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Karnickel kann sie fangen und Regenwürmer rösten. Menschen ...

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Im Wald sInd k<br />

<strong>Karnickel</strong> <strong>kann</strong> <strong>sie</strong> <strong>fangen</strong> <strong>und</strong> <strong>Regenwürmer</strong> <strong>rösten</strong>. <strong>Menschen</strong> aber machen ihr Angst.<br />

Deshalb lebte Marion jahrzehntelang allein. Ganz allein, weit weg von allem, was ihr bedrohlich<br />

erscheint. Die Geschichte einer allmählichen Annäherung<br />

c Text: Hedwig Gafga Fotos: Anne Schwalbe<br />

56 chrismon 07 . 2012<br />

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keIne RäubeR<br />

Nachdem <strong>sie</strong> vor Jahren von einem<br />

Baum gefallen war, bot ihr der<br />

Pfarrer ein Handy an. Abgelehnt.<br />

Zu viel Kontrolle<br />

07 . 2012 chrismon 57<br />

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Sie beSitzt nur ein einzigeS Dokument, einen<br />

linolschnitt, einem Pass nachempf<strong>und</strong>en. Vorname: marion.<br />

nachname: aus dem Walde. Geboren: ja. Ort: erde. ein gemaltes<br />

bild, das <strong>sie</strong> von hinten zeigt. ein stempel der Hamburger melanchthonkirche<br />

<strong>und</strong> eine Telefonnummer.<br />

eine kunsthandwerkerin hat ihn für <strong>sie</strong> hergestellt. marion ist<br />

eine Frau, deren Identität niemand kennt, auch <strong>sie</strong> selber nicht.<br />

mehr als zwei Jahrzehnte hat <strong>sie</strong> fast nur im Wald gelebt, unter<br />

einem Zeltdach, das <strong>sie</strong> aus Tannenzweigen, blättern <strong>und</strong><br />

Plas tiktüten – „den Tüten, die es umsonst gibt“ – zusammengefügt<br />

hat. <strong>sie</strong> baut ihre unterstände ins dickicht, von außen erkennt<br />

man <strong>sie</strong> nicht. Wenn <strong>sie</strong> umzieht, <strong>kann</strong> es auch sein, dass<br />

<strong>sie</strong> sich einen leeren schafstall sucht für eine<br />

nacht. Zwischen büschen <strong>und</strong> bäumen bewegt<br />

<strong>sie</strong> sich geschickt, so dass die Tiere nicht aufgeschreckt<br />

werden. <strong>sie</strong> <strong>kann</strong> mit Pfeil <strong>und</strong> bogen<br />

umgehen, auch Fallen stellen <strong>und</strong> das Fleisch<br />

der erlegten kaninchen auf dem Feuer <strong>rösten</strong>.<br />

<strong>sie</strong> ist eine gute Feuermacherin, auch ohne<br />

streichhölzer. Reibt zwei steine, mit etwas<br />

Heu in der mulde dazwischen, so lange, bis die<br />

Funken schlagen. Im Wald hat <strong>sie</strong> keine angst.<br />

so erzählen es die leute, die von ihrer existenz<br />

wissen.<br />

Zum beispiel andreas Zühlke. er ist der<br />

Pfarrer, dessen Telefonnummer in marions<br />

Pass steht. einmal hatten <strong>sie</strong> sich verabredet,<br />

an einem kreisel hinter einer autobahnabfahrt.<br />

Immer wieder fuhr Zühlke in seinem<br />

auto die R<strong>und</strong>e, er konnte <strong>sie</strong> nirgends ent­<br />

decken. nach einer Weile bemerkte er, wie sich<br />

marions Gestalt aus einem dichten Gebüsch<br />

löste. <strong>sie</strong> hatte ihn eine Weile beobachtet, sich<br />

überzeugt, dass er wirklich allein, ohne begleitung<br />

von Ges<strong>und</strong>heitsdienst oder Polizei,<br />

gekommen war. Zu diesem Zeitpunkt <strong>kann</strong>ten<br />

sich die beiden noch nicht lange.<br />

es ist wohl 25 Jahre her, dass <strong>sie</strong> Zühlke das erste mal anrief.<br />

