0.30 Uhr den Notruf bedient, als A. und U. uns einen<br />
Besuch machen wollten. Aber mit viel Promille in den Gliedern ist<br />
man kein guter Springer mehr. U. mußte es mit dem Bruch des<br />
Sprungbeins büßen und wurde zu seiner Familie und von dort ins<br />
Krankenhaus befördert. Die Nacht hat uns nicht nur mancherlei<br />
Besuche, sondern auch allerlei Telefonanrufe eingebracht (z.B. die<br />
seelsorgerliche Aussprache des falschen Bruders aus der Offenbarungsgemeinde).<br />
Da ist´s besser, daß wir nun Klingel und Telefonwecker<br />
des Nachts abgestellt haben.<br />
Z.Zt. ist´s ruhig in der „Katakombe“, zu ruhig – „Friedhofsruhe“?<br />
Ist sie noch offen für Menschen, die den rechten Weg suchen? Warum<br />
war für den Alkoholiker M. kein Platz? Wie wird diese Arbeit<br />
weitergehen???<br />
Alfred Beuse<br />
Anfang der 80er Jahre
„MAN GEHT GLATT ÜBER UNS HINWEG“ – AUS DER<br />
HANDAKTE VON PFARRER KRACHT (1945)<br />
Briefwechsel über die Auseinandersetzung um die Nutzung des<br />
Saals im Gemeindehaus durch das Volksbildungsamt<br />
Friedrichshain sowie über die Forderung nach der Entlassung<br />
des Hauswartes - Auszüge<br />
Die große Lazaruskirche war am 13. April 1945 Opfer eines Fliegerangriffs<br />
geworden. Die Zerstörungen waren so stark, dass allein das<br />
Gemeindehaus den gemeindlichen Zwecken diente. Allerdings erhob<br />
auch das Volksbildungsamt des Bezirkes Friedrichshain aus<br />
Ermangelung an Alternativen Ansprüche auf den Saal und weitere<br />
Räume. Am 27. Mai 1945 wurde in einem Nutzungsvertrag vereinbart,<br />
dass der Gemeindesaal „am Dienstag, Mittwoch u. Sonnabend jeder<br />
Woche der Bürgermeisterei zum Zweck der Durchführung kultureller<br />
Veranstaltungen zur Verfügung steht.“<br />
Schon bald kam es zu Konflikten, die sich an einzelnen konkreten<br />
Punkten entzündeten, schnell jedoch eine grundsätzliche Dimension<br />
annahmen. Binnen kurzem ging es um nichts Geringeres als um die<br />
Existenz der Gemeinde. Verknüpft war der Vorgang mit Forderungen,<br />
den Hauswart der Gemeinde wegen seiner politischen Vergangenheit<br />
zu entlassen.<br />
Am 3. Juli 1945 wurde der Lazarus-Gemeinde vom Büro des Pfarrers<br />
Grüber – Beirat für kirchliche Angelegenheiten – Referat ev. Kirche<br />
beim Magistrat der <strong>St</strong>adt Berlin ein Schreiben des Friedrichshainer<br />
Bürgermeisters weitergeleitet, ergänzt mit der Bitte, „das Weitere zu<br />
veranlassen“ und „<strong>bis</strong> zum 15. Juli zu berichten“. Das „Büro Pfr.<br />
Grüber“ war ab 1938 eine kirchliche Hilfsstelle für „nichtarische“<br />
Christen, dessen Leiter Grüber gewesen war, <strong>bis</strong> er 1940 in KZ-Haft<br />
genommen wurde. Grüber wurde im Laufe des Jahres 1945 Probst<br />
in Berlin und Mitglied der Kirchenleitung. In dem Brief des<br />
Bürgermeisters – Personalstelle – (26. Juni 1945) hieß es:<br />
„Wie wir in Erfahrung gebracht haben, befindet sich im Dienste des ev.<br />
Gemeindehauses O. 34, Memelerstr. 54/55, ein Mitglied der NSDAP als<br />
105
106<br />
Hausmeister. Sein Verhalten hat nach Beweisen, die uns zugegangen sind, unter<br />
der dortigen Bevölkerung lebhaften Unwillen hervorgerufen, und wir sehen uns<br />
veranlasst, den ev. Kirchenbeirat der <strong>St</strong>adt Berlin zu bitten, das Dienstverhältnis<br />
dieses Mannes zu lösen und aus dem Gemeindehaus zu entfernen. Als Ersatz<br />
schlagen wir vor, Herrn [...] als Gemeindehausmeister einzusetzen.“<br />
Am 5. Juli antwortete Pfarrer Kracht dem „Büro Pfarrer Grüber“:<br />
„Zu Ihrem Schreiben vom 3. Juli 1945 Dr. <strong>St</strong>./El. erwidere ich Ihnen, dass<br />
meine Geduld jetzt zu ende ist. Wen der Gemeindekirchenrat als Hauswart<br />
beschäftigt, geht die <strong>St</strong>adt Berlin, Personalstelle, gar nichts an. Den Hauswart<br />
suchen wir uns allein aus. Wir können nur kirchliche Leute gebrauchen. Ich habe<br />
es schon sehr bitter empfunden, dass uns damals von der NSDAP der Hauswart<br />
W. aufgezwungen worden ist. Das ist in der unglücklichen Zeit geschehen, als der<br />
Vorsitz im Gemeindekirchenrat wechselte und Herr Pfarrer von Schneidemesser<br />
damals die Geschäfte führte und durch die Deutschen Christen und die Partei in<br />
seiner Energie stark behindert war, auch meinen Vorstellungen nicht Gehör<br />
schenkte.<br />
Inzwischen hat sich W. als ein kirchlicher Mann bewiesen und uns mancherlei<br />
Hilfe gegenüber den Übergriffen der Partei geleistet. Ich sehe keinen Rechtsgrund,<br />
dass ich W. entlassen könnte. Er hat kein höheres Amt in der Partei bekleidet,<br />
sondern war nur als Bezirksarmenvorsteher in der NSV [Nationalsozialistische<br />
Volkswohlfahrt] tätig. Solange die Kirche noch Pfarrer im Dienst lässt, welche<br />
der Partei angehören und in ihr höhere Ämter bekleidet haben, ihnen sogar<br />
Konfirmanden überlässt, sehe ich keine Rechtsgrundlage, seitens der Kirche gegen<br />
W. vorzugehen. Ich habe die <strong>St</strong>elle von Pfarrer von Schneidemesser fünf Jahre<br />
verteidigt, obgleich ich einen DC-Gemeindekirchenrat hatte, und das Konsistorium<br />
wie das Ministerium gegen die Kirche immer wieder versucht haben, ihren Willen<br />
durchzusetzen. Wo ist die Logik, wenn ich unter diesen Umständen gegen W.<br />
vorgehen soll?<br />
In unser Gemeindehaus, Memelerstr. 53/54 hat sich in meiner Abwesenheit das<br />
Volksbildungsamt Friedrichshain eingenistet. Es ist zwischen dem Herrn<br />
Bürgermeister und Herrn Pfarrer Hannasky (Pg. und DC) anliegender Vertrag<br />
geschlossen. Ein gewisser Herr Oe. oder Oe. – den genauen Namen kenne ich<br />
nicht – hat daraufhin den Versuch gemacht, die <strong>Kirchengemeinde</strong> aus dem grossen<br />
Saal völlig zu entfernen. Es kam ein Schreiben vom Volksbildungsamt, nach
welchem der stellvertretende russische Kommandant befohlen haben soll, den grossen<br />
Saal jeden Tag, auch Sonntag Abend, für die Zwecke des Volksbildungsamtes<br />
auszunutzen. [...] Es gibt dauernd Reibereien zwischen dem Oe. und dem Hauswart<br />
W. Ich möchte annehmen, dass das Schreiben der Personalstelle von Oe. veranlasst<br />
ist. Oe. hat sich viele Übergriffe zuschulden kommen lassen, er hat sich unsere<br />
sämtlichen Schlüssel angeeignet und das Verfügungsrecht über unsere Räume. Ich<br />
habe gegen ihn erst die Hilfe der Polizei in Anspruch nehmen müssen.<br />
Der Hauswart W. war auf drei Tage von den Russen verhaftet, ist dann entlassen<br />
worden mit dem Bemerken, dass gegen ihn nichts weiter vorliegt und er in seinem<br />
Dienst bleiben kann. In dieser Zeit sind seine Hühner abgeschlachtet und jedenfalls<br />
unter Mithilfe des Oe. verzehrt worden. Oe. fand im Keller einen Sack Erbsen<br />
