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Leseprobe Truth Guardians - Die letzten Jäger

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Kapitel 1<br />

Ich blieb stehen und drehte mich im Kreis. Egal, in welche<br />

Richtung ich schaute, der Wald wollte einfach kein Ende nehmen.<br />

Durch und durch ein Stadtkind besaß ich keine Erfahrung mit der<br />

Natur. Ich hatte Angst, fühlte mich hilflos und ich hasste<br />

dieses Gefühl. Bei jedem Geräusch zuckte ich zusammen. Meine<br />

Kleidung war zerrissen, ich war schmutzig, von Moskitos<br />

zerstochen und meine Knie waren aufgeschlagen, weil ich ständig<br />

an Ästen hängenblieb oder über Wurzeln stolperte. Fast schien<br />

es, als hätte sich die Wildnis gegen mich verschworen.<br />

Seufzend ließ ich mich auf einem Baumstumpf am Wegrand nieder.<br />

»Wie lange laufe ich jetzt schon durch diesen verdammten Wald?«,<br />

fragte ich mich. Ich wusste es nicht genau, waren es drei oder<br />

schon vier Tage. Das letzte Haus hatte ich vor Ewigkeiten<br />

gesehen und die asphaltierte Straße war längst einem schmalen<br />

Trampelpfad gewichen.<br />

»Ich muss irgendwo falsch abgebogen sein«, überlegte ich. »Wenn<br />

es doch wenigstens aufhören würde, zu regnen.« Ich war nass bis<br />

auf die Knochen und fror erbärmlich, aber noch schlimmer als die<br />

Kälte war der Hunger.<br />

Als ich den Kopf hob und mich umschaute, entdeckte ich ein paar<br />

Meter neben mir einen Brombeerstrauch. Schnell lief ich hin und<br />

begann die Beeren in mich reinzustopfen. In meiner Gier ritzte<br />

ich mir an den Stacheln des Busches die Haut auf.<br />

Mir wurde schwummerig, als ich die Blutstropfen auf meiner Haut<br />

entdeckte und setzte mich wieder auf den Baumstumpf. In diesem<br />

Augenblick fielen mir die merkwürdigen Träume der <strong>letzten</strong> Nächte<br />

ein und ich musste kichern.<br />

Seit ich die Zivilisation verlassen hatte, träumte ich jede<br />

Nacht denselben Traum:


Eine körperlose Stimme rief immer wieder: »Destiny! Destiny,<br />

komm nach Hause! Du bist auf dem richtigen Weg, meine Kleine!<br />

Komm Heim!«<br />

Ich folgte dieser Stimme bis ich eine Lichtung erreichte. Dort<br />

stand ein junger Mann, dessen Gesicht ich leider nicht erkennen<br />

konnte.<br />

»Endlich hast du nach Hause gefunden, Destiny!«, rief er mir zu,<br />

und breitete die Arme aus, um mich zu umarmen.<br />

»Aber, mein Name ist nicht Destiny«, erwiderte ich, doch der<br />

Mann achtete nicht darauf.<br />

Er schaute sich besorgt um, dann rief er: »Lauf! Lauf um dein<br />

Leben! Sie sind gekommen, um alle Vampire zu vernichten!« ...<br />

An dieser Stelle erwachte ich immer schweißgebadet. »Ich bin ein<br />

Vampir, der kein Blut sehen kann!«, kicherte ich. Das Kichern<br />

ging in einen Lachanfall über, ich konnte gar nicht wieder<br />

aufhören.<br />

»<strong>Die</strong> Einsamkeit macht mich langsam verrückt!«, japste ich, als<br />

ich mich endlich wieder unter Kontrolle hatte.<br />

Ich hielt mir die vom Lachen schmerzenden Seiten. »Ist wohl<br />

besser, ich gehe weiter. Irgendwann muss dieser Wald doch ein<br />

Ende haben.«<br />

»Hast du dich verlaufen?«, fragte in diesem Moment eine Stimme<br />

hinter mir.<br />

Mit vor Angst aufgerissenen Augen fuhr ich herum und erblickte<br />

ein Mädchen. Sie schien etwa in meinem Alter zu sein. Ihre<br />

blonden langen Locken hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden<br />

und ihre wunderschönen, tiefblaue Augen, blickte genau in meine.<br />

Sie lächelte freundlich. »Entschuldige, ich wollte dich nicht<br />

erschrecken. Ich hab dich lachen hören und war neugierig.«


Ich starrte sie immer noch wortlos an. »Bist du wirklich da,<br />

oder bilde ich mir das ein?«, stammelte ich schließlich, denn in<br />

ihrer grünen Kleidung verschmolz sie fast mit dem Hintergrund.<br />

Sie beachtete meine Frage nicht. »Was machst du hier? So ganz<br />

allein?«, wollte sie wissen.<br />

»Wandern«, erklärte ich zögernd.<br />

»Wandern? Im Regen? Ganz allein und ohne Proviant?«, fragte sie,<br />

mit skeptisch hochgezogenen Augenbrauen.<br />

»Ja, was dagegen? Du bist doch auch allein hier«, gab ich<br />

trotzig zurück, drehte mich um und ging weiter.<br />

»Hey, warte! Ich wollte dich nicht ausfragen. Es wird bald<br />

dunkel, weißt du schon, wo du die Nacht verbringen willst?«,<br />

rief sie mir nach.<br />

Ich blieb stehen und drehte mich zu ihr um. »Nein, ehrlich<br />

gesagt nicht.« Bei dem Gedanken, eine weitere Nacht allein im<br />

Wald zu verbringen, schnürte sich mir vor Angst die Kehle zu.<br />

»Ich weiß genau, was du meinst«, sagte sie lachend, und nahm<br />

meine Hand. »Komm mit«, forderte sie mich auf.<br />

Ich folgte ihr verwirrt. »Ich hab doch gar nichts gesagt,<br />

oder?«, fragte ich mich.<br />

Wir verließen den Trampelpfad und gingen ein paar Meter in den<br />

Wald hinein. Vor einem hohen Baum blieben wir stehen.<br />

»Warte, ich lass dir die Leiter hinunter«, sagte sie und begann,<br />

geschmeidig wie eine Katze am Stamm hinaufzuklettern. Erst jetzt<br />

entdeckte ich ein Baumhaus, dass in die Baumkrone gebaut war.<br />

Sie warf mir eine Strickleiter zu und ich kletterte langsam nach<br />

oben. Ich hatte einen kargen, winzigen Raum erwartet doch das<br />

Gegenteil war der Fall. Alles war gemütlich und liebevoll<br />

eingerichtet, so dass ich mir gleich noch schmutziger vorkam.<br />

Ich sehnte mich nach einer Dusche.


