Matrix der Gefühle (pdf) - Hermann Kappelhoff
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<strong>Hermann</strong> <strong>Kappelhoff</strong><br />
<strong>Matrix</strong> <strong>der</strong> <strong>Gefühle</strong>. Das Kino, das Melodrama und das Theater <strong>der</strong><br />
Empfindsamkeit.<br />
Verlag Vorwerk 8, Berlin 2004.<br />
Einleitung<br />
Künstliche Emotionalität – Der Raum animierter <strong>Gefühle</strong><br />
In unserem Jahrhun<strong>der</strong>t des Verschwindens ist das<br />
eigentliche Thema des Kinos die Seele – ihr bietet es<br />
eine umfassende Zuflucht. Dies ist, so glaube ich,<br />
<strong>der</strong> Schlüssel zu <strong>der</strong> Sehnsucht, die es ausdrückt,<br />
und zu dem Reiz, den es für uns hat.<br />
John Berger<br />
An<strong>der</strong>s als etwa den berühmten Graugänsen <strong>der</strong> Verhaltensforschung ist es <strong>der</strong><br />
menschlichen Spezies eigen, daß nicht das Kind, son<strong>der</strong>n die Erwachsenen durch die erste<br />
Begegnung mit ihrem Nachwuchs nachhaltig geprägt werden. Im Fall <strong>der</strong> glücklichen Familie<br />
macht das Neugeborene kurzen Prozeß mit den Egoismen und läßt aus wilden Jugendlichen<br />
liebevoll sorgende Eltern werden. Diese Ursprungskonstellation menschlicher Liebesfähigkeit<br />
steht am Anfang von A.I. – Artificial Intelligence (2001), dem jüngsten Film Steven<br />
Spielbergs. Doch ist <strong>der</strong> kleine David (Haley Joel Osment) bereits ein großer Junge und<br />
seiner Mutter nur deshalb gegeben, um sie über den Verlust ihres leiblichen Sohnes zu<br />
trösten, <strong>der</strong> nach einem Unfall nicht mehr aus dem Koma zurückgekehrt ist. David ist ein<br />
Roboter, eine Tröstungsmaschine, ein gefühlserzeugen<strong>der</strong> Automat, eine Kindsimulation von<br />
solch bestechen<strong>der</strong> Prägnanz, daß die Mutter sehr bald einem hypnotischen Liebeswahn<br />
verfällt. Als das leibliche Kind wi<strong>der</strong> Erwarten aus dem Koma erwacht, hat es die Liebe<br />
seiner Mutter an den mechanischen Konkurrenten verloren - o<strong>der</strong> fast, denn schließlich<br />
triumphiert das Realitätsprinzip. Statt aber, wie es die Vorschrift verlangt, David verschrotten<br />
zu lassen, setzt die Mutter ihn im dunklen Wald aus.<br />
Mit dieser Wendung ins Märchenhafte beginnt <strong>der</strong> kleine David nun auch die <strong>Gefühle</strong> des<br />
Kinopublikums durcheinan<strong>der</strong> zu bringen. Ist er doch alles an<strong>der</strong>e als eine Maschine,<br />
nämlich <strong>der</strong> Schauspieler Haley Joel Osment, <strong>der</strong> mit dem Film The sixth Sense (1999) den<br />
Typus des Hollywood-Kin<strong>der</strong>stars reanimierte. Tatsächlich spielt er den verlassenen<br />
Androiden mit hoher Präzision als ein blechernes Kindchenschema, das dem Publikum<br />
gerade nicht suggeriert, es habe ein lebendiges Kind vor sich. Und doch dürfen wir<br />
annehmen, daß das Publikum <strong>Gefühle</strong> mobilisiert, als begegnete ihm ein hilflos<br />
umherirrendes Kind.<br />
Was ist das für ein Publikum, das einem jugendlichen Schauspieler, <strong>der</strong> einen Automaten<br />
spielt, <strong>Gefühle</strong> entgegenbringt, ohne im strengen Sinne getäuscht zu sein? Wenn es<br />
schließlich weint, sind seine Tränen ohne Zweifel physisch real, und doch sind sie nicht<br />
weniger artifiziell als die Intelligenz des Protagonisten.<br />
So gesehen reflektiert <strong>der</strong> Film im ersten Teil eine Grundfrage bürgerlicher Subjektivität: Was<br />
ist das lebendige "menschliche" und "mitmenschliche" Empfinden, wenn sich dieses<br />
Empfinden nicht nur im hohen Maße täuschen läßt, son<strong>der</strong>n selbst noch auf Täuschungen
<strong>Hermann</strong> <strong>Kappelhoff</strong>: <strong>Matrix</strong> <strong>der</strong> <strong>Gefühle</strong>, Einleitung 2<br />
und Illusionen gründen kann? Zahlreich sind daher die Vorbil<strong>der</strong> des kleinen David: Puppen,<br />
Statuen und Automaten, <strong>der</strong>en Leben darin besteht, lebendige <strong>Gefühle</strong> zu erzeugen.<br />
Nach dem kurzen Prozeß <strong>der</strong> Initialisierung <strong>der</strong> Mutterliebe folgt die lange Geschichte <strong>der</strong><br />
Menschwerdung <strong>der</strong> Maschine: Wie entsteht in einer Folge von Rückkopplungen aus dem<br />
Objekt einer mehr o<strong>der</strong> weniger aufoktroyierten Liebe ein empfindendes Wesen? Wie alle<br />
Märchen ergibt <strong>der</strong> Film am Ende eine Parabel vom Erwachsenwerden: David flieht in hellen<br />
Vollmondnächten vor dunklen Männern, durchquert die Schauerwelt einer Heavy-Metal-<br />
Gothic-Party, reist in das Las Vegas monströser Sexualphantasien, um nach einer blauen<br />
Fee zu suchen, die ihn in einen vollwertigen Menschen verwandelt. Am Ende wird er sie<br />
finden, eine Holzpuppe auf dem Grund des Meeres, mit einem aufgemalten Lächeln,<br />
umschleiert von wogendem Plankton. Auch die blaue Fee ist nur ein Dummy aus dem<br />
Vergnügungspark einer untergegangenen Welt, die unsere Gegenwart bezeichnet,<br />
versunken im Meer, erstarrt in ewigem Eis. Doch da David eine Maschine ist, blickt er höchst<br />
aufmerksam und erwartungsvoll in das Gesicht <strong>der</strong> Puppe; er, <strong>der</strong> Android, das Kind, wartet<br />
bis ans Ende <strong>der</strong> kommenden Eiszeit.<br />
A.I. ist wie an<strong>der</strong>e Spielbergproduktionen auch ein Film über die Erinnerung an die<br />
Unendlichkeit <strong>der</strong> Kindheit, die je<strong>der</strong> Erwachsene in sich trägt. Dem Kind nämlich ist die Zeit<br />
eine Ansammlung von Ewigkeiten, die Stunden des Wartens so gut wie die Unzählbarkeit<br />
zukünftiger Tage. Was immer es erwartet, <strong>der</strong> Zustand <strong>der</strong> Erwartung läßt jede Gegenwart<br />
schier hoffnungslos anwachsen. Fragt man nach den <strong>Gefühle</strong>n des Publikums im Kino, dann<br />
steht die Erinnerung an solche Zeiterfahrungen zur Diskussion. Die künstliche Intelligenz, die<br />
David schließlich seinen Wunsch erfüllt, indem sie ihm für ein paar Stunden eine liebende<br />
Mutter schenkt, das ist die Illusion des melodramatischen Kinos, die <strong>Matrix</strong> "sentimentaler<br />
Phantasie". 1<br />
Was man als Unterhaltungskultur bezeichnet, läßt sich in dieser Perspektive als <strong>der</strong> Versuch<br />
verstehen, die Ewigkeiten zu simulieren, die man das Glück <strong>der</strong> Kindheit nennt – eine an<strong>der</strong>e<br />
Zeit als die des Alltags. Sie ginge einher mit mehr o<strong>der</strong> weniger regulierten und reflektierten<br />
Regressionsübungen, die den Riß zwischen dem Bewußtsein objektiver Zeit und den Maßen<br />
subjektiver Zeithorizonte kitten, indem sie die Leere <strong>der</strong> ersten mit den phantasmatischen<br />
Stoffen <strong>der</strong> zweiten auffüllen. 2 Das zu Tränen gerührte Publikum vermittelt vielleicht die<br />
genaueste Vorstellung von dieser Funktion, obwohl doch Unterhaltungskultur westlicher<br />
Prägung eine ganze Reihe an<strong>der</strong>er Manifestationen kennt. Im Lachen und Weinen, in Angst<br />
und Mitleid, in Horror und Thrill lassen sich ihre Register nach Typen <strong>der</strong> Affektion<br />
unterscheiden. In ihnen bekundet sich eine je an<strong>der</strong>e Variation genußreicher Selbstaffektion,<br />
ein Verhältnis des Subjekts zu seiner leibhaften Gegenwart, die in <strong>der</strong> jüngsten Forschung<br />
als "Unterhaltung des Sensationalen" thematisiert wird. 3<br />
Von diesen Spielarten steht im folgenden das sentimentale Genießen im Vor<strong>der</strong>grund. Es<br />
verbindet sich in <strong>der</strong> gegenwärtigen Populärkultur am deutlichsten mit dem<br />
illusionsverlorenen Zuschauer im melodramatischen Kino. Doch während die Filme dieses<br />
1<br />
Dieser Begriff orientiert sich zunächst an Laura Mulveys Konzept melodramatischer Phantasie als einer<br />
kulturellen Aktivität. Sie spricht von dem Melodramatischen als einer "kulturellen Phantasietätigkeit" und sucht<br />
damit die sentimentale Phantasietätigkeit als Gegenstand positiv zu fassen, ohne diesen in den Repräsentationen<br />
dieser Phantasien aufzulösen. In einem ähnlichen Sinne unterscheidet Teresa de Lauretis die "öffentliche<br />
Phantasie" von <strong>der</strong> privaten. Laura Mulvey: It will be a Magnificent Obsession, in: Melodrama. Stage Picture<br />
Screen, British Film Institute, hg. v. Jacky Bratton, Jim Cook, Christine Gledhill, London 1994, S. 126-128; Teresa<br />
de Lauretis: Kino und Oper, öffentliche und private Phantasien (mit einer Lektüre von David Cronenbergs<br />
Madame Butterfly, in: Inszenierung und Geltungsdrang. Interventionen, hg. v. Jörg Huber u. Martin Heller, Zürich<br />
1998, S. 143-164.)<br />
2<br />
Mit Blick auf Blaise Pascal spricht Gertrud Koch von dem "divertissement", das 'die Leere füllt, die <strong>der</strong> verlorene<br />
Glaube gerissen hat': Gertrud Koch: Der kinematogaphische Fall <strong>der</strong> Autorität, in: Inszenierung und<br />
Geltungsdrang, hg. v. Huber u. Heller, S. 129-141, hier S. 129.<br />
3<br />
Vgl. dazu Ben Singer: Melodrama and Mo<strong>der</strong>nity. Early Sensational Cinema and Its Contexts, Columbia<br />
University New York 2001.<br />
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. © by H. <strong>Kappelhoff</strong>
<strong>Hermann</strong> <strong>Kappelhoff</strong>: <strong>Matrix</strong> <strong>der</strong> <strong>Gefühle</strong>, Einleitung 3<br />
Kinos längst nobilitiert worden sind, läßt sich dies vom sentimentalen Genuß seiner<br />
Zuschauer so nicht behaupten. Die selige Selbstvergessenheit – die man sich von Kracauers<br />
kleinen Ladenmädchen bis zu den weinenden Fans von Leonardo Di Caprio in Titanic (1997)<br />
meist weiblich denkt – gilt immer noch als Scheinverfallenheit, blöde Täuschungssucht und<br />
infantile Verschmelzungslust. Was man aber leichthin Identifikation und Einfühlung nennt,<br />
erweist sich bei genauem Hinsehen als eine komplexe psycho-semiotische Aktivität. Wenn<br />
die sentimentale Unterhaltung tatsächlich eine regressive Bewegung einschließt, dann wäre<br />
an <strong>der</strong> Regression eine psychische Aktivität im Feld des Symbolischen, eine spezifische<br />
Form des kulturellen Erlebens zu verstehen.<br />
Weiblich hat man sich das sentimentale Genießen vermutlich auch deshalb gedacht, weil die<br />
konditionierte 'Mütterlichkeit' mitfühlen<strong>der</strong> Zuschauer kein greifbares Ergebnis – z. B. eine<br />
moralische Erkenntnis – produziert. Tatsächlich erfüllt die Rührung im Kino das Paradox<br />
einer passiven Aktivität: Denn einerseits setzt sie voraus, daß <strong>der</strong> Rezipient von seinem<br />
Selbst- und Wirklichkeitsbewußtsein absieht, um sich einer Illusion zu ergeben (seine erste<br />
Aktivität besteht darin, die Augen vor <strong>der</strong> Realität – auch <strong>der</strong> Realität des ästhetischen<br />
Gegenstands – zu schließen); an<strong>der</strong>erseits aber wird die Illusion zum Gegenstand einer<br />
Umwandlung des Bilds in eine faktische psychische Realität, die – im Idealfall – mit einem<br />
körperlichen Symptom einhergeht: den Tränen des Publikums. Im Prozeß <strong>der</strong> filmischen<br />
