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sozial - BruderhausDiakonie

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<strong>sozial</strong><br />

Magazin für Politik, Kirche und Gesellschaft in Baden-Württemberg<br />

Sachzwänge überwinden<br />

Es gehe in der Krise um die Rückgewinnung<br />

politischer Handlungsfähigkeit,<br />

sagt die Sozialpädagogikprofessorin<br />

Gaby Flösser .<br />

Y Seite 4<br />

Kreativ in der Krise<br />

Werkstatt für behinderte<br />

Menschen in Metzingen nutzt<br />

die Krise für die Entwicklung<br />

neuer Produktideen.<br />

Y Seite 6<br />

Neue Wege finden<br />

Perspektiven für die Zukunft<br />

will der Ausbildungsverbund<br />

Alleinerziehenden in Reutlingen<br />

und Tübingen geben.<br />

Y Seite 10<br />

Ausgabe 2 | 2010<br />

Wirtschaftskrise<br />

Folgen für die <strong>sozial</strong>e Arbeit<br />

In Sicherheit leben<br />

Manche Menschen brauchen<br />

Schutz vor sich selbst und anderen.<br />

Die stationäre Intensivbetreuung<br />

verhilft dazu.<br />

Y Seite 15


2<br />

EDITORIAL<br />

Liebe Leserinnen und Leser,<br />

Inhalt<br />

Wirtschaftskrise – Auswirkungen auf die <strong>sozial</strong>e Arbeit<br />

manche Branchen melden zwar schon wieder<br />

einen leichten Aufwärtstrend – sie sehen vorsichtig<br />

optimistisch in die Zukunft. In anderen Branchen ist<br />

die Talsohle der Krise noch lange nicht erreicht. Die<br />

Kommunen leiden unter sinkenden Einnahmen bei<br />

gleichzeitig steigenden Ausgaben. Die <strong>sozial</strong>e Arbeit,<br />

die auch vom Geld der öffentlichen Hand lebt, hat<br />

in manchen Bereichen die Auswirkungen der Krise<br />

schon zu spüren bekommen. In ihrem vollen Ausmaß<br />

werden sich die Krisenfolgen aber wohl erst im<br />

kommenden Jahr zeigen. Darüber haben wir mit der<br />

Dortmunder Sozialpädagogik-Professorin Gaby Flösser<br />

gesprochen (Seite 4) und mit Rainer Single, dem<br />

Kaufmännischen Vorstand der <strong>BruderhausDiakonie</strong><br />

(Seite 8). Die Werkstätten für Menschen mit Behinderung<br />

haben die beginnende Wirtschaftskrise zeitig<br />

gespürt – vor allem die Werkstätten, die ihre Aufträge<br />

vorwiegend von der Automobil- und Zuliefererindus-<br />

trie bekamen. Andere, die mit einem günstigen Mix<br />

aus Industrieaufträgen, Eigenprodukten und Dienstleistungen<br />

arbeiten, wurden von der Krise weniger<br />

TITELTHEMA<br />

REGIONEN<br />

3 Die Situation verschärft sich 11 Reutlingen:<br />

Zivis sind weiterhin willkommen<br />

4 Krise ist Motor für<br />

Umdefinitionen 12 Reutlingen/Tübingen:<br />

Gute Aussichten für<br />

6 Neues Produkt wird zum Renner Alleinerziehende<br />

7 Wir haben die Krise ganz gut 13 Metzingen:<br />

gemeistert Neustart mit Schrauben<br />

und Schweißen<br />

8 Qualität muss erhalten bleiben<br />

14 Reutlingen:<br />

KOLUMNE<br />

Mit ELAN zum Bildungserfolg<br />

9 Lothar Bauer, Vorstandsvorsitzender<br />

<strong>BruderhausDiakonie</strong>: 15 Reutlingen:<br />

Staat und Kirche links und Sicher vor sich selbst und<br />

rechts des Rheins anderen<br />

AKTUELL<br />

DIAKONISCHER IMPULS<br />

10 Lohnkosten müssen refinanziert 16 Kerstin Griese:<br />

werden Krise erfordert<br />

politische Weichenstellung<br />

<strong>sozial</strong> • Ausgabe 2 | 2010<br />

gebeutelt. Die Werkstätten der <strong>BruderhausDiakonie</strong><br />

sehen wieder Licht am Horizont. Sie haben die Krise<br />

genutzt, um beispielsweise den Dienstleistungsbereich<br />

auszubauen und neue Produkte zu entwickeln –<br />

und zudem die Bildungsangebote für die Beschäftigten<br />

verbessert (Seiten 6 und 7).<br />

Dass trotz Krise gute Arbeit geleistet wird, zeigt<br />

etwa das Projekt „Zukunft x 2“. Es eröffnet Alleinerziehenden<br />

in der Region Neckar-Alb die Chance auf<br />

eine Ausbildung oder einen Arbeitsplatz (Seite 12).<br />

In der Fahrradwerkstatt der <strong>BruderhausDiakonie</strong> im<br />

Ermstal lernen Langzeitarbeitslose, wieder einen Fuß<br />

in die Tür zu bekommen (Seite 13). Und der Jugendmigrationsdienst<br />

in Reutlingen unterstützt Eltern<br />

mit Migrationshintergrund, damit sie ihrerseits ihren<br />

Kindern auf deren Ausbildungsweg besser unter die<br />

Arme greifen können (Seite 14).<br />

Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre<br />

Ihre „Sozial“-Redaktion<br />

Impressum<br />

ISSN 1861-1281<br />

<strong>BruderhausDiakonie</strong><br />

Stiftung Gustav Werner und Haus am Berg<br />

Ringelbachstraße 211, 72762 Reutlingen<br />

Telefon 07121 278-225, Telefax 07121 278-955<br />

Mail redaktion@bruderhausdiakonie.de<br />

Herausgeber<br />

Pfarrer Lothar Bauer<br />

Vorstandsvorsitzender<br />

Redaktion<br />

Martin Schwilk (msk), Karin Waldner (kaw)<br />

Mitarbeiterin dieser Ausgabe<br />

Christina Hölz (chz)<br />

Gestaltung und Satz<br />

Susanne Sonneck<br />

Druck und Versand<br />

Grafische Werkstätte der <strong>BruderhausDiakonie</strong>,<br />

Werkstatt für behinderte Menschen<br />

Erscheint vierteljährlich<br />

Fotonachweis<br />

Seite 3/10: Oliver Hartmann; Seite 4/16: privat;<br />

Seite 11: Ronny Buck; Seite 13: chz<br />

Innenteil Seite III: chz<br />

Alle anderen: Archiv und Mitarbeiterinnen und<br />

Mitarbeiter der <strong>BruderhausDiakonie</strong><br />

Spendenkonto<br />

Evangelische Kreditgenossenschaft Kassel,<br />

BLZ 520 604 10, Konto 4006


<strong>sozial</strong> • Ausgabe 2 | 2010 Wirtschaftskrise – Auswirkungen auf die <strong>sozial</strong>e Arbeit<br />

TITELTHEMA<br />

Sozialwirtschaft spürt Krisenfolgen<br />

Die Situation verschärft sich<br />

Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Währungskrise: In dieser<br />

Reihenfolge beschäftigt die Krise seit fast zwei<br />

Jahren die Finanzwelt, die Wirtschaft, die Politik und<br />

die Menschen in Deutschland. Zunächst hatte die<br />

Bundesregierung Konjunkturprogramme aufgelegt,<br />

die die Auswirkungen der Krise abfederten. Gefährdete<br />

Banken erhielten staatliche Unterstützung. Fünf<br />

Milliarden Euro flossen allein in die sogenannte Abwrackprämie<br />

und kurbelten den Auto-Absatz an. Und<br />

die Möglichkeiten zur Kurzarbeit wurden erweitert.<br />

Die Folge: Staatsausgaben und öffentliche Verschuldung<br />

stiegen drastisch an. Und das bei gleichzeitig<br />

sinkenden Einnahmen.<br />

Leidtragende dieser Entwicklung sind vor allem die<br />

Kommunen, deren Steuereinnahmen durch den Konjunktureinbruch<br />

stark zurückgegangen sind, während<br />

gleichzeitig die <strong>sozial</strong>en Aufgaben gestiegen sind.<br />

Darauf verweist auch Georg Cremer, Vorstandsmitglied<br />

des Deutschen Caritasverbands, in einem Positionspapier<br />

zu den Folgen der Krise für den Sozialbereich.<br />

Durch den Anstieg der Arbeitslosigkeit würden<br />

die Ausgaben für Transferleistungen an arbeitslose<br />

Menschen zunehmen. Er betont: „Mehrkosten in Verbindung<br />

mit den Steuerausfällen bei den Kommunen<br />

werden gravierende negative Konsequenzen haben<br />

insbesondere für jene <strong>sozial</strong>en Aufgaben der Kommunen,<br />

die nicht gesetzlich erzwungen sind.“<br />

Zu Recht befürchten daher <strong>sozial</strong>e Träger, dass Freiwilligkeitsleistungen<br />

der Kommunen im Zusammenhang<br />

mit der Eingliederungshilfe künftig wegfallen<br />

könnten. Der Kaufmännische Vorstand der <strong>BruderhausDiakonie</strong>,<br />

Rainer Single, geht davon aus, dass „in<br />

besonderen Fällen durch den Einsatz von mehr Ehrenamtlichen<br />

Hilfe erhalten bleiben kann, wenn Freiwilligkeitsleistungen<br />

der Kommunen entfallen“.<br />

Konsequenzen für die <strong>sozial</strong>e Arbeit in Deutschland<br />

werden aber auch die geplanten Sparmaßnahmen<br />

der Bundesregierung haben, die vor allem arme, bedürftige<br />

und <strong>sozial</strong> schwache Menschen treffen. Darüber<br />

hinaus ist die Mittelschicht wohl ebenfalls von<br />

den Folgen der Wirtschaftskrise bedroht, wie aus einer<br />

neuen Studie des größten deutschen Wirtschaftsforschungsinstituts,<br />

des DIW in Berlin, hervorgeht.<br />

Auch in der Sozialwirtschaft scheint sich die Situation<br />

zu verschärfen, fast jede zweite Organisation<br />

spürt Auswirkungen der Krise. Das ist das Ergebnis<br />

einer Führungskräftebefragung mit dem SMP-Marktbarometer<br />

im Februar. Diese Befragung wird seit<br />

November 2009 von der Kooperation „SozialManagementPartner“<br />

in Zusammenarbeit mit dem Fachmagazin<br />

„Wohlfahrt<br />

Intern“ quartalsweisedurchgeführt.<br />

Auch diakonische<br />

Träger wie die<br />

<strong>BruderhausDiakonie</strong><br />

spüren die<br />

Folgen der Krise,<br />

wenn auch nicht<br />

auf allen Ebenen<br />

gleichermaßen.<br />

Vor einem Jahr,<br />

im Frühjahr 2009, berichtete das Magazin Sozial von<br />

drastischen Auftragseinbußen der Werkstätten für<br />

behinderte Menschen in Reutlingen und im Ermstal.<br />

Heute, ein Jahr später, hat sich die Situation entspannt,<br />

haben sich die Werkstätten der Bruderhaus-<br />

Diakonie langsam von der Talfahrt erholt. Die Auftragslage<br />

sei wieder deutlich besser, sagt der Leiter<br />

der Werkstätten, Gerhard Droste, und hebt den kontinuierlichen<br />

Ausbau des Dienstleistungssektors und<br />

die Zunahme von Eigenprodukten hervor. So hat zum<br />

Beispiel die Metzinger Werkstatt die schwierigsten<br />

Monate mit einigen Neuentwicklungen überbrückt<br />

– es handelt sich dabei um sogenannte Drückjagdstände<br />

und Ansitzleitern für Jäger, die inzwischen<br />

erfolgreich vertrieben werden.<br />

Solche Erfolge können nicht darüber hinwegtäuschen,<br />

dass es in Zukunft für <strong>sozial</strong>e Unternehmen<br />

enger wird. Der Rückgang der Steuereinnahmen und<br />

der zunehmende Spardruck in den Sicherungssystemen<br />

werden spürbare Folgen für die Refinanzierung<br />

der <strong>sozial</strong>en Dienste und Einrichtungen haben. Laut<br />

Caritas-Vorstandsmitglied Georg Cremer wird der<br />

höhere finanzielle Druck „insbesondere die Konflikte<br />

zur Refinanzierung der Personalkosten, die den Löwenanteil<br />

der Kosten ausmachen, verschärfen“.<br />

kaw Z<br />

+ www.landessynode.blogspot.com/2009/07/die-wirtschaftsoll-dem-leben-dienen.html<br />