Als hätte sie wieder meine Gedanken gelesen sagte das Mädchen:<br />

»Ein Badezimmer haben wir hier zwar nicht, aber dort drüben<br />

hinter dem Vorhang steht ein Eimer frisches Wasser aus dem Bach<br />

und trockene Kleidung hab ich dir auch hingelegt. Wir haben ja<br />

ungefähr die gleiche Größe.«<br />

Ich warf einen skeptischen Blick auf ihre zierliche Figur und<br />

dachte: »Im Leben passe ich nicht in diese Klamotten.«<br />

Ich verschwand hinter dem Vorhang, wusch mich und zog mich um.<br />

Überrascht stellte ich fest, dass mir die Kleidung tatsächlich<br />

passte.<br />

Als ich kurze Zeit später hinter dem Vorhang vortrat, rief das<br />

Mädchen erfreut: »Grün steht dir. Du siehst toll aus.«<br />

Ich schnitt eine Grimasse. »Ich? Ich bin doch ein hässliches<br />

Entlein.«<br />

»Unsinn! Du bist wunderschön! Du siehst aus wie Schneewittchen!<br />

Hier, schau selbst!« Sie nahm meine Hand und führte mich vor<br />

einen Spiegel. Ich trat näher und betrachtete mich. Lange Locken<br />

umrahmte mein blasses Gesicht und im krassen Gegensatz zu meinen<br />

fast schwarzen Haaren standen stahlblauen Augen. Es war, als<br />

würde ich mich zum ersten Mal wirklich sehen. »Schneewittchen!«,<br />

dachte ich und musste lächeln.<br />

»Siehst du? Du bist schön«, flüsterte sie.<br />

Wir gingen gemeinsam zum Sofa. Auf dem Tisch stand ein Teller<br />

mit frischem Obst. »Komm, setzt dich und iss. Leider hab ich<br />

nichts anderes hier«, meinte sie entschuldigend.<br />

»Danke, das ist schon in Ordnung«, murmelte ich und machte mich<br />

hungrig darüber her.<br />

Sie saß neben mir und schaute mir dabei zu. »Isst du nicht?«,<br />

fragte ich nach einer Weile irritiert.<br />

»Nein, ich hab schon gegessen«, erklärte sie.


»Ach so! Sag mal, wie hießt du eigentlich?«<br />

»Mein Name ist Sonya. Und wer bist du?«<br />

»Ich bin Bree. Wohnst du hier?«<br />

Sonya lachte. »Nein, natürlich nicht. Ich wohne mit meiner<br />

Familie in der Nähe von Orick. Aber wenn ich allein sein möchte,<br />

dann komme ich manchmal hier her.«<br />

»Wie weit ist es bis Orick?«, wollte ich wissen. Ich hoffte, die<br />

Wildnis endlich hinter mir lassen zu können.<br />

»Von hier? Ich würde schätzen ein Dreitagesmarsch ungefähr. Wo<br />

genau willst du denn hin?«<br />

Ich zuckte mit den Schultern. »Mal sehen, wo es mir gefällt«,<br />

erklärte ich ausweichend und versuchte, mir die Enttäuschung<br />

nicht anmerken zu lassen.<br />

»Wenn du magst, kannst du gern ein paar Tage hierbleiben«,<br />

schlug sie vor.<br />

»Vielleicht mach ich das«, meinte ich gähnend.<br />

Sie sprang auf. »Jetzt richte ich dir erstmal einen Schlafplatz<br />

her. Möchtest du in der Hängematte schlafen oder reicht dir das<br />

Sofa?«, fragte sie und deutete bei ihren Worten nach oben.<br />

Ich folgte ihrem Blick. Unter der Decke des Raumes an einem Ast<br />

hing eine Hängematte.<br />

»Das Sofa ist okay«, erwiderte ich, und fragte mich insgeheim,<br />

wie man in die Hängematte gelangen sollte, ohne sich den Hals zu<br />

brechen.<br />

Sonya reichte mir eine Decke. »Hier, mach es dir bequem und fühl<br />

dich wie Zuhause. Ich gehe nochmal raus. Hier in der Nähe steht<br />

eine Heuraufe, dort möchte ich die Tiere beobachten. Gute Nacht,


Bree. Wir sehen uns Morgen, dann erzählst du mir alles, was dich<br />

bedrückt, okay? Vielleicht kann ich dir helfen.«<br />

Nachdem Sonya gegangen war, kuschelte ich mich in die weiche<br />

Decke. »Sobald es hell wird, gehe ich weiter«, nahm ich mir vor,<br />

und war kurz darauf auch schon eingeschlafen.<br />

Ich schlief wie ein Stein in dieser Nacht. Als ich erwachte, war<br />

es schon fast Mittag und von Sonya keine Spur. Seit Tagen hatte<br />

ich das erste Mal wieder tief und fest durchgeschlafen.<br />

Mit einem Blick aus dem Fenster stellte ich fest, dass es noch<br />

immer regnete. »War ja klar«, seufzte ich, und kletterte nach<br />

unten, um mich in den Büschen zu erleichtern.<br />

Auf dem Weg zurück ins Baumhaus, traf ich auf Sonya. »Du bist ja<br />

endlich aufgewacht! Ich dachte schon, du würdest den ganzen Tag<br />

verschlafen!«, rief sie mir lachend zu.<br />

»Ich hab in den <strong>letzten</strong> Nächten nicht viel Schlaf bekommen«,<br />

entschuldigte ich mich.<br />

»Schon okay, ich mach doch nur Spaß. Ich hab inzwischen<br />

versucht, ein Kaninchen oder Ähnliches zu jagen, leider konnte<br />

ich keines finden. Dann ist mir eingefallen, dass ich bei dem<br />

Regen eh kein Feuer entzünden könnte, um es zu braten, und roh<br />

willst du es ja bestimmt nicht, oder?«<br />

»Nein! Auf keinen Fall. Ich mach mir aber auch so nicht viel aus<br />

Fleisch«, erwiderte ich und schüttelte mich bei dem Gedanken,<br />

ein rohes Kaninchen zu essen.<br />

»Das dachte ich mir. Darum hab ich ein paar Beeren und essbare<br />

Wurzeln mitgebracht.«<br />

Gemeinsam stiegen wir hinauf ins Baumhaus. Wieder machte ich<br />

mich allein über das mitgebrachte Essen her. Als ich Sonya<br />

darauf ansprach, meinte sie nur, sie habe schon unterwegs<br />

gegessen.


