KOLJA MENSING
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KOLJA MENSING
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die vorLESUNG<br />
- Literatur live an der Uni -<br />
© Juliane Henrich<br />
<strong>KOLJA</strong> <strong>MENSING</strong><br />
Donnerstag, 20. November 2008 – 19.00 Uhr<br />
P 110 (Philosophicum)<br />
STUDIUM GENERALE !<br />
Unterstützt vom AStA der Universität Mainz
Kolja Mensing - 2 - die vorLESUNG<br />
���� Inhalt<br />
� Der Autor Kolja Mensing. Biobibliographisches ............................3<br />
Von Jeannine Rehse<br />
� Ein Freund von mir............................................................................5<br />
Von Andreas Lehmann<br />
� „Mach was draus“ heißt: Mach was – da draußen ..........................8<br />
Von Marion Stark<br />
� Leseprobe Minibar...........................................................................10<br />
� Die vorLESUNG ................................................................................11<br />
Für die Texte in diesem Heft: Alle Rechte vorbehalten
die vorLESUNG - 3 - K o l j a Mensing<br />
Der Autor Kolja Mensing<br />
BIOBIBLIOGRAPHISCHES<br />
Von Jeannine Rehse<br />
Kolja Mensing wurde am 4. März 1971 in Oldenburg, Niedersachsen, geboren. Nach<br />
dem Abitur studierte er sowohl dort als auch in Münster und dem britischen Sunderland<br />
Politikwissenschaft und Geschichte. Ab 1995 bis 1998 arbeitete der frischgebackene<br />
Absolvent als freier Journalist in Berlin, wo er u. a. für die „taz“, den „Tagesspiegel“ und<br />
die „Berliner Zeitung“ schrieb. Nebenbei verfasste er auch Beiträge für den<br />
Deutschlandfunk und Deutschlandradio Berlin. In den darauf folgenden Jahren wirkte<br />
Kolja Mensing als Kulturredakteur bei der „taz“. Im Jahr 2002 veröffentlichte er seinen<br />
ersten Roman „Wie komme ich hier raus? Aufwachsen in der Provinz“, in dem er seine<br />
Eindrücke über das Leben in der deutschen Provinz schildert. 2007 erschien sein derzeit<br />
aktuelles Werk „Minibar“, das eine Vielzahl an kurzen Erzählungen enthält. Es baut auf<br />
der Erkenntnis auf, Mitte 30 noch immer auf der Suche nach dem Leben, der Liebe und<br />
natürlich sich selbst zu sein. Neben dem Schreiben hat Kolja Mensing sich im Bereich<br />
der Videos und Netzkunst verdient gemacht. So drehte er 2004 gemeinsam mit Florian<br />
Thalhofer einen interaktiven Dokumentarfilm mit dem Titel „[13.Stock] – Geschichten<br />
aus dem Hochhaus“. Für dieses Projekt wurde er 2006 mit dem „IBM Preis für Neue<br />
Medien“ beim 19. Stuttgarter Filmwinter ausgezeichnet. Ein Jahr später, im Jahr 2007,<br />
folgte schließlich „[13.Shop] – Geschichten aus dem Einkaufszentrum“, eine narrative<br />
Standortanalyse, für die die beiden Kreativköpfe einen Monat lang in einem<br />
Einkaufszentrum lebten. Sie beobachteten den Mikrokosmos, in dem sich die<br />
verschiedensten Lebensbereiche wie Konsum, Freizeit und Arbeit überlagern und zu<br />
einem völlig neuen Lebensgefühl zusammenschließen. Kolja Mensing wurde mit<br />
zahlreichen Auszeichnungen und Stipendien bedacht. 2006 erhielt er beispielsweise das<br />
Aufenthaltsstipendium im Künstlerdorf Schöppingen und 2008 wurde er für das<br />
Grenzgänger-Stipendium der Robert Bosch Stiftung für das Projekt „Józefs Briefe”<br />
ausgewählt.