und hat ihn einfach verteilt. Ich bitte, unter diesen Umständen gegen Oe. vorzugehen,<br />
die Sache zu klären und soweit er schuldig ist, seine gerichtliche Bestrafung<br />
herbeizuführen.<br />
Unsere schöne Lazaruskirche ist völlig zerstört. Der grosse Saal im Gemeindehaus<br />
ist unsere einzige gottesdienstliche <strong>St</strong>ätte. Ich würde dankbar sein, wenn es möglich<br />
wäre, das Volksbildungsamt aus unserem Saale zu entfernen. Eine Gemeinde von<br />
41.000 Seelen mit fünf Pfarrstellen muss wenigsten eine gottesdienstliche <strong>St</strong>ätte<br />
haben. Der Saal ist so umgebaut und für unsere Zwecke verschandelt, dass es<br />
kaum möglich ist, ihn in diesem Zustande als gottesdienstliche <strong>St</strong>ätte anzusprechen.<br />
Es müssten sich doch auch andere Räume finden lassen, in welchen das<br />
Volksbildungsamt seine Arbeit tun kann. Durch diese Zustände wird der Aufbau<br />
der Lazarusgemeinde unmöglich gemacht. Wir müssen den grossen Saal im<br />
Gemeindehaus wieder so herrichten, wie er für die Zwecke des Gottesdienstes<br />
hergerichtet werden muss. Die Arbeit des Volksbildungsamtes gehört nicht in<br />
gottesdienstliche Räume. [...]<br />
Wenn die Personalstelle von W. schreibt: „Sein Verhalten hat nach Beweisen, die<br />
uns zugegangen sind, unter der dortigen Bevölkerung lebhaften Unwillen<br />
hervorgerufen“, so sind das allgemeine Behauptungen, welche etwas näher substanziert<br />
werden müssten. Ich bin vielmehr der Ansicht, dass W. als Armenvorsteher sogar<br />
verfolgten Kommunisten in wahrhaft christlicher Weise geholfen hat und berufe<br />
mich auf das Zeugnis des Herrn Heinrich Z. Ich habe an W. mancherlei<br />
auszusetzen und bin in keiner Weise mit ihm zufrieden. Das sind aber ganz<br />
andere Sachen. Diese Art der Verfolgung und der Rache kann nicht dem Neuaufbau<br />
107
108<br />
des Lebens dienen. Die Schuldigen soll man bestrafen, aber diese Hetze und der<br />
Hass müssen aufhören.<br />
Es wäre mir sehr interessant, eilt aber nicht, wenn Sie mir verraten würden, auf<br />
Grund welchen Rechtstitels Sie den Gemeindekirchenrat veranlassen und zu einem<br />
befristeten Bericht auffordern.“<br />
Am 14. Juli 1945 schrieb der Vertrauensmann der ev. Kirche, Pfarrer<br />
Dr. Harnisch, an Pfarrer Kracht. Dr. Harnisch war seit 1931 Pfarrer<br />
an der benachbarten Samariter-Gemeinde gewesen. Er hatte während<br />
der NS-Zeit der Bekennenden Kirche angehört, die das Eindringen der<br />
nationalsozialistischen Ideologie in den Bereich der Kirche bekämpfte.<br />
Schweren Angriffen und Denunziationen von Seiten der Deutschen<br />
Christen seiner Gemeinde ausgesetzt, vorübergehend suspendiert und<br />
kurzzeitig in KZ-Haft, war Pfarrer Dr. Harnisch wegen der anhaltenden<br />
Konflikte in der Samariter-Gemeinde vom Konsistorium zwangsversetzt<br />
worden.<br />
In dem Brief hieß es:<br />
„Lieber Bruder Kracht!<br />
Ich habe seiner Zeit, Ihrem Wunsch entsprechend, Ihren Brief betreffend Gemeindesaal<br />
an Herrn Bürgermeister <strong>St</strong>arck weitergegeben. Erst hinterher habe ich<br />
gehört, dass Sie denselben Saal früher der SA zur Verfügung gestellt haben.<br />
Dadurch kommen wir als Kirche natürlich in ein sehr schiefes Licht. Ich bin der<br />
Ansicht, wenn Sie den kirchenfeindlichen Nazis den Saal nicht versagt haben,<br />
dann können Sie es auch nicht gut tun bei einer Gruppe, die der Kirche <strong>bis</strong>her alle<br />
Freiheiten gewährt, die uns die Nazis vorenthalten haben.<br />
Ich habe heute mit dem Herrn Bürgermeister gesprochen und dabei erfahren, daß<br />
keine Gemeinde ihm so viel Kopfzerbrechen bereitet, wie gerade die Lazarusgemeinde.<br />
Gerade die Verhältnisse sind geeignet, das <strong>bis</strong>her gute Verhältnis zwischen Kirche<br />
und Magistrat zu stören.<br />
Da die Verhältnisse nun soweit gediehen sind, daß der große Saal von der<br />
Kulturgemeinde benutzt wird, so schlage ich vor, dass Sie dem Bürgermeister<br />
schreiben: Sie würden vorläufig für die sonntäglichen Gottesdienste auf den großen<br />
Saal verzichten, müßten aber dafür erwarten, daß Ihnen alle Nebenräumen in<br />
ordentlichem Zustande überlassen würden.
Damit der Magistrat aus den Reparaturen kein Besitzrecht konstruieren kann,<br />
schlage ich vor, dass Sie sich alle Reparaturrechnungen zwecks Bezahlung aushändigen<br />
lassen.<br />
Soweit der Magistrat (aus den Reparaturen) sie bezahlt hat, verrechnen Sie mit<br />
der Miete, die der Magistrat für die Benutzung des Saales zu entrichten hat.<br />
Dabei würde ich einen ordnungsmäßigen Mietsvertrag aufsetzen, in dem die Klausel<br />
aufgenommen wird, dass für die großen Feste und Konfirmationen, kurz für alle<br />
Fälle, wo mit einem starken Gottesdienstbesuch zu rechnen ist, der Raum in<br />
würdiger Weise der <strong>Kirchengemeinde</strong> zur Verfügung zu stellen ist. Für die übrigen<br />
Sonntage würde ich mich mit einem der Konfirmandenräume oder mit dem<br />
Luthersaal begnügen.<br />
Mit amtsbrüderlichem Gruß Ihr...“<br />
Darauf am 24. Juli 1945 Pfarrer Kracht an Dr. Harnisch:<br />
„Lieber Bruder Harnisch!<br />
Auf Ihr Schreiben vom 14.7.45. erwidere ich Ihnen, dass erstens die S.A. unseren<br />
Saal niemals benutzt hat. Wir haben vielmehr auf Grund des Kriegsschlichtungsgesetzes<br />
gegen unseren Willen vorübergehend für einige Wochen die <strong>St</strong>abag (Betreuung<br />
französischer Kriegsgefangener) in unserem Saal gehabt, außerdem die Betreuung<br />
der Ausgebombten nach Luftangriffen. Beide Einrichtungen haben niemals den<br />
Gottesdienst gestört.<br />
Zweitens: Wenn der Bürgermeister ausgesprochen hat, dass keine Gemeinde ihm<br />
so viel Kopfzerbrechen bereitet, wie gerade die Lazarusgemeinde, so muß es einmal<br />
ausgesprochen werden, dass diese ständigen Schwierigkeiten uns durch das<br />
Volksbildungsamt und seinen Vertreter Herrn Oe. bereitet werden. Was uns von<br />
dieser Seite geboten wurde, ist wirklich nicht geeignet ein gutes Einvernehmen zu<br />
erhalten. Nicht nur, dass vom Volksbildungsamt Veränderungen, Lichtanlagen<br />
etc. ohne mein Wissen angebracht werden, der Saal ohne mein Wissen der K.P.D.<br />
zu einer Versammlung zur Verfügung gestellt wird mischt es sich obendrein in<br />
unsere ureigensten Angelegenheiten. Herr Oe. weist Handwerker in die Räume<br />
der Inneren Mission ein, lässt vor einigen dieser Räume ein Schloß anbringen und<br />
hält ihn unter Verschluß, dann setzt er die Handwerker ohne mein Wissen in die<br />
Küche [...] im Parterre und läßt ebenfalls einen Extraschlüssel anfertigen und die<br />
Küche verschließen, er entlässt den Hauswart des Gemeindehauses, hält bei ihm<br />
109
110<br />
persönlich Haussuchung, entnimmt einen Sack Erbsen und verteilt sie, verzehrt<br />