Sonya wartete, bis ich meine Mahlzeit beendet hatte. Dann<br />

schaute sie mir tief in die Augen und lächelte. »Jetzt erzähl<br />

mir, wer du bist und was dich bedrückt! Ich verspreche dir,<br />

anschließend wird es dir besser gehen.«<br />

Ich wollte nicht über mich sprechen, doch ihr Blick hielt mich<br />

gefangen und schließlich begann ich zu sprechen: »Mein Name ist<br />

Breanna Summer. Ich komme aus Camden, New Jersey. Bis zu meinem<br />

fünften Lebensjahr bin ich in einem Kinderheim aufgewachsen.<br />

Niemand weiß, wer meine Mutter ist, ich war ein Findelkind.«<br />

»Kurz nach meinem fünften Geburtstag kam ich zu Pflegeeltern.<br />

Ihre Namen sind Peter und Molly. Zuerst waren sie total lieb zu<br />

mir. Einen Sommer lang hatte ich eine wunderschöne Kindheit.<br />

Dann wurde Molly schwanger und als ihr Sohn geboren wurde,<br />

hatten sie und Peter plötzlich keine Liebe mehr für mich übrig.«<br />

»Von dem Moment, als Peter jun. auf der Welt war, wurde ich zum<br />

<strong>Die</strong>nstmädchen degradiert. Ich musste putzen, kochen, Unkraut<br />

jäten und das alles neben der Schule. Weigerte ich mich, wurde<br />

ich verprügelt oder im dunklen Keller eingesperrt.«<br />

»Es wurde immer schlimmer. Vor ein paar Wochen habe ich es nicht<br />

länger ausgehalten und bin abgehauen.«<br />

»Und was hast du jetzt vor?«, fragte Sonya, die mir bisher<br />

schweigend zugehört hatte.<br />

»Weglaufen, bis ich das Gefühl habe, angekommen zu sein«,<br />

murmelte ich.<br />

Sie lächelte. »Das klingt doch nach einem Plan. Wenn du<br />

möchtest, kannst du gern hierbleiben. Das sagte ich ja schon.«<br />

Den Rest des Tages redeten wir nicht mehr davon. Wir verbrachten<br />

die Zeit im Baumhaus, alberten herum und unterhielten uns<br />

stundenlang über alles Mögliche.


Am späten Nachmittag hörte es endlich auf, zu regnen. »Lass uns<br />

noch ein wenig rausgehen«, schlug Sonya vor.<br />

»Ja, gerne! Vom vielen Rumsitzen tut mir schon der Hintern weh!«<br />

Wir liefen eine Weile schweigend durch den Wald. Plötzlich blieb<br />

Sonya stehen. Es sah fast aus, als würde sie etwas wittern.<br />

»Warte hier!«, sagte sie plötzlich und rannte los.<br />

Einige Minuten später kam sie zurück. Sie sah wütend aus.<br />

»Ist alles okay?«, fragte ich.<br />

»Nein, irgend ein Idiot hat eine Wölfin erschossen. Sie liegt da<br />

hinten, wie es aussieht, ist sie schon zwei Tage tot. Wir müssen<br />

ihre Welpen finden, vielleicht können wir sie retten.«<br />

Sie rannte so schnell los, dass ich ihr kaum folgen konnte. Als<br />

ich sie endlich einholte, kniete sie vor einer kleinen Höhle.<br />

»Drei sind noch am Leben. Ich schätze, sie sind ungefähr zehn<br />

Wochen alt. Vielleicht kann ich sie durchbringen! Hilf mir, wir<br />

tragen sie erstmal zum Baumhaus!«<br />

<strong>Die</strong> ganze Nacht und den nächsten Tag umsorgten wir die Welpen.<br />

Der Schwächste von ihnen schaffte es nicht, aber die andern<br />

waren schließlich über den Berg.<br />

Eine Woche lebten die beiden mit uns im Baumhaus. Tagsüber<br />

streifte Sonya mit ihnen durch den Wald und lehrte ihnen das<br />

Jagen, nachts brachte sie die Wölfe immer mit zurück.<br />

Ich freundete mich besonders mit der jungen Wölfin an. Heimlich<br />

gab ich ihr den Namen Tala. <strong>Die</strong> indianische Bezeichnung für<br />

Wolf.<br />

»Heute Nacht lasse ich die kleinen Wölfe im Wald. Ich denke, sie<br />

sind stark genug, um allein klar zu kommen. Für alle Fälle werde<br />

ich sie aber weiter beobachten«, erklärte Sonya mir.


»Du hast bestimmt recht«, murmelte ich traurig.<br />

»Es sind Wildtiere, Bree. Sie gehören in den Wald. Sie werden<br />

überleben, ich bin mir sicher. Hier ganz in der Nähe gibt es ein<br />

großes Wolfsrudel. Ich werde sie dort in der Nähe aussetzen.<br />

Vielleicht haben wir Glück und sie werden dort aufgenommen.«<br />

Schweren Herzens verabschiedete ich mich von Tala und ihrem<br />

Bruder. »Morgen Früh bin ich zurück, dann erzähle ich dir, ob es<br />

geklappt hat«, versprach Sonya und verschwand mit den Wölfen im<br />

Wald.<br />

Ich hatte mich hier im Wald wohlgefühlt. Trotz allem spürte ich,<br />

dass meine Reise noch nicht beendet war.<br />

Als ich mich am Abend schlafen legte, fasste ich den Entschluss,<br />

Sonya noch in dieser Nacht zu verlassen und weiterzugehen.<br />

<strong>Die</strong>smal setzte ich meinen Plan in die Tat um. Noch vor<br />

Morgengrauen kletterte ich aus dem Baumhaus und ging fort, ohne<br />

mich zu verabschieden.