Kolja Mensing - 4 - die vorLESUNG<br />
Kolja Mensing hat zahlreiche Werke veröffentlicht. Hier folgt eine Auswahl:<br />
• „Wie komme ich hier raus? Aufwachsen in der Provinz“. Roman.<br />
Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln 2002<br />
• „Mathematik“. Kurzgeschichte.<br />
In: Jim Avignon (Hg.): „Welt und Wissen“. Anthologie.<br />
Verbrecher Verlag, Berlin 2003<br />
• „After the fall”. Kurzgeschichte.<br />
In: „Lieblingslieder. Songs und Stories“. Buch und CD.<br />
Krüger Verlag, Frankfurt am Main 2005<br />
• „Xenon”. Kurzgeschichte.<br />
In: Institute for Information Design Japan (Hg.): “Berlin A-Z”.<br />
Graphic-Sha Publishing, Tokyo 2006<br />
• „Minibar”. Erzählungen.<br />
Verbrecher Verlag, Berlin 2007<br />
Weitere Informationen:<br />
www.deadletters.de<br />
www.13tershop.de<br />
www.13terstock.de
die vorLESUNG - 5 - K o l j a Mensing<br />
Ein Freund von mir<br />
Von Andreas Lehmann<br />
Es gibt da diesen Freund von mir, der zu allem etwas zu sagen weiß. Es ist fürchterlich.<br />
Natürlich sagt er dann und wann etwas Kluges, auf das ich selbst hätte kommen<br />
können, aber das ist es nicht, das mich stört. Es ist eher die Gelassenheit, mit der er<br />
seine eigene Überlegenheit erträgt. Ertappt er sich dabei, mir etwas beibringen zu<br />
können (zu müssen, wäre wohl präziser), so sieht er lächelnd darüber hinweg und lässt<br />
sich weder zu Mitleid noch zu sichtbarem Stolz hinreißen. Wie reagiert man da?<br />
Neulich jedenfalls traf ich ihn zufällig (sofern man an so etwas glaubt) in der Stadt, und<br />
da das letzte Heimspiel unerfreulich verlaufen war, sprach ich ihn auf Kulturelles an;<br />
kann ja auch interessant sein. Ich hatte eine E-Mail erhalten, die mich zu einer<br />
Veranstaltung auf den Universitätscampus einlud, und in der absurden Annahme, diese<br />
E-Mail weihe mich in ein Geheimnis ein, raunte ich ihm zu, dass ich demnächst zu einer<br />
Lesung gehe; Kolja Mensing, den kenne er bestimmt nicht. Das war natürlich ein<br />
Anfängerfehler, den ich mir selbst, noch bevor ich seiner in vollem Umfang gewahr<br />
wurde, niemals zu verzeihen schwor.<br />
Der Mensing, sagte er, das sei ja interessant. Der von der taz, nicht wahr, und aus dem<br />
Radio, Deutschlandradio Kultur und so weiter, mit dem Buch über die Provinz, den<br />
beiden Filmen (interaktiv, sagte er, und seine Finger malten Anführungszeichen in die<br />
Luft) und allem voran diesen Kurzgeschichten. Er schob seine Unterlippe auf eine Weise<br />
vor, die ganz eindeutig Anerkennung zum Ausdruck brachte, aber da sie nicht mir galt,<br />
sprach ich nun etwas leiser weiter. Von Einschüchterung zu sprechen, wäre übertrieben.<br />
Ja, sagte ich, um den drehe es sich. Woher er den nun wieder kenne.<br />
Wenn mein Freund ein Unmensch wäre, wäre er nicht mein Freund, und so legte er mir<br />
nur kurz eine Hand auf die Schulter und tat dann so, als habe ich diese Frage nie<br />
gestellt. Mir zuliebe.<br />
Dass er das Buch – Minibar meine er natürlich – so sehr in sein Herz geschlossen habe,<br />
hänge nicht zuletzt damit zusammen, dass es so handlich sei und aufs Wunderbarste in<br />
die Jackentasche, also tatsächlich in unmittelbare und unsichtbare Nähe des Herzens
Kolja Mensing - 6 - die vorLESUNG<br />
passe. Kurze, sehr kurze Texte, die so sehr geglückt seien, seien doch Romanen, die<br />
gut, aber nicht bemerkenswert gut seien, unbedingt vorzuziehen, nicht wahr. Ob ich ihm<br />
folgen könne, fragte er, oder doch eher zu jenen Leuten gehöre, die davon sprächen,<br />
