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Karnickel kann sie fangen und Regenwürmer rösten. Menschen ...

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das karnickel töten? „das geht schnell. ein schlag mit ’nem<br />

knüppel.“ das Fleisch habe <strong>sie</strong> überm Feuer gebraten. Wer hat ihr<br />

das beigebracht? „das lernt man, wenn man im Wald lebt.“ <strong>sie</strong><br />

schaut sich um. am Hang wachsen brennnesseln, „da <strong>kann</strong> man<br />

suppe draus machen“. – „du hast aber auch spargel geklaut“, sagt<br />

Zühlke. „Geklaubt“, wirft marion ein, „geklaubt.“<br />

Zühlke empfindet ihr leben in dieser Phase als eine kaspar­<br />

Hauser­existenz, näher bei den bäumen <strong>und</strong> Tieren als bei den<br />

menschen. auch von ihrer lebenskunst spricht er, von ihrer beobachtungsgabe<br />

<strong>und</strong> Wendigkeit. die braucht man, um im Wald zu<br />

überleben. der Pfarrer bringt ihr mal einen schlafsack vorbei<br />

oder warme kleidung, die ehrenamtliche aus der Gemeinde beim<br />

basar für <strong>sie</strong> zurücklegen. manchmal erzählt marion von alpträumen<br />

– vielleicht sind es auch bruchstücke<br />

aus einem früheren leben, das ist nicht klar zu<br />

unterscheiden –, in denen <strong>sie</strong> in einem keller<br />

mit erwachsenen männern eingesperrt wird.<br />

Von ihrer mutter hat <strong>sie</strong> nur verschwommene<br />

bilder im kopf, sagt der Pfarrer, <strong>und</strong> <strong>sie</strong> sei<br />

sich nicht sicher, ob die Frau, die sich ihr gegenüber<br />

unbarmherzig gezeigt habe, wirklich<br />

ihre mutter war.<br />

im april 1988 hatte sich der Pfarrer mit<br />

marions einverständnis an den dRk­suchdienst<br />

in münchen gewandt. In dem brief hat<br />

er damals zusammengefasst, was er von ihr in<br />

erfahrung bringen konnte: Vorname marion,<br />

im Heim susanne gerufen, ihre panische<br />

angst davor, eingesperrt zu sein, die angst vor<br />

Frauen. der name der mutter: betty oder barbara,<br />

ihr eigener nachname ist nicht be<strong>kann</strong>t,<br />

Hofmann hatte <strong>sie</strong> manchmal gemeint, dann<br />

wieder verworfen. Geburtstag <strong>und</strong> Geburtsort<br />

un be<strong>kann</strong>t. das alter <strong>kann</strong> er nur schätzen,<br />

zwischen 25 <strong>und</strong> 40 Jahre alt, gibt er damals<br />

an, mittlerweile glaubt er, dass <strong>sie</strong> in seinem alter ist, also etwa 65<br />

Jahre. die Identität wird nicht geklärt. aber der kontakt zwischen<br />

marion <strong>und</strong> dem Pfarrer, später erweitert um die Pfarrersfamilie<br />

<strong>und</strong> michael bock, einen praktischen arzt, bleibt bestehen, auch<br />

die Gemeinde weiß von ihr.<br />

Wann <strong>sie</strong> miteinander in kontakt treten, bestimmt marion.<br />

umgekehrt ist <strong>sie</strong> nicht erreichbar. niemand weiß genau, wo <strong>sie</strong><br />

lebt, auch der Pfarrer nicht. In unregelmäßigen abständen meldet<br />

<strong>sie</strong> sich aus einer Telefonzelle. manchmal ruft <strong>sie</strong> täglich an, dann<br />

kommt monatelang kein lebenszeichen. als <strong>sie</strong> vor Jahren von<br />

einem baum gefallen war <strong>und</strong> über Gliederschmerzen klagte, bot<br />

ihr der Pfarrer ein Handy an. <strong>sie</strong> hätte dann aus ihrem unterstand<br />

im Wald jederzeit anrufen können. abgelehnt. „Zu nah, zu viel<br />

kontrolle“, meint Zühlke trocken. er überredete <strong>sie</strong>, sich zu<br />

einem arzt begleiten zu lassen, von dem er glaubte, dass er mit<br />

einem verletzlichen menschen umgehen könne. als der arzt sich<br />

Aber einen Ofen<br />

hatte <strong>sie</strong> doch. Auch<br />

selbst gebaut, in den<br />

Boden gegraben<br />

anschickte, <strong>sie</strong> anzufassen, warf sich marion auf den boden <strong>und</strong><br />