Kapitel 2<br />

Den ganzen Tag lief ich und gönnte mir keine Rast. Das Wetter<br />

passte sich meiner miesen Stimmung an, es begann zu regnen und<br />

hörte nicht wieder auf.<br />

Ich vermisste Sonya und das Baumhaus. Ein paar mal war ich kurz<br />

davor, umzudrehen, und zu ihr zurückzugehen. Doch irgendetwas<br />

trieb mich immer weiter vorwärts.<br />

Am frühen Abend des dritten Tages verließen mich meine Kräfte.<br />

Mit jedem Schritt wurde ich mutloser. Der kräftige Dauerregen<br />

war einem leichten Nieselregen gewichen und noch immer hatte ich<br />

kein Haus gesehen. »Das hier muss das Ende der Welt sein. Hier<br />

lebt keine Menschenseele«, sagte ich und erschrak, als ich meine<br />

eigene Stimme hörte. Mir war nicht bewusst gewesen, dass ich<br />

laut sprach.<br />

Als ich in einiger Entfernung eine Bewegung erspähte, blieb ich<br />

wie angewurzelt stehen. Ich konzentrierte mich darauf, und<br />

glaubte, zwei Männer in irrsinnigem Tempo rennen zu sehen. So<br />

schnell, wie es eigentlich nicht möglich war. Ich schüttelte den<br />

Kopf und schaute noch einmal hin. Es war niemand da. »Jetzt ist<br />

es amtlich, du bist verrückt«, sagte ich und plötzlich kamen mir<br />

die Tränen.<br />

Jeder Knochen schmerzte und ich war müde. Ich konnte einfach<br />

nicht weiterlaufen. Abseits des Weges entdeckte ich einen<br />

Felsvorsprung, in dem sich eine Höhle befand. »Ob es hier Bären<br />

gibt?«, fragte ich mich. »Und wenn schon, du stirbst so oder<br />

so«, dachte ich dann.<br />

Mit letzter Kraft schleppte ich mich die Böschung hinauf zu der<br />

Höhle, dort schlüpfte ich hinein. Endlich war ich dem Regen<br />

entkommen. »Wenn ich doch nur etwas hätte, um ein Feuer zu<br />

machen«, seufzte ich.<br />

Plötzlich hörte ich ein Schnüffeln, gefolgt von einem Rascheln.<br />

Irgendetwas kroch in die Felsspalte. Ich wollte aufschreien, als<br />

ich etwas pelziges an meinem Bein spürte, dann sprang Tala an


mir hoch und leckte mein Gesicht.<br />

»Tala! Was machst du denn hier?«, fragte ich und kraulte die<br />

junge Wölfin. Sie war ein wenig abgemagert und sah zerzaust aus,<br />

sie musste mir die ganze Zeit gefolgt sein.<br />

Jetzt rollte sie sich neben mir zusammen, um zu schlafen. Meine<br />

Angst verflog. Ich kuschelte mich an sie und war fast<br />

augenblicklich eingeschlafen.<br />

Weit nach Mitternacht rannten die Zwillingsbrüder James und<br />

Dorian Dupont durch den Wald nach Hause. Plötzlich erstarrte<br />

einer der beiden in seiner Bewegung: »Stopp mal, James. Hörst du<br />

das auch?«<br />

»Ist sicher nur ein verwundetes Tier«, meinte der<br />

achselzuckend und lief weiter.<br />

Dorian ging dem Stöhnen nach. In einer Felsspalte erblickte er<br />

ein schlafendes Mädchen und eine junge Wölfin. Er kroch in die<br />

Höhle, um nach dem Mädchen zu sehen. <strong>Die</strong> zuvor neben ihr<br />

ruhende Wölfin stellte sich ihm in den Weg und fletsche die<br />

Zähne.<br />

Schön ruhig! Ich werde ihr nichts tun«, sagte er und schob das<br />

Tier bestimmt zur Seite. Knurrend zog der Wolf sich zurück.<br />

Er untersuchte das schlafende Kind. Fieber wütete durch ihren<br />

Körper. Ohne darüber nachzudenken hob er sie auf und rannte<br />

zurück in die Stadt, aus der er gerade gekommen war.<br />

Einige Tage später versammelte Laura die Familie um den großen<br />

Konferenztisch im Arbeitszimmer. Dorian hatte um ein Gespräch<br />

gebeten. Als Familienoberhaupt hatte sie sich am Kopf des<br />

Tisches niedergelassen, ihr Gefährte Henry an ihrer Seite.<br />

Sie schwieg und schaute jeden Einzelnen an. Zuerst Henry, ihren<br />

treuen Begleiter. Er hatte das lange braune Haar lose im Nacken


zusammengebunden. Seine wunderschönen grünen Augen erwiderten<br />

ihren Blick ruhig und er lächelte.<br />

Er legte seine feingliedrigen Finger, die zeigten, dass er<br />

niemals schwere körperliche Arbeit hatte verrichten müssen, auf<br />

ihre und drückte ihre Hand. Zu Lebzeiten war er Musiker am Hof<br />

eines Königs gewesen.<br />

Er spürte Lauras Traurigkeit. Ihr Zirkel war im Begriff, sich<br />

aufzulösen. »Ich werde immer bei dir sein, Liebste«, sagte er<br />

leise.<br />

»Ich danke dir, Liebster«, erwiderte sie.<br />

Ihr Blick wanderte weiter zu ihren Söhnen. Äußerlich glichen<br />

sie sich, wie ein Ei dem anderen und doch waren sie so<br />

verschieden. Sie hatten dunkles Haar, grüne Augen und waren<br />

von großer und muskulöser Statur.<br />

Sie schaute zuerst James an, der aufbrausendere und<br />

temperamentvollere der Zwillinge. Er war dafür bekannt, erst zu<br />

handeln und dann zu denken. Ohne ein Lächeln erwiderte er ihren<br />

Blick. Neben ihm saß Amira, seine Gefährtin.<br />

Bei ihrer Verwandlung war die dunkelhaarige Schönheit kaum älter<br />

als 18 Jahre gewesen. Genau wie James gehörte sie zu den<br />

Kämpfern der Vampire und lernte ihn bei einer Schlacht kennen.<br />

Später folgte sie ihm von ihrem Zirkel aus Italien in die USA.<br />

James, Mira und auch Dorian hatten vor ein paar Tagen vom<br />

Ältestenrat den Auftrag erhalten, beim Schutz der <strong>letzten</strong><br />

Vampirsiedlung in England zu helfen. Vampire wurde in England<br />

seit Monaten immer wieder grundlos von <strong>Jäger</strong>n des Circle of<br />

<strong>Truth</strong> <strong>Guardians</strong> angegriffen. Es hatte schon viele Tote gegeben.<br />

Sonya wollte die drei nach Europa begleiten. Sie war optisch wie<br />

charakterlich das totale Gegenteil von Amira. Ihr Haar war blond<br />

und sie hatte blaue Augen. Sie war ein Feingeist, liebte die<br />

Natur und alle darin befindlichen Lebewesen. Sie hasste es, zu<br />

töten. Oft verbrachte sie Wochen oder Monate in der Wildnis, um<br />

verletzte Tiere aufzupäppeln.