ein Autor habe diesmal „nur Erzählungen“ vorgelegt. Und der große Roman, der folge<br />
wohl noch. Gott sei Dank sprach er weiter, bevor ich mich zu einer Antwort entschließen<br />
konnte. Es sei ein in seiner Unaufdringlichkeit und Uneitelkeit (ich konnte mich nicht<br />
daran erinnern, das Wort schon einmal gehört zu haben) bemerkenswertes Buch und<br />
entsprechend eines der bleibenden Lektüreerlebnisse der vergangenen Zeit für ihn<br />
gewesen. Ich ahnte bereits, dass mein Freund sich zu begeistern begann; ich zwang<br />
mich, nicht auf die Uhr zu sehen.<br />
In den folgenden, sich zu beachtlichen Bruchstücken meines Lebens addierenden<br />
Minuten geriet er ins Schwärmen. Von Präzision sprach er und von Schnörkellosigkeit,<br />
die niemals modisch daherkomme, von Dramatik, die überall lauere in diesen sage und<br />
schreibe dreißig Geschichten, sich jedoch niemals wirklich ereigne, niemals entlade.<br />
Von der ungeheuren Spannung, die gerade durch das Ausbleiben von Ereignissen und<br />
einem manchmal aufs Unheimlichste geschürten Möglichkeitssinn entstehe. So<br />
eingenommen war er, dass er sogar vergaß, mich ein weiteres Mal zu fragen, ob ich ihm<br />
folgen könne.<br />
Dann aber, recht plötzlich, verdunkelte sich sein Blick, als er davon zu sprechen<br />
begann, als wie deprimierend diese Geschichten im Feuilleton mitunter beschrieben<br />
worden seien. Seine Stirn legte sich in Falten (das kannte ich bereits, oft genug hatte er<br />
mir dargelegt, was sich in meinem Leben nicht zufriedenstellend entwickle), und er<br />
schüttelte den Kopf. Es sei schon sehr ärgerlich, dass man einem Buch zur Last lege, es<br />
sei zu … zu negativ, zu pessimistisch. Nicht aufmunternd genug. Er biss sich auf die<br />
Unterlippe und fing nun sogar an, Rezensionen zu zitieren. Wort für Wort. Neben vielem<br />
anderen ist mein Freund auch ein wandelndes Archiv. Sollte man beruflich oder<br />
ehrenamtlich mit der Organisation von Autorenlesungen zu tun haben, irgendeinen<br />
Termin versäumen und auf die Schnelle eine Pressemappe benötigen, so ist er<br />
zuverlässiger als das Internet. „Die Welt in ‚Minibar’ ist eine Kühlschrankwelt“, habe es<br />
in der FAZ geheißen – ohne Hinweis freilich auf alles Wunderbare, das in einem<br />
Kühlschrank lagere. Der Mangel an Wärme sei doch gar nichts gegen die Fülle an – er<br />
formte mit seinen Händen etwas nicht Erkennbares in der Luft – an Klarheiten und<br />
Ehrlichkeiten (im Plural hatte ich auch dieses Wort noch nicht gehört, schwor mir aber,<br />
es irgendwann einmal zum Einsatz zu bringen). Natürlich seien dies alles Geschichten,<br />
die von Traurigem handelten, von den Potenzialen des Scheiterns, an denen das
die vorLESUNG - 7 - K o l j a Mensing<br />
menschliche Leben so ungeheuer reich sei; von Unglücksmöglichkeiten und im Gewand<br />
der Normalität sich anschleichenden Bedrohungen. Da jedoch denke er adornisch,<br />
sagte er, negative Ästhetik und so, ich wisse schon. Es sei doch wohl ganz eindeutig so,<br />
dass die Kunst ein großes Glücksversprechen wach halte, indem sie fortwährend von<br />
seiner Nichterfüllung spreche. Nicht wahr? Nicht wahr?<br />
Er hatte zu schwitzen begonnen, machte jedoch eine erstaunlich kurze Pause, bevor er<br />
weitersprach. Dass Mensing ja bereits 2005 beim Literaturpreis Prenzlauer Berg mit vier<br />
Geschichten einen Erfolg erzielt habe – immerhin den dritten Platz – und drei dieser<br />
Geschichten auch im Buch gelandet seien. Freilich in auf interessante Weise<br />
veränderter Form. Wärme, Hunger, Atem; etwas unwillig nannte er die Titel, so als<br />