Warum ihn? möglich, dass <strong>sie</strong> ein paar andere Pfarrer durchtelefoniert<br />

hat, möglich, dass <strong>sie</strong> bei ihm hängengeblieben ist wegen<br />

seiner stimme, die tief <strong>und</strong> ruhig klingt. <strong>sie</strong> wollte kein Geld, nur<br />

reden. <strong>und</strong> <strong>sie</strong> wollte vom Hamburger Hauptbahnhof abgeholt<br />

werden, was er auch tat. schon am Telefon spürte er, dass <strong>sie</strong> sich<br />

psychisch in einem ausnahmezustand befand. bei der Frage, wie<br />

<strong>sie</strong> heiße, gab es ein Hin <strong>und</strong> Her, „wir einigten uns dann auf<br />

marion“. In Wahrheit war es ein anderer name, aber der soll nicht<br />

in der Zeitung stehen. als <strong>sie</strong> später aufs Pfarrhaus zugingen, sah<br />

<strong>sie</strong> durchs Fenster seine Frau in der küche hantieren, drehte sich<br />

um <strong>und</strong> rannte weg, er hinterher. an der küche vorbei schleuste<br />

Zühlke <strong>sie</strong> in die Jugendetage der Gemeinde, brachte ihr gekochte<br />

kartoffeln <strong>und</strong> Gemüse.<br />

58 chrismon 07 . 2012<br />

Marions Zeichnung von<br />

ihrem Bett. Selbst gebaut,<br />

aus Holz <strong>und</strong> Blättern.<br />

Eine Matratze aus Natur<br />

er erfuhr weniges aus ihrem leben: aufgewachsen ist <strong>sie</strong> in einem<br />

kinderheim in köln, mit zwölf oder dreizehn Jahren von dort geflüchtet.<br />

Von da an lebte <strong>sie</strong> ihrer erinnerung nach auf der straße,<br />

schlief unter brücken in Hamburg, jobbte st<strong>und</strong>enweise, <strong>sie</strong> schob<br />

die einkaufswagen in einem Großmarkt vom Parkplatz zum eingang<br />

zurück, fand unterschlupf in einer angrenzenden Garage.<br />

unterwegs hatte <strong>sie</strong> Gustav getroffen, mit dem <strong>sie</strong> eine Weile befre<strong>und</strong>et<br />

war, bis er sich mit ihrem ersparten Geld davonmachte.<br />

In geschlossenen Räumen hält <strong>sie</strong> es nicht lange aus. nur eine<br />

nacht blieb <strong>sie</strong> damals, bei sperrangelweit geöffneten Fenstern,<br />

in der Jugendwohnung der Gemeinde.<br />

Jetzt wartet <strong>sie</strong> auf einem abgelegenen Parkplatz. eine korpulente<br />

Frau mit einer geblümten baseballkappe,<br />

unter der ein paar kurze graue Haarsträhnen<br />

zum Vorschein kommen. andreas Zühlke<br />

parkt den kombi so, dass man auf der ladefläche<br />

sitzen <strong>kann</strong>, marion bleibt mehrere meter<br />

entfernt. es ist der zweite Versuch, mit ihr<br />

zu sprechen, den ersten hatte <strong>sie</strong> abgebrochen.<br />

Jetzt aber ist <strong>sie</strong> vorbereitet. In der Hand hält<br />

<strong>sie</strong> eine strichzeichnung. Ist das ihr bett?<br />

„nicht mein bett“, <strong>sie</strong> kichert, „nur die Zeichnung<br />

davon.“ <strong>sie</strong> erklärt, wie <strong>sie</strong> das bett gebaut<br />

hat, um es von unten zu isolieren. aus<br />

material, das ihr der Wald liefert, Hölzern,<br />

Zweigen. Vor ihr bett legt <strong>sie</strong> ein Tuch, damit<br />

das bett nicht schmutzig wird. drinnen in<br />

ihrem unterstand gibt es ein Regal aus steinen<br />

<strong>und</strong> brettern <strong>und</strong> darin einen Jahreskalender<br />