Als Letztes richtete Laura ihre Aufmerksamkeit auf Dorian, ein<br />

ruhiger, nachdenklicher Typ. Sein sonst offener Blick war heute<br />

getrübt und in sich gekehrt. Sie ahnte, dass er mit den Gedanken<br />

bei dem Kind war. Auch Sonya, seine Gefährtin, schaute ihn immer<br />

wieder besorgt an.<br />

Laura riss sich aus ihren traurigen Gedanken und schaute wieder<br />

Dorian an. »Erzähl uns, worüber du mit uns sprechen möchtest«,<br />

erteilte sie ihm das Wort.<br />

Er erhob sich. »Es ist dieses Kind, es geht mir einfach nicht<br />

mehr aus dem Kopf. Wie ist es möglich, dass sie so eine Macht<br />

über mich hat? Ich muss immer wieder zu ihr gehen, um mich zu<br />

überzeugen, dass es ihr gut geht. Sie hat mich an sich gebunden.<br />

Sie muss eine Hexe sein. Kennst du dieses Gefühl?« Er schaute<br />

Laura fragend an.<br />

Sie lächelte kurz. »Ich kenne es sehr gut. Mir ist es auch so<br />

ergangen, damals, als ich dich und deinen Bruder fand. Der<br />

Unterschied ist, dass es für mich nur eine Möglichkeit gab, euch<br />

zu retten.«<br />

»Was kann ich dagegen tun?«, fragte er verzweifelt.<br />

»Nichts, Dorian. Das Gefühl wird bleiben, solange dieses Kind<br />

lebt.«<br />

»Es muss doch etwas geben, es macht mich sonst wahnsinnig! Was<br />

wird passieren, wenn ich fortgehe? Kann ich James nach England<br />

begleiten und mich dort mit der Jagd ablenken?«, rief er<br />

aufgebracht.<br />

Laura schaute ihm in die Augen. »Du kannst jederzeit gehen, aber<br />

das Gefühl wird bleiben«, erklärte sie. »Du wirst lernen müssen,<br />

damit zu leben.«<br />

Dorian schüttelte den Kopf. »Nein, so kann ich mich auf gar<br />

keinen Fall auf die Schlacht konzentrieren. Es tut mir Leid,<br />

James. Ich werde dich nicht begleiten.«


»Du und deine besonnene Art werden uns fehlen, Bruder«, warf<br />

James ein.<br />

»Unter normalen Umständen würde ich dir zustimmen, aber so wie<br />

es jetzt ist, wäre ich eine Belastung für euch.«<br />

»Wieso das?«, wollte Mira wissen.<br />

»Meine Gedanken kreisen nur um sie. Weißt du, sie entfernt sich<br />

gerade von hier und es kostet mich meine ganze Kraft,<br />

hierzubleiben und ihr nicht zu folgen. Ich kann spüren, dass es<br />

ihr sehr schlecht geht. Was kann ich nur tun?«, fragte er, der<br />

Verzweiflung nahe.<br />

»Wir könnten sie zu uns holen«, schlug Laura nach einem Moment<br />

des Schweigens vor.<br />

»Nein! Sie ist noch ein Kind! Wir dürfen kein Kind ..., oder<br />

doch?«, unterbrach er sich selbst.


Kapitel 3<br />

Ich schlug die Augen auf und war mir fast sicher, dass ich<br />

gestorben sein musste. »Das muss der Himmel sein«, dachte ich,<br />

denn ich lag in einem warmen weichen Bett. Am Fußende stand ein<br />

Mann, der so schön war, dass er nur ein Engel sein konnte.<br />

Noch hatte er mein Erwachen nicht bemerkt, daher konnte ich ihn<br />

ungeniert betrachten. Er war sehr groß und muskulös, hatte<br />

dunkles Haar und sanfte, grüne Augen, im krassen Gegensatz dazu<br />

eine makellose, sehr weiße Haut. Er stand völlig unbeweglich da,<br />

fast wie eine Statue.<br />

Um den Rest des Raumes sehen zu können, drehte ich den Kopf. Als<br />

ich wieder zum Fußende schaute, war der Mann verschwunden. Ich<br />

blinzelte verwirrt, hatte ich ihn mir vielleicht nur<br />

eingebildet? In diesem Moment öffnete sich die Tür und eine<br />

ältere Krankenschwester kam herein.<br />

»Du bist ja endlich aufgewacht, Liebes«, sagte sie erfreut. »Ich<br />

werde gleich mal Dr. Hanson Bescheid geben.« Mit diesen Worten<br />

verließ sie mich wieder.<br />

»Dann bin ich wohl doch nicht tot«, murmelte ich.<br />

Kurze Zeit später betrat ein junger Arzt das Zimmer. Er<br />

untersuchte mich und lächelte dann aufmunternd. »Das Fieber ist<br />

überstanden, du bist nur immer noch ein wenig unterernährt.<br />

Kannst du mir sagen, wie du heißt?«<br />

Ohne zu überlegen, sagte ich den ersten Namen, der mir einfiel.<br />

»Ich heiße Destiny.«<br />

Er streckte mir die Hand hin. »Schön dich kennenzulernen,<br />

Destiny. Ich bin Dr. Hanson. Wir werden dich noch ein paar Tage<br />

hierbehalten, um dich aufzupäppeln und ...«<br />

»Wo bin ich denn bitte? Wie bin ich hier her gekommen? Und wo<br />

ist mein W... Hund?«, unterbrach ich ihn.