war schwer zu beruhigen, erzählt der Pfarrer. War marion suizidgefährdet?<br />

„Ja, <strong>sie</strong> wollte sich schon hin <strong>und</strong> wieder das leben<br />

nehmen.“<br />

er bittet michael bock, den arzt, den er aus seiner früheren<br />

Gemeinde kennt, marion bei bedarf telefonisch zu beraten. <strong>sie</strong><br />

ruft häufig an, <strong>und</strong> es kommt zu einem Treffen im Gemeindehaus.<br />

„da saß marion, mitten im sommer in einen Wintermantel<br />

eingewickelt, ihren schäferh<strong>und</strong> hatte <strong>sie</strong> dabei“, erinnert sich<br />

michael bock. er ist einfach auf <strong>sie</strong> zugegangen <strong>und</strong> hat losgeredet.<br />

Vom Telefonieren war ihr seine stimme ja vertraut. eine<br />

untersuchung hat <strong>sie</strong> damals nicht zugelassen, inzwischen sei es<br />

möglich, <strong>sie</strong> mit dem stethoskop abzuhören <strong>und</strong> blutdruck zu<br />

messen, das sei aber das äußerste. eine Weile<br />

ruft <strong>sie</strong> täglich an, aus der Telefonzelle, „nicht<br />

unter einer st<strong>und</strong>e“. einmal entschlüpft seiner<br />

ehefrau, als <strong>sie</strong> ein Gespräch annimmt, der<br />

satz: „<strong>sie</strong> sind ja eine tüchtige Telefoniererin“,<br />

woraufhin marion drei monate nichts von sich<br />

hören lässt. „extreme scheu <strong>und</strong> Verletzlichkeit“,<br />

erklärt bock.<br />

marion ist ein mensch, zu dem keiner gehört,<br />

nicht einmal in der erinnerung.<br />

die beiden männer unternehmen wiederholt<br />

Versuche, ihr wenigstens äußerlich, behördlich,<br />

eine Identität zu verschaffen. <strong>sie</strong><br />

bekäme dann lebensunterhalt, immerhin ist<br />

<strong>sie</strong> in einem alter, wo das leben im Wald<br />

schwerer fällt. <strong>sie</strong> fragen bei sozial <strong>und</strong> kirch­<br />

lich engagierten behördenleitern nach, ernten<br />

aber Ratlosigkeit. als das größte Hindernis<br />

erscheint marion selbst. „Jemandem eine Identität<br />

zu geben“, sei äußerst schwierig, „umso<br />

mehr, wenn die Person allen menschen ein<br />

tiefes misstrauen entgegenbringt, <strong>und</strong> noch<br />

mehr den Institutionen“, sagt ihr arzt. es sei<br />

„alles so schwer nachvollziehbar, weil <strong>sie</strong> ein anderes leben geführt<br />

hat als wir normalen Westeuropäer“. andererseits: Wie<br />

viele verwandte lebensgeschichten wird es nach dem krieg in<br />

deutschland gegeben haben, wo viele kinder verwaisten, von<br />

ihren eltern getrennt oder aufgegeben wurden <strong>und</strong> in Heimen<br />

<strong>und</strong> anstalten lebten, die eher an lager erinnerten?<br />

es weht ein kühler Wind, die sonne scheint. marion trägt über<br />

einem T­shirt einen roséfarbenen Pull<strong>und</strong>er. „den habe ich selbst<br />

gestrickt, zwei links, zwei rechts, in der nächsten Reihe versetzt.“<br />

eine Frau ohne Familien namen <strong>und</strong> ohne lebensgeschichte, die<br />

Fallen baut <strong>und</strong> Pull<strong>und</strong>er strickt, die sagt, dass <strong>sie</strong> nicht in der<br />

schule war, aber schreiben <strong>und</strong> rechnen <strong>kann</strong>, <strong>und</strong> die besser<br />

englisch spricht als der arzt <strong>und</strong> der Pfarrer? englisch hat <strong>sie</strong> mit<br />

ihnen nur in den Wochen eines seelischen ausnahmezustands<br />

gesprochen. Woher ihre sprachkenntnisse stammen, weiß <strong>sie</strong><br />

nicht. es gibt nur Vermutungen, es könne eine familiäre Ver­<br />

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