Für manche<br />

<strong>sozial</strong>en Aufgaben<br />

wie die Schuldnerberatung<br />

wird<br />

künftig weniger<br />

Geld da sein<br />

3


4<br />

TITELTHEMA<br />

Gaby Flösser<br />

sieht die Träger<br />

<strong>sozial</strong>er Arbeit als<br />

eine machtvolle<br />

Instanz in der<br />

öffentlichen<br />

Diskussion<br />

Veränderungen in der <strong>sozial</strong>en Arbeit<br />

Wirtschaftskrise – Auswirkungen auf die <strong>sozial</strong>e Arbeit<br />

Krise ist Motor für Umdefinitionen<br />

<strong>sozial</strong> • Ausgabe 2 | 2010<br />

Grundwerte des Sozialstaats wie Solidarität und Gerechtigkeit beziehen sich<br />

nicht mehr unbedingt auf <strong>sozial</strong> Schwache, meint die Professorin Gaby Flösser<br />

im Interview. Die Krise beschleunige die Umwertung der Werte.<br />

Y Die Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise werden<br />

in vielen Bereichen der <strong>sozial</strong>en Arbeit erst mit<br />

Verspätung ankommen. Warum?<br />

Dies liegt in erster Linie daran, dass es gültige Vereinbarungen<br />

und Verträge gibt zwischen den politischen<br />

Gewährleistern und den Diensten und Einrichtungen,<br />

die die Leistungen erbringen. Allerdings sind die Folgen<br />

der Wirtschaft- und Finanzmarktkrise auch jetzt<br />

schon spürbar, wenn wir die chronische Überlastung<br />

der kommunalen Haushalte in Rechnung stellen.<br />

Viele Kommunen sind heute schon nur noch in der<br />

Lage, ihre Sozialleistungen über neue Kreditaufnahmen<br />

zu finanzieren, was die Überschuldung der Kommunen<br />

weiter vorantreibt. Die Kommunen verfügen<br />

ihrerseits aber kaum über Mittel, die Schuldenspirale<br />

aufzuhalten. Sie haben keine wirkungsvollen Möglichkeiten,<br />

ihre Ausgaben zu begrenzen oder ihre Einnahmen<br />

zu erhöhen. Dennoch werden sie ihre öffentlichen<br />

Dienstleistungen weiter reduzieren, wodurch<br />

die Lebensqualität gerade in den strukturschwachen<br />

Regionen weiter absinkt. Die Folgen sind regionale<br />

Disparitäten und <strong>sozial</strong>e Ausgrenzung in einem so<br />

nicht gekannten Ausmaß.<br />

Y Welche Bereiche <strong>sozial</strong>er Arbeit werden nach Ihrer<br />

Ansicht die Krisenfolgen am meisten spüren?<br />

Die noch ungesicherten Ergebnisse der Sparklausur<br />

der Bundesregierung lassen vermuten, dass es<br />

insbesondere bei den arbeitsmarkt-, den familien-<br />

und frauenpolitischen Leistungen zu erheblichen<br />

Kürzungen kommen wird. Offensichtlich stehen<br />

insbesondere Reformen des Arbeitslosengeldes, der<br />

Wohngeldzuschüsse bei Hartz IV-Empfängern, des<br />

Elterngeldes und der Kindertagesbetreuung an. Die<br />

Bundesregierung plant hier neue Berechnungs- und<br />

Bemessungsgrundlagen. Dies wird aber wohl kaum<br />

zu einer tatsächlichen Entlastung führen, allein über<br />

die Begrenzung der Ausgaben für die <strong>sozial</strong>e Arbeit<br />

werden die öffentlichen Haushalte nicht nachhaltig<br />

konsolidiert. Über kurz oder lang wird deshalb auch<br />

die Einnahmensituation auf den Prüfstand geraten,<br />

dies wird uns alle spürbar belasten. Wie die Kür-<br />

zungsvorschläge aber zeigen, werden vor allem <strong>sozial</strong><br />

schwache, arme Personengruppen die Konsequenzen<br />

der Krisen hautnah erfahren.<br />

Y Bestimmte Bereiche der <strong>sozial</strong>en Arbeit wie etwa<br />

die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen<br />

oder psychischer Erkrankung sind klar gesetzlich<br />

geregelt. Sind auch da Veränderungen oder<br />

Einschränkungen zu erwarten?<br />

Die gegenwärtige Formulierung in diesem Zusammenhang<br />

lautet offensichtlich, Tabus gebe es nicht.<br />

Und das bedeutet wohl im Klartext, dass kein <strong>sozial</strong>politischer<br />

Leistungsbereich sicher ist. Sieht man sich<br />

allerdings einmal die aktuellen Kürzungsvorschläge<br />

der Länder für den Sozialbereich an, dann gibt es<br />

Felder der <strong>sozial</strong>en Arbeit, die für Einsparungen<br />

prädestinierter zu sein scheinen: die Kinder- und<br />

Jugendarbeit, die Beratungslandschaft, die Hilfen<br />

für Migrantinnen und Migranten, die berufliche und<br />

politische Bildung und so weiter. Typischerweise sind<br />

dies Leistungsbereiche, in denen größere Lobbyverbände<br />

fehlen. Präventive Angebote werden vermutlich<br />

insbesondere Kürzungen ausgesetzt sein.<br />

Y Caritas-Generalsekretär Georg Cremer befürchtet,<br />

dass die Kommunen <strong>sozial</strong>e Leistungen, die nicht<br />

gesetzlich erzwungen und gerichtlich einklagbar<br />

sind, weitgehend streichen werden. Teilen Sie diese<br />

Befürchtung?<br />

Dem stimme ich zu, Einsparungen in Leistungsbereichen,<br />

die auf einem individuell einklagbaren Rechtsanspruch<br />

basieren, werden schwerer durchsetzbar<br />

sein. Wie eben schon erwähnt, scheint mir jedoch<br />

auch ein individueller Rechtsanspruch keinen prinzipiellen<br />

Schutz vor Kürzungen zu bilden – und wenn,<br />

dann im Hinblick auf die Anspruchsberechtigung,<br />

nicht aber im Hinblick auf den Umfang der Hilfe. Die<br />

sich andeutenden Kürzungen bei den ALG II-Leistungen<br />

sind hier schon ein Indikator.<br />

Y Soziale Gerechtigkeit und Solidarität sowie das<br />

Ermöglichen von Teilhabe sind wesentliche Grundwerte<br />

jeglicher <strong>sozial</strong>en Arbeit. Sind die gefährdet?