die abgeschlachteten Hühner des Hauswarts, erklärt der Hauswartsfrau vor<br />
Zeugen, dass sie zu viel Möbel habe und er als ausgebombter einen Teil derselben<br />
abholen würde. Eine Kindergärtnerin hat zufällig gehört, wie er sich gerade darüber<br />
ausließ, dass er die Horträume auch noch nehmen werde. Er hat von sich aus<br />
<strong>St</strong>ellungen im Kindergarten vergeben wollen, in einem Raum des Hortes und in<br />
die Hortküche hat er den Tischler B. gewiesen und ist ihm beim Transport seiner<br />
Möbel in die Horträume behilflich gewesen. Vor allem aber macht er uns ständig<br />
mit Anzeigen gegen den Hauswart zu schaffen. Sämtliche Schlüssel hatte er sich<br />
im Anfang vom Gemeindehaus angeeignet.<br />
Drittens: Zu der Benutzung des Saales am Sonntag ist noch zu bemerken, daß es<br />
nie zur Debatte gestanden hat, auch für den Hauptgottesdienst auf den großen<br />
Saal zu verzichten. Der Nachmittagsgottesdienst könnte, was die Besucherzahl<br />
betrifft, im Sommer im Konfirmandensaal stattfinden. Wir werden aber durch die<br />
laute Musik (Proben etc.) in dem kleinen Saal so gestört, daß es für die Pfarrer<br />
fast unmöglich ist, dabei Bibelstunde oder Gottesdienste abzuhalten. Einstweilen<br />
haben wir den großen Saal noch für die Abendgottesdienste. Trotzdem ist vom<br />
Volksbildungsamt auch am 22. Juli zur Zeit des Gottesdienstes ohne unser Wissen<br />
ein Konzert angesetzt. Man stelle sich die Unzuträglichkeiten vor, wenn Gottesdienst<br />
und Konzert im selben Raum und zur selben Zeit angesetzt werden. Man geht<br />
glatt über uns hinweg. Unser Küstereibüro verschließt nach Dienstschluß seine<br />
Schränke und Räume. Zweimal sind am anderen Morgen bei zwar verschlossenem<br />
Raum die Schränke offen und durchsucht vorgefunden worden. Es fehlt ein Posten<br />
Schreibpapier. Wer durchsucht unsere Akten?<br />
Unser Entgegenkommen gegenüber dem Magistrat haben wir erst neuerdings<br />
bewiesen, durch Verhandlungen über die Einrichtung eines Flüchtlings-<br />
(Übernachtungsheims) Durchgangsheims. Das Verhalten aber des<br />
Volksbildungsamtes und des Herrn Oe. ist aber für uns völlig untragbar.<br />
Mit brüderlichem Gruß Ihr...“<br />
Das Bezirksamt Friedrichshain/Amt für Volksbildung strebte an, den<br />
Gemeindesaal auch am Sonntagvormittag zu nutzen. Pfarrer Kracht<br />
wurde darüber durch ein Schreiben vom 16. August 1945 in Kenntnis<br />
gesetzt:
„Sehr geehrter Herr Pfarrer!<br />
Am Sonntag, den 2. September 1945, findet die Eröffnungsfeierlichkeit unserer<br />
Volkshochschule statt, in deren Mittelpunkt ein Referat des Leiters der Volksbildungsabteilung<br />
Gross-Berlin, Herrn <strong>St</strong>adtrat Otto Winzer, stehen soll.<br />
Wir sind aus verschiedenen Gründen leider gezwungen, diese Veranstaltung am<br />
Vormittag von 10 – 12 Uhr durchzuführen, und müssen Sie daher bitten, uns<br />
ausnahmsweise den grossen Saal für diese Zeit zur Verfügung zu stellen.<br />
Wir bedauern, dass die allerdings beispiellos ungünstigen Raumverhältnisse in<br />
unserem Bezirk – es steht uns im gesamten Bezirk kein einziger Saal zur<br />
Verfügung – immer wieder zu Kollisionen zwischen dem Amt für Volksbildung<br />
und der Lazaruskirchengemeinde führen. Um eine endgültige Klarstellung<br />
herbeizuführen, die den beiderseitigen Interessen Rechnung trägt, möchte ich Sie<br />
bitten, Ihrerseits einen Zeitpunkt für eine Unterredung zwischen uns zu bestimmen.<br />
Ich würde Sie gern selbst in dieser Angelegenheit aufsuchen.<br />
Ergebenst gez. Schmidt“<br />
Aus einer Randnotiz auf diesem Brief geht hervor, dass Pfarrer Kracht<br />
die Kräfte ausgingen und er sich mit dem Gedanken trug, die<br />
Gemeinde zu verlassen: „Sehr geehrter Herr Moeller! [Präses der<br />
Provinzialsynode] Ich bitte um Ihre Hilfe, wenn ich mich wegen dieser<br />
Unverschämtheit energisch zur Wehr setze. Ich hänge sehr an meiner Gemeinde.<br />
Aber wenn ich eine andere <strong>St</strong>elle finde, gehe ich fort. Keine Wohnung, keine<br />
Kirche, keine Orgel [...]<br />
Pfarrer Kracht wehrte sich gegen die schrittweise Ausweitung der<br />
Ansprüche der Behörde und antwortete am 17. August 1945:<br />
„Sehr geehrter Herr Schmidt!<br />
Es ist ganz ausgeschlossen, dass die <strong>Kirchengemeinde</strong> Lazarus den grossen Saal in<br />
der Zeit von 10 – 12 h am Sonntag, 2. September Ihnen zur Verfügung stellt.<br />
Die Zeit am Sonntag von 10 – 12 h ist durch das Gesetz über die Sonntagsruhe<br />
für den Gottesdienst geschützt. Versammlungen irgend welcher Art dürfen am<br />
Sonntag erst um 12 h beginnen. Diese Vorschrift ist erst in der Nazi-Zeit<br />
fortgefallen.<br />
Wir wollen Ihnen aber entgegen kommen und Ihnen den Saal am 2. September<br />
um 12 h frei geben. Dieses Entgegenkommen seitens der <strong>Kirchengemeinde</strong> setzt<br />
111
112<br />
voraus, dass Sie auch den Interessen der <strong>Kirchengemeinde</strong> mehr Rechnung tragen<br />
als <strong>bis</strong>her.<br />
Es wäre mir sehr lieb, wenn Sie Zeit fänden, mich einmal aufzusuchen, damit wir<br />
die Punkte einmal besprechen könnten, in welchen die <strong>Kirchengemeinde</strong> in ihren<br />
Rechten durch Sie verletzt ist.<br />
Ich mache darauf aufmerksam, das z.B. das Amt für Volksbildung noch nichts<br />
für die Benutzung des Saales gezahlt hat, dass aber Ihr Herr K. über den Saal<br />
und das ganze Haus mehrmals verfügt hat, als ob es sein und nicht unser Eigentum<br />
wäre.<br />
Ich bitte Sie, sich vorher anzumelden, da ich durch mein Amt sehr stark in<br />
Anspruch genommen bin und weder eine Wohnung, noch einen Dienstraum im<br />
Gemeindehaus zur Verfügung habe.<br />
Ergebenst...“<br />
Das Bezirksamt Friedrichshain, Amt für Volksbildung, am 18. August<br />
1945:<br />
„Sehr geehrter Herr Pfarrer!<br />
Auf Ihr Schreiben vom 17. August erwidern wir Ihnen folgendes:<br />
Das Volksbildungsamt Friedrichshain nimmt für sich unbedingt das Recht in<br />
Anspruch, daß ihm im Bezirk wenigstens ein größerer Saal jederzeit zur<br />
Durchführung kultureller Veranstaltungen zur Verfügung steht. Hierfür ist allein<br />
der von jeher völlig unkirchliche, profanen Charakter tragende Bühnensaal in der<br />
Memeler <strong>St</strong>r. 54 als geeignet befunden und daher unter erheblichem Kostenaufwand<br />
von uns wieder hergerichtet worden. Wir können nun keinesfalls der Lazarus-<br />
Gemeinde als einer einzigen <strong>Kirchengemeinde</strong> des Bezirkes das moralische Recht<br />
zuerkennen, Ansprüche geltend zu machen, die uns in der Durchführung unseres<br />
Programms behindern, zumal die Gemeinde über kleinere Räume verfügt, die als<br />
für sie zur Zeit ausreichend angesehen werden können. Allerdings steht der Lazarus-<br />