müsse dies eigentlich ohnehin bekannt sein. Und dass er der Gerechtigkeit halber<br />
(Gerechtigkeit gegenüber den Zeitungen) schon gestehen müsse, dass das Buch ja in<br />
der Kritik sehr gut dagestanden habe. Auch die FAZ habe es sehr gelobt – nur falls ich<br />
eben einen anderen Eindruck erlangt hätte. Ob ich noch einen Kaffee mit ihm trinken<br />
wolle.<br />
Bevor ich antworten konnte, sagte er, dass er schon beim ersten Durchblättern des<br />
Buches auf viele Formulierungen gestoßen sei, die so einfach und alltäglich wie<br />
fesselnd gewesen seien. Er wisse bloß nicht, ob er die Anfangs- oder die Schlusssätze<br />
höher schätze, sagte er. (Diese Art, seine Stirn in Falten zu legen, kannte ich. Ich hatte<br />
häufig versucht, sie nachzumachen, aber es gelang mir nicht; vor dem Spiegel erleidet<br />
man seine größten Niederlagen.)<br />
Jedenfalls drehte er sich weg, als habe er im Augenblick über nichts Wichtigeres<br />
nachzudenken als über die Anfangs- und Schlusssätze von Kolja Mensings<br />
Geschichten. Meine Neugier begann mich zu quälen. Der Kaffee mit meinem Freund<br />
lockte mich nicht.<br />
Ja ja, sagte er jetzt, und dann wartete ich eine Weile vergeblich auf irgendeine<br />
Fortsetzung. Ich wollte nun wirklich nach Hause.<br />
Was denn sei mit dem Kaffee, fragte er, und offenbar traute er sich nicht, sich den<br />
Schweiß von der Stirn zu wischen. Er hob seine Augenbrauen.<br />
Es tue mir leid, sagte ich, von meinem Mut ein klein wenig berauscht: Ich hätte zu tun.<br />
Dann drehte ich mich um und ließ ihn stehen.<br />
Ich musste in eine Buchhandlung. Ich musste Minibar lesen.
Kolja Mensing - 8 - die vorLESUNG<br />
„Mach was draus“ heißt: Mach was<br />
– da draußen.<br />
Über „Wie komme ich hier raus? Aufwachsen in der Provinz“<br />
Von Marion Stark<br />
Steffi eröffnete: „Komisch, oder? Ein paar Wochen London, und ich habe das Gefühl, ich<br />
bin schon ewig hier.“ „Willst du bleiben?“ „Warum nicht? Wenn sie mich in der Firma<br />
länger wollen…“ Michael nickte. Das Spiel hieß „Ortswechsel“, und es ging darum, sich<br />
gegenseitig davon zu überzeugen, dass man mit dem Leben in der Provinz endgültig<br />
abgeschlossen hatte. Manchmal gewann Steffi, manchmal Michael. Diesmal sah es für<br />
ihn nicht so gut aus.<br />
„Ich habe das Gefühl“, sagte Steffi und streute vorsichtig Zucker in ihren Kaffee, „dass<br />
ich mit jedem Umzug unendlich viel Ballast verliere.“ Michael sagte nichts. Steffi rührte<br />
in ihrem Kaffee. „Ich habe es gestern mal nachgezählt. Es ist inzwischen das sechste<br />
Mal, dass ich umziehe.“ Eins zu null. Michael war erst dreimal umgezogen, seitdem er<br />
vor einigen Jahren die Kleinstadt verlassen hatte, in der Steffi und er zusammen zur<br />
Schule gegangen waren. Der Punkt ging an sie. Er überlegt, ob er die Gültigkeit ihrer<br />
Praktika anfechten sollte, von denen schließlich keines länger als zwei Monate gedauert<br />
hatte, aber die Blöße wollte er sich dann doch nicht geben.<br />
Michael versuchte, dem Gespräch eine andere Richtung zu geben: „Und zu Hause?“<br />
„Nichts Neues. Und bei dir?“ Sie redeten über einen ehemaligen Mitschüler, der gerade<br />
geheiratet hatte. „So richtig, mit Nachbarn und Verwandten. Könntest du dir das<br />
vorstellen?“ „Gott sei Dank hat er uns nicht eingeladen.“ „Ich wäre ja eh in London<br />
gewesen“, sagte Steffi. Noch ein Punkt für sie. Aber Michael hatte Glück. Steffi sagte:<br />
„Wahrscheinlich läuft man den beiden ja Weihnachten über den Weg.“ „Ich fahre<br />