<strong>sozial</strong> • Ausgabe 2 | 2010<br />

Befördert möglicherweise die Krise die mangelnde<br />

Teilhabe bestimmter Gruppen von benachteiligten<br />

Menschen?<br />

Mit Blick auf die ethischen Konstruktionsprinzipien<br />

unseres Sozialstaates sehe ich die Krise nur als einen<br />

Motor für die schon seit geraumer Zeit eingeleiteten<br />

Umdefinitionen. Gerade die Werte der Gerechtigkeit<br />

und der Solidarität sind dabei durchaus mehrdeutig.<br />

Den neo-liberalen Interpretationen folgend, meint<br />

Gerechtigkeit heute dann Leistungsgerechtigkeit –<br />

nach dem Motto „Jeder bekommt, was er verdient“<br />

– und weniger Bedarfsgerechtigkeit oder Verteilungsgerechtigkeit.<br />

Solidarität bezieht sich dann auch<br />

nicht länger in erster Linie auf die <strong>sozial</strong> Schwachen,<br />

die sollen gefordert und gefördert werden, sondern<br />

auch auf die Banken, die werden jetzt gerettet.<br />

Y Wie geht man bisher in der <strong>sozial</strong>en Arbeit mit<br />

den befürchteten Folgen der Krise um?<br />

Die <strong>sozial</strong>e Arbeit – die es so natürlich nicht wirklich<br />

gibt – verhält sich wie das Kaninchen vor der Schlange.<br />

Sie ist aber auch in einer schwierigen Rolle, da<br />

diese Krise sie mit ihren eigenen normativen Grundlagen<br />

konfrontiert. Hat die <strong>sozial</strong>e Arbeit sich gerade<br />

mit den Verheißungen kapitalistischer Produktionsbedingungen<br />

angefreundet, ihre Leistungserbringung<br />

unter Wettbewerbs- und Effizienzgesichtspunkten<br />

neu geordnet, erfährt sie nun, dass die Selbstheilungskräfte<br />

des Marktes nicht funktionieren, mithin<br />

das Finanz- und Wirtschaftssystem zum größten<br />

Empfänger staatlicher Transferleistungen wird. Die<br />

<strong>sozial</strong>e Arbeit hat mit der Übernahme wirtschaftsliberaler<br />

Ideen und Produktionsformen aber die Kritikfähigkeit<br />

gegenüber anderen gesellschaftlichen<br />

Funktionssystemen verloren. Entsprechend äußern<br />

sich die Träger öffentlich, indem sie ihr anwaltschaftliches<br />

Mandat wahrnehmen und für die Rechte <strong>sozial</strong><br />

Schwächerer eintreten, ihre Mitproduzentenrolle in<br />

der Krise wird nicht thematisiert.<br />

Y Träger <strong>sozial</strong>er Arbeit stehen innerhalb bestimmter<br />

Grenzen in einem Wettbewerb. Lässt sich aus Ihrer<br />

Sicht abschätzen, ob sich die Wettbewerbsbedingungen<br />

durch die Krise verschärfen?<br />

Die Konkurrenz um die immer knapper werdenden<br />

Ressourcen wird sicherlich zunehmen. Allerdings<br />

haben wir es im Feld der <strong>sozial</strong>en Arbeit ja mit einem<br />

sehr geschützten Markt zu tun, der die Wettbewerbsbedingungen<br />

stark begrenzt. Zu vermuten ist eher,<br />

dass unattraktive Leistungsbereiche, die trägereigene<br />

Aufwendungen und Kosten mit sich bringen, künftig<br />

in geringerem Umfang bereitgestellt werden.<br />

Wirtschaftskrise – Auswirkungen auf die <strong>sozial</strong>e Arbeit<br />

Y Sie bilden Sozialpädagogen aus. Befürchten Sie<br />

Verschlechterungen für die Situation der Sozialberufe?<br />

Wenn ja, welche?<br />

Die Attraktivität der Sozialberufe wird weiter absinken,<br />

da sich die Aussichten auf eine gesellschaftliche<br />

Aufwertung dieses Arbeitsmarktsegmentes im Zuge<br />

einer entsprechenden Anhebung der Lohn- und Gehaltsstrukturen<br />

verschlechtert haben. Auch werden<br />

die Einsparungen und Kürzungen zu einem Personalabbau<br />

und zu Deprofessionalisierungsprozessen<br />

führen, weil die personalintensiven Dienstleistungen<br />

nun mit weniger und/oder preiswerterem Personal<br />

erbracht werden müssen. Auch hier sind die Träger<br />

<strong>sozial</strong>er Dienste und Einrichtungen durchaus schon<br />

aktiv, wenn sie selber prekäre Beschäftigungsverhältnisse<br />

eingehen.<br />

Y Eine platte Erkenntnis ist die, dass Krisen immer<br />

auch Chancen mit sich bringen. Was sind in Anbetracht<br />

der Krise aus Ihrer Sicht die dringlichsten<br />

Forderungen an die Politik, aber auch an die Träger<br />

<strong>sozial</strong>er Arbeit?<br />

Ich richte meine Forderungen erst einmal an die<br />

<strong>sozial</strong>e Arbeit selbst, wobei es für meine Begriffe<br />

generell um die Rückgewinnung politischer Handlungsfähigkeit<br />

geht. Was wir im Moment erleben, ist<br />

die Suggestion, dass Sachzwänge und kurzfristiges<br />

Krisenmanagement die Optionen <strong>sozial</strong>politischer<br />

Gestaltung begrenzen. So entsteht der permanente<br />

Eindruck des „Wir können gar nicht anders“ und der<br />

Inopportunität alternativer Handlungsvorschläge.<br />

Stattdessen scheint mir die Wiederherstellung der<br />

Verhandlungsfähigkeit notwendig über die unserer<br />

Gesellschaft zugrunde liegenden Prinzipien des Zusammenlebens,<br />

wenn wir der <strong>sozial</strong>en Ausgrenzung<br />

immer weiterer Bevölkerungsteile entgegentreten<br />

wollen. Die <strong>sozial</strong>e Arbeit ist hier durch die Anzahl<br />

ihrer Beschäftigten und den Einfluss ihrer Träger eine<br />

machtvolle Instanz in der Formierung eines öffentlichen<br />

Diskurses.<br />

msk Z<br />

+ www.springerlink.com/content/4g237078685451v3<br />

TITELTHEMA<br />

Gaby Flösser, Jahrgang 1962, ist Professorin für Sozialpädagogik<br />

an der Universität Dortmund. Ihre Arbeits- und<br />

Forschungsschwerpunkte sind unter anderen die Theorie<br />

<strong>sozial</strong>er Dienste, organisations- und berufstheoretische<br />

Grundlagen der <strong>sozial</strong>en Arbeit, Jugendhilfeforschung,<br />

Praxis der Jugendverbandsarbeit und Erzieherische Hilfen.<br />

5


6<br />

TITELTHEMA<br />

Wirtschaftskrise – Auswirkungen auf die <strong>sozial</strong>e Arbeit<br />

Metzinger Werkstatt<br />

Neues Produkt wird zum Renner<br />

<strong>sozial</strong> • Ausgabe 2 | 2010<br />

Hochsitz und Treibjagd sind geläufige Begriffe. Von Drückjagd, Drückjagdständen<br />

und Ansitzleitern sprechen Insider wie Jäger und Forstamtsleute. 2009 wurde in<br />

der Metzinger Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) ein Objekt geboren,<br />

das sich zum Renner entwickelt hat und heute als Eigenprodukt vertrieben wird.<br />

Das Holz fühlt sich noch feucht an. „Ist gestern erst<br />

geschlagen worden“, sagt Francesco Nardiello. Vorsichtig<br />

gleitet seine Hand über die sägeraue Oberfläche,<br />

die stellenweise noch mit klebrigem Harz<br />

überzogen ist. Am Morgen hat die Werkstatt in Metzingen,<br />

die kleinste WfbM der <strong>BruderhausDiakonie</strong><br />

im Ermstal, eine weitere Fuhre heimischer Hölzer aus<br />

der Region für den Bau von Jagdeinrichtungen erhalten.<br />

Der Gruppenleiter lächelt zufrieden. Alles läuft<br />

nach Plan – nach seinem Plan. Der Nachschub kommt<br />

rechtzeitig, die Arbeit geht weiter, die Anfragen häufen<br />

sich.<br />

Laut und fordernd schrillt das Telefon. Zum x-ten Mal<br />

an diesem Vormittag. Ein neuer Auftrag? „Guten Morgen<br />

… zwei Ansitzleitern … ja, die sind fertig montiert<br />

… nach Balingen … Sie können sie auch hier abholen.“<br />

Nardiello nennt Maße und Preise. „Das finden Sie<br />

alles im Internet unter www.bruderhausdiakonie.de“<br />

Er schaut kurz auf die Preisliste. „Mit Dach kostet es<br />

35 Euro mehr … unbehandelt … kesseldruckimprägniert<br />

sind es 40 Euro … am besten, Sie schicken uns<br />

den Auftrag schriftlich … Auf Wiederhörn.“ Nardiellos<br />

Lächeln wird noch eine Spur breiter. „Das ist die<br />

siebte Anfrage heute Morgen.“ Und nicht nur aus<br />

der Region: Mannheim, Bühl,<br />

Baden-Baden, Tuttlingen – das<br />

Interesse an Drückjagdständen<br />

und Ansitzleitern made in<br />

Metzingen zieht immer weitere<br />

Kreise. Trotz anhaltender<br />

Wirtschaftsflaute ist die Metzinger<br />

Mini-WfbM, zu der neben<br />

dem Gruppenleiter sechs<br />

Beschäftigte gehören, ausgelastet.<br />

„Schließlich haben wir<br />

noch andere Aufträge.“<br />

Das war nicht immer so. Im<br />

Krisenjahr 2009 hatte auch<br />

die Metzinger Werkstatt mit<br />

erheblichen Einbußen zu<br />

Francesco Nardiello (rechts) zeigt zwei Beschäftigten,<br />

wie sie die Einzelteile Platz sparend verpacken können<br />

kämpfen. Da kam die<br />

Anfrage des Reutlinger<br />

Kreisforstamtes<br />

gerade recht. Nardiello<br />

entwickelte zusammen<br />

mit dem Forstamt<br />

einen transportablenDrückjagdstand<br />

aus einheimischen<br />

Kanthölzern<br />

mit Sprossenleiter,<br />

Boden, Sitz und –<br />

optional – mit Dach.<br />

Die Kanthölzer müssen gut<br />

Hundert Stück wur-<br />

befestigt werden, damit die<br />

den im Rahmen des Konstruktion hält<br />

Jagdimpulsprogramms<br />

des Landkreises Reutlingen für die Jäger auf der Alb<br />

gebaut. Parallel entwickelte und konstruierte er allein<br />

eine klappbare, stabile Ansitzleiter für Jäger mit<br />

Sitz, Fuß- und Gewehrauflage zum Hochklappen und<br />

auf Wunsch mit Dach. Mittlerweile haben schon über<br />

200 Jagdeinrichtungen, Platz sparend als Bausatz<br />

oder fertig montiert, die kleine Werkstatt verlassen.<br />

Auch heute sollen bis zum späten Nachmittag zehn<br />

Drückjagdstände für die<br />

Auslieferung bereitstehen.<br />

Francesco Nardiello hat seine<br />

Augen überall. „Halt, da fehlt<br />

noch was“, ruft er zwei Beschäftigten<br />

zu, die am Boden<br />

kniend die Einzelteile eines<br />

Bausatzes verpacken wollen.<br />

Fragend blicken sie auf. „Da<br />

fehlt doch noch der Boden.“<br />

Stimmt. Die beiden schauen<br />

betreten. Ein Jagdstand ohne<br />

Boden, das wäre ja wie eine<br />

Leiter ohne Sprossen. Schnell<br />

wird das fehlende Teil geholt.<br />

Währenddessen legt Peter K.


<strong>sozial</strong> • Ausgabe 2 | 2010 Wirtschaftskrise – Auswirkungen auf die <strong>sozial</strong>e Arbeit<br />