Gemeinde formal-juristisch auch das Eigentumsrecht an dem großen Saale zu.<br />
Aus diesem Grunde sind wir zur Zahlung einer Entschädigung an die Gemeinde<br />
verpflichtet und zum Abschluß eines entsprechenden Vertrages bereit. Wir müssen<br />
aber dabei darauf verweisen, daß wir allein auf die Einnahmen unserer<br />
Veranstaltungen angewiesen sind und keinerlei Zuschüsse erhalten. Ferner ist<br />
dabei zu berücksichtigen, daß die Lazarus-Gemeinde den großen Saal zur<br />
Abhaltung ihres Sonntags-Gottesdienstes <strong>bis</strong> heute noch nicht zur Verfügung
gehabt hätte, wenn er nicht von uns unter erheblichem Kostenaufwand wieder<br />
hergestellt worden wäre. Denn unter Berücksichtigung der gegebenen Verhältnisse<br />
– insbesondere auch im Hinblick auf die Materialschwierigkeiten – hätte die<br />
Gemeinde als solche niemals die Möglichkeit gehabt, den Saal für ihre Zwecke<br />
herzurichten.<br />
Wir sind grundsätzlich bereit, den Sonntag Vormittag auch weiterhin für die<br />
Kirche freizuhalten, müssen aber unbedingt darauf bestehen, die<br />
Eröffnungsfeierlichkeit für unsere Volkshochschule am Sonntag, d. 2.9.45, von<br />
10 – 12 Uhr durchzuführen. Veranstaltungen dieser Art und von dieser<br />
kulturellen Bedeutung, bei denen führende Männer der Berliner <strong>St</strong>adtverwaltung<br />
das Hauptreferat übernommen haben, sind durchweg in allen Bezirken um diese<br />
Zeit durchgeführt worden.<br />
In der nächsten Woche werde ich Sie zwecks mündlicher Besprechung zur<br />
Vorbereitung eines Vertragsabschlusses nach vorheriger Anmeldung aufsuchen.<br />
Ergebenst...“<br />
Am 31. Oktober 1945 kam es dann zum Abschluss eines ordentlichen<br />
Mietvertrages zwischen der Lazarus-Gemeinde und dem Volksbildungsamt.<br />
Wichtige Anliegen der <strong>Kirchengemeinde</strong> wie Entschädigung,<br />
Nutzungszeiten und Kostenbeteiligungen waren darin<br />
berücksichtigt.<br />
Es gab im Jahr 1946 noch weitere Versuche durch das Bezirksamt<br />
Friedrichshain, in die Nutzung des Gemeindehauses zu kommen, so<br />
durch die Inanspruchnahme des Bunkers unter dem großen Saal für<br />
eine Tbc-<strong>St</strong>ation. Dies wurde abgewendet.<br />
113
114
STATISTIKEN ZUM GEMEINDELEBEN<br />
Gemeindemitglieder<br />
Die Grafik veranschaulicht die Veränderung der Gemeindegröße.<br />
Jedoch ist das Datenmaterial mit Vorsicht zu betrachten, denn aufgrund<br />
unzureichender kirchlicher <strong>St</strong>atistiken sind die Zahlen meist<br />
unzuverlässige Schätzungen und zudem lückenhaft. Immerhin kann<br />
man den Trend ablesen, den die Entwicklung der Mitgliederzahlen<br />
im Verlauf der 110jährigen Gemeindegeschichte genommen hat.<br />
Während der ersten 36 Jahre ihres Bestehens wuchs die Gemeinde<br />
stetig um durchschnittlich über 400 Mitglieder pro Jahr. Diese Zunahme<br />
resultierte aus der durch Zuzug und Geburten wachsenden<br />
Bevölkerungszahl im Gemeindegebiet und forderte eine Anpassung<br />
der gemeindlichen <strong>St</strong>rukturen: die Anzahl der Pfarrstellen wurde erhöht,<br />
der Gebäudebestand ausgeweitet.<br />
Zu Beginn der NS-Zeit sank die Mitgliederzahl um 43%. Das war<br />
eine erhebliche Reduzierung. Sie übertraf deutlich die Abnahme der<br />
„<strong>Evangelische</strong>n“ im gesamten Kirchenkreis Berlin <strong>St</strong>adt I (Friedrichshain<br />
sowie kleine Teile von Mitte und Prenzlauer Berg) (25%), dem<br />
die Lazarus-Gemeinde damals angehörte. Mit 40.000 Mitgliedern war<br />
die Gemeinde allerdings immer noch doppelt so groß wie der<br />
Durchschnitt der Berliner Gemeinden. Wahrscheinlich ist dieser<br />
abrupte Rückgang auf eine veränderte statistische Erhebungsgrundlage<br />
zurückzuführen. Der Mitgliederschwund stand jedenfalls nicht im<br />
Zusammenhang mit Kirchenaustritten, da gerade zum Anfang des<br />
Hitler-Regimes die Gemeinden Zulauf durch Wiedereintrittswillige<br />
hatten. Über die gesamte NS-Zeit blieb die Gemeindegröße stabil.<br />
Erst zum Ende des 2. Weltkriegs halbierte sich die Zahl der<br />
Gemeindemitglieder infolge der schweren Kämpfe im Bezirk<br />
Friedrichshain.<br />
Dass es keine erneute Zunahme nach den Kriegsverwüstungen gab,<br />
erklärt sich zum einen aus der seither geringeren Bevölkerungsdichte<br />
im Gemeindebereich, zum anderen aus der Verdrängung vieler<br />
Christen durch die kommunistische Umstrukturierung des Wohngebietes,<br />
deren Auswirkungen seinerzeit Pfarrer Kreitschmann in Berichten<br />
an die kirchlichen Behörden beklagt hatte.<br />
115
116<br />
70.000<br />
60.000<br />
50.000<br />
40.000<br />
30.000<br />
20.000<br />
10.000<br />
0<br />
Anzahl der Gemeindemitglieder<br />
(Quelle: Kirchliche <strong>St</strong>atistiken)<br />
1895 1905 1915 1925 1935 1945 1955 1965 1975 1985 1995 2005<br />
Die Gemeindesituation blieb nicht nur schlecht, sondern sie verschärfte<br />
sich weiter. Innerhalb von 20 Jahren (von 1952 <strong>bis</strong> 1972) schrumpfte<br />
die Gemeinde erneut um die Hälfte ihrer Mitglieder. Ursache waren<br />
mehrere Faktoren: 1. die zunehmenden Kirchenaustritte, die zum Teil<br />
Ergebnis des gesellschaftlichen Drucks durch den atheistischen <strong>St</strong>aat,<br />
zum Teil Folge des veränderten Kirchensteuerrechts von 1953 waren,<br />
2. die Verkleinerung des Gemeindebereiches im Jahre 1969, 3. die<br />
anhaltende Verdrängung von Christen durch die Sanierung des<br />
Wohngebietes und die Bevorzugung systemkonformer, der Kirche<br />
fernstehender Menschen und 4. der demographische Wandel mit der<br />
rückläufigen Geburtenrate.<br />
Während der 80er Jahre verringerte sich (auch wenn aus dieser Zeit<br />
keine vergleichbaren Zahlen vorliegen) die Gemeindegröße nochmals.<br />
Dieser Rückgang wirkte sich auf alle Bereiche des Gemeindelebens<br />
erschwerend aus. Auch das Personal musste reduziert werden. 1907<br />
hatte der Anteil der „<strong>Evangelische</strong>n“ an der Wohnbevölkerung 85%,<br />
1933 noch 65% betragen. Im Jahr 2003 lag er mit 14% auf marginalem<br />
Niveau, was die Verdrängung der <strong>Kirchengemeinde</strong> aus der
umgebenden Gesellschaft verdeutlicht. Lazarus stellte mit dieser<br />
Entwicklung allerdings keine Ausnahme dar, sondern steht<br />
exemplarisch für die Situation der meisten Ost-Berliner Gemeinden.<br />
Amtshandlungen<br />
Kirchliches Handeln wird auch in Amtshandlungen deutlich. Die<br />
Häufigkeit von Taufen, Trauungen und kirchlichen Bestattungen<br />
unterlag im Verlauf der Gemeindegeschichte großen Veränderungen.<br />
Besonders die Beobachtung über einen langen Zeitraum und unter<br />
Berücksichtigung der Entwicklung der Gemeindegröße lässt<br />
Rückschlüsse über die sich wandelnde Situation der Gemeinde im<br />