Wahrnehmung wird aus dem kleinen David ein "inneres Objekt" <strong>der</strong> Zuschauer. Um ein<br />
Verständnis eben dieser Umwandlungsprozesse soll es gehen, wenn im folgenden <strong>der</strong><br />
melodramatische Film als Paradigma sentimentaler Unterhaltung diskutiert wird.<br />
Das Schauspiel <strong>der</strong> Empfindsamkeit<br />
Während es heute als peinlich gilt, in <strong>der</strong> Öffentlichkeit zu weinen, ist das Weinen noch in <strong>der</strong><br />
Epoche <strong>der</strong> Empfindsamkeit ein Nachweis moralischer Begabung. Dort bezeichnet das<br />
Theater den Ort eines einfühlsamen Publikums, das sich mitfühlend den dargestellten<br />
Figuren näherte, um sich im nachempfundenen Leiden in seiner eigenen<br />
Empfindungsfähigkeit zu genießen. Damit ist die Formel eines Kulturalisationsprogramms<br />
benannt, das eng mit <strong>der</strong> Kunstform des Melodramas verbunden ist. Wenn dabei dem<br />
Weinen eine privilegierte Stellung zukommt, ist dies <strong>der</strong> geistesgeschichtlichen Konstellation<br />
geschuldet. In <strong>der</strong> Idee des mitleidvollen Weinens übersetzt das Theater <strong>der</strong> Empfindsamkeit<br />
ein ästhetisches Paradigma, das so alt ist wie die abendländische Poetik, die Katharsis, in<br />
eine wirkungsästhetische Vorstellung, auf die sich schließlich das grundlegende Konzept<br />
mo<strong>der</strong>nen psychologischen Denkens gründen wird, das <strong>der</strong> Regression.<br />
Die Frage nach dem Weinen führt auf das Feld einer neuen Anthropologie, auf dem sich, so<br />
<strong>der</strong> Philosoph Plessner, Psychologie und Ästhetik um ein "Bewußtsein vom Zusammenhang<br />
ihrer Probleme" bemühen, das 'kaum über das 18. Jahrhun<strong>der</strong>t hinausreiche'. 4 Dieses<br />
Problembewußtsein manifestiere sich auch deshalb am weinenden Zuschauer, weil sich mit<br />
ihm ein "Modell von <strong>der</strong> Seele als einer Projektions- und Guckkastenbühne" verknüpfe, dem<br />
sich "das vorstellungsgebundene Lachen ungezwungener als das gefühlsgebundene<br />
Weinen" füge. 5 In <strong>der</strong> Affektivität des Weinens artikuliere sich ein Bewußtsein <strong>der</strong> Grenze<br />
<strong>der</strong> "Repräsentation", eine Erfahrung des "Leib-Seins", die aller sprachmächtigen Vorstellung<br />
ein Ende setzt. Das Weinen sei äußeres Symptom eines Bewußtseins verlorener Integrität,<br />
ein Bekenntnis des menschlichen Subjekts zu seiner Verletzbarkeit.<br />
So gesehen liegt zwischen dem Kind, das seine Hilflosigkeit weinend einbekennt, um an das<br />
Mitleid <strong>der</strong> Erwachsenen zu appellieren, und dem Erwachsenen, <strong>der</strong> diesen Zustand aktiv<br />
aufsucht, obwohl niemand mehr da ist, <strong>der</strong> ihn trösten könnte, <strong>der</strong> Raum des sentimentalen<br />
4 Helmuth Plessner: Lachen und Weinen. Eine Untersuchung <strong>der</strong> Grenzen menschlichen Verhaltens (1941), in:<br />
<strong>der</strong>s.: Gesammelte Schriften VII. Ausdruck und menschliche Natur, Frankfurt/M. 1982, S. 201-387, hier S. 212.<br />
5 Ebd.<br />
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<strong>Hermann</strong> <strong>Kappelhoff</strong>: <strong>Matrix</strong> <strong>der</strong> <strong>Gefühle</strong>, Einleitung 4<br />
Publikums: ein pathetisches Schauspiel, das sich, an<strong>der</strong>s als die Tragödie, nicht mehr an die<br />
Götter wendet. Mit Blick auf das Theater <strong>der</strong> Empfindsamkeit ist es <strong>der</strong> Ort einer kulturellen<br />
Praxis, in <strong>der</strong> die Rührung und die Rührseligkeit des Kunstkonsumenten als Ergebnis<br />
künstlerischer Darstellungen sich durchaus selbst genügte; dokumentierten die Tränen<br />
kunstvoller Anteilnahme doch mit <strong>der</strong> Wirkung auch den Zweck <strong>der</strong> ästhetischen<br />
Veranstaltung. Sie waren das körperlich greifbare Symptom einer gelungenen Umwandlung<br />
theatraler Illusionen in reale Empfindungen.<br />
Doch noch <strong>der</strong> Begriff, <strong>der</strong> diesen Sachverhalt fortgeschrittener Säkularisierung bezeichnet,<br />
"Verinnerlichung", führt als Konnotation den Vorwurf des Scheinhaften mit sich, <strong>der</strong> gegen<br />
das Individuationsprinzip bürgerlicher Kultur sehr bald erhoben wurde. Das Theater <strong>der</strong><br />
Empfindsamkeit war ein Ort <strong>der</strong> Übung <strong>der</strong> Empfindungskräfte und damit aber auch –<br />
anekdotisch und seriös ist dies vielfach beschrieben – <strong>der</strong> Ort zur Schau gestellter<br />
Rührseligkeit. Selbst die Peinlichkeit, die sich heute mit den künstlich initiierten <strong>Gefühle</strong>n<br />
verbindet, verdankt sich letztlich <strong>der</strong> erfolgreichen Umsetzung <strong>der</strong> Wertvorstellungen dieser<br />
Epoche. Sie ist das Ergebnis eines "Zivilisierungsprozesses", <strong>der</strong> die Kontemplation vor dem<br />
Bild, im Konzertsaal und im Theater immer strenger reglementierte, während das Weinen,<br />
wie alle Gefühligkeit, privatisiert wurde, um sie als authentisches Empfinden gegen die zur<br />
Schau getragene Rührung abzugrenzen. Selbst ein Phänomen <strong>der</strong> neuen, säkularisierten<br />
bürgerlichen Subjektivität, hat die Emphase <strong>der</strong> Empfindsamkeit schon "den Anfang des 19.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t nur in Gestalt eines sinkenden Kulturguts erreicht, teils als Unterstrom, teils als<br />
Gegenbild zur Romantik." 6 In dem wirkungsästhetischen Kalkül dieses Theaters aber ist<br />
noch verbunden, was dann in <strong>der</strong> Entfaltung <strong>der</strong> bürgerlichen Kultur auseinan<strong>der</strong>fällt,<br />
populäre Unterhaltungskultur und die ästhetische Reflexivität <strong>der</strong> Kunst.<br />
Als nie<strong>der</strong>es Zerstreuungsprinzip ist das sentimentale Genießen also nicht erst seit dem Kino<br />
schlecht beleumundet. Eine Ausnahme bildet das Musiktheater, das lange Zeit keinen<br />
Unterschied machte zwischen sentimentalem "melodramma" und seriösen Opern. An ihm<br />
wird zudem deutlich, daß die Privatisierung <strong>der</strong> Empfindungen mit einer zunehmenden<br />
Tabuisierung des sexuellen Untergrunds sentimentaler Phantasie verbunden ist. Die<br />
populäre Unterhaltung beharrt auf dem unmittelbaren Genuß des Publikums, dessen<br />
erotische Grundierung um so mehr in den Vor<strong>der</strong>grund tritt, je angespannter das Verhältnis<br />
bürgerlicher Zuschauer zur Sexualität wird. Thomas Mann hat in seiner Erzählung<br />
Wälsungenblut diese Verstrebung <strong>der</strong> sentimentalen Phantasie mit einer Phantasie des<br />
Sexuellen veranschaulicht, die sich mehr und mehr geheimnisvoll gibt. In süffisantem Ton<br />
sind die verbotenen sexuellen Wünsche eines Geschwisterpaars verschränkt mit <strong>der</strong><br />
Beschreibung <strong>der</strong> Szene des sich enthüllenden Inzests in Wagners Walküre, bis schließlich<br />
ununterscheidbar wird, ob metaphorisch von dem Paar im dunklen Raum o<strong>der</strong> von dem<br />
Bühnengeschehen als einer pompösen Metapher des Geschlechtsakts die Rede ist.<br />
"Es war schon spät, schon still. Sie stiegen die Freitreppe empor, warfen ihre Überklei<strong>der</strong> auf<br />
Wendelins Arm, verweilten eine Sekunde nebeneinan<strong>der</strong> vor einem hohen Spiegel und<br />
traten durch die kleine Logentür in den Rang. Das Klappen <strong>der</strong> Sessel, das letzte<br />
Aufbrausen des Gesprächs vor <strong>der</strong> Stille empfing sie. In dem Augenblick, da <strong>der</strong><br />
Theaterdiener die Samtlehnsessel unter sie schob, hüllte <strong>der</strong> Saal sich in Dunkelheit, und mit<br />
einem wilden Akzent setzte drunten das Vorspiel ein.<br />
Sturm, Sturm ... Auf leichte und schwebend begünstigte Art hieher gelangt, unzerstreut,<br />
unabgenutzt von Hin<strong>der</strong>nissen, von kleinen verstimmenden Widrigkeiten, waren Siegmund<br />
und Sieglind sofort bei <strong>der</strong> Sache. Sturm und Gewitterbrunst, Wetterwüten im Walde. Der<br />
rauhe Befehl des Gottes erschallte, wie<strong>der</strong>holte sich, verzerrt vor Zorn, und gehorsam<br />
krachte <strong>der</strong> Donner darein. Der Vorhang flog auf, wie vom Sturm auseinan<strong>der</strong>geweht. Der<br />
heidnische Saal war da, mit <strong>der</strong> Glut des Herdes im Dunklen, dem ragenden Umriß des<br />
Eschenstammes in <strong>der</strong> Mitte. Siegmund, ein rosiger Mann mit brotfarbenem Bart, erschien in<br />
6 Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts, München 1999, S. 462.<br />
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<strong>Hermann</strong> <strong>Kappelhoff</strong>: <strong>Matrix</strong> <strong>der</strong> <strong>Gefühle</strong>, Einleitung 5<br />
<strong>der</strong> hölzernen Tür und lehnte sich verhetzt und erschöpft gegen den Pfosten. Dann trugen<br />
seine starken, mit Fell und Riemen umwickelten Beine ihn in tragisch schleppenden Schritten<br />
nach vorn. Seine blauen Augen unter den blonden Brauen, dem blonden Stirngelock seiner<br />
Perücke, waren gebrochenen Blicks, wie bittend, auf den Kapellmeister gerichtet; und<br />
endlich wich die Musik zurück, setzte aus, um seine Stimme hören zu lassen, die hell und<br />
ehern klang, obgleich er sie keuchend dämpfte. Er sang kurz, daß er rasten müsse, wem<br />
immer <strong>der</strong> Herd gehöre; und beim letzten Wort ließ er sich schwer auf das Bärenfell fallen<br />
und blieb liegen, das Haupt auf den fleischigen Arm gebettet. Seine Brust arbeitete im<br />
Schlummer.<br />
Eine Minute verging, ausgefüllt von dem singenden, sagenden, kündenden Fluß <strong>der</strong> Musik,<br />
die zu den Füßen <strong>der</strong> Ereignisse ihre Flut dahinwälzte ... Dann kam Sieglinde von links. Sie<br />
hatte einen alabasternen Busen, <strong>der</strong> wun<strong>der</strong>bar in dem Ausschnitt ihres mit Fell behangenen<br />
Musselinkleides wogte. Mit Staunen gewahrte sie den fremden Mann; und so drückte sie das<br />
Kinn auf die Brust, daß es sich faltete, stellte formend die Lippen ein und gab ihm Ausdruck,<br />
diesem Erstaunen, in Tönen, die weich und warm aus ihrem weißen Kehlkopf emporstiegen<br />
und die sie mit <strong>der</strong> Zunge, dem beweglichen Munde gestaltete ...<br />
(...) Dann betrachteten sie einan<strong>der</strong> mit einem ersten Entzücken, einem ersten, dunklen<br />
Erkennen, schweigend dem Augenblick hingegeben, <strong>der</strong> unten als tiefer, ziehen<strong>der</strong> Sang<br />
ertönte ...<br />
Sie brachte ihm Met, berührte zuerst das Horn mit den Lippen und sah dann zu, wie er lange<br />
trank. Und wie<strong>der</strong> sanken ihre Blicke ineinan<strong>der</strong>, wie<strong>der</strong> zog und sehnte sich drunten die<br />
tiefe Melodie ... Dann brach er auf, verdüstert, in schmerzlicher Abwehr, ging, indem er seine<br />
nackten Arme hängen ließ, zur Tür, um sein Leid, seine Einsamkeit, sein verfolgtes,<br />
verhaßtes Dasein von ihr fort, zurück in die Wildnis zu tragen. Sie rief ihn, und da er nicht<br />
hörte, ließ sie sich rücksichtslos, mit erhobenen Händen, das Geständnis ihres eignen<br />
Unheils entfahren. Er stand. Sie senkte die Augen. Zu ihren Füßen sprach es dunkel<br />
erzählend von Leid, das beide verband. Er blieb. Mit gekreuzten Armen stand er vor dem<br />