TITELTHEMA<br />

(Name geändert) schon die nächsten Kanthölzer auf<br />

die von seinem Chef als Hilfsmittel entworfene Schablone.<br />

Zwei lange außen längs, vier kürzere innen<br />

quer. Mit einem Nagelschussapparat befestigt er die<br />

Hölzer, die zusammen die Rückwand des Drückjagdstandes<br />

bilden. Aufmerksam prüft Peter K., ob alle<br />

Nägel richtig sitzen, dann richtet er sich auf. „Eine<br />

schöne Arbeit“, findet er und betrachtet liebevoll sein<br />

Werk. Der 41-Jährige wirkt ruhig und zuverlässig. Er<br />

arbeitet zeitweise selbstständig, während seine Kollegen<br />

mehr oder weniger Anleitung brauchen.<br />

„Das sind nicht die richtigen Hölzer für die Seitenwände“,<br />

erklärt Nardiello einem kleinen, rundlichen<br />

Mann, der gerade mit ein paar kürzeren Kanthölzern<br />

hereingekommen ist. „Die haben das falsche Maß.“<br />

Weil der Gruppenleiter aber Wert darauf legt, dass<br />

seine Leute das, was sie tun, auch verstehen, versucht<br />

Werkstätten Reutlingen/Ermstal<br />

„Wir haben die Krise ganz gut gemeistert“<br />

Ein Jahr ist es her, dass die Werkstätten<br />

der <strong>BruderhausDiakonie</strong> in Reutlingen<br />

und im Ermstal erhebliche Auftragsverluste<br />

hinnehmen mussten. Man<br />

rechnete mit Einbußen von 30 bis 35<br />

Prozent. Heute, zwölf Monate später,<br />

hat sich die Situation entspannt. „Die<br />

Auftragslage ist im Vergleich zum Frühjahr<br />

2009 deutlich besser“, sagt der Leiter<br />

der Werkstätten, Gerhard Droste und<br />

schätzt die tatsächlichen Verluste auf<br />

etwa zehn Prozent.<br />

Mit rund 850 Beschäftigten in Reutlingen,<br />

Metzingen, Dettingen/Erms und<br />

Bad Urach arbeiten die Werkstätten für<br />

über hundert, größtenteils mittelständische<br />

Unternehmen. Als „richtig erwiesen“<br />

hat sich laut Droste der kontinuierliche<br />

Ausbau des Dienstleistungssektors,<br />

die Zunahme von Eigenprodukten und<br />

die Auslagerung von Arbeitsplätzen in<br />

integrativen Cafeterien und Cafés. Einen<br />

neuen Kunden hat die <strong>BruderhausDiakonie</strong><br />

mit der Firma Raff aus Riederich<br />

gewonnen, für die Arbeiten im Bereich<br />

Kommissionierung und Postversand<br />

erledigt werden.<br />

Seit einigen Monaten gebe es auch<br />

wieder deutlich mehr Anfragen von<br />

er unverdrossen, technisches Verständnis zu<br />

vermitteln. Auch wenn das bei Menschen<br />

mit einer Behinderung, selbst relativ fitten,<br />

nicht immer gelingt. „Die Werkstatt ist wie<br />

ein kleiner Betrieb“, meint Francesco Nardiello.<br />

Vom Einkauf über die Produktion bis zur<br />

Qualitätskontrolle: „Alles muss stimmen.“<br />

Seine neueste Erfindung ist die sogenannte<br />

Ausbaukanzel, ein besonders hoher Drückjagdstand,<br />

der ringsum verkleidet werden<br />

kann. Die ersten Prototypen sind bereits bestellt.<br />

Wie ihre kleineren Vorgängermodelle Einige Ansichtsexemplare<br />

haben auch sie der Belastungsprobe von stehen auf dem Werkstattgelände<br />

in Metzingen<br />

600 Kilo locker Stand gehalten. „Und wann“,<br />

sagt Nardiello und lacht jetzt sogar, „stehen<br />

schon mal sechs Jäger da oben.“<br />

kaw Z<br />

langjährigen Kunden, so dass bestehende<br />

Geschäftsbeziehungen ausgeweitet<br />

worden seien. Wie beispielsweise zum<br />

Stuttgarter Kosmos-Verlag, für den<br />

Experimentierkästen in Kommission<br />

genommen und verpackt werden. Deutlich<br />

verstärkt worden sei auch die Zusammenarbeit<br />

mit<br />

der Tübinger Firma<br />

MHH Solartechnik.<br />

Für deren Photovoltaikanlagen<br />

werden<br />

in den Werkstätten<br />

spezielle Halterungen<br />

hergestellt. Ein Gerhard Droste<br />

Lichtblick war nach Ansicht von Gerhard<br />

Droste letztes Jahr die Erweiterung der<br />

Halle in Dettingen/Erms zur Lagerung<br />

von Zylinderkopfschrauben für den Automobilzulieferer<br />

ElringKlinger. Bis zu<br />

20 Menschen mit Behinderung können<br />

dadurch mit Verpackungsarbeiten beschäftigt<br />

werden.<br />

„Wir haben die Krise ganz gut gemeistert“,<br />

findet Droste. „Und auch als<br />

Chance genutzt.“ Für Bildungsarbeit,<br />

aber auch, um Arbeitsabläufe zu optimieren.<br />

„Schließlich sind wir nicht in<br />

erster Linie ein produzierendes Gewer-<br />

be.“ Zu den Aufgaben der Werkstätten<br />

gehörten vor allem die Förderung<br />

und Rehabilitation von Menschen mit<br />

Handicap. „Wir werden beides im Blick<br />

behalten, Produktion und Assistenzleistungen.“<br />

Auch wenn alle im Krisenjahr geplanten<br />

Ausgaben genau geprüft worden seien,<br />

habe man größere Investitionen, die der<br />

Modernisierung und Zukunftssicherung<br />

dienen, realisiert. So wurde laut Droste<br />

ein neues CNC-Bearbeitungszentrum<br />

angeschafft. In Reutlingen wurde das<br />

neue Werkstattgebäude fertiggestellt,<br />

das alte soll jetzt komplett modernisiert<br />

werden – alles in allem ein Sieben-<br />

Millionen-Euro-Projekt. Geplant sei ein<br />

Neubau als Arbeitsstätte für 120 Menschen<br />

mit psychischer Erkrankung im<br />

Reutlinger Industriegebiet „In Laisen“.<br />

Der Zukunft sieht der Werkstattleiter<br />

optimistisch entgegen. „Wir werden<br />

weiterhin aktiv bleiben, auf Kunden<br />

zugehen und unsere Geschäftsfelder<br />

ausweiten.“ Zum Beispiel im Bereich<br />

der Medizintechnik, wo die Werkstätten<br />

bislang nicht Fuß fassen konnten. Aber<br />

was nicht ist, kann ja bekanntlich noch<br />

werden. kaw Z<br />

7


Rainer Single,<br />

Kaufmännischer<br />

Vorstand der<br />

<strong>BruderhausDiakonie</strong><br />

8<br />

TITELTHEMA Wirtschaftskrise – Auswirkungen auf die <strong>sozial</strong>e Arbeit<br />

Folgen der Krise<br />

Qualität muss erhalten bleiben<br />

<strong>sozial</strong> • Ausgabe 2 | 2010<br />

Die Krise wirkt sich in der Arbeit von Trägern <strong>sozial</strong>er Arbeit auf unterschiedliche<br />

Art und unterschiedlich stark aus. Rainer Single, Kaufmännischer Vorstand der<br />

<strong>BruderhausDiakonie</strong>, zeichnet im Kurzinterview ein differenziertes Bild.<br />