von der örtlichen sparkasse, den die leute um­<br />

sonst bekämen, sowie ein batteriebetriebenes<br />

Radio. damit hört <strong>sie</strong> ndR 1 niedersachsen –<br />

musik <strong>und</strong> Wetter.<br />

Früher habe <strong>sie</strong> die kälte nicht gespürt,<br />

sagt <strong>sie</strong>, sei das ganze Jahr barfuß durch den<br />

Wald gelaufen, jede nacht. da beobachtete <strong>sie</strong><br />

die Gestirne <strong>und</strong> das dahinziehen der Wolken.<br />

<strong>sie</strong> <strong>kann</strong> sich an den sternen orientieren <strong>und</strong> kennt die Wetterseite<br />

der bäume. der Wald macht ihr keine angst, im Gegenteil.<br />

„da kommen weniger Räuber vorbei als auf der straße.“<br />

Jahrelang hat Sie tiere geJagt, kaninchen, Täubchen,<br />

auch krähen – „aber den Rabenvögeln muss man die Haut<br />

abziehen, sonst schmecken <strong>sie</strong> bitter“. auch <strong>Regenwürmer</strong> mag<br />

<strong>sie</strong>, „aber nur wenn <strong>sie</strong> gebraten sind“. Ihre stimme klingt jetzt<br />

nicht mehr dünn, sondern hat einen singenden Tonfall, <strong>und</strong> dabei<br />

rollt <strong>sie</strong> das R. <strong>sie</strong> hat die spuren der Hasen verfolgt, erzählt <strong>sie</strong>,<br />

es werden wohl kaninchen gewesen sein, <strong>und</strong> <strong>sie</strong> in einer Falle<br />

ge<strong>fangen</strong> – mit Hilfe einer durch den schmutz gezogenen Hose,<br />

deren beine unten zugeb<strong>und</strong>en waren. Wenn das kaninchen<br />

hineingelaufen war, habe <strong>sie</strong> im richtigen moment zugepackt.<br />

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Niemand wusste genau,<br />

wo <strong>sie</strong> lebte. Manchmal rief <strong>sie</strong><br />

aus einer Telefonzelle an.<br />

Eine Zeit lang täglich, dann<br />

monatelang gar nicht<br />

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60 chrismon 07 . 2012<br />

Früher, sagt <strong>sie</strong>, ist <strong>sie</strong> das ganze<br />

Jahr barfuß gelaufen. Tagsüber<br />

auf den Wiesen, aber auch nachts.<br />

Kälte hat <strong>sie</strong> nicht gespürt<br />

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das karnickel töten? „das geht schnell. ein schlag mit ’nem<br />

knüppel.“ das Fleisch habe <strong>sie</strong> überm Feuer gebraten. Wer hat ihr<br />

das beigebracht? „das lernt man, wenn man im Wald lebt.“ <strong>sie</strong><br />

schaut sich um. am Hang wachsen brennnesseln, „da <strong>kann</strong> man<br />

suppe draus machen“. – „du hast aber auch spargel geklaut“, sagt<br />

Zühlke. „Geklaubt“, wirft marion ein, „geklaubt.“<br />

Zühlke empfindet ihr leben in dieser Phase als eine kaspar­<br />

Hauser­existenz, näher bei den bäumen <strong>und</strong> Tieren als bei den<br />

menschen. auch von ihrer lebenskunst spricht er, von ihrer beobachtungsgabe<br />

<strong>und</strong> Wendigkeit. die braucht man, um im Wald zu<br />

überleben. der Pfarrer bringt ihr mal einen schlafsack vorbei<br />

oder warme kleidung, die ehrenamtliche aus der Gemeinde beim<br />

basar für <strong>sie</strong> zurücklegen. manchmal erzählt marion von alpträumen<br />

– vielleicht sind es auch bruchstücke<br />

aus einem früheren leben, das ist nicht klar zu<br />

unterscheiden –, in denen <strong>sie</strong> in einem keller<br />

mit erwachsenen männern eingesperrt wird.<br />

Von ihrer mutter hat <strong>sie</strong> nur verschwommene<br />

bilder im kopf, sagt der Pfarrer, <strong>und</strong> <strong>sie</strong> sei<br />