Herd, des Schicksals gewärtig." 7<br />
"Senta-Sentimentalität" nannte Nietzsche eine solche Verstrebung von Zuschaueremotion<br />
und Bühnendarbietung, und man wird deshalb seine Polemik gegen die hohe Kunst <strong>der</strong><br />
Ästhetik des "interesselosen Wohlgefallens" nicht umstandslos für die "Rauschtechniken <strong>der</strong><br />
Unterhaltungskultur" in Anspruch nehmen können. 8 Das Musiktheater des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
ist zunächst vor allem Beispiel einer ästhetischen Praxis, <strong>der</strong> die Aufspaltung in "höhere<br />
<strong>Gefühle</strong>" und sentimentale Rührseligkeit, in gehobene Moral und nie<strong>der</strong>es Gefühlspathos<br />
genauso wi<strong>der</strong>strebte wie dem Theater <strong>der</strong> Empfindsamkeit im 18. Jahrhun<strong>der</strong>t und dem<br />
klassischen Hollywoodkino im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t. Was sich auf dieser Linie an ästhetischer<br />
Übung und kultureller Praxis abzeichnet, ist deshalb mit <strong>der</strong> Dichotomie von U- und E- Kultur<br />
we<strong>der</strong> diskriminierend noch – in <strong>der</strong> parteiischen Umkehrung – emphatisch zu fassen. Der<br />
dunkle Raum des Publikums, wie ihn Thomas Mann ironisch distanzierend an <strong>der</strong> Oper<br />
Wagners thematisiert, dieser Raum künstlich animierter Emotionen, medialer Affektionen<br />
und theatral instruierter Begierden, bezeichnet die 'bürgerliche Seele' in ihren realen<br />
Möglichkeiten weitaus genauer als das "höhere Gefühl" <strong>der</strong> klassischen Ästhetik o<strong>der</strong> die<br />
emphatische Feier einer im Namen <strong>der</strong> Populärkultur agierenden Propaganda befreiter<br />
Sinnlichkeit. Manns Erzählung läßt zwischen dem Licht <strong>der</strong> Bühne und dem Dunkel des<br />
Zuschauerraums – zwischen innerem Erleben und äußerer Wahrnehmung, sinnlicher<br />
Sensation und symbolischem Verstehen, Selbstexaltation und Selbstverlust, zwischen dem<br />
rationalen Kalkül künstlicher Darstellungen und den affektgeladenen lebendigen Körpern –<br />
eine Zone des Übergangs entstehen, in <strong>der</strong> die "triebhafte Natur" <strong>der</strong> bürgerlichen Seele als<br />
kunstvoller Effekt erkennbar wird. Deshalb ist dieser "dunkle Raum" intimer<br />
7 Thomas Mann: Wälsungenblut, in: <strong>der</strong>s.: Erzählungen, Bd. 1, Frankfurt/M. 1984, S. 289-312, hier S. 302f.<br />
8 Vgl. Norbert Bolz: Theorie <strong>der</strong> neuen Medien, München 1990.<br />
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<strong>Hermann</strong> <strong>Kappelhoff</strong>: <strong>Matrix</strong> <strong>der</strong> <strong>Gefühle</strong>, Einleitung 6<br />
Selbstbezüglichkeit zugleich wesentlich ein öffentlicher Raum, <strong>der</strong> eine deutliche Verbindung<br />
zu den Orten ritueller Versammlung und Vergemeinschaftung bewahrt. Einerseits<br />
verschwindet darin <strong>der</strong> individuelle Zuschauer, wird zum unkenntlichen Teil eines<br />
Resonanzkörpers, dem "Publikum", an<strong>der</strong>erseits ist er im affektiven Getroffensein exponiert<br />
in seiner leibhaften Präsenz; er erfährt sich wie persönlich angerührt. Der dunkle Raum<br />
bewahrt durchaus ein Moment ritueller Exaltation, <strong>der</strong> die "Schauspiele <strong>der</strong><br />
Empfindsamkeit" 9 , seien es die des Theaters, die <strong>der</strong> Oper o<strong>der</strong> die des Kinos, von an<strong>der</strong>en<br />
Formen sentimentaler Unterhaltung (etwa dem Lesen sentimentaler Romane und dem<br />
Anschauen von TV-Melodramen) unterscheidet. 10 Er bildet die Grundlage einer sich in ihrer<br />
Sinnlichkeit und Affektivität selbst genießenden Subjektivität. Insofern ist die bürgerliche<br />
Seele ein Kunstprodukt des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts und zugleich die Basis einer ebenso<br />
vielfältigen wie in ihren Wirkungen existentiellen kulturellen Praxis <strong>der</strong> Subjektivierung<br />
lebendiger Individuen.<br />
In diesem Sinn steht die Frage nach dem sentimentalen Genießen im Mittelpunkt dieser<br />
Arbeit; <strong>der</strong>en Ziel ist es, den "dunklen Raum", wie ihn Thomas Manns Erzählung entwirft,<br />
analytisch zu fassen. Sie versteht sich dabei nicht historisch rekonstruierend, son<strong>der</strong>n geht<br />
aus von dem, was sich in <strong>der</strong> zeitgenössischen Kultur als ein solcher Raum darstellt: dem<br />
melodramatischen Kino. Das meint allerdings weniger das Genre des klassischen<br />
Hollywoodkinos denn die Frage nach einer spezifischen Struktur ästhetischer Erfahrung: Es<br />
meint Filme wie A.I. – Artificial Intelligence o<strong>der</strong> The sixth Sense.<br />
Zur Theorie des Filmmelodramas<br />
Wenn John Berger von <strong>der</strong> Sehnsucht nach <strong>der</strong> Seele spricht, die das Kino ausdrücke und<br />
die seinen Reiz ausmache, dann bezeichnet er den gegenwärtigen Ort dieser Praxis. 11 Doch<br />
handelt die Geschichte des "Jahrhun<strong>der</strong>ts des Kinos" nicht nur vom Verschwinden <strong>der</strong><br />
'bürgerlichen Seele', son<strong>der</strong>n mindestens ebenso von <strong>der</strong> Globalisierung <strong>der</strong> Praxis ihrer<br />
Kultivierung. Noch immer wähnt sich <strong>der</strong> weinende Zuschauer auf dem Gipfel seiner<br />
Subjektivität, auch wenn er innerste <strong>Gefühle</strong> mit einem Publikum teilt, das regelmäßig nach<br />
Millionen zählt und sich über alle Erdteile verstreut.<br />
Stets hat man die Wirkungsmacht des Kinos mit <strong>der</strong> emotionalisierenden Kraft<br />
kinematografischer Darstellung erklärt und die scheinbar unmittelbare Affektivität seiner<br />
Kompositionen betont. Sei es, daß man darin eine Nähe zur Macht <strong>der</strong> Musik o<strong>der</strong> zum<br />
illusionistischen Potential des synästhetischen "Gesamtkunstwerks" entdeckte, sei es, daß<br />
man die identifikatorische Struktur, die das Gefühl des Zuschauers involvierenden<br />
Dramaturgien kritisch analysierte o<strong>der</strong> daß man in <strong>der</strong> gesteigerten Affektivität das<br />
Grundprinzip mo<strong>der</strong>ner Medienformate erkannte. In seiner emotionalisierenden Kraft hat das<br />
Kino die grundlegende melodramatische Ausdrucksform des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
hervorgebracht.<br />
Entsprechend verknüpft Peter Brooks, dessen Schrift "The Melodramatic Imagination" (1976)<br />
die wissenschaftliche Diskussion um das Melodrama immer noch entscheidend prägt, seine<br />
Überlegungen zur Rolle <strong>der</strong> Musik mit dem Hinweis, daß <strong>der</strong> Stummfilm mit <strong>der</strong> engen<br />
Verbindung zwischen Schauspiel und Musik die Erbschaft des Bühnenmelodramas des 19.<br />
9<br />
Ich werde im folgenden vom 'Schauspiel <strong>der</strong> Empfindsamkeit' in <strong>der</strong> Doppeldeutigkeit einer systematischen und<br />
einer historischen Bezeichnung sprechen, im Unterschied zum 'Theater <strong>der</strong> Empfindsamkeit', womit<br />
ausschließlich <strong>der</strong> historische Gegenstand bezeichnet ist. Die semantische Funktion dieser Differenz wird im<br />
Verlauf <strong>der</strong> Arbeit zu entfalten sein.<br />
10<br />
Vgl. Erika Fischer-Lichte: Theater im Prozeß <strong>der</strong> Zivilisation, Tübingen/ Basel 2000, S. 70f.<br />
11<br />
Vgl. John Berger: Was ist Film? Every time we say Goodbye, in: Lettre International, Nr. 61<br />
(Frühjahr 1991).<br />
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<strong>Hermann</strong> <strong>Kappelhoff</strong>: <strong>Matrix</strong> <strong>der</strong> <strong>Gefühle</strong>, Einleitung 7<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts angetreten habe. 12 Und Thomas Elsaesser schreibt in einem Aufsatz von 1972<br />
– <strong>der</strong> für die filmtheoretische Diskussion um das Kinomelodrama ebenso wegweisend war<br />
wie die Arbeit von Peter Brooks für die literaturwissenschaftliche Forschung – dem<br />
Genrekino Hollywoods per se die wesentlichen Strukturmerkmale des Melodramatischen<br />
zu. 13 Daß solche Überlegungen en passant angestellt werden und nur beiläufiger<br />
Erwähnung wert sind, zeugt von <strong>der</strong> Evidenz, mit <strong>der</strong> im Alltagsbewußtsein das Kino mit<br />
einer primär emotionalisierenden Darstellungspraxis verbunden wird.<br />
So wie Peter Brooks einen Film von D. W. Griffith als eingängiges Beispiel benutzt, um die<br />
Dramaturgie des Bühnenmelodramas zur Zeit <strong>der</strong> Französischen Revolution zu erläutern,<br />
hat Sergej Eisenstein die Filme von Griffith als Fortsetzung des sentimentalen Romans des<br />
19. Jahrhun<strong>der</strong>ts begriffen – freilich, um <strong>der</strong>en melodramatische Konzeption polemisch zu<br />
kritisieren. 14 An Griffith' Filmen, an <strong>der</strong>en Montageform, wird tatsächlich eine Dimension des<br />
kinematografischen Bilds evident, die mit dem vielzitierten Wort des Regisseurs Douglas Sirk<br />
zur melodramatischen Formel des Kinos wurde: "motion is emotion". Angesprochen ist sie<br />
ebenso im deutschen Synonym für Empfinden: Bewegt- und Gerührtsein. Die bewegten<br />
Bil<strong>der</strong> wurden immer auch als bewegende Bil<strong>der</strong>, die innere Emotion stets als die Kehrseite<br />
<strong>der</strong> äußeren Aktion wahrgenommen. Es hat den Anschein, als sei die Rührung, das<br />
emotionale Bewegt-Sein des Zuschauers nicht eine einfache Reaktion auf das dargestellte<br />
Geschehen, son<strong>der</strong>n unmittelbar die Kehrseite, die Fortsetzung <strong>der</strong> kinematografischen<br />
Bewegungsbil<strong>der</strong> in seiner Wahrnehmung, seiner Affektion. So, als sei die Attraktion <strong>der</strong><br />
bewegten Bil<strong>der</strong>, als sei noch die Aktion, die Bewegung <strong>der</strong> Figuren, <strong>der</strong> Dinge und <strong>der</strong><br />
Kamera selbst nur die nach außen gekehrte Seite einer mentalen und emotionalen<br />
Bewegung, die <strong>der</strong> Zuschauer durchläuft. In <strong>der</strong> Konsequenz dieses Gedankens, <strong>der</strong> sich mit<br />
Blick auf die Film- und Medientheorie durchaus vertreten läßt, 15 ist aber umgekehrt auch die<br />
Affektbewegung selbst als ein objektiver äußerer Vorgang, das subjektive Empfinden des<br />
Zuschauers als ein medial vermitteltes, ästhetisches Konstrukt und nicht als psychologisches<br />
Phänomen zu beschreiben. Auch ein Blick auf die Entwicklung gegenwärtiger Filmtheorie<br />
macht deutlich, welche Bedeutung <strong>der</strong> melodramatischen Darstellung für das Kino zukommt.<br />
Hat doch das Filmmelodrama in <strong>der</strong> Diskussion <strong>der</strong> letzten drei Jahrzehnte durchgehend<br />
eine paradigmatische Funktion in <strong>der</strong> Theoriebildung übernommen. Als Genre des<br />
klassischen Erzählkinos ist es zum exemplarischen Gegenstand unterschiedlichster Ansätze<br />
geworden, die sich grob in drei Richtungen unterscheiden lassen: die filmanalytische Frage<br />
nach den poetischen Regeln des Genres, die ideologiekritischen bzw. diskursanalytischen<br />
Ansätze <strong>der</strong> feministischen Filmtheorie, die nach <strong>der</strong> Vorbestimmtheit des<br />