»Du bist in Orick, Kalifornien. <strong>Die</strong>s ist das Memorial Hospital.<br />

Leider kann niemand sagen, wie du herkamst, denn keiner hat<br />

etwas beobachtet. Vor vier Tagen lagst du plötzlich nachts vor<br />

unserer Tür, aber ein Hund war nicht bei dir. Bisher haben wir<br />

vermutet, du hast dich selbst hier her geschleppt und bist vor<br />

der Tür zusammengebrochen. Wo kommst du her? Und wo sind deine<br />

Eltern? Laut der örtlichen Polizeistation gibt es scheinbar<br />

niemanden, der dich vermisst.«<br />

Ich drehte den Kopf zur Wand und kämpfte einen Moment mit den<br />

Tränen, dann begann ich zu erzählen. »Meine leiblichen Eltern<br />

kenne ich nicht, ich bin bei Pflegeeltern aufgewachsen. Sie<br />

haben mich behandelt, wie eine Sklavin, darum hab ich es nicht<br />

mehr ausgehalten. Ich bin weggelaufen. Unterwegs wurde ich krank<br />

und versteckte mich im Wald ...«, ich machte eine kurze Pause.<br />

»Als Nächstes bin ich hier aufgewacht. Jemand muss mich gefunden<br />

und hergebracht haben«, überlegte ich.<br />

»Wie heißen deine Eltern?«, wollte der Arzt wissen.<br />

»Bitte, schicken sie mich nicht zurück!«, flehte ich<br />

erschrocken.<br />

»Ich werde sehen, was ich für dich tun kann, Destiny. Wie alt<br />

bist du?«, fragte Dr. Hanson.<br />

»Ich bin sechzehn Jahre alt, aber bald werde ich siebzehn.«<br />

In diesem Moment steckte eine Schwester den Kopf zur Tür herein.<br />

»Doktor! Kommen sie schnell! Wir haben einen Notfall in Zimmer<br />

dreiundzwanzig!«<br />

Er sprang sofort auf. »Wir unterhalten uns später, Destiny!« Mit<br />

diesen Worten rannte er aus dem Zimmer.<br />

Das Reden hatte mich erschöpft, ich ließ mich ins Kissen<br />

zurücksinken. Nur Sekunden später war ich eingeschlafen.<br />

Wieder glaubte ich beim Erwachen, den Engel an meinem Bett


stehen zu sehen, und wieder war niemand dort, als ich genauer<br />

hinschaute.<br />

»Verrückt!«, dachte ich. »Wie bin ich nur hier her gekommen?«<br />

Ich versuchte krampfhaft, mich zu erinnern.<br />

Das Letzte, woran ich mich erinnerte, war die Höhle, in die ich<br />

kroch, um zu schlafen. Tala war bei mir gewesen. Der Rest der<br />

Erinnerung blieb bruchstückhaft, egal wie sehr ich mich auch<br />

anstrengte. Ich glaubte, mich an das Gefühl zu erinnern, von<br />

kalten Händen untersucht, aufhoben und davon getragen zu werden.<br />

Auch glaubte ich, ein Gesicht zu sehen, das besorgt auf mich<br />

herabblickte und mich anflehte, durchzuhalten. »Den <strong>letzten</strong> Teil<br />

habe ich mir bestimmt nur eingebildet«, seufzte ich.<br />

Eine Schwester, die in diesem Augenblick das Zimmer betrat,<br />

hörte das Seufzen. »Geht es dir gut?«, fragte sie besorgt.<br />

»Ja, schon. Ich frage mich nur, was jetzt aus mir wird.«<br />

Schwester Lorie lächelte. »Mach dir keine Sorgen. Erstmal<br />

bleibst du ja ein paar Tage bei uns.«<br />

Plötzlich fiel mir Sonya wieder ein. Sie hatte mir doch erzählt,<br />

dass sie mit ihrer Familie in Orick lebte. Vielleicht konnte sie<br />

mir helfen. Nachdenklich schaute ich die junge Krankenschwester<br />

an.<br />

»Was ist los?«, wollte sie wissen, als sie bemerkte, dass ich<br />

sie anstarrte.<br />

»Kommen sie hier aus dem Ort?«, erkundigte ich mich.<br />

»Geboren bin ich hier nicht, wenn du dass meinst. Aber ich wohne<br />

jetzt seit ein paar Jahren hier.«<br />

»Dann kennen sie bestimmt viele Einheimische?«, löcherte ich<br />

weiter.<br />

»Einige. Worauf willst du hinaus? Ich hab noch viel zu tun.«


»Ich suche meine Freundin Sonya. Sie wohnt hier in Orick. Sie<br />

ist ungefähr so groß wie ich, hat blonde lange Haare und ...«<br />

»Wie heißt sie denn mit Nachnamen?«, unterbrach mich die<br />

Schwester.<br />

Ich überlegte krampfhaft, aber es wollte mir nicht einfallen.<br />

Schließlich kam ich zu dem Schluss, dass Sonya mir ihren vollen<br />

Namen nie verraten hatte. Ich zuckte mit den Schultern. »Weiß<br />

nicht«, gestand ich.<br />

»Tut mir leid, der Name Sonya sagt mir leider nichts und die<br />

Beschreibung passt auf hunderte Mädchen hier aus dem Ort. Ich<br />

kann dir nicht helfen.«<br />

»Danke trotzdem«, murmelte ich und fasste den Entschluss. Sobald<br />

ich aufstehen durfte das Krankenhaus zu verlassen, um Sonya auf<br />

eigenen Faust zu suchen.<br />

Einige Stunden später betraten zwei Polizisten das Zimmer. Sie<br />

waren beide noch sehr jung und mir auf Anhieb sympathisch. Sie<br />

begrüßten mich herzlich, so als würden sie mich schon lange<br />

kennen. Dann erklärten sie mir das weitere Vorgehen.<br />

»Da du nicht volljährig bist, müssen wir dich zu deinen<br />

Pflegeeltern zurückschicken, daran führt leider kein Weg vorbei.<br />

Zur Zeit gibt es allerdings keine Vermisstenanzeige, auf die<br />

deine Beschreibung passt. Aus diesem Grund wird es etwas dauern,<br />

deine Eltern zu finden.«<br />

»Was heißt das für mich?«, wollte ich wissen.<br />

»Nun, es bedeutet, wir werden dich im örtlichen Waisenhaus<br />

unterbringen müssen, sobald du aus dem Krankenhaus entlassen<br />

wirst. So lange, bis wir deine Eltern gefunden haben.«<br />

»Und was geschieht mit mir, wenn ihr meine Eltern nicht findet?<br />

Kann ich dann im Heim bleiben?«, fragte ich vorsichtig. Ein<br />

winziger Hoffnungsschimmer flackerte in mir auf.