sich nicht sicher, ob die Frau, die sich ihr gegenüber<br />

unbarmherzig gezeigt habe, wirklich<br />

ihre mutter war.<br />

im april 1988 hatte sich der Pfarrer mit<br />

marions einverständnis an den dRk­suchdienst<br />

in münchen gewandt. In dem brief hat<br />

er damals zusammengefasst, was er von ihr in<br />

erfahrung bringen konnte: Vorname marion,<br />

im Heim susanne gerufen, ihre panische<br />

angst davor, eingesperrt zu sein, die angst vor<br />

Frauen. der name der mutter: betty oder barbara,<br />

ihr eigener nachname ist nicht be<strong>kann</strong>t,<br />

Hofmann hatte <strong>sie</strong> manchmal gemeint, dann<br />

wieder verworfen. Geburtstag <strong>und</strong> Geburtsort<br />

un be<strong>kann</strong>t. das alter <strong>kann</strong> er nur schätzen,<br />

zwischen 25 <strong>und</strong> 40 Jahre alt, gibt er damals<br />

an, mittlerweile glaubt er, dass <strong>sie</strong> in seinem alter ist, also etwa 65<br />

Jahre. die Identität wird nicht geklärt. aber der kontakt zwischen<br />

marion <strong>und</strong> dem Pfarrer, später erweitert um die Pfarrersfamilie<br />

<strong>und</strong> michael bock, einen praktischen arzt, bleibt bestehen, auch<br />

die Gemeinde weiß von ihr.<br />

Wann <strong>sie</strong> miteinander in kontakt treten, bestimmt marion.<br />

umgekehrt ist <strong>sie</strong> nicht erreichbar. niemand weiß genau, wo <strong>sie</strong><br />

lebt, auch der Pfarrer nicht. In unregelmäßigen abständen meldet<br />

<strong>sie</strong> sich aus einer Telefonzelle. manchmal ruft <strong>sie</strong> täglich an, dann<br />

kommt monatelang kein lebenszeichen. als <strong>sie</strong> vor Jahren von<br />

einem baum gefallen war <strong>und</strong> über Gliederschmerzen klagte, bot<br />

ihr der Pfarrer ein Handy an. <strong>sie</strong> hätte dann aus ihrem unterstand<br />

im Wald jederzeit anrufen können. abgelehnt. „Zu nah, zu viel<br />

kontrolle“, meint Zühlke trocken. er überredete <strong>sie</strong>, sich zu<br />

einem arzt begleiten zu lassen, von dem er glaubte, dass er mit<br />

einem verletzlichen menschen umgehen könne. als der arzt sich<br />

Aber einen Ofen<br />

hatte <strong>sie</strong> doch. Auch<br />

selbst gebaut, in den<br />

Boden gegraben<br />

anschickte, <strong>sie</strong> anzufassen, warf sich marion auf den boden <strong>und</strong><br />

war schwer zu beruhigen, erzählt der Pfarrer. War marion suizidgefährdet?<br />

„Ja, <strong>sie</strong> wollte sich schon hin <strong>und</strong> wieder das leben<br />

nehmen.“<br />

er bittet michael bock, den arzt, den er aus seiner früheren<br />

Gemeinde kennt, marion bei bedarf telefonisch zu beraten. <strong>sie</strong><br />

ruft häufig an, <strong>und</strong> es kommt zu einem Treffen im Gemeindehaus.<br />

„da saß marion, mitten im sommer in einen Wintermantel<br />

eingewickelt, ihren schäferh<strong>und</strong> hatte <strong>sie</strong> dabei“, erinnert sich<br />

michael bock. er ist einfach auf <strong>sie</strong> zugegangen <strong>und</strong> hat losgeredet.<br />

Vom Telefonieren war ihr seine stimme ja vertraut. eine<br />

untersuchung hat <strong>sie</strong> damals nicht zugelassen, inzwischen sei es<br />

möglich, <strong>sie</strong> mit dem stethoskop abzuhören <strong>und</strong> blutdruck zu<br />