Weihnachten nicht nach Hause“, sagte Michael. „Wir sind in Italien, bei den Eltern<br />
meiner Freundin.“ „Cool“, sagte Steffi, und für einen Moment hätte man meinen können,<br />
dass sie sich ärgerte: „Was macht denn deine Freundin?“ Zwei zu eins. Michael holte<br />
auf. Weihnachten nicht nach Hause zu fahren wog mindestens so viel wie zwei Umzüge,
die vorLESUNG - 9 - K o l j a Mensing<br />
denn Weihnachten fuhr schließlich jeder nach Hause. Steffi schien zu ahnen, dass sie<br />
ihren Vorsprung nicht länger verteidigen konnte. Sie winkte dem Kellner. „Ich muss<br />
dann“, sagte sie, während sie das Geld abzählte: „Ich ruf dich an. Deine alte Nummer<br />
hast du noch, oder?“ Vor dem Fenster war es inzwischen dunkel geworden. Die<br />
Straßenbeleuchtung brannte, und direkt vor dem Café bremste ein Taxi scharf vor<br />
einem Zebrastreifen. Michael nickte missmutig. Natürlich hatte er seine alte Nummer<br />
noch. Drei zu eins. Aus dem Kapitel: Ortswechsel (S. 11f)<br />
Mit der amüsanten Szene „Heimspiel“ steigt Kolja Mensing in „Wie komme ich hier raus?<br />
Aufwachsen in der Provinz“ ein. Steffi und Michael als Teil einer Clique ehemaliger<br />
Klassenkameraden, die, endlich in der modernen Welt angekommen, immer noch mit<br />
ihren Ursprüngen kämpfen. Denn: Das Aufwachsen in der Provinz prägt.<br />
In zehn Kapiteln baut der Autor eine Historie der Provinz auf, schildert Jugend- und<br />
Lebensgeschichte der „Kinder der neuen Provinz“, Besonderheiten, Eigenheiten und<br />
den Übergriff der Provinz auf die Welt. Oft wirken die Beschreibungen und Eindrücke<br />
neutral, wie von einem außen stehenden Beobachter gesammelt, doch der Spott über<br />
Eigenbrötlereien und die eigenen Erlebnisse wirken hindurch. Kaum eine Seite liest sich<br />
durch diese Erzählweise, die so unschuldig daher kommt, ohne ein Schmunzeln. Ob<br />
man persönlich in dem von Kolja Mensing beschriebenen Umfeld aufgewachsen ist,<br />
oder die Provinz aus zahlreichen „Qualitätsurteilen“ zu kennen glaubt: Die Erzählungen<br />
rund um Bushäuschen, Jugendkulturzentrum, „Zwei Meter Lebenshilfe – der<br />
Buchladen“, Hüttendiskotheken und die Revolution des modernen Fernsehens,<br />
garantieren Wiedererkennungswert und (erschreckendes) Identifikationspotential.<br />
Gekonnt stellt Kolja Mensing nicht nur die Eigenarten der Provinzler heraus: „Wie<br />
komme ich hier raus?“ entwickelt neben einer fundierten Soziologie auch eine detaillierte<br />
Lebensgeschichte der Provinz. Fazit des bisherigen Lebenslaufs: Die Provinz als ein nie<br />
sinkendes Schiff. Ein Lebensentwurf, der uns ein Leben lang verfolgt.<br />
Die Stärke der Provinz demonstriert Kolja Mensing u. a. in ihrer Historie: dem<br />
mehrfachen Fast-Niedergang der Einfamilienhäuser und deren Revival, in seinen<br />
Recherchearbeiten, die beweisen, dass noch heute achtzig bis neunzig Prozent der<br />
Deutschen ihre eigenen vier Wände im Grünen aufstellen wollen, oder auch in der vom<br />
Autor amüsant und scharfsinnig geschilderten Wahl der provinziellen Hauptstadt Bonn:
Kolja Mensing - 10 - die vorLESUNG<br />
„Als es dann um die Wahl des Regierungssitzes für das staatliche Provisorium ging, das<br />
auf dem Gebiet der westlichen Besatzungszonen entstehen sollte, drängte vor allem das<br />
britische Außenministerium darauf, möglichst weit an den Rand zu gehen: „What about<br />
Bonn?“ […] Das gefiel nicht nur den Alliierten. Die provinzielle Gründungslegende der<br />
Bundesrepublik war auch im eigenen Land sehr erfolgreich […] Auch die Auffassung<br />
Konrad Adenauers, dass der ländliche Raum der eigentliche Ort von Freiheit und<br />