»Als Pflegekind sind deine Daten im System gespeichert. Es wird<br />

ein paar Tage dauern, vielleicht auch Wochen, aber wir werden<br />

bald wissen, woher du gekommen bist. Früher oder später können<br />

wir dich wieder in die Obhut deiner Pflegeeltern geben«,<br />

erklärte der zweite Polizist, ich glaubte, ein Bedauern in<br />

seinem Blick zu sehen.<br />

»Auch wenn meine Pflegeeltern mich brutal misshandeln?«, wollte<br />

ich wissen.<br />

Der jüngere der Beiden machte ein wütendes Gesicht und setzte zu<br />

einer Erwiderung an. Der andere legte ihm beschwichtigend die<br />

Hand auf den Arm. »Erstmal müsstest du zurück. Du könntest aber<br />

bei der für dich zuständigen Pflegestelle eine Beschwerde<br />

einlegen. <strong>Die</strong> kümmern sich dann darum, dass du eine neue<br />

Pflegefamilie bekommst.«<br />

»Genau, als ob ich das noch nicht versucht hätte«, dachte ich.<br />

Tränen traten mir in die Augen. Sollten die ganzen Strapazen der<br />

<strong>letzten</strong> Wochen denn wirklich vergebens gewesen sein?<br />

»Du siehst also, du hast überhaupt keine andere Wahl. Früher<br />

oder später finden wir deine Eltern, du kannst uns ihren Namen<br />

also auch gleich verraten.«<br />

»Mein Name ist Breanna Summer. Ich komme aus Camden; New Jersey.<br />

Meine Pflegeeltern sind Peter und Molly Summer. Aber ich will<br />

auf gar keinen Fall wieder dorthin zurück. Lieber gehe ich ins<br />

Waisenhaus«, schluchzte ich.<br />

Am Abend, kurz vor seinem Feierabend, betrat Dr. Hanson noch<br />

einmal mein Zimmer. »Wir haben endlich deine Eltern erreicht.<br />

Ich soll dir ausrichten, sie haben sich schreckliche Sorgen um<br />

dich gemacht. Übermorgen werden sie herkommen und dich abholen«,<br />

berichtete er.<br />

»Ja, sie waren so sehr in Sorge, kein Geld mehr für mich zu<br />

bekommen, dass sie noch nicht mal eine Vermisstenanzeige<br />

aufgegeben haben«, meinte ich sarkastisch. Ich wollte mich nicht<br />

länger unterhalten und drehte den Kopf zur Wand. In Gedanken


ging ich die vergangenen Tage durch. Noch ein paar Mal hatte ich<br />

geglaubt, den Engel zu sehen, doch immer, wenn ich ihn<br />

ansprechen wollte, war er verschwunden. »Würde er doch nur<br />

einmal so lange bleiben, dass ich mit ihm reden kann. Ich bin<br />

sicher, dass er mich zum Krankenhaus gebracht hat.« Mit diesem<br />

Gedanken schlief ich schließlich ein.<br />

... Ich stand am Ufer eines Sees. Mit kräftigen Zügen kam ein<br />

Fremder ans Ufer geschwommen und stieg aus dem Wasser. Der<br />

Vollmond zauberte einen silbernen Schimmer auf seine nackte<br />

Haut. Sein Anblick nahm mir den Atem. Ich wusste, ich sollte<br />

mich verstecken, doch ich konnte nicht aufhören, seinen<br />

perfekten Körper anzustarren.<br />

Mit den geschmeidigen Bewegungen eines Raubtieres kam er auf<br />

mich zu. Ich versuchte, meine Beine dazu zu bringen, zu fliehen,<br />

doch der Blick seiner wunderschönen blauen Augen hielt mich<br />

gefangen.<br />

»Endlich hab ich dich gefunden. Ich habe schon auf der ganzen<br />

Welt nach dir gesucht«, flüsterte er mir ins Ohr. Er hob mich<br />

hoch und trug mich zu der kleinen Hütte, die am Ufer des Sees<br />

stand.<br />

Drinnen angekommen legte er mich auf das Bett. Ich wurde starr<br />

vor Furcht. »Keine Angst, ich werde dir nicht weh tun«, raunte<br />

er mir ins Ohr, bevor er mich küsste ...<br />

Mit rasendem Herzen schreckte ich aus dem Schlaf hoch. Ich hatte<br />

diesen Traum schon oft gehabt, doch noch nie war er so real<br />

gewesen, wie heute. Noch immer glaubte ich, die Berührungen des<br />

Fremden auf der Haut zu spüren. Ich setzte mich auf und schaute<br />

mich im Zimmer um. Es war niemand zu sehen. Ich wollte schon<br />

wieder die Augen schließen, da entdeckte ich den Engel in einer<br />

Zimmerecke. »Bitte bleib hier. Ich möchte dir danken.«<br />

Unsere Blicke trafen sich und mein Herz setzte einen Schlag aus.<br />

Er war überirdisch schön. »Du brauchst mir nicht zu danken«,<br />

sagte er.


»Bitte bleib«, flüsterte ich, doch ich wusste, er war gegangen.<br />

Traurig blieb ich zurück.<br />

Zwei Tage darauf trafen die Summers ein, um mich abzuholen. In<br />

der Nacht zuvor hatte ich versucht, aus dem Krankenhaus zu<br />

fliehen. Ich hatte es nicht mal von der Station geschafft. <strong>Die</strong><br />

Nachtschwester, ein ziemlicher Drachen, hatte mich erwischt und<br />

mir kurzerhand ein Schlafmittel verpasst. Aus diesem Grund war<br />

ich noch etwas benommen, als ich abgeholt wurde.<br />

Vor den Ärzten und Schwestern spielten die Summers noch die<br />

besorgten Eltern, doch kaum war ich mit ihnen allein, schrie<br />

Molly mich an: »Du wirst uns jeden einzelnen Cent erstatten, den<br />

wir wegen deines kleinen Ausflugs ausgeben müssen, junge Dame.<br />

Du hast so lange Hausarrest, bis alles bezahlt ist. Außerhalb<br />

des Unterrichts wirst du das Haus nicht mehr verlassen. Hast du<br />

mich verstanden?«<br />

Gleichgültig ließ ich alles schweigend über mich ergehen und<br />

schaute aus dem Fenster. <strong>Die</strong> Landschaft zog an mir vorbei und<br />

ich fragte mich, ob wir wohl den ganzen Weg bis nach Camden mit<br />

dem Auto fahren würden und ob ich vielleicht noch einmal eine<br />

Chance zur Flucht haben würde.<br />

<strong>Die</strong>se Hoffnung erstarb, als wir am frühen Abend auf dem<br />

Parkplatz eines herruntergekommenen Motels in der Nähe von<br />

Sacramento hielten. <strong>Die</strong> Summers schlossen mich in einem der<br />

schäbigen Zimmer ein. »Morgen früh geht unser Flug. Wir holen<br />

dich hier wieder ab«, verabschiedeten sie sich und fuhren<br />

lachend davon.<br />

Verzweifelt schaute ich mich in meinem Gefängnis um. <strong>Die</strong> Fenster<br />

waren vergittert und die Tür aus massivem Holz. Keine Chance für<br />

eine erneute Flucht. Ich fiel auf das Bett und weinte.<br />

Irgendwann übermannte mich tiefer Schlaf und träumte lebhaft vom<br />

Fliegen.