gesellschaftlichen Kontext zu. Die Grafik der jährlichen Taufen,<br />
Trauungen und Bestattungen zeigt Kurven von ähnlicher Charakteristik.<br />
Dies erklärt sich aus zwei sich überlagernden Prozessen: der<br />
allgemeinen demographischen Entwicklung und der fortschreitenden<br />
Entchristlichung der Bevölkerung. Letzteres wird insbesondere dann<br />
deutlich, wenn man die Anzahl der Amtshandlungen nach der<br />
Gemeindegröße berechnet (pro 1.000 Gemeindemitglieder).<br />
In den ersten 10 Jahren der Gemeindegeschichte nahmen alle<br />
Amtshandlungsarten stark zu. Die Anzahl der Taufen und Trauungen<br />
erreichte ihren Höhepunkt mit der Fertigstellung der großen<br />
Lazaruskirche, die kirchlichen Bestattungen etwas früher. Zum Teil<br />
spiegelt diese Zunahme die wachsende Zahl der Mitglieder der neu<br />
gegründeten Gemeinde wider, zum anderen wird darin der Prozess<br />
ihrer Etablierung innerhalb des Wohngebietes deutlich: die Taufen<br />
und Trauungen nahmen auch bezogen auf die wachsende<br />
Gemeindegröße zu. Lediglich bei den Bestattungen ist ein leichter<br />
Rückgang feststellbar.<br />
Nach 1910 <strong>bis</strong> zum Ende der Weimarer Zeit setzte besonders bei<br />
den Taufen ein dramatischer Rückgang ein, während die Zahl der<br />
Trauungen und kirchlichen Bestattungen langsamer abnahm. Ursache<br />
war in erster Linie die allgemeine Bevölkerungsentwicklung: zum Ende<br />
des 1. Weltkriegs war durch die Notlage der Bevölkerung die<br />
<strong>St</strong>erblichkeit höher als sonst; danach nahm die Zahl der<br />
Eheschließungen sowie die Anzahl der Geburten wieder zu – folglich<br />
117
118<br />
1.600<br />
1.400<br />
1.200<br />
1.000<br />
20<br />
18<br />
16<br />
14<br />
12<br />
10<br />
8<br />
6<br />
4<br />
2<br />
0<br />
800<br />
600<br />
400<br />
200<br />
0<br />
Amtshandlungen in der Lazaruskirche<br />
(Quelle: Kirchenbücher)<br />
Taufen<br />
Trauungen<br />
Bestattungen<br />
1895 1905 1915 1925 1935 1945 1955 1965 1975 1985 1995 2005<br />
Amtshandlungen je 1.000 Gemeindemitglieder<br />
Taufen<br />
Trauungen<br />
Bestattungen<br />
<strong>1896</strong> 1911 1929 1934 1942 1949 1952 1972 1994 2002 2005
auch die Zahl der Trauungen und Taufen. Bezieht man in die Betrachtung<br />
jedoch die Gemeindegröße ein, so zeigt sich, dass der Rückgang<br />
auch mit einer schleichenden Entfremdung der Bevölkerung von der<br />
Kirche zusammenhing: Formal gehörten zwar noch zahlreiche<br />
Menschen der Gemeinde an, die Zahl der Mitglieder wuchs in diesem<br />
Zeitraum sogar, jedoch wurden kirchliche Amtshandlungen nicht mehr<br />
in dem Maße für wichtig erachtet und wahrgenommen wie noch um<br />
die Jahrhundertwende. Am stärksten davon betroffen waren die<br />
Taufen und Bestattungen (die Anzahl der Bestattungen im Jahr 1929<br />
ist eine verlässliche Schätzung), am wenigsten die Trauungen.<br />
Zu Beginn des Nationalsozialismus stieg die Zahl der Bestattungen<br />
mäßig, die der Taufen und Trauungen sprunghaft weit über das Niveau<br />
der Vorjahre. Auch wenn man die während der NS-Zeit erhöhten<br />
Zahlen von Geburten und Eheschließungen berücksichtigt, nahmen<br />
die entsprechenden Amtshandlungen doch überproportional zu. Hier<br />
zeigte sich der offenbar verbreitete Wunsch der Menschen, sich der<br />
Kirche, ihrer Ordnung und ihren Ritualen wieder anzunähern. Dies<br />
trifft am meisten auf die Trauungen zu, steht doch die von den Deutschen<br />
Christen der Lazarus-Gemeinde organisierte Massentrauung von 47<br />
Brautpaaren 1933 beispielhaft für die zeitweise Parallelität der<br />
Entwicklungen im neuen <strong>St</strong>aat und in der evangelischen Kirche. Die<br />
vielleicht von der Kirchenleitung erhoffte Re-Christianisierung der<br />
Massen der Bevölkerung erwies sich indes als Wunschtraum: die<br />
erhöhte Anzahl der Trauungen war nur ein „<strong>St</strong>rohfeuer“, das nach<br />
drei Jahren ausgebrannt war bzw. durch eine zunehmend<br />
kirchenfeindliche Politik des NS-Regimes ausgetreten wurde. Das<br />
Kriegsende war zugleich der Tiefpunkt bei den Amtshandlungen.<br />
In der Nachkriegszeit <strong>bis</strong> in die Mitte der 50er Jahre stabilisierten<br />
sich die Zahlen der Taufen, Trauungen und Bestattungen auf (im<br />
Vergleich zu früheren Zeiten der Gemeindegeschichte) niedrigem<br />
Niveau. Dieser Rückgang korrespondierte mit den deutlich gesunkenen<br />
Gemeindemitgliederzahlen infolge der Kriegswirkungen. Legt man<br />
die im Vergleich zu den Vorkriegszeiten halbierte Gemeindegröße<br />
zugrunde, so ist sogar eine Intensivierung dieses Feldes kirchlichen<br />
Handelns festzustellen.<br />
119
120<br />
Mit zunehmender Etablierung des DDR-Regimes wuchs gegenüber<br />
der Kirche und den ihr nahestehenden Menschen der politische Druck.<br />
Er war vor dem Hintergrund einer allgemeinen Säkularisierung der<br />
Gesellschaft folgenreich: Die Gemeindemitgliederzahl reduzierte sich<br />
dramatisch, und Trauungen fanden ab den 60er Jahren, Taufen etwas<br />
später in kaum mehr nennenswertem Umfang statt. Der Prozess der<br />
Entchristlichung wird besonders deutlich, wenn man die Taufen und<br />
Trauungen in Bezug zur Gemeindegröße setzt. Bei den kirchlichen<br />
Bestattungen hat sich dieser Prozess zeitlich verzögert ausgewirkt. Zwar<br />
sanken die Zahlen auch hier, aber ein Niveau der Marginalität war<br />
erst gegen Ende der 80er Jahre erreicht, seit sich die Familien der<br />
Verstorbenen nachhaltig der Kirche entfremdet hatten und eine<br />
kirchliche Beisetzung ihrer verstorbenen Eltern und Verwandten nicht<br />
mehr in Erwägung zogen.<br />
Fazit<br />
Die Rückschau auf die 110jährige Gemeindegeschichte anhand der<br />
Zahlen der Amtshandlungen lässt zu jeder Zeit Wechselwirkungen<br />
zwischen Gemeinde und Gesellschaft erkennen. Es wird deutlich, dass<br />
die Lazarus-Gemeinde nur in den ersten Jahrzehnten ihrer Geschichte<br />
eine feste <strong>St</strong>ellung innerhalb der Kommune und Bindekraft gegenüber<br />
allen Altersgruppen erlangen und behaupten konnte. Danach verlor<br />
sie zunehmend an Einfluss. Nach dem 2. Weltkrieg hat sich zudem<br />
die Gewichtung der verschiedenen Amtshandlungsarten – dem<br />
demographischen Wandel folgend – verschoben. Der Schwerpunkt<br />
liegt seither nicht mehr bei den Taufen, sondern bei den Bestattungen.<br />
Offenbar ist gemeindliche Arbeit noch am ehesten für ältere Menschen<br />
von Wichtigkeit, während sich die Jugend und die jungen Erwachsenen<br />
kaum von der Gemeinde angesprochen fühlen. Es handelt sich hierbei<br />
jedoch um gesellschaftliche Prozesse, die sich der <strong>St</strong>euerung durch<br />
die Gemeinde und ihre Pfarrerschaft weitgehend entziehen.