messen, das sei aber das äußerste. eine Weile<br />

ruft <strong>sie</strong> täglich an, aus der Telefonzelle, „nicht<br />

unter einer st<strong>und</strong>e“. einmal entschlüpft seiner<br />

ehefrau, als <strong>sie</strong> ein Gespräch annimmt, der<br />

satz: „<strong>sie</strong> sind ja eine tüchtige Telefoniererin“,<br />

woraufhin marion drei monate nichts von sich<br />

hören lässt. „extreme scheu <strong>und</strong> Verletzlichkeit“,<br />

erklärt bock.<br />

marion ist ein mensch, zu dem keiner gehört,<br />

nicht einmal in der erinnerung.<br />

die beiden männer unternehmen wiederholt<br />

Versuche, ihr wenigstens äußerlich, behördlich,<br />

eine Identität zu verschaffen. <strong>sie</strong><br />

bekäme dann lebensunterhalt, immerhin ist<br />

<strong>sie</strong> in einem alter, wo das leben im Wald<br />

schwerer fällt. <strong>sie</strong> fragen bei sozial <strong>und</strong> kirch­<br />

lich engagierten behördenleitern nach, ernten<br />

aber Ratlosigkeit. als das größte Hindernis<br />

erscheint marion selbst. „Jemandem eine Identität<br />

zu geben“, sei äußerst schwierig, „umso<br />

mehr, wenn die Person allen menschen ein<br />

tiefes misstrauen entgegenbringt, <strong>und</strong> noch<br />

mehr den Institutionen“, sagt ihr arzt. es sei<br />

„alles so schwer nachvollziehbar, weil <strong>sie</strong> ein anderes leben geführt<br />

hat als wir normalen Westeuropäer“. andererseits: Wie<br />

viele verwandte lebensgeschichten wird es nach dem krieg in<br />

deutschland gegeben haben, wo viele kinder verwaisten, von<br />

ihren eltern getrennt oder aufgegeben wurden <strong>und</strong> in Heimen<br />

<strong>und</strong> anstalten lebten, die eher an lager erinnerten?<br />

es weht ein kühler Wind, die sonne scheint. marion trägt über<br />

einem T­shirt einen roséfarbenen Pull<strong>und</strong>er. „den habe ich selbst<br />

gestrickt, zwei links, zwei rechts, in der nächsten Reihe versetzt.“<br />

eine Frau ohne Familien namen <strong>und</strong> ohne lebensgeschichte, die<br />

Fallen baut <strong>und</strong> Pull<strong>und</strong>er strickt, die sagt, dass <strong>sie</strong> nicht in der<br />

schule war, aber schreiben <strong>und</strong> rechnen <strong>kann</strong>, <strong>und</strong> die besser<br />

englisch spricht als der arzt <strong>und</strong> der Pfarrer? englisch hat <strong>sie</strong> mit<br />

ihnen nur in den Wochen eines seelischen ausnahmezustands<br />

gesprochen. Woher ihre sprachkenntnisse stammen, weiß <strong>sie</strong><br />

nicht. es gibt nur Vermutungen, es könne eine familiäre Ver­<br />

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Abe<br />

doc<br />

in


indung zu einem besatzungssoldaten gegeben haben. schon<br />

eine erstaunliche Geschichte. Gut, dass es die beiden Zeugen gibt,<br />

die <strong>sie</strong> seit 25 beziehungsweise 15 Jahren kennen.<br />

hat Sie im heim Stricken gelernt? „nein. Von<br />

den alten Frauen“, antwortet <strong>sie</strong> unbestimmt. Im Heim sei es so<br />

gewesen: Wenn <strong>sie</strong> als kinder eingenässt hätten, seien <strong>sie</strong> eiskalt<br />

abgeduscht, oft auch geschlagen worden. es ist eine der wenigen<br />

erinnerungen, die <strong>sie</strong> aus dieser Zeit mitteilt. Für eine Weile ist<br />

es still. Ob <strong>sie</strong> jemanden aus ihrem früheren leben gern noch<br />

einmal wiedersehen würde? „Gustav, weil der mir noch mein Geld<br />

schuldet.“ <strong>sie</strong> lacht.<br />

seit einiger Zeit kommt <strong>sie</strong> meist zweimal die Woche in den<br />

Ort. Ihre beine sind so geschwollen, dass <strong>sie</strong> sich nur ganz langsam<br />

bewegen <strong>kann</strong>, im Ort <strong>kann</strong> <strong>sie</strong> einen Rollstuhl benutzen. In<br />

den letzten Jahren hat sich ihr leben verändert, was mit der<br />

Fre<strong>und</strong>schaft zu einer alten Frau zu tun hatte. marion hatte ihr<br />