Y Die Finanzkrise 2008, in ihrer Folge die Wirtschaftskrise<br />

2009 und jetzt aktuell die Währungskrise<br />

2010 beschäftigen die Finanzwelt, die Wirtschaft<br />

und die Politik auf allen Ebenen. Auch die Verantwortlichen<br />

der <strong>BruderhausDiakonie</strong>?<br />

Ja, weil die Krise die Haushaltsprobleme des Staates<br />

überall deutlich sichtbar gemacht hat: Auf der einen<br />

Seite ist das Steuereinkommen durch die Rezession<br />

eingebrochen, auf der anderen Seite sind Zins- und<br />

Schuldendienst sowie die Sozialleistungsausgaben<br />

angeschwollen. Nirgendwo ist haushalterisch noch<br />

viel Spielraum. Von den 1102 baden-württembergischen<br />

Städten und Gemeinden sollen noch 114 schuldenfrei<br />

sein. Aber die haben in der Mehrheit weniger<br />

als 5000 Einwohner.<br />

Y Können angesichts der kommunalen Finanznot<br />

Stiftungen wie die <strong>BruderhausDiakonie</strong> ausgleichend<br />

wirken?<br />

Der Vorstand der <strong>BruderhausDiakonie</strong> ist gehalten,<br />

das Stiftungskapital zu sichern und zu bewahren.<br />

Unsere Zinserträge als wichtige Einnahmequelle<br />

sind seit der Finanzkrise geschrumpft. Das schränkt<br />

uns bei ideellen Projekten ein. Die Milliarden, die der<br />

öffentlichen Hand und der Sozialversicherung fehlen,<br />

sind unmöglich durch Millionen der Stiftungen zu<br />

ersetzen.<br />

Y In welchen Bereichen werden die Krisenauswirkungen<br />

hauptsächlich zu spüren sein?<br />

Sie waren sofort spürbar im konjunkturabhängigen<br />

Bereich der Werkstätten für behinderte Menschen<br />

durch drastische Auftragsrückgänge, die sich jetzt<br />

mühsam wieder erholen.<br />

Grundsätzlich aber partizipieren wir mit unseren<br />

Geschäftsfeldern Altenhilfe, Behindertenhilfe und<br />

Sozialpsychiatrie am volkswirtschaftlichen Wachstumsfeld<br />

der gesundheitlichen Dienstleistungen. Wir<br />

erfreuen uns noch steigender Nachfrage und guter<br />

Belegung bei modernen und maßstäblichen Angeboten.<br />

Das ist fast schon eine Insel der Stabilität.<br />

Mittelbar vermindern die so noch nie da gewesene<br />

Geldschwemme und der Niedrigzins auch Leistungen<br />

unserer betrieblichen Altersversorgung und Leistungen<br />

aus Lebensversicherungen.<br />

Der Preiswettbewerb wird nun wohl noch angeheizt<br />

werden im Altenhilfemarkt und bei Ausschreibungsverfahren.<br />

Auch in der Diakonie sollte deshalb jetzt<br />

Beschäftigungssicherung Vorrang vor Lohnsteigerung<br />

haben.<br />

Y Mit welchen Maßnahmen kann man der Krise<br />

und ihren Auswirkungen begegnen?<br />

Grundsätzlich halte ich es für wichtig, dass bewährte<br />

<strong>sozial</strong>staatliche Strukturen mit den jetzt unvermeidlichen<br />

Sparplänen nicht eingerissen werden, sondern<br />

durch Anpassung nachhaltiger gemacht werden.<br />

Für die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung<br />

würde ein breiterer Auftragsmix künftig weniger<br />

Risiko bedeuten. In besonderen Fällen kann durch<br />

den Einsatz von mehr Ehrenamtlichen Hilfe erhalten<br />

bleiben, wenn Freiwilligkeitsleistungen der Kommunen<br />

entfallen. Eine Entlastung von Bürokratiekosten<br />

bei Dokumentation, Prüfung und Zertifizierung ist<br />

auch angezeigt.<br />

Y An der Bildung dürfe nicht gespart werden – das<br />

ist in der Politik oft zu hören und weitgehend unumstritten.<br />

Hat auch die <strong>BruderhausDiakonie</strong> solche<br />

„heiligen Kühe“?<br />

Die Situation auf dem Arbeitsmarkt für Sozial- und<br />

Gesundheitsberufe und besonders für Pflegeberufe<br />

ist schwierig. Wir sind als Arbeitgeber nur attraktiv<br />

für junge Menschen, wenn die Qualität unserer Leistungen<br />

nicht sinkt, sondern erhalten bleibt und wir<br />

eine erstrebenswerte berufliche Perspektive und<br />

Lebensqualität bieten können.<br />

Die verängstigenden Krisenanzeigen verweisen uns<br />

aber auch wieder auf erhaltenswerte und fundamentale<br />

Lebensvoraussetzungen. In schweren Zeiten ist<br />

deshalb diakonische und <strong>sozial</strong>e Arbeit, wie sie die<br />

<strong>BruderhausDiakonie</strong> leistet, noch wichtiger. msk Z


<strong>sozial</strong> • Ausgabe 2 | 2010<br />

Lothar Bauer:<br />

Staat und Kirche links und rechts des Rheins<br />

Der Inspecteur der lutherischen Kirche von Montbéliard<br />

empfängt unsere schwäbische Diakonie-<br />

Delegation. Bis zur französischen Revolution war<br />

Mömpelgard (Montbéliard) staatlich und auch religiös<br />

Teil des evangelischen Herzogtums Württemberg.<br />

Der Inspecteur, was zu Deutsch Aufseher und<br />

auf Griechisch Bischof heißt, erläutert uns das Prinzip<br />

der Laïcité, das französische Modell der strikten<br />

Trennung von Staat und Kirche. Mit dem Pogrom der<br />

Bartholomäusnacht im Jahr 1695 und der folgenden<br />

Vertreibung der protestantischen Hugenotten setzte<br />

der Sonnenkönig Ludwig XIV. ein katholisches Staatskirchenprinzip<br />

durch: une foi, une loi, un roi (ein<br />

Glaube, ein Gesetz, ein König). Im Jahr 1905 wurde<br />

die Laïcité, die strikte Trennung von Staat und Kirche,<br />

Gesetz. Zwar unblutig, aber ebenso hart wurde die<br />

Republik auf religiöse Neutralität festgelegt. Die religiösen<br />

Minderheiten wie etwa die Protestanten empfanden<br />

das Gesetz von 1905 als eine Befreiung von<br />

der religiösen Hegemonie der katholischen Kirche.<br />

Die Kirchen existieren rechtlich seitdem auf der Basis<br />

Die religiösen Fragen sind nicht<br />

verschwunden, aber sie haben<br />

keinen öffentlichen Ort mehr<br />

von Vereinen, allerdings mit streng auf den Kultus<br />

begrenzten Vereinszwecken. Gesellschaftliche Betätigung<br />

über den Kultus hinaus ist nicht vorgesehen.<br />

Lange Jahrzehnte des Kulturkampfes zwischen dem<br />

republikanischen Staat und der katholischen Kirche<br />

gingen voraus.<br />

Der Inspecteur spricht aber auch vom „mal être“,<br />

vom Unbehagen der Grande Nation mit dem Modell<br />

der Laïcité. Das Verbot für die Kirchen, in den gesellschaftlichen<br />

Raum hinein zu wirken, hat auch zu<br />

einer Abschneidung von kulturellen Wurzeln geführt.<br />

Herausgefordert wird das Modell durch das Auftreten<br />

Das deutsche Modell der Kooperation<br />

zwischen Gesellschaft, Staat und<br />

Kirchen zeigt Stärken<br />

des Islam mit seiner expressiven Religiosität. Die nun<br />

schon Jahrzehnte andauernde Diskussion über den<br />

„voile“, den Schleier islamischer Frauen, ist Ausdruck<br />

dafür, dass die überwiegend moslemischen Zuwanderer<br />

aus den ehemaligen nordafrikanischen Kolonien<br />

nicht oder nur schwer in dieses Modell integriert<br />

werden können. Andrerseits wird aber auch sichtbar,<br />

dass die religiösen Fragen nicht verschwunden sind,<br />

sie aber keinen öffentlichen Ort mehr haben.<br />

Das deutsche Modell der Kooperation zwischen<br />

Gesellschaft, Staat und Kirchen zeigt Stärken. Dass<br />

evangelische, katholische, jüdische und bald vielleicht<br />

auch muslimische Geistliche ihre Ausbildung an<br />

staatlichen Fakultäten erhalten, dass Religionsunterricht<br />

an Schulen stattfindet, dass Kirchen und religiöse<br />

Gemeinschaften sich an <strong>sozial</strong>en und kulturellen<br />

Aufgaben mitbeteiligen, ist nicht nur als ein Privileg<br />

zu sehen. Es wirkt auch dagegen, dass gesellschaftliche<br />

oder gar fundamentalistische Insellagen entstehen.<br />

In einem Land, das seit der Reformation in<br />

einer konfessionellen Parität zwischen katholischen<br />

und evangelischen Kirchen lebt, ist dies sicherlich<br />

einfacher zu bewerkstelligen als in einem Land, das<br />

traditionell von einer religiösen Gruppe dominiert<br />

wurde. Die Verbundenheit trotz staatlich garantierter<br />

Religionsfreiheit entspricht dem gesellschaftlichen<br />

Verständnis von Subsidiarität. Frankreich arbeitet an<br />

seinem Unbehagen. Wie auch anderswo in Europa<br />

befinden sich die Nationalstaaten in der Zange zwischen<br />

Dezentralisierung, Regionalisierung und Stärkung<br />

der Verantwortung vor Ort in den Kommunen<br />

einerseits – und europäischer Zentralisierung auf der<br />

anderen Seite. Hier schein ein neues „mal être“ heraufzuziehen.<br />

KOLUMNE<br />

Pfarrer Lothar<br />

Bauer, Vorstandsvorsitzender<br />

der<br />

<strong>BruderhausDiakonie</strong><br />

9


Auch für<br />

10<br />

AKTUELL<br />

Pflegehilfskräfte<br />

gilt künftig ein<br />

gesetzlicher<br />

Mindestlohn<br />

<strong>sozial</strong> • Ausgabe 2 | 2010<br />

Mindestlohn<br />

Lohnkosten müssen refinanziert werden<br />

Ab Juli soll es auch in der Pflegebranche einen Mindestlohn geben. Der<br />

Weg dahin war nicht einfach. Die Wohlfahrtsverbände fürchten nach wie vor,<br />

der Mindestlohn werde zum Maßstab bei Vergütungsverhandlungen.<br />

Zwei Jahre haben die Vorarbeiten gedauert. Eine vom<br />

Bundesarbeitsministerium eingesetzte Kommission<br />

hat sechs Monate getagt. Seit Ende März schließlich<br />

steht der Vorschlag für einen Mindestlohn in der Pflegebranche:<br />

Ab dem 1. Juli soll für Beschäftigte in der<br />

ambulanten und stationären Pflege ein Mindeststundenlohn<br />

von 8,50 Euro gelten. Nach der Empfehlung<br />

der Kommission aus Vertretern der Gewerkschaft<br />

Verdi, des privaten Arbeitgeberverbands Pflege, der<br />

kommunalen Arbeitgeber sowie der Diakonie und<br />

der Caritas wird er bis Juli 2013 um 50 Cent angehoben.<br />

Derzeit arbeiten etwa 800 000 Beschäftigte in der<br />

Pflegebranche. In den Pflegeeinrichtungen und<br />

Pflegediensten der Diakonie sind es insgesamt<br />

rund 144 000 Mitarbeiter. Die sind von der Mindestlohnregelung<br />

zunächst nicht direkt betroffen.<br />

„Alle diakonischen Tarifwerke liegen deutlich über<br />

den empfohlenen Mindestlohnwerten“, weiß der<br />

diakonische Arbeitgeberverband VdDD (Verband<br />

diakonischer Dienstgeber in Deutschland). Nach den<br />

häufig angewandten Arbeitsvertragsrichtlinien der<br />

Bundesdiakonie etwa verdient eine Pflegehilfskraft<br />

in den westlichen Bundesländern derzeit 10,30 Euro.<br />

Dazu kommen Zuschläge, Sonderzahlungen und eine<br />

zusätzliche Altersversorgung.<br />

Private Anbieter zahlen dagegen häufig Löhne im<br />

Bereich des jetzt festgelegten Mindestlohns. Er<br />

entspricht ziemlich genau dem Tarifvertrag, den<br />

der Arbeitgeberverband Pflege mit zwei Branchengewerkschaften<br />

abgeschlossen hat. Die privaten<br />

Arbeitgeber, die in der ambulanten Pflege einen<br />

Marktanteil von 60 Prozent haben, in der stationären<br />

Pflege von 40 Prozent, warnten im Vorfeld denn auch<br />

vor allem vor einem zu hoch angesetzten Mindestlohn.<br />

„Es wäre eine Katastrophe, wenn die neue Pflegekommission<br />

Löhne festlegt, die dazu führen, dass<br />

Pflegeeinrichtungen insolvent werden“, sagte etwa<br />

Thomas Greiner, Vorsitzender des privaten Arbeitgeberverbands<br />

Pflege und Vorstandsvorsitzender der<br />

Dussmann-Gruppe, eines der großen privaten Pflegeheimbetreiber.<br />

Lange wehrten sich auch die kirchlichen Arbeitgeberverbände<br />

gegen einen Mindestlohn. Schwarzarbeit<br />

und Armut würden dadurch nicht bekämpft. Und<br />

Diakoniepräsident Klaus-Dieter Kottnik argumentierte,<br />

die meisten Einrichtungen der Diakonie bezahlten<br />

ohnehin über dem Niveau des Mindestlohns. Das<br />

eigentliche Problem sei, so Kottnik, dass die Kostenträger<br />

nicht mehr bereit seien, in ihren Pflegesätzen<br />

die gültigen Tarife zu berücksichtigen.<br />

Obwohl die Diakonie den Mindestlohn heute gutheißt,<br />

bleibt die Befürchtung, er könne als Normlohn<br />

missverstanden werden und die Vergütungsverhandlungen<br />

mit den Pflegekassen und Sozialhilfeträgern<br />

erschweren – weil die bei Vergütungsverhandlungen<br />

den Mindestlohn zur Messlatte machen könnten<br />

statt der höheren Diakonietarife. „Die Qualität der<br />

Pflege und der Arbeitsplätze in unseren Diensten und<br />

Einrichtungen ist in Gefahr“, so Klaus-Dieter Kottnik.<br />

„Mindestlöhne allein lösen das Problem nicht“.<br />

Die Diakonie fordert deshalb, die Sozialgesetzgebung<br />

entsprechend anzupassen: Die Kostenträger müssten<br />

gesetzlich verpflichtet werden, das geltende Arbeitsrecht<br />

anzuerkennen und Tariflöhne zu respektieren<br />

und vollständig zu refinanzieren. „Der Mindestlohn<br />

ist eine Krücke“, urteilte Kottnik in einem Interview<br />

des Evangelischen Pressedienstes. „Was wir wirklich<br />

brauchen, ist eine tarifgerechte und angemessene<br />

Entlohnung für alle Berufsgruppen und bei allen Pflegeträgern.<br />

Und ganz entscheidend: Die Lohnkosten<br />

müssen durch die Pflegekassen refinanziert werden.“<br />

msk Z


<strong>sozial</strong> • Ausgabe 2 | 2010<br />

Reutlingen<br />

Zivis sind weiterhin willkommen<br />

Fast alle Einrichtungen der <strong>BruderhausDiakonie</strong> sind bereit, weiterhin Zivis einzusetzen.<br />

Unabhängig von der Entscheidung des Bundesrates am 23. Juni über den<br />

Gesetzentwurf zur Verkürzung des Zivildienstes auf sechs Monate.*<br />

Den Satz wird Heidi Hefele nicht so schnell vergessen.<br />

„Wir Männer müssen zu unserem Glück gezwungen<br />

werden“, hatte ein junger Mann beim Abschlussgespräch<br />

mit der Zivildienst-Beauftragten der<br />

<strong>BruderhausDiakonie</strong> augenzwinkernd gesagt. Er war<br />

dabei, sich nach neun Monaten Zivildienst zu verabschieden<br />

und stand noch ganz unter dem Eindruck<br />

der „besten Erfahrung meines Lebens“.<br />

Wenn der Bundesrat dem Gesetzentwurf der Regierungsparteien<br />

CDU, CSU und FDP zustimmt, wird der<br />

Zivildienst bald offiziell von neun auf sechs Monate<br />

reduziert mit der Möglichkeit, freiwillig um drei bis<br />

sechs Monate zu verlängern. Fast alle Einrichtungen<br />

der <strong>BruderhausDiakonie</strong> haben sich trotz geplanter<br />

Verkürzung bereit erklärt, weiterhin Zivildienstleistende<br />

einzusetzen. Neben Tätigkeiten, die weniger<br />

Einarbeitungszeit brauchen – im Fahrdienst, in der<br />

Hauswirtschaft und der Haustechnik etwa –, sollen<br />

nach wie vor sogenannte personennahe Tätigkeiten<br />

wie die Betreuung von Menschen mit Behinderung,<br />

von psychisch Kranken, Senioren und Jugendlichen<br />

angeboten werden.<br />

Darüber hinaus hat Heidi Hefele eine ganze Reihe<br />

scheidender Zivis gefragt, was sie von der bevorstehenden<br />

Verkürzung halten und ob sie ihren Ersatzdienst<br />

verlängern würden, wenn sie könnten. Alle<br />

hielten ein halbes Jahr für nicht ausreichend, um<br />

vertrauensvolle Beziehungen zu den betreuten Menschen<br />

aufzubauen, und waren sich einig, sie würden<br />

verlängern, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten.<br />

Das gab es nämlich noch nie: Erstmals in der bald<br />

50-jährigen Geschichte des Zivildienstes sollen junge<br />

Männer ihren Dienst freiwillig verlängern können.<br />

Allerdings gelte dies nur, so Heidi Hefele, solange<br />

der Bund die notwendigen Haushaltsmittel zur<br />

Verfügung stellen könne. Der Gesetzentwurf sieht<br />

vor, dass eine Verlängerung erst nach zwei Monaten<br />

beantragt werden kann. Die Zivildienst-Beauftragte<br />

findet das sinnvoll, „weil die Zivis dann wissen, was<br />

auf sie zukommt und dass sie davon profitieren können“.<br />

Weniger günstig dürfte sich dieser Umstand<br />

auf die Einsatzpläne der Einrichtungen auswirken.<br />

Die meisten Bewerber fangen im September an. „Im<br />

November wissen wir, wer länger bleibt und ab wann<br />

der Platz wieder besetzt werden kann.“<br />

Die meisten Zivis in den Einrichtungen der <strong>BruderhausDiakonie</strong><br />