BIOGRAMME DER PFARRER UND<br />
ÜBERSICHT DER „PFARRER-GENERATIONEN“<br />
Otto Köster (<strong>1896</strong>-1910)<br />
geb. 20. August 1855 in Wernigerode, gest. 3. Juli 1934, Sohn<br />
eines Schneidermeisters, Ord. 1883, 1883 Archidiakon in<br />
Querfurt, 1885 4. Pfr. an <strong>St</strong>. <strong>Markus</strong> in Berlin, <strong>1896</strong> <strong>bis</strong> 1910<br />
1. Pfr. an Lazarus, danach Pfr. an Zion in Berlin und<br />
Superintendent von Berlin <strong>St</strong>adt III, emer. 1928<br />
Max v. Gersdorff (<strong>1896</strong>-1908)<br />
geb. 23. Februar 1866 in Ober-Guhren b. Züllichau/Neumark,<br />
gest. 1. November 1914 in Blankenburg/Thüringen, Sohn<br />
eines Gutsbesitzers, Ord. 1891, danach Hilfsprediger in<br />
Wernigerode, 1892 Pfr. in <strong>St</strong>ötterlingen/a.Harz (b. Osterwieck),<br />
<strong>1896</strong> <strong>bis</strong> 1908 2. Pfr. an Lazarus, danach <strong>bis</strong> 1914<br />
Oberdomprediger und Superintendent in Naumburg/Saale<br />
Johannes Roeber (1897-1908)<br />
geb. 14. Mai 1867 in <strong>St</strong>endal/Altmark, gest. 22. Juni 1930 in<br />
Berlin-Lankwitz, Ord. 1894, 1894 <strong>bis</strong> 1897 Hilfspred. an <strong>St</strong>.<br />
<strong>Markus</strong> in Berlin, 1897 <strong>bis</strong> 1908 3. Pfr. an Lazarus, danach<br />
Seemannsgeistlicher in Brighton/England, 1909 <strong>bis</strong> 1914 Pfr.<br />
der deutschen Gemeinde in Newcastle/England, 1915 <strong>bis</strong><br />
1916 Hilfspred. in Kehnert/Altmark (b. Tangerhütte), zuletzt<br />
ab 1916 Pfarrer an Laurentius in Calbe/Saale, emer. 1928<br />
Hermann Wagner (1905-1919)<br />
geb. 26. Oktober 1856 in Sangerhausen, gest. in Halle/Saale,<br />
Sohn eines Landgerichtssekretärs, Ord. 1885, Diakon und<br />
Pfr. in mehreren Gemeinden, 1905 <strong>bis</strong> 1911 4. Pfr. an Lazarus,<br />
1911 <strong>bis</strong> 1919 1. Pfr. an Lazarus, emer. 1919<br />
Georg May (1908-1910)<br />
geb. 4. März 1869 in Bromberg/Posen, Ord. <strong>1896</strong>, 1897<br />
Div.-Pfr., 1908 2. Pfr. an Lazarus, 1910 Pfr. in Wittgendorf/<br />
Schlesien, 1917 3. Pfr. in Lauban/Schlesien<br />
121
122<br />
Kurt Baumert (1908-1918)<br />
geb. 19. Oktober 1872 in Glogau/Schlesien, Sohn eines Juweliers,<br />
Ord. 1899, 1899 Diakon in Breslau/Schlesien, 1908 <strong>bis</strong><br />
1918 3. Pfr. an Lazarus, 1919 Pfr. in Rohrbeck, Krs. Potsdam,<br />
1927 Superintendent und Oberpfr. in <strong>St</strong>orkow, emer. 1934<br />
Maximilian Raunau (1911-1914)<br />
geb. 31. Dezember 1864 in Nauen/Havelland, gest. 14.<br />
Dezember 1923 in <strong>St</strong>ettin, Sohn eines Uhrmachers, Ord.<br />
1899, danach in Adlershof und Oderlin, Krs. Königs<br />
Wusterhausen, 1911 <strong>bis</strong> 1914 2. Pfr. an Lazarus, 1914 Pfr. in<br />
Pitzerwitz, Krs. Soldin/Neumark, emer. 1923<br />
Otto Schulz (1911-1918)<br />
geb. 7. September 1875 in Krugsdorf b. Ückermünde, Sohn<br />
eines Schmiedemeisters, 1895 <strong>bis</strong> 1904 Volksschullehrer, Ord.<br />
1908, 1908 Hilfsprediger, 1908 2. Pfr. an Bethanien in Berlin,<br />
1911 <strong>bis</strong> 1918 4. Pfr. an Lazarus, ab 1918 Pfr. an der<br />
Bethlehemskirche in Berlin<br />
Dr. Hermann Franke (1914-1916)<br />
geb. 1. März 1861 in Langensalza/Thüringen, gest. 11.<br />
Dezember 1936 in Berlin, Sohn eines Ober-Telegrafen-<br />
Assistenten., Ord. 1889, Hilfsprediger in Halle/Saale, 1891<br />
Pfr. in Bruchstedt/Thüringen, 1904 2. Pfr. an Peter und Paul in<br />
Liegnitz/Schlesien, 1914 <strong>bis</strong> 1916 2. Pfr. an Lazarus, 1916 1.<br />
Pfr. an Advent in Berlin, emer. 1931<br />
Otto Köhler (1915-1918)<br />
geb. 8. März 1883 in Trebnitz/Schlesien, Sohn eines<br />
Postbeamten, gest. 24. Dezember 1946 in Torgau, Ord. 1908,<br />
1908 Hilfsprediger, 1909 4. Pfr. in Grünberg/Schlesien, 1915<br />
<strong>bis</strong> 1918 5. Pfr. an Lazarus, 1918 <strong>bis</strong> 1946 Pfr. an <strong>St</strong>. Nikolai<br />
in Greifswald, von sowjetischer Polizei am 4. Januar 1946<br />
verhaftet und in einem Torgauer NKWD-Lager interniert
Gustav Lengning (1916-1933)<br />
geb. 11. November 1865 in Seeburg/Ostpreußen, gest. 9.<br />
Januar 1947 in Vaffin/Pommern, Sohn eines Amtsgerichtssekretärs,<br />
Ord. 1892, 1892 2. Pfr. an Johannis in Memel/<br />
Ostpreußen, 1916 <strong>bis</strong> 1933 2. Pfr. an Lazarus, emer. 1933<br />
Fritz Sasse (1918-1932)<br />
geb. 4. September 1889 in Berlin, gest. 17. September 1956,<br />
Sohn eines Lehrers, Ord. 1913, 1913 Hilfspred., 1915 Pfr. in<br />
Schlotheim/Thüringen, 1916 Festungsgarnisonpfr. in Danzig,<br />
1918 Feldgeistlicher, 1918 <strong>bis</strong> 1932 4. Pfr. an Lazarus, 1932<br />
Pfr. in Krahne, Krs. Lehnin, ab 1939 Pfr. in Berlin-Johannisthal<br />
Paul Eichler (1919-1933)<br />
geb. 3. Mai 1864 in Delitzsch, gest. 12. Juni 1940 in Berlin,<br />
Sohn eines Fabrikbesitzers, Ord. 1895, 1891 Ziv.-Erzieher<br />
am Kad.-Korps in Köslin/Pommern, 1895 2. Pfr. an <strong>St</strong>. Petri<br />
in Kopenhagen/Dänemark, 1899 <strong>bis</strong> 1919 Pfr. in<br />
Antwerpen/Belgien, 1919 <strong>bis</strong> 1933 1. Pfr. an Lazarus, emer.<br />
1933<br />
Johannes v. Schneidemesser (1919-1934)<br />
geb. 27. März 1881 in Hohenliebenthal, Krs. Schönau a.d.<br />
Katzbach/Schlesien, gest. 15. Oktober 1934 in Berlin-<br />
Schmargendorf, Sohn des Superintendenten von Berlin <strong>St</strong>adt<br />
I Dr. Karl v. Schneidemesser, Ord. 1911, 1911 Militär-<br />
Hilfsgeistlicher, 1912 Div.-Pfr. in Diedenhofen/Lothringen,<br />
1918 Div.-Pfr. in Essen (Ruhr), 1919 <strong>bis</strong> 1934 3. Pfr. an Lazarus<br />
Moritz Kracht (1919-1948)<br />
geb. 26. Januar 1884 in Datzow/Rügen, gest. 30. November<br />
1958, Sohn eines Gutsbesitzers, Ord. 1909, 1909 Hilfspred.,<br />
1912 2. Pfr. in Schloppe, Krs. Deutsch-Krone/Westpreußen,<br />
1914 Pfr. in Sassenheim/Posen, Kriegsteilnehmer 1914 <strong>bis</strong><br />
1916 (Eisernes Kreuz II), Felddivisionspfr. der 3.<br />
Landwehrdivision und Referent beim Korps, im Nebenamt<br />
Versorgung der Irrenanstalt und des Gefängnisses in Preußisch<br />
123
124<br />
<strong>St</strong>argard/Westpreußen und von Altersheimen, 1918 Geistlicher<br />
der <strong>St</strong>ädt. Anstalten in Buch b. Berlin, 1919 <strong>bis</strong> 1948 5.<br />
Pfr. an Lazarus, im Nebenamt Krankenhausseelsorger im<br />
Krkhs. Friedrichshain, Dezernent für Kirchensteuern und<br />
Kirchhöfe in der Berliner <strong>St</strong>adtsynode von 1936 <strong>bis</strong> 1942,<br />
1949 Pfr. an Gnaden in Berlin, emer. 1956<br />
Kurt Schwarz (1933-1949)<br />
geb. 4. Januar 1884 in Berlin-Schöneberg, gest. 11. Juli 1957<br />