Hilfe angeboten, <strong>sie</strong> ab <strong>und</strong> zu im Rollstuhl herumgefahren. In<br />

der Wohnung dieser Frau konnte <strong>sie</strong> duschen. als die Frau starb,<br />

organi<strong>sie</strong>rte die Familie den nachlass so, dass der Rollstuhl für<br />

marion dablieb. <strong>und</strong> <strong>sie</strong> boten ihr an, nun bei ihnen zu duschen.<br />

Für ein paar euro schiebt <strong>sie</strong> einmal in der Woche die leeren<br />

mülltonnen in ein mietshaus zurück. Vom bäcker bekommt <strong>sie</strong><br />

altes backwerk. „man muss höflich fragen“, rät <strong>sie</strong> <strong>und</strong> macht es<br />

mit übertrieben hoher stimme vor: „Haben <strong>sie</strong> vielleicht noch<br />

alte brötchen von gestern?“ bei einer lebensmittelausgabe für<br />

arme geben <strong>sie</strong> ihr manchmal Obst, auch ohne bedürftigkeitsnachweis.<br />

„es fällt ihr in der letzten Zeit leichter, auf menschen<br />

zuzugehen“, sagt ihr arzt. auch zu annegret Zühlke, der Frau des<br />

62 chrismon 07 . 2012<br />

So unwirtlich wie die Städte kam<br />

ihr der Wald nicht vor. Jetzt ist<br />

es schwer, in die Gemeinschaft<br />

zurückzukehren<br />

Pfarrers, bei der <strong>sie</strong> früher wortlos den Hörer auflegte, hat sich<br />

im lauf der Jahre ein anderes Verhältnis entwickelt. die beiden<br />

tauschen sich über Ges<strong>und</strong>heit, essen <strong>und</strong> Wetter aus.<br />

Über die einzelheiten in marions alltag weiß annegret Zühlke<br />

am besten bescheid – dass die Familie am Ort für marion Haferschleim<br />

kocht <strong>und</strong> ausprobiert, welches Obst <strong>sie</strong> verträgt. marion<br />

leidet seit einigen Wochen unter schweren schluckbeschwerden,<br />

der arzt vermutet eine ernste erkrankung. <strong>sie</strong> ernährt sich überwiegend<br />

von astronautennahrung aus der apotheke, in die <strong>sie</strong><br />

schmelzflocken <strong>und</strong> Früchte mischt. <strong>sie</strong> bekommt dafür Geld vom<br />

Pfarrer, vom arzt <strong>und</strong> von der Gemeinde – für marion ein Problem.<br />

„<strong>sie</strong> hat eine klare einstellung dazu, was <strong>sie</strong> von leuten<br />

annehmen will <strong>und</strong> was nicht“, sagt michael bock. In absehbarer<br />

Zeit braucht <strong>sie</strong> vielleicht Pflege. aber eine Pflege mit wechselnden<br />

Pflegepersonen anzunehmen, sei für <strong>sie</strong> völlig <strong>und</strong>enkbar. In<br />

letzter Zeit spricht <strong>sie</strong> wieder davon, sich das leben zu nehmen.<br />

der arzt will <strong>sie</strong> in ihrer entscheidung weder bestärken noch<br />

hindern, er will ihre autonomie respektieren. In den Telefongesprächen<br />

<strong>und</strong> den Treffen am Ortsrand geht es öfter um abschied.<br />

<strong>sie</strong> wolle nicht beerdigt werden, hat <strong>sie</strong> Zühlke mitgeteilt, <strong>und</strong> „<strong>sie</strong><br />

hat danke gesagt“, woraufhin er sehr beunruhigt war.<br />

aber der Pfarrer <strong>und</strong> der arzt sind nicht die einzigen, die<br />

sich Gedanken machen. die Familie, bei der marion manchmal<br />

duscht, hat mit ihr geredet. <strong>sie</strong> könne sich jetzt nicht davonmachen.<br />

die Tochter bekomme ein mädchen. keiner von ihnen<br />

habe Zeit, marion solle für das kind warme sachen stricken.<br />

Wieder ein anruf bei Zühlke: <strong>sie</strong> hätte gern noch ein bisschen<br />

Wolle, um etwas vorzubereiten für das kind, das im Herbst geboren<br />

werden soll. e<br />

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