kinematografischen Blicks fragen, und die kulturtheoretischen Ansätze, die das Melodrama<br />
als Form sensationalistischer Unterhaltung o<strong>der</strong> kultureller Phantasiearbeit untersuchen. In<br />
jüngster Zeit, unter dem Eindruck <strong>der</strong> 'Cultural Studies', wird das Melodramatische als<br />
12<br />
Peter Brooks: The Melodramatic Imagination: Balzac, Henry James, Melodrama and the Mode of Excess, New<br />
Haven/ London 1976.<br />
13<br />
Elsaessers bereits 1972 erschienener Aufsatz "Tales of Sound and Fury" entwirft einen filmtheoretischen<br />
Ansatz, <strong>der</strong> eine ähnliche Denkfigur wie Brooks entwickelt. Thomas Elsaesser: Tales of Sound and Fury.<br />
Observations on the Family Melodrama, in: Monogram, Nr. 4 (August 1972). Leicht gekürzt und überarbeitet in:<br />
Home is Where the Heart Is. Studies in Melodrama and the Woman's Film, hg. v. Christine Gledhill, London 1987,<br />
S. 43-69. Eine Übersetzung dieser Fassung in: Und immer wie<strong>der</strong> geht die Sonne auf. Texte zum<br />
Melodramatischen im Film, hg. v. Christian Cargnelli, Michael Palm, Wien 1994, S. 93-128.<br />
14<br />
Sergej M. Eisenstein: Dickens, Griffith und wir, in: <strong>der</strong>s.: Ausgewählte Aufsätze, m. e. Einführung v. R.<br />
Jurenew, Berlin 1960, S. 157-229.<br />
15<br />
Darauf deutet bereits <strong>der</strong> berühmte Text von Georg Lukács: Gedanken zu einer Ästhetik des Kino (1913), in:<br />
Theorie des Kinos, hg. v. Karsten Witte, Frankfurt/M. 1982, S. 142-148, hier S. 146; sowie die frühe Theorie Hugo<br />
Münsterbergs. Hugo Münsterberg: Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie (1916) und an<strong>der</strong>e Schriften zum<br />
Kino, hg. v. Jörg Schweinitz, Wien 1996; aber auch die aktuelle Diskussion um ein Kino <strong>der</strong> Attraktion und <strong>der</strong><br />
Sensation. Tom Gunning: The Cinema of Attractions. Early Film, Its Spectator and the Avant-Garde in: Early<br />
Cinema: Space, Frame, Narrative, hg. v. Thomas Elsaesser u. Adam Barker, London 1990.<br />
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<strong>Hermann</strong> <strong>Kappelhoff</strong>: <strong>Matrix</strong> <strong>der</strong> <strong>Gefühle</strong>, Einleitung 8<br />
diskursives Aggregat begriffen, das sich in unterschiedlichen Künsten und Medien realisiert<br />
und als ein grundlegendes Dispositiv westlicher Populärkultur zu begreifen ist. 16<br />
Eine breitere Diskussion des Filmmelodramas setzte in den 60er Jahren ein, zunächst aus<br />
dem Impuls heraus, unter dem Vorzeichen <strong>der</strong> Autorentheorie das traditionelle Genrekino<br />
aufzuwerten. Ein erkennbarer Stil, eine eigene Handschrift <strong>der</strong> filmischen Inszenierung des<br />
Regisseurs waren die neu zu etablierenden Maßstäbe; dabei boten die Melodramen von<br />
Douglas Sirk und an<strong>der</strong>en in ihren formalen Manierismen dieser "Politique des Auteurs"<br />
grundlegendes Material für die Thesen von <strong>der</strong> individuellen Schreibweise <strong>der</strong><br />
Hollywoodregisseure. Mit <strong>der</strong> ideologiekritischen Wendung <strong>der</strong> filmtheoretischen Diskussion<br />
zu Anfang <strong>der</strong> 70er Jahre werden die Filme von Sirk und das Melodrama <strong>der</strong> 50er Jahre zum<br />
Ausgangspunkt einer ausgedehnten Debatte um die gesellschaftskritische Bewertung des<br />
klassischen Genrekinos Hollywoods. In den Vor<strong>der</strong>grund rückte dabei die Frage nach <strong>der</strong><br />
Poetik des Filmgenres "Melodrama", sein Darstellungsmodus und seine spezifische Form<br />
<strong>der</strong> Bedeutungsvermittlung. Mit den Begriffen <strong>der</strong> "Verfremdung" 17 , des "hysterischen<br />
Textes" 18 und <strong>der</strong> 'hyperbolischen Ausdrucksformen' (Elsaesser) wurden in dieser<br />
Diskussion filmanalytische Perspektiven entwickelt, die bis heute Gültigkeit beanspruchen.<br />
Auf diese Konzepte, die auf den Grundzügen <strong>der</strong> Theorie des "mode of excess" basieren,<br />
wie Peter Brooks sie für das Bühnenmelodrama entwickelt hat, stützen sich die meisten<br />
filmanalytischen Untersuchungen. 19<br />
Gemeinsam ist diesen Ansätzen, daß sie sich an einem Textbegriff orientieren, in dessen<br />
Mittelpunkt die narrative Vermittlung eines fiktionalen Handlungszusammenhangs steht.<br />
Bezogen auf dieses Modell "klassischer Narration" des Hollywoodkinos bezeichnet <strong>der</strong><br />
Begriff ‚Exzeß’ eine geregelte Dysfunktion, die im Raum <strong>der</strong> Diegese einen Bereich des<br />
Nicht-Sagbaren, des Nicht-zu-Erzählenden signifiziert – gleichviel ob man diesen als<br />
unterdrücktes Begehren <strong>der</strong> Figuren, als politisch-soziale Resignation o<strong>der</strong> als den Stilwillen<br />
eines Autors begreift.<br />
Im Verlauf dieser Arbeit wird sich allerdings zeigen, daß <strong>der</strong> sentimentale Genuß für den<br />
Zuschauer eben darin besteht, das dargestellte Phantasma des melodramatischen Films als<br />
eine emotionale Bewegung zu verwirklichen, die er in den affektiven, perzeptiven und<br />
kognitiven Prozessen <strong>der</strong> filmischen Rezeption durchläuft. Diese Aktivität aber läßt sich<br />
we<strong>der</strong> außerhalb <strong>der</strong> konkreten Wahrnehmung melodramatischer Darstellungen fassen<br />
(etwa in einem medialen Dispositiv), noch sind umkehrt die Fiktionen sentimentaler<br />
Phantasie als Erzählung, Subtext o<strong>der</strong> gleichnishafter Text vom Prozeß dieses Genießens<br />
abzulösen.<br />
Die Frage nach dem Melodramatischen des Kinos rückt eine Dimension kinematografischer<br />
Darstellung in den Mittelpunkt, die im Rahmen des Modells <strong>der</strong> klassischen Narration nicht<br />
zu begreifen ist. Will man die Logik sentimentalen Genießens erfassen, wird man die<br />
Analyse textueller Strukturen und die interpretierende Lektüre in den Zusammenhang eines<br />
Konzepts ästhetischer Wahrnehmung stellen müssen, das die zeitliche Modellierung<br />
affektiver Zustände <strong>der</strong> Zuschauer beschreibt. Eine solche Problemstellung aber führt über<br />
die vorhandenen Ansätze <strong>der</strong> Filmanalyse hinaus. Reduzieren doch die vorherrschenden<br />
16<br />
Vgl. hierzu Barbara Klinger: Melodrama and Meaning. History, Culture, and the Films of Douglas Sirk,<br />
Bloomington/Indianapolis 1994, und die Beiträge in den Sammelbänden: Melodrama. Stage Picture Screen, hg. v.<br />
Bratton, Cook, Gledhill, British Film Institute, London 1994; Melodrama: The Cultural Emergence of a Genre, hg.<br />
v. Michael Hays u. Anastasia Nikolopoulou, New York 1996.<br />
17<br />
Paul Willemen: Distanciation and Douglas Sirk, in: Screen, Vol. 12, Nr. 2 (Summer 1971).<br />
18<br />
Geoffrey Nowell-Smith: Minnelli and Melodrama, in: Screen, Vol. 18, Nr. 2 (Summer 1977). Reprint in: Home is<br />
Where the Heart Is, hg. v. Gledhill, S. 70-74.<br />
19<br />
Peter Brooks hat den Begriff zum zentralen Topos <strong>der</strong> Melodramentheorie gemacht. Vgl. Peter Brooks: The<br />
Melodramatic Imagination.<br />
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<strong>Hermann</strong> <strong>Kappelhoff</strong>: <strong>Matrix</strong> <strong>der</strong> <strong>Gefühle</strong>, Einleitung 9<br />
semiotischen, neoformalistischen o<strong>der</strong> kognitivistischen Analysen gerade die zeitliche<br />
Dimension kinematografischer Bildlichkeit auf den gleichförmigen Zeitmodus linearer<br />
Erzählung. Das leitende Paradigma ist deshalb we<strong>der</strong> <strong>der</strong> "Text" noch die "klassische<br />
Narration" im Sinne <strong>der</strong> Filmtheorie, son<strong>der</strong>n die Inszenierung des kinematografischen Bilds<br />
selbst als ein Objekt, das seiner Funktion nach dem kleinen David aus Spielbergs A. I.<br />
gleicht. Das kinematografische Bild wäre per se als eine mediale Form zu begreifen, die<br />
unmittelbar auf die Affektbewegung <strong>der</strong> Zuschauer durchgreift und sich einzig in <strong>der</strong> Zeit<br />
seiner Wahrnehmung verwirklicht. Die filmanalytische Frage lautet daher: Auf welche Weise<br />
verbinden sich in <strong>der</strong> filmischen Wahrnehmung semiotische Operationen mit affektiven<br />
Prozessen wie Introjektion, Projektion und Identifikation?<br />
Ein solches Verständnis von "melodramatischer Darstellung" rückt das Kino in eine Reihe mit<br />
den an<strong>der</strong>en medialen Ausprägungen sentimentaler Unterhaltung; eine Reihe, die nicht<br />
historisch (als Entwicklung <strong>der</strong> Medien o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Unterhaltungskultur westlicher<br />
Gesellschaften), son<strong>der</strong>n genealogisch zu begreifen ist. Sie zielt auf das Dispositiv eines<br />
sentimentalen Genießens, das sich in den Theorien empfindsamer Schauspielkunst<br />
abzeichnet, im Melodrama des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts seinen paradigmatischen Ausdruck findet<br />
und noch die Inszenierung <strong>der</strong> melodramatischen Heroinen des Hollywoodkinos prägt. 20<br />
Entsprechend bildet das Fundament dieser Untersuchung eine genealogische Konstruktion,<br />
die das Prinzip melodramatischer Darstellung in einer Überblendung <strong>der</strong> filmtheoretischen<br />
Konzeption des Kinos <strong>der</strong> <strong>Gefühle</strong> mit <strong>der</strong> Theorie des Schauspiels <strong>der</strong> Empfindsamkeit, wie<br />
sie das 18. Jahrhun<strong>der</strong>t entwickelt hat, zu fassen sucht. In ihr wird das 'visuelle Genießen'<br />
<strong>der</strong> Kinozuschauer mit dem Genuß des empfindsamen Publikums in Beziehung gesetzt, um<br />
das eine am an<strong>der</strong>en zu konturieren und im Dispositiv sentimentaler Unterhaltung zu<br />
vermitteln. In dieser genealogischen Perspektive läßt sich das melodramatische Kino als<br />
eine im strengen Sinne "klassische" Pathosform begreifen: Sie bezeichnet eine<br />
Darstellungsweise, in <strong>der</strong> die dargestellte Handlung das Movens einer Theatralisierung<br />
bildet, die ein Leiden, eine Leidenschaft, ein empfindendes Subjekt hervortreten läßt, das<br />
erst in <strong>der</strong> affizierenden Wirkung auf das Publikum zur Geltung kommt. 21 Im Filmmelodrama<br />
sind denn noch die erzählten Handlungen, die Orte, die Figuren lediglich darstellende<br />
Elemente einer Imago, die sich letztlich allein im Empfinden des Publikums, als ein<br />
"Empfindungsbild" 22 verwirklicht.<br />
Wenn im folgenden vom melodramatischen Kino die Rede sein wird, ist deshalb das<br />
Filmgenre damit nur mittelbar thematisiert; im Zentrum steht vielmehr 'eine<br />
kinematografische Grundform, die den Gegenpol zum aktions- und handlungsorientierten<br />
Kino' 23 bildet und die im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t – in <strong>der</strong> Nachfolge von Theater und Oper – zum<br />
20<br />
Historisch ist die entwicklungsgeschichtliche Linie <strong>der</strong> Schauspielkunst vielfach thematisiert, wenn auch nicht<br />
unter dem hier zu entwickelnden genealogischen Gesichtspunkt: Vgl. dazu Christine Gledhill: Signs of<br />
Melodrama, in: Stardom. Industry of Desire, hg. v. Christine Gledhill, London/ New York 1991. Andrew Britton:<br />
Stars and Genre, in: Stardom, hg. v. Gledhill. Ben Brewster, Lea Jacobs: Theater to Cinema: Stage Pictorialism<br />