in Bad Aibling, Sohn eines Rechnungsrats, Ord. 1910, 1910<br />
Hilfspred., 1913 Pfr. in Rampitz a.d. Oder/Neumark, 1930<br />
Pfr. in Rehfelde, Krs. <strong>St</strong>rausberg, 1933 <strong>bis</strong> 1949 4. Pfr. an<br />
Lazarus, ab 1949 Pfr. an Luther in Berlin-Schöneberg<br />
Richard Lagrange (1934-1935)<br />
geb. 2. April 1899 in Berlin, gest. 23. Juni 1999 in Ludwigsburg/Württemberg,<br />
Sohn eines Kaufmanns hugenottischer<br />
Abstammung, 1917-1918 Teilnahme am 1. Weltkrieg, <strong>bis</strong> 1919<br />
engl. Kriegsgefangenschaft, Ord. 1926, 1926 Hilfspred. in<br />
Gr. Fahlenwerder, Krs. Soldin/Neumark, 1927 dort Pfr., 1934<br />
<strong>bis</strong> 1935 2. Pfr. an Lazarus, 1935 Pfr. an Franz-ref.<br />
Louisenstadt-Gemeinde in Berlin, 1943-1948 Kriegsteilnahme<br />
und anschließende Gefangenschaft, 1947 Vakanzverwalter in<br />
Walddorf/Württemberg, ab 1948 Pfr. in Sigmaringen/<br />
Württemberg, ab 1951 Pfr. in Ludwigsburg/Württemberg,<br />
emer. 1965<br />
Lothar Guhl (1934-1945)<br />
geb. 8. Januar 1899 in Königsberg/Preußen, gest. 26. April<br />
1945 in Berlin-Biesdorf, Sohn eines Zahlmeisteraspiranten,<br />
Ord. 1927, 1927 Pfr. in Prawdzisken, Krs. Lyck/Ostpreußen,<br />
1929 Pfr. in Landsberg/Ostpreußen, 1931 Pfr. in Kreuzburg/<br />
Ostpreußen, 1934 <strong>bis</strong> 1945 1. Pfr. an Lazarus, <strong>bis</strong> 1941<br />
Heeresdienst
Werner Hannasky (1937-1946)<br />
geb. 21. Januar 1893 in Kaisermühl, Krs. Lebus/Neumark,<br />
gest. 10. August 1956, Sohn eines <strong>St</strong>ationsvorstehers, Ord.<br />
1920, 1920 Pfarrvikar, 1921 Pfr. in Niedercosel, 1922 Pfr. in<br />
<strong>St</strong>riegau/Schlesien, 1931 Pfr. in Behle/Netzekreis, 1937 <strong>bis</strong><br />
1946 2. Pfr. an Lazarus, 1939 <strong>bis</strong> 1941 Kriegsdienst als<br />
Hauptmann, ab 1946 kommissarisch an Auferstehung in Berlin,<br />
ab 1947 dort Pfr.<br />
Johannes Kalkof (1940-1949)<br />
geb. 31. August 1895 in Bad Rastenberg/Thüringen, gest. 1.<br />
Oktober 1949 Berlin, Sohn eines Kaufmanns, Ord. 1920,<br />
1920 Hilfspred., 1922 Pfr. in Pfiffelbach/Thüringen (b.<br />
Apolda), 1926 Pfr. an <strong>St</strong>. Johannis in Magdeburg, 1929 Pfr. in<br />
Luckau, 1931 Pfr. in Putlitz, Krs. Pritzwalk, aus gesundheitl.<br />
Gründen emer. 1937 <strong>bis</strong> 1938, 1939 Hilfsprediger in Berlin-<br />
Borsigwalde, 1940 <strong>bis</strong> 1949 4. Pfr. an Lazarus, Krankenhausseelsorger<br />
im Krkhs. Friedrichshain und im Ost-Krkhs.<br />
Artur Katzenstein (1947-1954)<br />
geb. 11. März 1907 in Berlin-Wedding, gest. 16. August 1991<br />
in Berlin-Spandau, Sohn eines Ober-Telegrafen-Sekretärs,<br />
Ord. 1935, 1935 Hilfspred., 1936 Pfr. in <strong>St</strong>epenitz, Krs.<br />
Pritzwalk, 1947 <strong>bis</strong> 1954 1. Pfr. an Lazarus, 1954 Pfr. in Berlin-<br />
<strong>St</strong>aaken-Gartenstadt<br />
Walter Müller-Matthesius (1951-1964)<br />
geb. 31. Januar 1901 in Berlin, gest. 16. Februar 1981 in<br />
Marburg/Lahn, Ord. 1928, 1928 Pfr. in Eberswalde, 1930<br />
Pfr. in Parstein/Uckermark, 1951 <strong>bis</strong> 1964 2. Pfr. an Lazarus,<br />
emer. 1964, 1965 Übersiedlung nach West-Berlin<br />
Gerhard Tscheuschner (1951-1964)<br />
geb. 8. April 1917 in Neustadt/Warthe, gest. 27. Januar 1993<br />
in Egelsbach/Hessen, 1951 <strong>bis</strong> 1964 3. Pfr. an Lazarus, emer.<br />
1964, <strong>bis</strong> 1967 pfarramtliche Dienste in Lazarus, 1967<br />
Übersiedlung in die Bundesrepublik<br />
125
126<br />
Gerhard Kreitschmann (1955-1972)<br />
geb. 28. April 1917 in Groß Retzken, Krs. Treuburg/<br />
Ostpreußen, langjährige Teilnahme am 2. Weltkrieg, 1954<br />
Hilfspred. mit kommissarischer Verwaltung der 1. Pfarrstelle<br />
in Lazarus, 1955 <strong>bis</strong> 1972 1. Pfr. an Lazarus, Übersiedlung in<br />
die Bundesrepublik<br />
Alfred Beuse (1973-1980 und 2004-2005)<br />
geb. 22. Mai 1934 in Obernigk b. Breslau/Schlesien, Ord.<br />
1959, 1960 2. Pfr. an Martin in Köthen/Anhalt, im Nebenamt<br />
seit 1969 Landesmissionspfarrer in Anhalt, 1973 <strong>bis</strong> 1980 3.<br />
Pfr. an Lazarus, danach Pfr. an <strong>St</strong>. Johannis in Schönebeck-<br />
Salzelmen (b. Magdeburg), 2004 <strong>bis</strong> 2005 Vakanzverwaltung<br />
im Pfarrsprengel <strong>St</strong>. <strong>Markus</strong> (Lazarus und <strong>St</strong>. Andreas)<br />
Joachim <strong>St</strong>ein (1976-2001)<br />
geb. 6. Mai 1941 in Berlin-Lichtenberg, Ord. 1975 in Lazarus,<br />
danach Verwaltung der 1. Pfarrstelle, 1976 <strong>bis</strong> 2001 1. Pfr. an<br />
Lazarus, ab 1978 im Nebenamt Archivpfleger des Kirchenkreises<br />
Friedrichshain, emer. 2001<br />
Detlef Wilinski (1981-1998)<br />
geb. 6. Dezember 1941 in Berlin-Prenzlauer Berg, Ord. 1968,<br />
1969 <strong>bis</strong> 1981 Pfr. an <strong>St</strong>. Andreas-<strong>St</strong>. <strong>Markus</strong> in Berlin, 1981<br />
<strong>bis</strong> 1998 3. Pfr. an Lazarus, zeitweise Superintendent des<br />
Kirchenkreises Friedrichshain, emer. 1998<br />
Heribert Süttmann (2002-2004)<br />
geb. 12. März 1958 in Oldenburg, 1977 Übertritt von der<br />
kath. in die ev.-lt. Kirche, Dipl.-Politikwissenschaftler und Ev.<br />
Theologe, Ord. 1995 (reformiert), <strong>bis</strong> 2002 Pfr. im<br />
Entsendungsdienst im Kirchenkreis Berlin-Wilmersdorf im<br />
Gemeindedienst an der Hochmeistergemeinde, 2002 <strong>bis</strong> 2004<br />
(1.) Pfr. der Gemeinden des Pfarrsprengels <strong>St</strong>. <strong>Markus</strong> (Lazarus<br />
und <strong>St</strong>. Andreas), Versetzung in eine landeskirchliche Pfarrstelle
Johannes Simang (seit 2005)<br />
geb. 21. Oktober 1952 in Marburg/Lahn, Ord. 1991, Pastorat<br />
in der Dorfkirchengemeinde <strong>St</strong>aaken, 1994 <strong>bis</strong> 1998 Pfr. der<br />
Friedens-<strong>Kirchengemeinde</strong> in Eisenhüttenstadt, 1998 <strong>bis</strong> 2005<br />
Pfr. in Müllrose, seit 1. Oktober 2005 (1.) Pfr. der Gemeinden<br />
des Pfarrsprengels <strong>St</strong>. <strong>Markus</strong> (Lazarus und <strong>St</strong>. Andreas)<br />
127
128
DOKUMENTE<br />
Bericht von Pfarrer Köster über den Beginn der Lazarus-Gemeinde. Das Dokument war eine<br />
der Beigaben bei der Grundsteinlegung zur Lazaruskirche und befand sich in der Grundsteinkassette,<br />
die am 10. Januar 1950 bei Aufräumarbeiten nach der Sprengung der Kirche geborgen wurde.<br />
129
130
131
132
Ordnung der Grundsteinlegung der Lazaruskirche am 20. Oktober 1905.<br />
133
134<br />
Parochialplan der Lazarus-Gemeinde mit der Einteilung in vier Seelsorgebezirke, um 1906.
135
136<br />
Ordnung der Grundsteinlegung des Gemeindehauses.