werden für personennahe Tätigkeiten<br />

eingesetzt. „In den Schwerpunktmonaten, von<br />

September bis Mai, hatten wir in den letzten Jahren<br />

über hundert Zivis“, betont Heidi Hefele. Für die <strong>BruderhausDiakonie</strong><br />

habe der Ersatzdienst einen hohen<br />

Stellenwert. „Die jungen Männer sind eine wichtige<br />

Ergänzung zur Arbeit der Fachkräfte und ein Gewinn<br />

für die Menschen in unseren Einrichtungen.“ Ihnen<br />

selbst biete der Dienst die Chance, <strong>sozial</strong>e Arbeitsfelder<br />

kennenzulernen, was sich teilweise auf ihre<br />

Berufspläne auswirke. Einem jungen Mann habe die<br />

Arbeit soviel Spaß gemacht, dass er sich entschlossen<br />

habe, Altenpfleger zu werden. „Und das ist keine<br />

Ausnahme“, weiß die Personalfachkauffrau. Das<br />

Sozialunternehmen setze sich gezielt auch für den<br />

männlichen Nachwuchs ein. Um Hemmschwellen<br />

abzubauen und <strong>sozial</strong>e Berufe attraktiver zu machen,<br />

würden entsprechende Projekte mit Firmen und<br />

Schulen durchgeführt.<br />

Bleibt die Frage, ob auch<br />

ein sechsmonatiger<br />

Zivildienst als Lerndienst<br />

gestaltet werden kann,<br />

wie es das vor einem Jahr<br />

in Kraft getretene dritte<br />

Zivildienstgesetzänderungs-Gesetz<br />

vorsieht.<br />

Heidi Hefele ist skeptisch:<br />

„Es besteht die Gefahr, den Vorgaben nicht mehr<br />

gerecht zu werden, weil das <strong>sozial</strong>e Lernfeld in sechs<br />

Monaten nur noch bedingt erlebbar ist .“ Aufgrund<br />

der positiven Rückmeldung ehemaliger Zivis und der<br />

Anfragen derzeitiger Bewerber, ob sie noch neun Monate<br />

machen „dürften“, rechnet sie damit, dass „viele<br />

freiwillig verlängern werden“. kaw Z<br />

+ Erfahrungsberichte von Zivis unter www.jung-und-<strong>sozial</strong>.de<br />

* Entscheidung des Bundesrates lag bei Drucklegung noch nicht vor.<br />

REGIONEN<br />

Heidi Hefele:<br />

Fachfrau für den<br />

Zivildienst<br />

Als Zivi in der<br />

Kreativwerkstatt<br />

muss man auf<br />

kreative Ideen<br />

gefasst sein<br />

11


12<br />

REGIONEN<br />

Miteinander<br />

reden, Lösungen<br />

suchen, Wege<br />

finden: Johanna<br />

Baun (links)<br />

unterstützt<br />

Alleinerziehende<br />

wie Claudia<br />

Luksch<br />

Reutlingen/Tübingen<br />

<strong>sozial</strong> • Ausgabe 2 | 2010<br />

Gute Aussichten für Alleinerziehende<br />

Seit diesem Jahr bietet die <strong>BruderhausDiakonie</strong> in der Region Neckar-Alb das auf<br />

drei Jahre angelegte Projekt „Zukunft x 2 – Gute Arbeit für Alleinerziehende“ an.<br />

Am Standort Reutlingen nehmen zurzeit 25 Frauen teil, am Standort Tübingen<br />

zehn Frauen und ein Mann. Alle wünschen sich einen Neubeginn.<br />

Ein Leben ohne Dwayne Uchenna? Nein, das könnte<br />

sich Claudia Luksch trotz aller Mühen nicht mehr<br />

vorstellen. Der lebhafte Knirps gehört einfach dazu,<br />

auch wenn seine Mama gerade mal 19 war, als er<br />

zur Welt kam. Dwaynes Vater stammt aus Nigeria,<br />

der Zweitname Uchenna heißt übersetzt Gottes<br />

Wille. Dass Mutter und Sohn nicht mit dem Vater<br />

zusammenleben, ist Claudia Lukschs Wille. Sie hat<br />

selbst entschieden, ihr Kind allein zu erziehen. Diese<br />

Erfahrung teilt sie mit 35 anderen Alleinerziehenden,<br />

die am Projekt Zukunft x 2 des Ausbildungsverbunds<br />

der <strong>BruderhausDiakonie</strong> in Reutlingen und Tübingen<br />

teilnehmen.<br />

„Ich war unzufrieden<br />

mit meinem Leben“,<br />

sagt die 22-Jährige,<br />

„und wollte einen<br />

Schnitt machen.“<br />

Durch die Scheidung<br />

der Eltern seien sie und<br />

ihre beiden Brüder in<br />

schwierigen Familienverhältnissen<br />

groß<br />

geworden. Nach der<br />

achten Klasse bricht<br />

sie die Schule ab, holt im Rahmen eines Berufsvorbereitungsjahrs<br />

den Hauptschulabschluss nach und<br />

macht ein Freiwilliges Soziales Jahr. „Danach habe ich<br />

gejobbt“, erzählt Claudia Luksch. Mit 17 lernt sie den<br />

Vater ihres Kindes kennen und führt dessen Kleiderladen<br />

in Reutlingen, später in Tübingen. Mit 19 wird<br />

sie schwanger. Eine Woche nach Dwaynes Geburt<br />

steht sie schon wieder im Laden. Mit Kind und Arbeit,<br />

aber ohne Ausbildung und Beruf.<br />

Anfang des Jahres steigt sie aus. Das Reutlinger Jobcenter<br />

hat ihr einen Flyer geschickt mit dem neuen<br />

Alleinerziehenden-Projekt der <strong>BruderhausDiakonie</strong><br />

sowie eine Einladung zur ersten Info-Veranstaltung.<br />

Es folgen Beratungsgespräche mit Kinderbetreuung,<br />

Bewerbungstraining, Zukunftswerkstatt und Frauenfrühstück<br />

mit Kontaktbörse und Erfahrungsaus-<br />

tausch in der neu eingerichteten, zentral gelegenen<br />

Anlaufstelle in der Unteren Gerberstraße in Reutlingen.<br />

Alleinerziehende Frauen zwischen 21 und 51,<br />

wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, vereint<br />

dort ein gemeinsamer Wunsch. „Alle wollen etwas<br />

Neues beginnen“, sagt Johanna Baun, die sich mit<br />

Thomas Haas die Leitung des Projektes teilt, „eine<br />

Ausbildung machen oder wieder arbeiten gehen.“<br />

Johanna Baun merkt schnell: Claudia Luksch ist<br />

zielstrebig, und sie passt ins Team. Die junge Frau<br />

erhält eine vom Jobcenter finanzierte, sechsmonatige<br />

Arbeitsgelegenheit (AGH) beim Projekt Zukunft x 2.<br />

Die übrigen Teilnehmerinnen befinden sich entweder<br />

noch in der Beratungsphase oder auf dem Weg der<br />

Weitervermittlung. Johanna Baun hat zwölf AGH-<br />

Plätze in verschiedenen Arbeitsbereichen beantragt.<br />

Gleichzeitig bauen sie und ihr Team an einem Netzwerk,<br />

zu dem kirchliche Träger genauso gehören sollen<br />

wie das Kreisjugendamt mit dem Alleinerziehendentreff,<br />

das Reutlinger Familienforum (Arbeitskreis<br />

Alleinerziehende) und der Diakonieverband.<br />

„Jede Frau soll ihren eigenen Weg finden“, betont die<br />

Projektleiterin. Für Claudia Luksch ist dieser Weg in<br />

die Zukunft schon klarer geworden. „Ich möchte Physiotherapeutin<br />

werden“, sagt die 22-Jährige. Weil sie<br />

dafür den Realschulabschluss benötigt, wird sie ab<br />

September tagsüber wieder die Schulbank drücken.<br />

„Jetzt fehlt mit nur noch ein Kita-Platz für meinen<br />

Sohn. Den brauche ich dringend.“ Bisher waren Claudia<br />

Lukschs Bemühungen in Reutlingen erfolglos.<br />

„Dabei sind gerade Alleinerziehende auf eine zuverlässige<br />

Kinderbetreuung angewiesen“, sagt Johanna<br />

Baun. Sie appelliert an kirchliche und städtische<br />

Träger, mehr Ganztagsplätze für Mütter beziehungsweise<br />

Väter bereitzustellen, die berufstätig oder in<br />

der Ausbildung sind. In Fällen wie dem von Claudia<br />

Luksch wünscht sie sich „eine Verkürzung von Schul-<br />

und Berufsausbildung“. Es würde das mühevolle Leben<br />

mit Kleinkind etwas einfacher machen.<br />

kaw Z


<strong>sozial</strong> • Ausgabe 2 | 2010 REGIONEN<br />

Metzingen<br />

Neustart mit Schrauben und Schweißen<br />

Die Fahrradwerkstatt Ermstal in Metzingen-Neuhausen will Langzeitarbeitslosen<br />

wieder eine Tür in das Arbeitsleben öffnen – mit Trainingsmöglichkeiten in der<br />