and the Early Feature Film, Oxford 1997.<br />
21<br />
"Als Pathos definiert Aristoteles eine Handlung des tragischen Helden, die ver<strong>der</strong>ben- o<strong>der</strong> schmerzbringend<br />
ist und durch die, als Grundvoraussetzung je<strong>der</strong> Tragödie, die mit Eleos und Phobos bezeichnete tragische<br />
Wirkung im Zuschauer hervorgerufen wird." Lexikon <strong>der</strong> Antike, Bd. 3: Philosophie, Literatur, Wissenschaft,<br />
München 1969, S. 289. Das melodramatische Pathos ist dabei in seiner Ausrichtung an <strong>der</strong> individuellen<br />
Empfindung und <strong>der</strong> Innerlichkeit grundlegend von dem Pathos <strong>der</strong> Tragödie und <strong>der</strong> Passion zu unterscheiden.<br />
22<br />
Freud hat den Begriff des Empfindungsbilds in <strong>der</strong> Traumdeutung entwickelt. Sigmund Freud: Die<br />
Traumdeutung (1900), in: <strong>der</strong>s.: Gesammelte Werke (G.W.), Bd. 2/3, Frankfurt/M. 1999, S. 327. Ich habe<br />
versucht, die psychoanalytische Konzeption mit dem Begriff des "Affektbilds" bei Deleuze in Beziehung zu setzen.<br />
<strong>Hermann</strong> <strong>Kappelhoff</strong>: Empfindungsbil<strong>der</strong> – Subjektivierte Zeit im melodramatischen Film, in: Zeitlichkeiten – Zur<br />
Realität <strong>der</strong> Künste. Theater, Film, Photographie, Malerei, Literatur, hg. v. Theresia Birkenhauer u. Annette Storr,<br />
Berlin 1998.<br />
23<br />
Vgl. Thomas Elsaesser: Fassbin<strong>der</strong>, Lola und die Logik des Mehrwerts – o<strong>der</strong>: Nicht nur wer zahlt, zählt, in:<br />
Der zweite Atem des Kinos, hg. v. Andreas Rost, Frankfurt/M. 1996, S. 53-88, hier S. 68.<br />
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<strong>Hermann</strong> <strong>Kappelhoff</strong>: <strong>Matrix</strong> <strong>der</strong> <strong>Gefühle</strong>, Einleitung 10<br />
Mittelpunkt sentimentaler Unterhaltungskultur wurde. Hat man mit Blick auf das Melodrama<br />
des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts von einem "lyrischen Theater" gesprochen und damit die Form <strong>der</strong><br />
Bühnendarstellung – und nicht wie beim "lyrischen Drama" die des Stücks – bezeichnet,<br />
wäre in diesem Sinn vom melodramatischen als einem "lyrischen Kino" zu sprechen.<br />
Das sentimentale Genießen<br />
Auch wenn das Genre des Filmmelodramas, seine Poetik, in dieser Arbeit nur mittelbar zur<br />
Diskussion steht, stütze ich mich in meiner Argumentation grundlegend auf die Lektüre<br />
exemplarischer Filme. Dabei ist die Analyse <strong>der</strong> textuellen Strukturen immer auf den<br />
"dunklen Raum des Publikums", auf den Wahrnehmungsprozeß <strong>der</strong> Kinozuschauer in seiner<br />
zeitlichen Struktur bezogen. 24 Die Filmanalysen verstehen sich als integraler Bestandteil des<br />
Versuchs, die theoretischen Elemente eines Konzepts kultureller Phantasietätigkeit zu<br />
sondieren, das im melodramatischen Hollywoodkino seinen paradigmatischen Ausdruck<br />
findet. Diesem Kino läßt sich das Theater <strong>der</strong> Empfindsamkeit und das Melodrama des 18.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts als historischer Gegenpol zuordnen, <strong>der</strong> gleichsam die Ausgangskonstellation<br />
sentimentaler Unterhaltungskultur bezeichnet. Dabei tritt ein verbinden<strong>der</strong> Aspekt ins<br />
Zentrum, den man zunächst nur dem kinematografischen Bild zuschreibt: eine Vorstellung<br />
von Bewegung, in <strong>der</strong> sich die äußere Dimension <strong>der</strong> Bewegung im Raum mit <strong>der</strong> zeitlichen<br />
Dimension <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung "innerer Zustände" verbindet.<br />
In diesem Sinne ist mit Blick auf die Kinotheorie von Gilles Deleuze das kinematografische<br />
Bild selbst als eine Struktur zu begreifen, in <strong>der</strong> sich die äußere Bewegung <strong>der</strong> Aktionen im<br />
Raum mit <strong>der</strong> "inneren" Bewegung <strong>der</strong> Gedanken und Emotionen verbindet: 25 Hin- und<br />
hergehend zwischen dem "Innen" und "Außen", entfaltet sich das filmische Bild in seiner<br />
zeitlichen Dimension und bringt darin zugleich dieses "Innen" des Zuschauers und dieses<br />
"Außen" des Bilds als eine zeitliche Korrelation hervor. So verstanden vollzieht sich die<br />
Bewegung des kinematografischen Bilds stets in drei Dimensionen, in <strong>der</strong> äußeren<br />
Bewegung des Dargestellten (die Bewegung dargestellter Objekte im Raum), in <strong>der</strong> inneren<br />
Bewegung des audiovisuellen Bilds (die Zeit des sich entfaltenden Films) und in <strong>der</strong><br />
Übertragung <strong>der</strong> Bewegung des sich entfaltenden Films auf die Empfindungsbewegung des<br />
Zuschauers (<strong>der</strong> Prozeß <strong>der</strong> 'Verinnerlichung'). Als ein solches "Bewegungsbild" ist <strong>der</strong> Film<br />
zur paradigmatischen Darstellungsform für die Kunst des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts geworden, die die<br />
dominierenden Muster audiovisueller Bildlichkeit geprägt hat; unter dem Einfluß von<br />
Videotechnik und Computeranimation ist es zugleich grundlegenden Wandlungen<br />
unterworfen und bringt neue Typen von Bewegungsbil<strong>der</strong>n hervor. 26 Aber schon die Bühne<br />
des populären Melodramas ist als ein Schauereignis konzipiert, das auf<br />
Wahrnehmungssensationen 27 zielt, und bereits das Theater <strong>der</strong> Empfindsamkeit will auf ein<br />
Bild <strong>der</strong> zeitlichen Bewegung hinaus. Das zeigt sich historisch nicht zuletzt in <strong>der</strong> Bedeutung<br />
24<br />
Die Arbeit stützt sich auf eine breit angelegte Recherche, die ich unter Kinobedingungen durchführen konnte.<br />
Ich hoffe, sowohl den exemplarischen Charakter <strong>der</strong> ausgewählten Filme als auch die<br />
Wahrnehmungskonstellation des Kinopublikums in <strong>der</strong> Darstellung <strong>der</strong> Filme deutlich machen zu können, auch<br />
wenn die Analysen unterschiedliche Funktionen übernehmen.<br />
25<br />
Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt/M. 1989; sowie <strong>der</strong>s.: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt/M.<br />
1991.<br />
26<br />
Der Begriff "Bewegungsbild" zielt bei Deleuze auf eine dem Bild innewohnende Bewegung, die <strong>der</strong> Zuschauer<br />
als strukturierte, gestaltete Zeit seines Wahrnehmungsprozesses verwirklicht. Insofern ist es nicht das<br />
Gegenstück, son<strong>der</strong>n eine Variante des "Zeitbilds"<br />
27<br />
In diesem Sinne ist in <strong>der</strong> jüngsten Forschung im Begriff des "Sensationalismus" das Melodramatische definiert<br />
worden. Singer: Melodrama and Mo<strong>der</strong>nity; Steve Neale: Melo Talk: On the Meaning and Use of the Term<br />
'Melodrama' in the American Trade Press, BFI Melodrama Conference, London 1992; Tom Gunning: The Horror<br />
of Opacity: The Melodrama of Sensation in the Plays of André de Lorde, in: Melodrama, hg. v. Bratton, Cook,<br />
Gledhill; Ben Singer: "A New and Urgent Need for Stimuli": Sensational Melodrama and Urban Mo<strong>der</strong>nity, BFI<br />
Melodrama Conference, London 1992.<br />
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<strong>Hermann</strong> <strong>Kappelhoff</strong>: <strong>Matrix</strong> <strong>der</strong> <strong>Gefühle</strong>, Einleitung 11<br />
<strong>der</strong> Verwandlungskünste, die in <strong>der</strong> Entwicklung von Bühnen- und Beleuchtungstechnik zum<br />
Ausdruck kommt. 28 In gewisser Weise handelt es sich schon hier um Lichtspiele mit dem<br />
Augenschein, die im Kino eine weitere Zuspitzung erfahren. In dieser Perspektive erscheint<br />
<strong>der</strong> "dunkle Raum des Kinos" als das Dispositiv einer kulturellen Praxis, in <strong>der</strong> 'neue' und<br />
'alte' Medientechnologien sich verbinden. Ihre Grundform sind die Metamorphosen<br />
empfindsamen Schauspiels, wie sie von Di<strong>der</strong>ot im Begriff <strong>der</strong> "geste sublime" und von<br />
Lessing im Begriff <strong>der</strong> "individualisierenden Geste" reflektiert wurden.<br />
Hier zeigt sich, daß <strong>der</strong> Blick vom gegenwärtigen Kino aus noch den kanonisierten<br />
Schlüsseltexten zum Theater <strong>der</strong> Empfindsamkeit grundlegend neue Einsichten abgewinnen<br />
kann. Lessings Begriff <strong>der</strong> "transitorischen Malerei", Di<strong>der</strong>ots Paradoxe sur le comédien und<br />
Rousseaus Pygmalion bilden die Bezugspunkte einer Lektüre, in <strong>der</strong> die schauspielerische<br />
Gebärde als eine Zeit strukturierende Darstellungsform verständlich wird, auf die sich das<br />
Pathos des Theaters <strong>der</strong> Empfindsamkeit gründet. Man mag dabei an Aby Warburgs<br />
"Pathosformeln" denken, die Gebärden, die ein "Nachhall ... abgründiger Hingabe" an die im<br />
Kult entfesselte "Ausdrucksbewegung" sind, welche "die ganze Skala kinetischer<br />
Lebensäußerung phobisch-erschütterten Menschentums von hilfloser Versunkenheit bis zum<br />
mör<strong>der</strong>ischen Taumel und alle mimischen Aktionen, die dazwischen liegen, ... gehen, laufen,<br />
tanzen, greifen, bringen, tragen ..." umfaßt. 29 Während die Pathosformeln auf ein Gedächtnis<br />
<strong>der</strong> Kunst zielen, das bis zu den Ursprüngen <strong>der</strong> Menschwerdung reicht, läßt sich die<br />
Theorie <strong>der</strong> empfindsamen Geste auch umgekehrt lesen, nämlich als Programm <strong>der</strong><br />
Erzeugung einer höchst kunstvollen, bürgerlichen Seele, die sich auf die akzidentiellen<br />
<strong>Gefühle</strong> einer neuen Spezies von Zuschauern, auf eine Art sekundäre Menschlichkeit<br />
gründet.<br />
In einer einführenden Analyse von Applause von Rouben Mamoulian, einem <strong>der</strong> ersten<br />
Tonfilmmelodramen Hollywoods aus dem Jahr 1929, ist zunächst die filmanalytische<br />
Perspektive herauszuarbeiten. Sie soll das Grundprinzip eines lyrischen Kinos konturieren,<br />
indem sie den Unterschied zwischen einer an <strong>der</strong> Fiktion objektiver Handlung – an <strong>der</strong><br />
"klassischen Erzählweise" – und einer am Pathos <strong>der</strong> Ausdrucksbewegung orientierten<br />
Darstellung akzentuiert. In einem zweiten Schritt werden an diesem Beispiel die<br />
unterschiedlichen Funktionsweisen schauspielerischer Darstellung diskutiert, um schließlich<br />
die melodramatische Schauspielkunst als ein grundlegendes Paradigma herauszustellen.<br />
Von vornherein ist damit die Filmanalyse auf die genealogische Perspektive bezogen, die in<br />
den folgenden Kapiteln an den Theorien empfindsamer Schauspielkunst entfaltet wird.<br />
Ausgehend von <strong>der</strong> "klassischen" Definition des dramatischen und des epischen Helden,<br />
wird zunächst die Idee einer lyrischen Theaterkunst entwickelt. An Lessings Begriff des<br />
"individualisierenden Gestus" und Di<strong>der</strong>ots "geste sublime" ist im nächsten Schritt <strong>der</strong><br />
"empfindsame Gestus" als eine zeitliche Darstellungsform nachzuvollziehen, die einerseits<br />
ein genuines Element <strong>der</strong> Bühnendarstellung meint (also nicht den Ausdruck wirklicher<br />