Patenschein von 1938.<br />
BILDNACHWEIS<br />
137
138<br />
Konfirmationsschein von 1944.
ZEITUNGSBERICHTE<br />
Zur Anschaffung der Glocken 1936<br />
Berliner Lokalanzeiger vom 2. April 1936.<br />
139
140<br />
<strong>St</strong>adt- und Land-Zeitung im Kreise Calbe vom 17. April 1936.
Zur Sprengung der Lazaruskirche<br />
Nachtexpress, Nr. 221, 1949.<br />
141
142<br />
Zur Geschichte der Lazarus-Gemeinde und ihrer Kirche<br />
Neue Zeit, Nr. 43, 1956.<br />
Folgende Seite: Der Friedrichshainer, Nr. 16, 1958.
Pressekampagne gegen Pfarrer Kreitschmann<br />
143
144<br />
Der Friedrichshainer, Nr. 15, 1958.
BZ am Abend, Nr. 175, 1958.<br />
145
146<br />
BILDNACHWEIS<br />
DIZ Dokumentations- und InformationsZentrum München GmbH<br />
(SV-Bilderdienst): S. 35.<br />
<strong>Evangelische</strong>s Landeskirchliches Archiv: S. 16, 17 l.u., 37, 45, 47.<br />
Pfarramt der Dt. Gemeinde in Newcastle/England: S.19.<br />
<strong>St</strong>attbau: S. 9.<br />
Torge, <strong>St</strong>. Nikolai und seine Tochtergemeinden: S. 12, 17 r.<br />
Ullstein Bild GmbH: S. 34.<br />
Privat<br />
Alfred Beuse: S. 67, 103 o., u.<br />
Hannelore Bolte: S. 81.<br />
Bernhard v. Gersdorff: S. 13 l.<br />
Ernst-Ulrich Katzenstein: S. 86, 87 o., u.<br />
Eve Lagrange: S. 36.<br />
Ellen Lanz: S. 20.<br />
Christian Maechler: S. 31.<br />
Reinhard Müller-Matthesius: S. 53, 59 o., u., 89 o., m., u., 90, 91.<br />
Mathias Orgeldinger: S. 100, 101 u.<br />
Elfriede Sasse: S. 22.<br />
Herwarth v. Schneidemesser: S. 21 u., 23 o., u.<br />
Wolfgang Schwarz: S. 33.<br />
Johannes Simang: S. 74.<br />
Reinhard Tscheuschner: S. 94, 98, 99.<br />
Detlef Wilinski: S. 70.<br />
Alle übrigen Abbildungen sind dem Bestand des Archivs der Lazarus-<br />
Gemeinde entnommen bzw. wurden für diese Schrift angefertigt.
ARCHIVE UND LITERATUR<br />
Diese Schrift stützt sich weitgehend auf Aktenmaterial des im Jahre<br />
2005 von Dr. Rainer Kramer professionell verzeichneten und<br />
geordneten Archivs der Lazarus-Gemeinde. Unter anderem fanden<br />
folgende Akten Verwendung: Kirchbau, Gemeindehausbau,<br />
Gemeindekirchenrat, Gemeindegeschichte, „Deutsche Christen“,<br />
<strong>St</strong>atistik, Nachrichtenblatt, Gemeindeberichte, Glocken, Kirchenbücher<br />
sowie der „Bericht aus der Geschichte der Lazarus-Gemeinde<br />
anlässlich ihres 60jährigen Bestehens“ von Pfarrer Tscheuschner aus<br />
dem Jahre 1956.<br />
Darüber hinaus wurde Material folgender Archive verwendet: Archiv<br />
der Superintendentur Berlin <strong>St</strong>adtmitte mit den Akten der ehemaligen<br />
Superintendenturen Berlin <strong>St</strong>adt I und Friedrichshain (Informationen<br />
zu den Pfarrern),<br />
Ev. Landeskirchliches Archiv (Zeitungsbericht von der Eröffnung der<br />
Kleinkinderschule sowie einige Details zu den Gebäuden, zum<br />
Gemeindeleben, zu Angestellten und Pfarrern),<br />
Archiv des Domstifts Naumburg (Dokumente zu Pfarrer v.<br />
Gersdorff),<br />
Archiv des Interdisziplinären Zentrums für Pietismusforschung der<br />
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg in Verbindung mit den<br />
Franckeschen <strong>St</strong>iftungen zu Halle (Saale) (Informationen zu Pfarrer<br />
Roeber).<br />
Die grundlegenden Angaben zu den Pfarrern vor dem 2. Weltkrieg<br />
wurden dem vom Brandenburgischen Provinzialsynodalverband<br />
herausgegebenen „<strong>Evangelische</strong>n Pfarrerbuch für die Mark<br />
Brandenburg seit der Reformation“ entnommen.<br />
Der Zeitungsbericht von der Einweihung der Lazaruskirche ist<br />
abgedruckt in: Feustel, J., Verschwundenes Friedrichshain. Bauten und<br />
Denkmale im Berliner Osten, Begleitmaterial zur Ausstellung, hrsg.<br />
vom Bezirksamt Berlin-Friedrichshain-Kreuzberg, Heimatmuseum<br />
Friedrichshain, Berlin 2001, S. 13.<br />
147
148<br />
Detailreich zur Baugeschichte der Friedrichshainer <strong>Kirchengemeinde</strong>n<br />
ist Feustels Buch: Turmkreuze über Hinterhäusern. Kirchen im Bezirk<br />
Berlin-Friedrichshain, Berlin 1999; zur Lazaruskirche S. 75-84.<br />
Die Hintergründe für die Massentrauung am 2. Juli 1933 sind dargelegt<br />
in: Scholder, K., Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 1, Frankfurt<br />
a.M., Berlin, Wien 1977, S. 455ff. und 468ff. In diesem Buch findet<br />
sich auch Goebbels Kommentierung der Massentrauung.<br />
Die Angaben zu den Pfarrern Grüber und Dr. Harnisch stammen<br />
aus: Gailus, M., Protestantismus und Nationalsozialismus. <strong>St</strong>udien zur<br />
nationalsozialistischen Durchdringung des protestantischen Sozialmilieus<br />
in Berlin, Köln, Weimar, Wien 2001, S. 674. Diesem Buch sind<br />
auch die Ergebnisse der Kirchenwahlen vom 23. Juli 1933 in Berlin<br />
entnommen, S. 120 und 685.<br />
Ein Überblick über die frühe Geschichte des Kirchenkreises Berlin<br />
<strong>St</strong>adt I und der Lazarus-Gemeinde findet sich in: Torge, P., <strong>St</strong>. Nikolai<br />
und seine Tochtergemeinden, Berlin 1927.
DANKSAGUNG<br />
Angehörige und Bekannte sowie Pfarrämter späterer Gemeinden der<br />
Lazarus-Pfarrer haben die Sammlung des Materials zu den Pfarrern<br />
und zum Gemeindeleben sehr unterstützt. Für ihre Mitteilungen,<br />
weiterführenden Hinweise auf Personen und Literatur sowie für die<br />
Überlassung von Dokumenten und Fotografien wird gedankt:<br />
Herrn Prof. Bernhard v. Gersdorff, Frau I. Hellen (Dt. Gemeinde in<br />
Newcastle/England), Herrn Martin Heyn (Interdisziplinäres Zentrum<br />
für Pietismusforschung), Frau Dr. Karin Köhler (Ev. Landeskirchliches<br />
Archiv Berlin-Brandenburg), Frau Eve Lagrange, Frau Ellen Lanz,<br />
Herrn Christian Maechler, Frau Nagel (Archiv und Bibliothek des<br />
Domstifts Naumburg), Sup. i.R. Rainer Neumann (Greifswald),<br />
Mathias Orgeldinger, Pfr. i.R. Gerke Pachali (Krahne), Frau Dr. Elfriede<br />
Sasse, Herrn Herwarth v. Schneidemesser, Frau Ursula Schöning (ehem.<br />
Superintendentur Berlin-Schöneberg), Frau Schröter, Herrn Wolfgang<br />
Schwarz, Herrn Dr. Dr. Manfred <strong>St</strong>ürzbecher, Herrn R. Violet (Franz.ref.<br />
Gemeinde Berlin-Luisenstadt) und Pfr. Wenzlaf (Calbe/Saale).<br />
Besonderer Dank gilt Frau Hannelore Bolte, Herrn Pfr. Alfred Beuse,<br />
Herrn Prof. Georg Hadeler, Herrn Ernst-Ulrich Katzenstein, Herrn<br />
Dr. Reinhard Müller-Matthesius und Herrn Prof. Dr. Reinhard<br />
Tscheuschner, die mit ihren persönlichen Erinnerungen diese Schrift<br />
wesentlich bereichert haben.<br />
Gedankt wird Udo Postler und Lars Peter Frank für die Hilfe bei der<br />
technischen Umsetzung.<br />
149