Reparaturwerkstatt und im Verkauf.<br />

Der Mann im blauen Poloshirt beugt sich über den<br />

Sattel eines Mountainbikes. Vorsichtig schiebt er das<br />

Vorderrad an, so dass sich der Reifen in der Luft dreht.<br />

„Das war wohl ein gewaltiger Schlag gegen die Felge",<br />

urteilt Matthias Ringwald und blickt sein Gegenüber<br />

fragend an. Johannes Link nickt. Der 24-Jährige<br />

ist Zweiradmechaniker. Er leitet die Kollegen an,<br />

überprüft und gibt Tipps – ohne seine fachliche Einschätzung<br />

geht wenig in der neuen Fahrradwerkstatt<br />

der <strong>BruderhausDiakonie</strong> in Metzingen-Neuhausen.<br />

Das ist ein Unternehmen, das Menschen Zukunft geben<br />

will. Genau genommen handelt es sich um eine<br />

Qualifizierungswerkstatt, sagt Daniel, Sozial-<br />

pädagoge mit technischer Vorbildung und Leiter der<br />

neuen Fahrradwerkstatt der <strong>BruderhausDiakonie</strong>.<br />

Denn neben Daniel Albrich und dem Mechaniker<br />

Johannes Link arbeiten in der Radwerkstatt sieben<br />

Langzeitarbeitslose – überwiegend Hartz-IV-Empfänger,<br />

die die Agentur für Arbeit nach Neuhausen<br />

vermittelt hat. Mit einem klaren Ziel: In der Fahrradwerkstatt<br />

sollen die Männer und Frauen weiter<br />

ausgebildet und wieder fit gemacht werden für den<br />

ersten Arbeitsmarkt.<br />

Matthias Ringwald, der Mann in Blau, ist einer von<br />

denen, die seit einiger Zeit auf Jobsuche sind. Die<br />

Krise in seinem Handwerk warf auch den gelernten<br />

Maler und Lackierer aus der Bahn. Mangels Aufträgen<br />

hatte ihm sein ehemaliger Arbeitgeber gekündigt –<br />

danach fand der heute 43-Jährige keine feste Stelle<br />

mehr in seinem Beruf. Die Selbstständigkeit mit einem<br />

Hausmeister-Service scheiterte, doch der alleinerziehende<br />

Vater zeigte sich flexibel. Er sattelte um in<br />

Richtung Altenpflege, aber auch dort klappte es nicht<br />

mit einer Anstellung auf Dauer.<br />

Verzweiflung, Klinikaufenthalte, dazwischen immer<br />

wieder die Suche nach einem festen Job. Jetzt hofft<br />

Matthias Ringwald wieder. „Seit ich in der Werkstatt<br />

arbeite, geht es mir deutlich besser“, sagt der Reutlinger.<br />

Nicht nur, dass sein Tag wieder Struktur hat,<br />

dass der 43-Jährige endlich wieder Kollegen um sich<br />

hat: „Ich lerne hier viel und habe endlich wieder das<br />

Gefühl, gebraucht zu werden.“<br />

Klar, so schnell geht den Mitarbeitern<br />

der Fahrradwerkstatt die Arbeit<br />

nicht aus. Schrauben, schweißen,<br />

schmieren, flicken, neue Reifen aufziehen<br />

und die Räder der berühmten<br />

„Achter“ entledigen: „Wir sind regelrecht<br />

mit Reparaturaufträgen überrannt<br />

worden“, sagt Daniel Albrich.<br />

Er und seine Mitarbeiter verkaufen<br />

in Neuhausen auch neue Räder vom<br />

Kinderfahrrad bis zum Elektrobike.<br />

Doch vor allem in der Werkstatt ist<br />

der Einsatz von Matthias Ringwald<br />

und seinen Kollegen gefragt. Der<br />

43-Jährige schaut genau hin, wenn<br />

Zweiradmechaniker Johannes Link Bremsen austauscht<br />

oder Schaltungen neu einstellt. Wenn das<br />

nächste kaputte Rad kommt, sind die Langzeitarbeitslosen<br />

selbst gefragt: Technische Kenntnisse und<br />

selbstständiges Arbeiten können eine Eintrittskarte<br />

sein in die richtige Arbeitswelt.<br />

Auch ein Bewerbungstraining gehört zum Qualifizierungsprojekt<br />

in Neuhausen, der dritten Fahrradwerkstatt<br />

der <strong>BruderhausDiakonie</strong> neben vergleichbaren<br />

Einrichtungen in Reutlingen und Tübingen. Gerade<br />

wird auf dem Reusch-Areal ein Seminarraum eingerichtet,<br />

erzählt Daniel Albrich. Sechs Monate bleiben<br />

die Männer und Frauen zunächst bei ihm, die das<br />

Job-Center auf 1,50-Euro-Basis ins Ermstal vermittelt<br />

hat. Danach gibt es im Einzelfall Verlängerung – oder<br />

die Chance auf einen Neuanfang. Wie schwer es ist,<br />

Langzeitarbeitslose wieder in Lohn und Brot zu bringen,<br />

weiß der Sozialpädagoge aus seiner beruflichen<br />

Erfahrung. Dennoch hofft er, dass die Arbeit in der<br />

Neuhäuser Fahrradwerkstatt Menschen wie Matthias<br />

Ringwald wieder eine Türe öffnet. Vielleicht klappt<br />

das schon deswegen, weil jene, die Motivation und<br />

technisches Gespür zeigen, in den Verantwortlichen<br />

der Radwerkstatt einen Fürsprecher finden. Und Fürsprache<br />

ist wichtig, sagt Daniel Albrich: „Wo sie fehlt,<br />

ist alles noch viel schwieriger.<br />

chz Z<br />

Zweiradmechaniker<br />

Johannes Link<br />

(rechts) und sein<br />

Mitarbeiter richten<br />

eine Felge mit<br />

„Achter“ wieder<br />

gerade<br />

13


14<br />

REGIONEN<br />

Jana Mokali (drit-<br />

te von rechts) und<br />

Lusine Minasyan<br />

(rechts) freuen<br />

sich mit fünf Multiplikatorinnen,<br />

die nach erfolgreicher<br />

Schulung<br />

ihre Zertifikate<br />

erhalten haben<br />

Reutlingen<br />

Mit ELAN zum Bildungserfolg<br />

<strong>sozial</strong> • Ausgabe 2 | 2010<br />

Der Jugendmigrationsdienst (JMD) der <strong>BruderhausDiakonie</strong> kooperiert seit eineinhalb<br />

Jahren erfolgreich mit Migrantenorganisationen in Reutlingen. Im Rahmen<br />

des Projekts ELAN – Elternbildung im Einwanderungsland – werden Eltern gestärkt,<br />

damit sie ihre Kinder auf deren Bildungsweg besser unterstützen können.<br />

Bis jetzt ist Jana Mokali mit dem Projektverlauf zufrieden.<br />

„Wir haben die Erfahrung gemacht, dass<br />

Eltern mit Migrationshintergrund sehr daran interessiert<br />

sind, ihren Kindern Bildung zu ermöglichen“,<br />

freut sich die Leiterin des JMD in Reutlingen. „Was<br />

ihnen fehlt, sind Informationen und eine wertschätzende,<br />

auf gleicher Augenhöhe stattfindende Zusammenarbeit<br />

mit Bildungseinrichtungen.“ Das vom<br />

Europäischen Integrationsfonds geförderte Projekt<br />

mit dem schwungvollen Namen ELAN gibt Orientierung<br />

in Form von Elternkursen, Informationsveranstaltungen<br />

und Schulungen.<br />

„Wichtigstes Ziel ist ein höherer Bildungserfolg von<br />

Kindern mit Migrationshintergrund durch Stärkung<br />

der Erziehungskompetenz der Eltern“, betont die<br />

Projektleiterin. Sie<br />

und ihr Team haben<br />

zwei Zielgruppen:<br />

Bildungseinrichtungen<br />

und Migrantenorganisationen.<br />

In Reutlingen arbeitet<br />

der JMD mit<br />

vier Grund- und<br />

Hauptschulen und<br />

einer Realschule<br />

zusammen. „Wir wollen dazu beitragen, Barrieren<br />

zwischen Lehrern und Migranteneltern abzubauen.“<br />

Nach Ansicht von Jana Mokali brauchen die Schulen<br />

neue Konzepte der Elternarbeit, die auf die Bedürfnisse<br />

von eingewanderten Familien eingehen. Neben<br />

der Einrichtung von Elterncafés würden bereits neue<br />

Wege der Elternbeteiligung in der Schule erprobt und<br />

Fortbildungen veranstaltet.<br />

Da etwa ein Drittel der in Reutlingen lebenden Migranten<br />

in Vereinen oder Elterninitiativen organisiert<br />

ist, kommen auch sie als Kooperationspartner in<br />

Frage. Derzeit unterstützt der JMD vier Migrantenvereine<br />

und zwei Elterninitiativen beim Aufbau offener<br />

Bildungsangebote für Mütter und Väter. Im Rahmen<br />

einer kostenfreien Schulung werden sogenannte<br />

Multiplikatorinnen und Multiplikatoren befähigt, Bildungsangebote<br />

für Vereinsmitglieder selbstständig<br />

zu organisieren und den Kontakt zwischen Eltern und<br />

Bildungseinrichtungen zu erleichtern.<br />

Vorbild für andere Vereine ist der Verein für russische<br />

Kultur und Sprache „Dialog“, der sich das Thema<br />

Bildung schon 2003 auf die Fahnen geschrieben hat.<br />

Galina Lerner, die Vereinsvorsitzende, ist gleichzeitig<br />

JMD-Projektmitarbeiterin und in dieser Funktion für<br />

drei Migrantenorganisationen zuständig. Neben dem<br />

Verein „Dialog“ unterstützt sie die Elterninitiative<br />

Kurden aus dem Irak und den kurdischen Kulturverein<br />

Reutlingen/Tübingen bei der Entwicklung ihrer<br />

Bildungsangebote. „Zusammenarbeit mit Vereinen<br />

ist Beziehungsarbeit“, weiß Galina Lerner aus Erfahrung<br />

– und Wochenendarbeit. Doch daran ist die<br />

in St. Petersburg geborene Russin gewöhnt. Jedes<br />

Wochenende bietet „Dialog“ Nachhilfeunterricht für<br />

Migrantenkinder im Kompetenz- und Integrationszentrum<br />

der <strong>BruderhausDiakonie</strong> in Reutlingen.<br />

Weitere Kooperationen bestehen mit zwei Reutlinger<br />

Vereinen aus dem türkischsprachigen Raum. Dass<br />

JMD-Mitarbeiter Bayram Ceran seit Jahren vertrauensvolle<br />

Beziehungen zu vielen türkischsprachigen<br />

Personen und Familien pflegt, hat dem JMD manche<br />

Türen schneller geöffnet. Darüber hinaus wurde zusammen<br />

mit der Eichendorff-Realschule eine Vater-<br />

Sohn-Gruppe gegründet. Im Vordergrund steht nach<br />

Auskunft von Bayram Ceran die positive Gestaltung<br />

der gemeinsamen Freizeit. „Wir klettern auf Bäume,<br />

überqueren Schluchten oder zelten.“ Natürlich am<br />

Wochenende.<br />

Da haben nicht nur Väter und Söhne Zeit, sondern<br />

auch Vereinsmitglieder. Zum Beispiel, um an der<br />

Multiplikatorenschulung teilzunehmen oder sich in<br />

einer Elterngruppe mit dem deutschen Schulsystem<br />

zu beschäftigen. Lusine Minasyan betreut die afrikanische<br />

Elterninitiative „Sisters“ und weitere Frauen-/<br />

Müttergruppen in den Vereinen. Der Armenierin fiel<br />

es nicht schwer, gute Kontakte aufzubauen. „Ich bin<br />

selbst Migrantin. Das ist sehr hilfreich.“ kaw Z


<strong>sozial</strong> • Ausgabe 2 | 2010 REGIONEN<br />

Reutlingen<br />

Sicher vor sich selbst und anderen<br />

Manche Menschen mit psychischer Erkrankung können für sich selbst zur Gefahr<br />

werden. Sie hatten bisher kaum Möglichkeiten, in einem sicheren Umfeld zu leben.<br />