Empfindungen), sich aber an<strong>der</strong>erseits von <strong>der</strong> mitteilenden, zeichenhaften Geste<br />
grundlegend unterscheidet. Die aporetische Struktur, die man vor allem <strong>der</strong> Argumentation<br />
Di<strong>der</strong>ots immer wie<strong>der</strong> zuschreibt – das unvermittelte Gegeneinan<strong>der</strong> von empfindsamer und<br />
rational konstruieren<strong>der</strong> Schauspielkunst –, läßt sich in dieser Perspektive als ein kohärentes<br />
wirkungsästhetisches Modell begreifen: Die "Illusion des empfindenden Darstellers", dies ist<br />
an Di<strong>der</strong>ots Paradoxe zu zeigen, bezeichnet einerseits das gänzlich artifizielle Konstrukt<br />
eines "gestischen Körpers" theatraler Darstellung und an<strong>der</strong>erseits ein reales Empfinden des<br />
Publikums.<br />
28<br />
Martin Meisel: Scattered Chiaroscuro. Melodrama as a Matter of Seeing, in: Melodrama, hg. v. Bratton, Cook,<br />
Gledhill, S. 65.<br />
29<br />
Aby Warburg: Der Bil<strong>der</strong>atlas <strong>der</strong> Mnemosyne, in: <strong>der</strong>s.: Gesammelte Schriften, Studienausgabe, 2. Abt., Bd.<br />
II.1, hg. v. Martin Warnke u. Claudia Brink, Berlin 2000, S. 4.<br />
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<strong>Hermann</strong> <strong>Kappelhoff</strong>: <strong>Matrix</strong> <strong>der</strong> <strong>Gefühle</strong>, Einleitung 12<br />
Von hier aus läßt sich <strong>der</strong> Kategorie des "Mitleids" eine Komplexität zurückerstatten, die das<br />
Verständnis <strong>der</strong> wirkungsästhetischen Vorstellungen Lessings erweitert. Versteht man<br />
nämlich die gestische Darstellung als eine zeitliche Form, als "transitorische Malerei", wie es<br />
bei Lessing heißt, läßt sich das Theater als Schnittstelle zwischen <strong>der</strong> visuellen Raumkunst<br />
und <strong>der</strong> akustischen "Zeitkunst" begreifen, die im Laokoon bekanntlich <strong>der</strong> Malerei<br />
respektive <strong>der</strong> Poesie, <strong>der</strong> Erzählung, zugeordnet sind. Doch denkt Lessing die ästhetische<br />
Wahrnehmung nicht, wie man häufig unterstellt, als auf die äußere Wirklichkeit von Raum<br />
und Zeit bezogen; er begreift vielmehr Poesie und Malerei als Medium <strong>der</strong> Vermittlung <strong>der</strong><br />
psychischen Realität des Menschen. Das Auge und das Ohr <strong>der</strong> Kunst sind auf die<br />
"seelische Wirklichkeit" gerichtet; sie betreffen eine kulturelle Aktivität, die man mit Aby<br />
Warburg "einverseelen" nennen kann. 30 Die exponierte Stellung des Theaters <strong>der</strong><br />
Empfindsamkeit begründet sich entsprechend in seiner synästhetischen Funktion, die<br />
zwischen <strong>der</strong> gegenwärtig-leibhaften Wahrnehmungs- und <strong>der</strong> Erinnerungsfunktion,<br />
zwischen dem Raum und <strong>der</strong> Zeit, <strong>der</strong> Geschichte und <strong>der</strong> Gegenwart <strong>der</strong> "menschlichen<br />
Empfindungskräfte" vermittelt. Erst in dieser Vermittlungsfunktion wird verständlich, daß <strong>der</strong><br />
Begriff des Mitleids ein wirkungsästhetisches Konzept <strong>der</strong> theatralen Erzeugung<br />
empfindsamer Seelen begründen kann.<br />
Mit Blick auf solche Überlegungen ist im nächsten Schritt <strong>der</strong> Arbeit gleichsam die<br />
'Ursprungskonstellation <strong>der</strong> melodramatischen Bühne' konstruiert. Die Lektüre von<br />
Rousseaus Pygmalion, dem Stück, das historisch als Erfindung des Melodramas gilt, wird<br />
zur Folie, auf <strong>der</strong> sich <strong>der</strong> dunkle Raum sentimentalen Genießens konturieren läßt. Die<br />
Sensation dieser Bühne ist freilich mit einem vielfältig beladenen und überschriebenen<br />
Begriff bezeichnet: dem des Ausdrucks. Ausgehend von Rousseaus Überlegungen zur<br />
Sprache und Musik wird in einer genealogischen Skizze entlang <strong>der</strong> Idee des Ausdrucks ein<br />
poetisches Konzept nachgezeichnet, dessen Zentrum die Komposition synästhetischer<br />
Interferenzen (Musik, Monolog, Pantomime) bildet, die das Melodrama als Darstellungsform<br />
definieren. Es wird sich zeigen, daß es sich auch hier um ein zeitliches Kompositum – ein<br />
Zeitbild, eine zeitliche Textur – handelt, in dem sich <strong>der</strong> Prozeß ästhetischer Wahrnehmung<br />
und <strong>der</strong> Akt <strong>der</strong> Darstellung verschränken. Die Verlebendigung <strong>der</strong> Statue Galathea, das<br />
"Wun<strong>der</strong>", das im Mittelpunkt des Pygmalion steht, ist gleichermaßen als die Realisierung<br />
eines solchen synästhetischen Zeitbilds wie als dessen poetologische Metapher lesbar:<br />
Denn dieses Wun<strong>der</strong> bezeichnet nichts an<strong>der</strong>es als eine Schauspielerin, die eine Statue<br />
spielt, die sich in eine lebendige Nymphe verwandelt; es bezeichnet die Dauer <strong>der</strong><br />
gestischen Verwandlung von griechischem Marmor in eine Empfindung.<br />
Anschaulich läßt sich dieser Gedanke an den Reflexionen Goethes zu einer späten<br />
Wie<strong>der</strong>aufführung seines Melodramas Proserpina nachvollziehen. Dort findet sich prägnant<br />
das Arsenal melodramatischer Verwandlungskünste und ihrer Wirkungen beschrieben,<br />
denen am Ende das Tableau vivant zur Seite gestellt wird. Damit ist ein letztes Element<br />
(neben <strong>der</strong> Musik, dem gestischen Spiel, <strong>der</strong> monologischen Rede) <strong>der</strong> Poetik<br />
melodramatischer Darstellung eingeführt: ein Bild, in dem die zeitliche Bewegung <strong>der</strong><br />
schauspielerischen Verwandlung ihren Abschluß findet und das sich als Bild auf diese Zeit<br />
(den Prozeß <strong>der</strong> Aufführung) bezieht. Ausgehend von Di<strong>der</strong>ots "Tableau vivant" über die<br />
Idee des "sentimentalischen Bilds" 31 bis zu Georg Simmels "Ästhetik des Gesichts", ist eine<br />
Vorstellung von Ausdrucksbewegung zu rekapitulieren, die schließlich zu Plessners Begriff<br />
des "Bewegungsbilds" führt.<br />
Hier nun erweist sich die Ausdrucksdimension des kinematografischen Bewegungsbilds<br />
explizit mit <strong>der</strong> Schauspielkunst verbunden: Jedenfalls zieht Béla Balázs eben diese<br />
Verbindung, indem er am Paradigma <strong>der</strong> Großaufnahme den "physiognomischen Ausdruck"<br />
30 Ebd.<br />
31<br />
Vgl. Werner Busch: Das sentimentalische Bild. Die Krise <strong>der</strong> Kunst im 18. Jahrhun<strong>der</strong>t und die Geburt <strong>der</strong><br />
Mo<strong>der</strong>ne, München 1993.<br />
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<strong>Hermann</strong> <strong>Kappelhoff</strong>: <strong>Matrix</strong> <strong>der</strong> <strong>Gefühle</strong>, Einleitung 13<br />
des filmischen Bilds unmittelbar auf die mimische Ausdrucksbewegung zurückführt. Seine<br />
aktuelle Modulation findet dieser Gedanke im Konzept des Affektbilds, wie es Deleuze<br />
thematisiert hat.<br />
Eine analytische Skizze des Films Magnificent Obsession (1953) von Douglas Sirk arbeitet<br />
diese Dimension filmischer Inszenierung als ein synästhetisches Gewebe von gestischem<br />
Spiel, Dekor, Farbe und Musik heraus; daran anschließend endet <strong>der</strong> erste Teil <strong>der</strong> Arbeit<br />
mit einer Definition des Ausdrucks als eines ästhetischen Wahrnehmungsmodus. Der zweite<br />
Teil <strong>der</strong> Arbeit stellt das melodramatische Kino als eine Manifestation "sentimentaler<br />
Phantasie", als ein Phänomen "kultureller Phantasietätigkeit" heraus.<br />
Die sentimentale Phantasie<br />
Auch die feministische Filmtheorie hat ihre grundlegenden theoretischen Fragen bevorzugt<br />
am Melodrama diskutiert. Mit dieser Diskussion verschob sich die Aufmerksamkeit auf den<br />
"Woman's Film" <strong>der</strong> 30er und 40er Jahre. Wurde zunächst nach den Rollenmustern und<br />
Stereotypen <strong>der</strong> Frauenfiguren und den darin sich artikulierenden Wertvorstellungen und<br />
Ideologien gefragt, verän<strong>der</strong>te sich sehr bald die Perspektive. Die Diskussion bewegte sich<br />
nun um die Frage, was am visuellen Genuß des Kinos im zugerichteten Blick ideologisch<br />
vorgeformt und was den empirischen Zuschauerinnen an identifikatorischen Positionen<br />
möglich war. Inwieweit artikuliert sich im Melodrama ein weibliches Begehren, das das<br />
männliche Blickregime subvertiert; wie weit ist es durch dieses Regime lediglich<br />
kolonisiert? 32 Im Anschluß an diese Diskussion stehen heute im Vor<strong>der</strong>grund sowohl die<br />
kulturelle Konstruktion <strong>der</strong> Geschlechteridentität wie die Frage nach dem unbekannt<br />
'Weiblichen' und die <strong>der</strong> Schwierigkeit, eine feminine Subjektivität zu artikulieren. 33 Diese<br />
Fragen markieren den Ausgangspunkt <strong>der</strong> phänomenologischen Studie zur "sentimentalen<br />
Phantasie".<br />
Bereits an Goethes Ausführung zur Proserpina wurde deutlich, daß mit <strong>der</strong><br />
melodramatischen Heroine ein grundlegendes Phantasma <strong>der</strong> Weiblichkeit verbunden ist:<br />
Das rätselhaft changierende Bild einer sich verwandelnden Gestalt, die mal ein düsteres, mal<br />
ein freundliches Gesicht zeigt. Noch einmal zurückkehrend zu Rousseaus Pygmalion und<br />
den sich unmittelbar an dieses Vorbild anschließenden Melodramen des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts,<br />
ist die Figur <strong>der</strong> Galathea mit Blick auf dieses Phantasma als poetologische Metapher zu<br />
diskutieren. Die melodramatische Heroine wird als ein Figurentypus verständlich, <strong>der</strong> sich<br />
aus <strong>der</strong> Idee <strong>der</strong> empfindsamen Schauspielerin, den Rollenstereotypen des Melodramas, <strong>der</strong><br />
Rührstücke und des sentimentalen Romans sowie einem personalisierten Bild sich selbst<br />
darstellen<strong>der</strong> Weiblichkeit zusammensetzt. In dieser Zusammensetzung entspricht sie dem,<br />
was sich heute mit dem Begriff <strong>der</strong> "Starpersona" verbindet, weit mehr als <strong>der</strong> Dualität von<br />
Schauspielerin und Rolle. 34 Die melodramatische Heroine ist so betrachtet ein<br />
entscheidendes Verbindungsglied zwischen dem melodramatischen Kino und dem<br />
Bühnenmelodrama des 18. und 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts; noch die Starimages und Figuren des<br />
klassischen Hollywoodmelodramas <strong>der</strong> 30er und 40er Jahre sind in dieser Linie zu sehen. In<br />
drei filmanalytischen Studien – zu Greta Garbo, Marlene Dietrich, Bette Davis – wird ein<br />
Spektrum <strong>der</strong> Erscheinungsweisen dieses Figurentypus aufgefächert, das sich sowohl auf<br />
die historische Entwicklung als auch auf die spezifische Ausprägung <strong>der</strong> melodramatischen<br />
Heroine im "Woman's Film" des klassischen Hollywoodkinos beziehen läßt. Dabei ist zu<br />
betonen, daß sich die vorgestellten Porträts we<strong>der</strong> auf die Schauspielerinnen noch auf die<br />
32<br />
Zu dieser Diskussion vgl. im Rückblick: Jackie Byars: All That Hollywood Allows. Re-reading Gen<strong>der</strong> in 1950s<br />
Melodrama, Chapel Hill 1991; Annette Brauerhoch: Die gute und die böse Mutter. Kino zwischen Melodrama und<br />
Horror, Marburg 1996.<br />
33<br />
Stanley Cavell: Contesting Tears. The Hollywood Melodrama of the Unknown Woman, Chicago/ London 1996.<br />