Demokratie sei, wurde von den selbst ernannten Provinz-Experten geteilt. Sie wollten<br />
sogar einen eigenständigen provinziellen Bürgersinn erkennen, der seit jeher jeder Form<br />
von Zentralismus und Totalitarismus widerstanden habe: „Die Weltgeschichte spielt gern<br />
mit Metropolen, an der Provinz beißt sie sich die Zähne aus.“ Aus dem Kapitel: „Wurzel<br />
der freien Provinz“ (S. 91f)<br />
Geschickt, gewitzt und spannend flickt Kolja Mensing alle Bestandteile „Provinz“<br />
zusammen.<br />
Sich mit allen Kräften aus der engen Schale der Provinz zu befreien: Der Vorsatz der<br />
ehemaligen Schulkameraden, die Kolja Mensings Beschreibung der Lebensform<br />
„Provinz“ begleiten. Wieder dorthin zurückzukehren: Unvermeidbare Realität?<br />
Leseprobe Minibar<br />
Im Hinterhaus flackerten hinter dünnen Gardinen die blauen Lichter der<br />
Fernsehbildschirme, und ab und zu wehte der Abendwind einzelne Sätze von einem der<br />
anderen Balkons zu uns hinüber. Still sahen wir auf die Tannen im Hof und warteten<br />
träge darauf, dass einer von uns die Unterhaltung wieder aufnehmen würde, die wir<br />
während des Essens begonnen hatten. […] Etwas hatte sich verändert. Früher hatten<br />
wir bei unseren gegenseitigen Besuchen oft lange Gespräche geführt, die sich um<br />
Stimmungen drehten, um schwer zu erklärende Gefühle und die vage Hoffnung auf ein<br />
kommendes Glück. […] Ohne dass wir es sofort gemerkt hätten, hatte sich in den<br />
vergangenen Jahren jedoch eine gewisse Zufriedenheit über unseren Alltag gelegt.<br />
Aus Minibar – ICE, S. 49.
die vorLESUNG - 11 - K o l j a Mensing<br />
die vorLESUNG<br />
� die vorLESUNG sind:<br />
- Literatur live an der Uni -<br />
Julia Herrmann, Franziska Herz, Wiebke Ignatz, Andreas Lehmann,<br />
Simone Leidinger, Jeannine Rehse, Claudia Riedl, Silvia Rostosky,<br />
Thorsten Schüller, Marion Stark, Carolin Wellmann.<br />
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Kolja Mensing - 12 - die vorLESUNG<br />
die vorLESUNG<br />
!!! Literatur live an der Uni !!!<br />
Wer sind und was machen wir?<br />
• Wir sind Studentinnen und Studenten verschiedener Fachbereiche der<br />
Uni Mainz, die Lust am Lesen und an Literatur haben. Wir sind ein<br />
loser Zusammenschluss ohne starre Ordnung, aber mit festen Zielen.<br />
• Wir laden GegenwartsautorInnen ein, deren Bücher uns begeistert<br />
haben. Wir vertrauen dabei auf unseren individuellen Geschmack und<br />
nicht auf einen vorgegebenen Kanon.<br />
• Seit 1994 veranstalten wir zwei oder drei Lesungen pro Semester und<br />
bringen Studierende ins Gespräch mit Schriftstellern und anderen<br />
Kulturschaffenden.<br />
Warum machen wir das?<br />
• Wir wollen Spaß an Literatur vermitteln, ohne dass sie notwendigerweise<br />
interpretiert werden muss. Zuhören kommt vor Verstehen.<br />
• Wir wollen auf Autoren hinweisen, die von der Literaturwissenschaft<br />
wohl erst in ferner Zukunft behandelt werden und deren Weg in die<br />
Universitäten sonst noch Jahre dauerte.<br />
• Wir sind aber gleichzeitig der Überzeugung, dass Lesungen und<br />
Gespräche mit Schriftstellern auch die wissenschaftliche Lehre<br />
bereichern, indem sie Studierende aus den Bibliotheken und Kneipen<br />
in den Hörsaal hineinlocken und Literatur an der Uni lebendig werden<br />
lassen.<br />
• Wir sind offen für Anregungen aller Art. Gerne laden wir auch eine/n<br />
Autor/in Deines Wunsches ein.<br />
!!! Besonders freuen wir uns diesmal auf Kolja Mensing und<br />
wünschen viel Spaß bei seiner vorLesung !!!