In Reutlingen haben die Sozialpsychiatrischen Hilfen die Stationäre Intensivbetreuung<br />

eröffnet – eine Einrichtung, die ihren Bewohnern Sicherheit vermittelt.<br />

Nein, typische Fälle gibt es hier nicht. Essstörungen,<br />

Psychosen, Suchtprobleme, Zwangsstörungen – die<br />

Diagnosen sind so unterschiedlich wie die Menschen,<br />

die hier leben. Und wie deren Alter: Derzeit ist die<br />

Jüngste um die 20 Jahre alt, der Älteste hat die 60<br />

schon erreicht. „Wir sind ja noch am Anfang“, sagt<br />

Otmar Keybe. „Jeder Bewohner ist wieder eine ganz<br />

neue Erfahrung.“ Keybe leitet die sogenannte Stationäre<br />

Intensivbetreuung der Sozialpsychiatrischen<br />

Hilfen Reutlingen-Zollernalb. Wer dort wohnt, der<br />

hat, so Keybe, „einen besonderen Bedarf an Halt und<br />

Orientierung“. Er braucht manchmal Schutz vor sich<br />

selbst – und manchmal auch vor anderen. Deshalb<br />

ist die Haustür üblicherweise verschlossen. Und bei<br />

Bedarf lassen sich auch einzelne Stockwerkstüren<br />

schließen.<br />

Vor wenigen Monaten erst hat das zweistöckige<br />

Wohnhaus in der Reutlinger Ringelbachstraße eröffnet.<br />

Drei Frauen und zwei Männer sind bis jetzt eingezogen.<br />

Acht Personen können es werden – so viele<br />

Eineinhalb-Zimmer-Appartements mit Küchenzeile<br />

und Bad sind in dem Gebäude eingerichtet.<br />

Walter Leible (Name geändert) ist einer der ersten<br />

Hausbewohner. Wenn es ihm gut geht, ist der gelernte<br />

Elektroniker ein kommunikativer Mann: Klassensprecher<br />

und Schulsprecher war er in seinem frühe-<br />

ren Leben mal. Im Musikverein hat er das Tenorhorn<br />

gespielt. Er hatte eine eigene Familie und eine Tochter.<br />

Jetzt fehlten ihm manchmal die Begriffe, entschuldigt<br />

er sich. Aber dann erzählt er doch fast ohne<br />

Punkt und Komma. Wohl fühlt er sich hier. Das Essen<br />

ist gut. Er hat, was er braucht – und vor allem: seine<br />

Ruhe. Wenn er will, zieht er sich in sein Appartement<br />

zurück. „Das ist schön eingerichtet, hat Stil, ist sauber<br />

und ohne unnötigen Schnickschnack“, sagt der 50-<br />

Jährige.<br />

Er kann sich aber auch an den Esstisch in der Wohnküche<br />

im Erdgeschoss setzen. Das ist so etwas wie<br />

der Mittelpunkt des Hauses. Dort wird gemeinsam<br />

gekocht und gemeinsam gegessen. Wenn Walter<br />

Leible selber kochen wollte, könnte er sich auf dem<br />

Herd in seinem Appartement das Mittag-<br />

oder Abendessen brutzeln. Das<br />

ist aber nicht seine Sache. Lieber geht<br />

er einkaufen. Darauf ist er besonders<br />

stolz: dass es ihm mittlerweile gelingt,<br />

in den großen Supermärkten in der<br />

Nähe selbstständig einzukaufen – ohne<br />

Beklemmungen oder gar Angst vor den<br />

vielen Menschen dort.<br />

Walter Leible hat schon eine lange<br />

Krankheitsgeschichte hinter sich. Allein<br />

runde zehn Jahre hat er in verschiedenen<br />

Einrichtungen der <strong>BruderhausDiakonie</strong><br />

verbracht – und dabei mal mehr,<br />

mal weniger problematische Zeiten erlebt. Begonnen<br />

hat es in den 80er Jahren. Damals wurde er an einem<br />

Gefäßtumor operiert. Seither sieht er nur noch mit<br />

einem Auge. Und er bekam zunehmende psychische<br />

Probleme. Vieles hat sich in der Folgezeit verändert:<br />

Die Ehe ging auseinander, die Arbeit war nicht mehr<br />

zu schaffen. Irgendwann brach er zusammen. Lange<br />

Klinikaufenthalte folgten. Danach lebte er in verschiedenen<br />

psychiatrischen Einrichtungen. Jetzt ist<br />

er froh, dass er „nicht von Mitbewohnern gedrückt“<br />

wird. Dass er, wie er sagt, „eine Wohnung hat, die<br />

auch Wohnung heißen darf“.<br />

Das Haus sei zwar geschlossen, erläutert Otmar<br />

Keybe. Auch den Garten, wo Walter Leible gerne sitzt<br />

und seine Pfeife schmaucht, sichert ein unauffälliger,<br />

aber stabiler Zaun. Dennoch gehe es in der Stationären<br />

Intensivbetreuung keinesfalls darum, Menschen<br />

wegzuschließen. „Wer hier lebt, benötigt dieses Setting<br />

im Moment“, sagt der Wohnbereichsleiter. „Das<br />

heißt aber nicht, dass er es immer braucht.“ Das Mitarbeiterteam<br />

aus Heilerziehungspflegern, Sozialpädagogen<br />

oder Gesundheits- und Krankheitspflegern<br />

hat deshalb vor allem ein Ziel: den Bewohnern Entwicklungen<br />

ermöglichen, die den sicheren Rahmen<br />

des Hauses irgendwann wieder überflüssig machen.<br />

Walter Leible eilt es damit vorerst nicht: „Ich kann mir<br />

das hier schon für länger vorstellen.“ msk Z<br />

Walter Leible sitzt<br />

gerne ungestört<br />

im Garten und<br />

schmaucht dort<br />

in aller Ruhe<br />

seine Pfeife<br />

15


DIAKONISCHER IMPULS<br />

Kerstin Griese ist<br />

Vorstand Sozialpolitik<br />

im Diakonischen<br />

Werk der EKD<br />

in Berlin<br />

Kerstin Griese<br />

Krise erfordert mutige Weichenstellung<br />

Die Städte und Gemeinden in Deutschland schlagen<br />

Alarm. Ihre Einnahmen sind im Jahr 2009 um 7,7<br />

Milliarden Euro eingebrochen, vor allem weil die Gewerbesteuer<br />

konjunkturbedingt 17 Prozent weniger<br />

erbrachte. Aber auch Steuersenkungen und die aufgrund<br />

der Wirtschafts- und Finanzkrise notwendig<br />

gewordenen Konjunkturpakete belasten die kommunalen<br />

Haushalte. Nach den jüngsten Steuerschätzungen<br />

von Anfang Mai 2010 sind die Kommunen in den<br />

nächsten Jahren einem sehr hohen Druck zum Sparen<br />

ausgesetzt. Bis Ende 2013 ist mit Mindereinnahmen<br />

von circa zwölf Milliarden Euro zu rechnen.<br />

In ihrem Wort zur globalen Finanz- und Wirtschaftskrise<br />

„Wie ein Riss in einer hohen Mauer“ aus dem<br />

Jahr 2009 warnt die EKD davor, die Krisenfolgen den<br />

<strong>sozial</strong> Benachteiligten aufzubürden. Die Gefahr, dass<br />

die Kosten durch einen Abbau staatlicher Leistungen<br />

und Infrastruktur und durch eine Reduktion der <strong>sozial</strong>en<br />

Sicherungssysteme finanziert werden, ist jedoch<br />

durchaus gegeben. Die Frage, wie mit der finanziellen<br />

Notlage der Kommunen umgegangen wird, ist in dieser<br />

Hinsicht eine Nagelprobe auf unser Verständnis<br />

von einer gerechten Gestaltung der Gesellschaft. Armutsbekämpfung<br />

findet in Deutschland weitgehend<br />

auf der Ebene von Städten und Gemeinden statt. Die<br />

Kommunen sind zum großen Teil für den Ausbau und<br />

die Sicherung der <strong>sozial</strong>en Infrastruktur zuständig.<br />

Die kommunale Finanzbasis ist aus<br />

<strong>sozial</strong>politischer Sicht überlebenswichtig<br />

Die kommunale Finanzbasis ist daher aus <strong>sozial</strong>politischer<br />

Sicht überlebenswichtig. Die Politik darf in<br />

dieser Situation keine Steuersenkungen versprechen,<br />

sondern muss ein solides und <strong>sozial</strong> ausgewogenes<br />

Sparkonzept vorlegen und eine verantwortliche Finanzpolitik<br />

gestalten.<br />

Viele Kommunen reagieren auf die desolate Haushaltslage<br />

mit Sparmaßnahmen im <strong>sozial</strong>en und<br />

kulturellen Bereich. Schwimmbäder und Büchereien<br />

werden geschlossen, Kindergartenbeiträge erhöht.<br />

Die Gebührenordnungen für kommunale Dienstleis-<br />

tungen sind auf breiter Front in der Diskussion. Die<br />

finanzielle Ausstattung von Diensten und Einrichtungen<br />

der Diakonie wurde auf kommunaler Ebene<br />

vielerorts zurückgefahren, so dass diakonische Angebote<br />

eingeschränkt werden mussten. Es gilt jedoch:<br />

Eine kostenfreie <strong>sozial</strong>e Infrastruktur und gut ausgebaute<br />

<strong>sozial</strong>e Dienste sind für viele Menschen die<br />

Voraussetzung für ihre Teilhabe an der Gesellschaft.<br />

Dass in der aktuellen politischen Debatte nun sogar<br />

die Verwirklichung des Rechtsanspruchs auf Kinderbetreuung<br />

in Frage gestellt wird, ist alarmierend. Für<br />

Eine gute Sozialpolitik ist Bildungspolitik,<br />

die allen Kindern Chancen<br />

eröffnet<br />

die Verbesserung der Bildungschancen aller Kinder,<br />

für die gesellschaftliche Teilhabe unabhängig von der<br />

wirtschaftlichen Situation der Familien und für die<br />

Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist der Ausbau<br />

notwendig. Eine gute Sozialpolitik im 21. Jahrhundert<br />

ist Bildungspolitik, die allen Kindern Chancen eröffnet.<br />

Die Bewältigung der Wirtschafts- und Finanzkrise<br />

erfordert nachhaltige Konzepte, die verhindern, dass<br />

sich die <strong>sozial</strong>e Ungleichheit als Folge der Krise weiter<br />

verschärft. Aus Sicht der Diakonie stehen dabei die<br />

Interessen und Bedürfnisse armer und <strong>sozial</strong> benachteiligter<br />

Menschen im Mittelpunkt. Ein starker und<br />

auf allen föderalen Ebenen solide finanzierter Sozialstaat<br />

muss der Garant dafür sein, dass Armut strukturell<br />

und nachhaltig bekämpft und verhindert wird.<br />

Zu Recht weist die EKD daraufhin, dass diese Krise<br />

nur politisch bewältigt werden kann. Es erfordert<br />

politischen Willen und mutige Weichenstellungen,<br />

um dem Mangel an institutioneller und individueller<br />

Verantwortung auf dem Finanzmarkt Grenzen zu<br />

setzen. Die Diakonie will – orientiert an der biblischen<br />

Botschaft – in ihren Diensten und Einrichtungen und<br />

in ihrem <strong>sozial</strong>politischen Engagement zur Wiedergewinnung<br />

von Vertrauen und zur Stärkung einer<br />

gerechten und solidarischen Gesellschaft beitragen.

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