34 Vgl. dazu Gledhill: Signs of Melodrama.<br />
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<strong>Hermann</strong> <strong>Kappelhoff</strong>: <strong>Matrix</strong> <strong>der</strong> <strong>Gefühle</strong>, Einleitung 14<br />
repräsentierten Figuren o<strong>der</strong> auf das Starimage, son<strong>der</strong>n auf eine "Imago" beziehen, die sich<br />
letztlich allein in <strong>der</strong> Wahrnehmung des Publikums realisiert. An jedem Film ist die<br />
Inszenierung eines filmischen Wahrnehmungsprozesses zu skizzieren, <strong>der</strong> die Stilisierungen<br />
<strong>der</strong> Schauspielerinnen ebenso einschließt wie die parabolische Verrätselung des Raums, die<br />
Rhythmisierung <strong>der</strong> Montage, <strong>der</strong> Farbe und <strong>der</strong> Musik ebenso wie die erzählte Handlung.<br />
Eine zweite Ebene, auf <strong>der</strong> sich die Erscheinungsweisen sentimentaler Phantasie konkret<br />
erfassen lassen, ist das Feld ihrer symbolischen Topoi und Stereotypen. Auch hier zeigt sich<br />
das Filmmelodrama mit den Melodramen, Rührstücken und Sittendramen <strong>der</strong> Bühne<br />
verbunden: Das gilt in beson<strong>der</strong>er Weise für den amerikanische Stummfilm, läßt sich aber<br />
noch am "Woman's Film" <strong>der</strong> 30er Jahre und – psychoanalytisch rationalisiert – am<br />
Familienmelodrama <strong>der</strong> 50er Jahre nachvollziehen. Eine phänomenologische Rekonstruktion<br />
dieser historischen Perspektive kann hier nur in ihrer Fluchtlinie angedeutet werden.<br />
Angelehnt an die literaturgeschichtliche Konstruktion Leslie Fiedlers, <strong>der</strong> den historischen<br />
Zusammenhang zwischen dem europäischen Roman <strong>der</strong> Empfindsamkeit und<br />
amerikanischer Sentimentalität höchst zugespitzt thematisiert, läßt sich aber die heuristische<br />
Skizze einer solchen Recherche erstellen; entwirft Fiedlers Love and Death in the American<br />
Novel (1960) doch in <strong>der</strong> symbolischen und ikonischen Topografie sentimentaler Literatur<br />
den Parcours einer obsessiven Phantasietätigkeit. Dabei steht we<strong>der</strong> die Geschichte <strong>der</strong><br />
amerikanischen Literatur noch die des sentimentalen Romans o<strong>der</strong> die ästhetische und<br />
historische Bewertung des einen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en zur Diskussion. Ich lese Fiedlers Entwurf<br />
vielmehr als eine Landkarte des sentimentalen Bewußtseins, die gleichermaßen eine<br />
Kolonialisierungs- und Rekolonialisierungsbewegung zwischen <strong>der</strong> "alten Welt" <strong>der</strong><br />
Empfindsamkeit und dem neuen Kontinent sentimentaler Unterhaltungskultur nachzeichnet<br />
wie auch das Spektrum ihrer parabolischen Stereotypen zur Geltung bringt.<br />
Jedenfalls scheinen sich die narrativen Topoi, die dramaturgischen Schemata und die<br />
stereotype Personalisierung von aggressivem Trieb und empfindsamem Liebesverlangen,<br />
die mit den europäischen Briefromanen des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts etabliert wurden, über die<br />
sentimentalen Romane und die melodramatische Bühne bis zu den Stummfilmen von D. W.<br />
Griffith, Cecil B. De Mille o<strong>der</strong> King Vidor fast unverän<strong>der</strong>t zu erhalten. Damit aber stellt sich<br />
die Frage, welche Funktion diesen ebenso redundanten wie stabilen Mustern in <strong>der</strong><br />
Ökonomie kultureller Phantasie zukommt.<br />
Im Ergebnis wird ein Konzept des parabolischen Bildraums absehbar, das sich nicht, wie das<br />
des "mode of excess", auf die Darstellungsstruktur, son<strong>der</strong>n auf die Modellierung <strong>der</strong><br />
ästhetischen Wahrnehmung bezieht. Während man in <strong>der</strong> Theorie des Melodramas die<br />
redundante Parabolik meist dem hyperbolischen Ausdruck subsumiert, ist sie hier als eine<br />
spezifische Art <strong>der</strong> Raumbildung zu entfalten. Die sukzessive Verkehrung des 'realistischen'<br />
Raums in eine parabolische Welt allseitiger Bedeutsamkeit bildet einen wesentlichen Aspekt<br />
<strong>der</strong> Modellierung <strong>der</strong> Wahrnehmungsprozesse <strong>der</strong> Zuschauer. Sie bezeichnet die<br />
Bewegung, in welcher die Phantasietätigkeit des sentimentalen Publikums auf die immer<br />
gleiche Szene – den Konflikt von Liebe und Sexualität – trifft, während die Art und Weise <strong>der</strong><br />
Verrätselung dieser Szene, ihre Vergegenständlichung in einem parabolischen Raum,<br />
scheinbar unendlich variiert. Es handelt sich um die Szene <strong>der</strong> bürgerlichen Familie, die mit<br />
Di<strong>der</strong>ots Fils naturel zur Ursprungsfiguration des empfindsamen Theaters geworden ist und<br />
in <strong>der</strong> Psychoanalyse ihre mo<strong>der</strong>ne Deutung als Identitätskonzept gefunden hat.<br />
Die anschließende filmanalytische Studie zu den empfindsamen Helden Hollywoods führt,<br />
mit Blick auf die Figur des Jugendlichen und den neuen Typus des männlichen<br />
Schauspielers im Kino <strong>der</strong> 50er Jahre, die Stränge <strong>der</strong> sentimentalen Phantasie – die<br />
Imagines <strong>der</strong> Weiblichkeit, die Familienszene und die Funktion parabolischer Räume – noch<br />
einmal zusammen. Mit A Place in the Sun (1951) ist dabei ein Film ausgewählt worden,<br />
dessen Romanvorlage – An American Tragedy von Theodore Dreiser – in Fiedlers<br />
Topografie einen Wendepunkt sentimentaler Phantasie bezeichnet. Zugleich eröffnet sie<br />
damit auch die Perspektive auf die psychoanalytische Rationalisierung sentimentaler<br />
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<strong>Hermann</strong> <strong>Kappelhoff</strong>: <strong>Matrix</strong> <strong>der</strong> <strong>Gefühle</strong>, Einleitung 15<br />
Phantasien, wie sie für das "Familienmelodrama" des Hollywoodkinos <strong>der</strong> 50er Jahre<br />
kennzeichnend ist und leitet damit auf den letzten Teil <strong>der</strong> Arbeit über, <strong>der</strong> <strong>der</strong> Frage nach<br />
<strong>der</strong> psychoanalytischen Konzeption sentimentaler Phantasietätigkeit gilt.<br />
Zuvor aber wird analog zum Abschluß des ersten Teils zur Genealogie des sentimentalen<br />
Genießens noch einmal die paradigmatische Funktion <strong>der</strong> Großaufnahme thematisiert.<br />
Dieses Paradigma ist nun nicht mehr auf die Darstellungsform, den Bildtypus, son<strong>der</strong>n auf<br />
die Wahrnehmungsweise des Zuschauers zu beziehen: Die Großaufnahme wird als Initial<br />
einer "affektiven Lesart" des Films diskutiert. Das führt auf die eingangs gestellte Frage<br />
zurück: Was ist das für ein Publikum, das für Dinge und Bil<strong>der</strong> <strong>Gefühle</strong> entwickelt, als seien<br />
sie menschliche Wesen? Was bindet die Zuschauer so sehr, daß sie manchmal sogar einen<br />
phantomhaften Abschiedsschmerz erleben, wenn <strong>der</strong> Film endet und sie in die Realität<br />
außerhalb des dunklen Raums entläßt? Was schließlich ist das Genießen des<br />
Kinopublikums, und wie läßt es sich mit Blick auf die Filme analytisch darstellen?<br />
Zur Psychoanalyse sentimentaler Phantasie<br />
Von Anfang an hat die Frage nach dem Genießen des Publikums, nach <strong>der</strong> Art seiner Lust<br />
und <strong>der</strong>en Befriedigung, das Kino begleitet. Im Begriff des "visual pleasure" ist sie zum<br />
Ausgangspunkt einer weitreichenden Diskussion <strong>der</strong> psychoanalytischen Filmtheorie<br />
geworden. Auch wenn die konkret analytischen Konzepte dieser Diskussion heute eher von<br />
historischem Interesse sind 35 und die Geschichte <strong>der</strong> Filmtheorie als einen politischen<br />
Sachverhalt dokumentieren, ist doch die Grundfrage weiterzuentwickeln.<br />
Auf <strong>der</strong> Basis einer Rekapitulation <strong>der</strong> Ansätze psychoanalytischer Filmtheorie werden<br />
deshalb zunächst die Begriffe <strong>der</strong> Identifikation, <strong>der</strong> Regression und <strong>der</strong> Phantasietätigkeit<br />
präzisiert. Der Film selbst sei für den Zuschauer ein Objekt <strong>der</strong> Liebe, schreibt Christian<br />
Metz, um zu for<strong>der</strong>n, daß die Analyse dieses Objekt zerstöre, um den Film als Text entziffern<br />
zu können. Doch wäre nicht zuvor nach den Strukturen zu fragen, die den Zuschauer<br />
überhaupt erst in diesen Zustand <strong>der</strong> "Verliebtheit" versetzen? 36 Zwar gibt es zahlreiche<br />
Ansätze psychoanalytischer Filmtheorien, die das Kino mit bestimmten Formen <strong>der</strong><br />
Phantasietätigkeit verbinden. Doch ist, wenn von <strong>der</strong> Inszenierung einer hysterischen, einer<br />
masochistischen o<strong>der</strong> einer narzißtischen Phantasie gesprochen wird, meist <strong>der</strong> filmische<br />
Text – die Ebene des Dargestellten (die Analyse <strong>der</strong> fiktionalen Figuren, <strong>der</strong> Handlung etc.)<br />
o<strong>der</strong> die poetische Logik <strong>der</strong> Darstellungsstruktur –, nicht aber die Aktivität des Zuschauers<br />
gemeint. Doch <strong>der</strong> melodramatische Film ist mindestens ebenso ein Objekt affektiver<br />
Besetzungen wie ein symbolischer Text. Tatsächlich läßt sich die Poetik melodramatischer<br />
Filme – etwa die Darstellung masochistischer, narzißtischer o<strong>der</strong> hysterischer Phantasien –<br />
auch als Inszenierung "innerer" Prozesse verstehen, die <strong>der</strong> Zuschauer durchläuft.<br />
Die Kritik <strong>der</strong> bisherigen Diskussion und die Präzisierung des psychoanalytischen Begriffs<br />
<strong>der</strong> primären Identifikation mit Blick auf Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse und<br />
seine Studie zu Leonardo Da Vinci führt im Ergebnis auf ein Konzept "kulturellen Erlebens",<br />
wie es Winnicott im Zusammenhang seiner Theorie des Spiels als "potential space", als<br />
Raum <strong>der</strong> Spannung und <strong>der</strong> Möglichkeit von Subjektivität entworfen hat. Dieser<br />
Möglichkeitsraum bezieht sich nicht mehr auf das Paradigma <strong>der</strong> "Triebnatur", auch nicht auf<br />
eine ursprüngliche Affektivität vor <strong>der</strong> Sprache, son<strong>der</strong>n auf die "Keimzelle" aller sozialen<br />
Beziehungen, das "Spiel" als Interaktionsfeld zwischen Mutter und Kind.<br />
35<br />
Die Frage nach <strong>der</strong> visuellen Lust mündet in Rezeptionsmodellen, die den Prozeß filmischer Wahrnehmung auf<br />
eine Theorie des Blicks reduzieren, die <strong>der</strong> Komplexität kinematografischer Wahrnehmungsprozesse nicht<br />
entsprechen konnte.<br />
36<br />
In diesem Sinne verbindet Heide Schlüpmann den Begriff <strong>der</strong> "Liebe" mit einer Form von Wahrnehmung. Heide<br />
Schlüpmann: Abendröthe <strong>der</strong> Subjektphilosophie. Eine Ästhetik des Kinos, Frankfurt/M./ Basel 1998.<br />
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<strong>Hermann</strong> <strong>Kappelhoff</strong>: <strong>Matrix</strong> <strong>der</strong> <strong>Gefühle</strong>, Einleitung 16<br />
Der "potential space" bezeichnet das Spannungsfeld und den Spielraum <strong>der</strong> individuellen<br />