Von einer leisen Stimme wurde ich geweckt. »Destiny, wach auf.<br />

Wir müssen uns unterhalten.«<br />

Gehörte das zu einem Traum oder bildete ich mir jetzt Stimmen<br />

ein? Vorsichtig öffnete ich die Augen, der Engel stand vor mir.<br />

Ich setzte mich auf und stellte fest, dass ich mich nicht mehr<br />

in meinem Gefängnis befand, sonder auf einem Sofa in einem<br />

fremden Raum.<br />

»Alles klar, ein Traum«, murmelte ich und kniff mir fest in den<br />

Arm, um aufzuwachen. Nichts passierte. »Autsch!«, grummelte ich<br />

und rieb mir die Stelle am Arm.<br />

Verwirrt schaute ich mich um. Ich befand mich in einem<br />

geschmackvoll eingerichteten Zimmer. Außer dem kleinen Sofa, auf<br />

dem ich saß, gab es noch ein paar Sessel, einen kleinen Tisch<br />

und einen Kleiderschrank. An der Wand über dem Sofa hingen ein<br />

paar wunderschöne Landschafsaufnahmen. <strong>Die</strong> übrigen Wände<br />

verschwanden hinter vollgestopften Bücherregalen, die vom Boden<br />

bis zur Decke reichten. Das Fenster stand weit offen und<br />

Sonnenlicht flutete hinein.<br />

Der Engel hatte sich auf einem Sessel mir gegenüber<br />

niedergelassen und beobachtete mich amüsiert. »Alles klar bei<br />

dir?«, fragte er mit einem Grinsen auf dem Gesicht.<br />

Ich stellte die erste Frage, die mir in den Sinn kam. »Wie spät<br />

ist es?«<br />

»Gleich acht Uhr«, erwiderte er, und schaute mich weiter<br />

aufmerksam an. Er hatte die Beine übereinandergeschlagen und<br />

seine gepflegten Hände ruhten auf seinem Knie.<br />

Ich starrte stumm zurück. Noch nie hatte ich ihn bei Tageslicht<br />

gesehen. Er war wunderschön, ein anderes Wort viel mir dazu<br />

nicht ein. Sein braunes Haar war modisch gestylt und seine<br />

tiefgründigen, grünen Augen funkelten. Er trug teure schwarze<br />

Jeans und ein graues, enganliegendes Langarmshirt, welches seine<br />

Muskeln gut zur Geltung brachte. Einen Augenblick stellte ich<br />

mir vor, wie er nackt aussehen würde. Ich wurde rot und senkte<br />

verlegen den Blick.


Er lachte leise, stand aus dem Sessel auf und ging zu dem<br />

kleinen Tisch, der neben dem Sofa stand. Aus einer Karaffe goss<br />

er Wasser in ein Glas und überreichte es mir. »Hier, du hast<br />

bestimmt Durst.«<br />

»Danke«, stammelte ich und trank einen Schluck. »Wo bin ich? Wie<br />

bin ich hier her gekommen?«<br />

»Wir sind in meinem Haus. Es befindet sich im Redwood<br />

Nationalpark, weit ab von bekannten Wanderwegen, mitten im<br />

Nirgendwo. Ich hab dich hergeholt, wir müssen uns unterhalten«,<br />

erklärte er.<br />

»Wer ..., wie ...«, stammelte ich und versuchte diese<br />

Information zu verarbeiten. Eben war ich doch noch in dem<br />

schäbigen Motel in Sacramento gewesen, weit weg von den<br />

Redwoods.<br />

»Ich werde dir alles erklären, vorher hab ich aber eine Frage,<br />

was weißt du über Vampire?«, fragte er ernst.<br />

Ich glaubte, mich verhört zu haben. »Vampire? Nur das was man<br />

aus Gruselfilmen weiß. Sie saugen Menschen das Blut aus,<br />

schlafen am Tag und jagen in der Nacht, können sich in<br />

Fledermäuse verwandeln, so was halt, aber was ...«, stammelte<br />

ich.<br />

»Ich seh schon, da werde ich ganz am Anfang beginnen müssen«,<br />

unterbrach er mich schmunzelnd.<br />

»Wie meinst du das?«, fragte ich verwundert.<br />

»Hör mir einfach zu«, meinte er und setzte sich neben mich auf<br />

das Sofa. Seine Nähe ließ mein Herz schneller schlagen. »Was für<br />

ein Mann«, dachte ich errötend.<br />

»Danke«, sagte er grinsend, so als hätte ich meinen Gedanken<br />

laut ausgesprochen. Erschrocken schaute ich ihn an. Doch<br />

unbeirrt fing er an zu reden: »Alles was du über Vampire zu<br />

wissen glaubst, ist Quatsch. Ich muss es wissen, denn ich bin


ein Vampir.«<br />

Er schwieg einen Moment, dann sagte er: »Eigentlich dürfte ich<br />

dir das gar nicht erzählen. Mein Name ist Dorian Dupont.«<br />

Gegen meinen Willen musste ich laut lachen. »Du bist ein Vampir?<br />

Ein toller Witz. Und als Nächstes erzählst du mir, im Wald<br />

wohnen ein paar Hexen und die sieben Zwerge sind deine<br />

Nachbarn.«<br />

Mein Lachen erstarb, als ich sein ernstes Gesicht sah. »Du ...,<br />

du meinst das ernst? Du bist wirklich ein Vampir?«, fragte ich<br />

ängstlich. »Aber, sowas wie Vampire gibt es doch nicht ...«<br />

»Doch, Destiny. Es gibt Vampire. Wir verheimlichen unsere<br />

Existenz nur sehr erfolgreich vor den Menschen«, erklärte er.<br />

»Aber, das kann unmöglich wahr sein!«<br />

»Es ist wahr, ich bin ein Vampir. Aber du musst keine Angst vor<br />

mir haben ...«<br />

»Ich hab keine Angst und ich heiße nicht Destiny. Mein Name ist<br />

Breanna, aber alle nennen mich Bree«, unterbrach ich ihn.<br />

Er lächelte. »Na gut, dann eben Bree. Obwohl mir Destiny besser<br />

gefällt. Soll ich dir jetzt etwas über Vampire erzählen, oder<br />

nicht?«, fragte er.<br />

Ich nickte eingeschüchtert und er begann mit seiner Erzählung.

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