Existenz, einen Raum <strong>der</strong> permanenten Verwebung von "innerer" und "äußerer", materieller<br />
und psychischer, somatischer und symbolischer Realität. Es ist <strong>der</strong> Raum, in dem sich das<br />
Subjekt genau so weit zur Geltung bringt, als es ihm gelingt, die gegebene Welt seiner<br />
Wahrnehmung mit <strong>der</strong> seiner Empfindungen zu verbinden und die äußere Objektwelt zu<br />
einer "inneren" Welt umzuformen. Der "potential space" meint die Möglichkeit, die sich<br />
zwischen <strong>der</strong> affektiven <strong>Matrix</strong> und <strong>der</strong> sprachlichen Realität eines "ich empfinde" eröffnet.<br />
Auf diesen Raum beziehen sich die Schauspiele <strong>der</strong> Empfindungen, seien es die des<br />
Theaters <strong>der</strong> Empfindsamkeit o<strong>der</strong> des Melodramas, sei es die Oper des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts,<br />
seien es die Filme des melodramatischen Kinos. Der dunkle Raum des Publikums<br />
bezeichnete dann das 'Spielfeld des Übergangs', auf dem sich eine individuelle<br />
Phantasietätigkeit als eine kulturelle Aktivität organisiert.<br />
Auf dieser Linie lassen sich die melodramatischen Filme analytisch als offene Muster einer<br />
Subjektivierung des Zuschauers verstehen, die we<strong>der</strong> auf das Konzept des identifizierenden<br />
Blicks, festgelegt sind noch den starren Mustern pathologischer Phantasiebildungen folgen.<br />
Die Filme selbst entfalten den dunklen Raum des Empfindens als eine verdichtete, gedehnte<br />
und rhythmisierte Zeitlichkeit, eine Ausdrucksbewegung, die <strong>der</strong> Zuschauer durchläuft. Was<br />
man leichthin „Identifikation“ nennt, wäre die Übersetzung solcher Zeitstrukturen in eine<br />
synchrone Rhythmik <strong>der</strong> wechselnden Zustände, die <strong>der</strong> Zuschauer an sich selbst<br />
hervorbringt. Man könnte in einem buchstäblichen Sinn von <strong>der</strong> leibhaften<br />
Vergegenwärtigung eines fiktiven emotionalen Zustands durch das Publikum des Kinos<br />
sprechen.<br />
In diesem Sinne verstehe ich die filmische Darstellung als Modellierung des Spiels <strong>der</strong><br />
Übergänge von den äußeren Bilden zu den "inneren" Objekten des Empfindens; ich verstehe<br />
sie als die Inszenierung – im Unterschied zum Begriff <strong>der</strong> Mise en Scène, wie er in <strong>der</strong><br />
Filmtheorie gebräuchlich ist – eines "empfindenden Ich" im dunklen Raum des Kinos. Sowohl<br />
für den Filmwissenschaftler wie für den Zuschauer wären die Filme also das, was Walter<br />
Benjamin die "apriorischen Gegenstände des Gefühls" genannt hat. Dem einen übersetzen<br />
sie sich in ein Gefühl, dem an<strong>der</strong>en in die Geschichte des Gefühls.<br />
Gerade das Stereotype, das aller Sentimentalität anhaftet, die Wie<strong>der</strong>holung <strong>der</strong><br />
immergleichen Szene, weist auf eine affektive Gedächtnisfunktion zurück, die den<br />
Ausgangspunkt des "Spielraums" <strong>der</strong> Subjektivität bildet. In <strong>der</strong> direkten Anbindung an<br />
solche regressiven Erinnerungsprozesse unterscheidet sich das Sentimentale von den<br />
an<strong>der</strong>en Formen <strong>der</strong> Unterhaltungskultur und <strong>der</strong> Kunst. Wie tief aber eine so verstandene<br />
Sentimentalität im ästhetischen Fundament bürgerlicher Kultur verwurzelt ist, kann eine<br />
letzte Überblendung andeuten: Auch Her<strong>der</strong>s Interpretation des Pygmalion-Wun<strong>der</strong>s <strong>der</strong><br />
Galathea, seine Studie zum plastischen Kunstwerk, läßt sich in <strong>der</strong> hier entwickelten<br />
Perspektive eine neue Lesart als Theorie eines affektiven Gedächtnisses abgewinnen. Sie<br />
begründet keine sensualistische Poetik, son<strong>der</strong>n eine Theorie des 'Einverseelens <strong>der</strong><br />
affektiven Erbmasse' <strong>der</strong> Antike qua Rezeption ihrer Kunstwerke. Mit dieser letzten<br />
Überblendung <strong>der</strong> Bühne <strong>der</strong> Empfindsamkeit mit dem melodramatischen Kino wird das<br />
sentimentale Genießen als eine kulturelle Aktivität verständlich, in <strong>der</strong> sich <strong>der</strong> individuelle<br />
und <strong>der</strong> kulturelle Prozeß <strong>der</strong> Identitätsbildung bürgerlicher Individuen verschränkt.<br />
Eine Analyse des Films Titanic stellt die verän<strong>der</strong>te Lesart heraus, die sich für die<br />
Filmanalyse aus dem bisher Dargelegten ergibt: Sie versucht den Film als eine zeitliche<br />
Komposition deutlich werden zu lassen, die <strong>der</strong> Zuschauer als ein "inneres Zeitempfinden",<br />
als eine Figuration affektiver Reminiszenzen verwirklicht.<br />
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<strong>Hermann</strong> <strong>Kappelhoff</strong>: <strong>Matrix</strong> <strong>der</strong> <strong>Gefühle</strong>, Einleitung 17<br />
Sentimentale Phantasie und melodramatische Darstellung – Eine Begriffsdefinition<br />
Ein kulturgeschichtlicher Versuch, <strong>der</strong> für sich nicht in Anspruch nehmen kann, das Medium<br />
<strong>der</strong> Geisteswissenschaft, die verstehende Interpretation, hinter sich zu lassen, bleibt auf<br />
höchst ambivalente Weise an die Funktion seiner Begriffe gebunden. Sind sie am Anfang<br />
nicht viel mehr als Definitionen, Abgrenzungen und Verweise, müssen sie sich am Ende,<br />
angereichert mit dem Bedeutungsspektrum des genealogischen Schnittfelds, daran messen<br />
lassen, wie weit sie die Vielzahl <strong>der</strong> entfalteten Bezüge in wenigen sinnfälligen Bündelungen<br />
fassen können. Das gilt in diesem Fall nicht nur im Sinn <strong>der</strong> historischen Semantik für die<br />
kulturgeschichtliche Fragestellung, 37 son<strong>der</strong>n auch mit Blick auf die Konzeption einer<br />
systematischen Filmanalyse. In diesem Sinne vorläufig ist <strong>der</strong> Gegenstand dieser<br />
Untersuchung wie folgt zu präzisieren.<br />
Das 'sentimentale Genießen' knüpft einerseits an den Begriff <strong>der</strong> 'Unterhaltungskultur' und<br />
damit an die Dichotomie von U- und E- Kultur, von Low and High Culture an. Zugleich<br />
bezieht sich <strong>der</strong> Terminus auf einen zentralen Begriff psychoanalytischer Filmtheorie, den<br />
des "visual pleasure", mit dem die Lust des Zuschauers vor allem als Bestätigung seiner<br />
Subjektmächtigkeit beschrieben wurde. Drittens aber rückt <strong>der</strong> Terminus ein Genießen in<br />
den Blick, das in <strong>der</strong> psychoanalytischen Medientheorie Formen lustvoller<br />
Selbstauslöschung meint. 38 Schließlich nimmt <strong>der</strong> Begriff die gängige Definition des<br />
Sentimentalen und des Kitschs in sich auf, nämlich den lustvollen Genuß künstlicher<br />
<strong>Gefühle</strong>. 39<br />
Zur Diskussion steht ein Typus "kultureller Phantasietätigkeit", die sentimentale Phantasie.<br />
Sie bezeichnet eine psychische Aktivität, die sich in einer konkreten kulturellen Praxis<br />
manifestiert: <strong>der</strong> sentimentalen Unterhaltungskultur. Diese Praxis bezieht sich auf ein<br />
begrenztes symbolisches Feld, das sowohl ein Gegenstand ästhetischer Bearbeitung wie <strong>der</strong><br />
ästhetischen Rezeption ist.<br />
Die manifesten Gegenstände sentimentaler Phantasie (melodramatische Darstellungen und<br />
sentimentale Erzählungen) sind primär Gegenstände eines ästhetischen Genießens. Sie<br />
zeichnen sich dadurch aus, daß sie dem Zuschauer den Genuß <strong>der</strong> eigenen Gefühlskräfte,<br />
daß sie Medien seines Selbstempfindens sind. Im Unterschied zum Konzept des<br />
Sensationalismus beziehe ich mich dabei auf die sentimentalen und melodramatischen<br />
Darstellungen in ihrer Spezifik, d.h. mit Blick auf die Empfindungen <strong>der</strong> Rührung, des<br />
Mitleids, <strong>der</strong> Traurigkeit.<br />
Auch die sentimentale Unterhaltungskultur im engen Verständnis umfaßt eine ganze Reihe<br />
verschiedener Darstellungsweisen, von denen hier <strong>der</strong> Modus melodramatischer<br />
Darstellung im Zentrum steht, während die entsprechenden Darstellungsformen <strong>der</strong><br />
Literatur, <strong>der</strong> Musik und <strong>der</strong> bildenden Kunst nur zur vergleichenden Erörterung<br />
herangezogen werden. Der Begriff melodramatische Darstellung ist dabei nicht durch die<br />
Gattungen bestimmt, die sich mit dem "Melodrama" verbinden ( das Melodrama des Musik-<br />
und des Sprechtheaters, die Rührstücke, das Filmgenre Melodrama), son<strong>der</strong>n bezieht sich<br />
auf ein bestimmtes Muster ästhetisch vermittelter Wahrnehmungsprozesse. Diese Muster<br />
lassen sich an <strong>der</strong> Struktur <strong>der</strong> Darstellung – in diesem Fall in <strong>der</strong> Filmanalyse –<br />
37<br />
Auch eine diskursanalytische Untersuchung setzt, um das Netz diskursiver Korrespondenzen zu entfalten, die<br />
interpretierende Lektüre voraus, muß sie doch die Bedeutungen zunächst herstellen, um sie dann als Feld eines<br />
bestimmten Wissens zu organisieren. Vgl. dazu Karlheinz Stierle: Historische Semantik und die Geschichtlichkeit<br />
<strong>der</strong> Bedeutung, in: Historische Semantik und Begriffsgeschichte, hg. v. Reinhard Kosselek, Stuttgart 1978, S.<br />
154-189.<br />
38<br />
Slavoj Žižek: Liebe Dein Symptom wie Dich selbst! Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien, Berlin<br />
1991; <strong>der</strong>s.: Grimassen des Realen. Jacques Lacan o<strong>der</strong> die Monstrosität des Aktes, Köln 1993.<br />
39<br />
Vgl. die Definition des Kitschs bei Ludwig Giesz: Phänomenologie des Kitsches, Frankfurt/M. 1994.<br />
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<strong>Hermann</strong> <strong>Kappelhoff</strong>: <strong>Matrix</strong> <strong>der</strong> <strong>Gefühle</strong>, Einleitung 18<br />
herausarbeiten, sofern man diese Strukturen als Basis einer zeitlichen Modellierung <strong>der</strong><br />
Zuschauerwahrnehmung begreift. Die melodramatische Darstellung strukturiert den Prozeß<br />
des Zuschauens als Entfaltung einer artifiziellen Innerlichkeit. In diesem Sinne meint <strong>der</strong><br />
dunkle Raum des Kinos also letztlich eine Bewußtseinswelt des Publikums, die im Prozeß<br />
des Films entsteht. 40<br />
Die Kultur des Sentimentalen bezeichnet daher im engen Sinn die Gesamtheit <strong>der</strong><br />
Produktion und des Genießens von "Empfindungsbil<strong>der</strong>n", die den sentimentalen Roman mit<br />
<strong>der</strong> Bühne <strong>der</strong> Empfindsamkeit und mit dem melodramatischen Kino verbindet – ein<br />
Vorgang, <strong>der</strong> eine wechselseitige Transformation <strong>der</strong> sentimentalen Bildwelt wie <strong>der</strong><br />
Konsumenten dieser Bildwelt einschließt. Die Praxis sentimentalen Genießens läßt sich in<br />
dieser Perspektive als Teil kultureller Subjektivierungsprozesse verstehen, die permanenten<br />
Modulationen unterworfen sind.<br />
40 In ihrer Studie The Address of the Eye hat Vivian Sobchack ein phänomenologisches Modell <strong>der</strong> Kinorezeption<br />
entwickelt, das wichtige Aspekte dieser Relation analysiert; Vivian Sobchack: The Address of The Eye – A<br />
Phenomenology of Film Experience, Princeton 1992.<br />
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