Ophelia Regenwurm
Blick ins Kinderbuch
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Illustrationen & Story: Lisa Riccarda Mitterbuchner, Text: Hannelore Standl
Die kleine Raupe <strong>Ophelia</strong> lebt mit<br />
ihren Freunden auf einer prachtvollen<br />
Blumenwiese.<br />
Am liebsten sieht sie den lebhaften<br />
Schmetterlingen zu, wie sie im Schein der<br />
Sonne von Blüte zu Blüte flattern und den<br />
duftenden Nektar aufsaugen.
„Bald schon werde auch ich zu den<br />
Erwachsenen gehören“, träumt<br />
<strong>Ophelia</strong> vor sich hin. „Ich<br />
kann es kaum erwarten, den<br />
Blütenstaub auf den Pflanzen<br />
ringsum zu verteilen…“
Wochen sind vergangen.<br />
Die winzigen Raupen haben bislang nichts<br />
anderes getan, als sich satt zu fressen. Sie sind<br />
dicker und dicker geworden.<br />
„Schluss mit der Gefräßigkeit!“, bestimmt <strong>Ophelia</strong><br />
energisch. „Damit ich mich verpuppen kann, wird es<br />
höchste Zeit, eine Hülle um meinen Körper zu spinnen.“
Sie seufzt: „Dann heißt es, eine geraume Weile absolut ruhig in<br />
meinem Gehäuse zu verbringen. Puh, das wird langweilig werden!“
<strong>Ophelia</strong> harrt geduldig in<br />
ihrem Kokon.
Eine schier unglaubliche Verwandlung hat stattgefunden.<br />
Die Hüllen brechen auf.<br />
Junge Schmetterlinge zwängen sich aus ihrem Gehäuse<br />
heraus. Noch brauchen sie ein paar Stunden Rast, bis sie<br />
den ersten Flug wagen können.
Als die Verwandten und Freunde <strong>Ophelia</strong>s<br />
jedoch die Flügel ausbreiten und sich in die<br />
Lüfte erheben, bemerken sie einen seltsamen<br />
Nebel, der über ihren Köpfen schwebt.<br />
Außerdem scheinen die Pflanzen verwelkt<br />
zu sein, kein Blütenkelch mehr reckt seine<br />
Knospen zum Himmel.
Soeben ist <strong>Ophelia</strong> aus ihrem Kokon geschlüpft.<br />
Geschafft!<br />
Sie will es ihren Gefährten gleichtun und die<br />
verknitterten Flügel straffen und aufrichten.<br />
Doch da sind keine Flügel!<br />
Bestürzt zuckt <strong>Ophelia</strong> zusammen. Unsicher tapst sie ein<br />
Stück vorwärts. Ihr ist elend zumute. Wenn sie ihr Unglück nur<br />
jemandem anvertrauen könnte.
In diesem Augenblick erspäht sie einen vorbeifliegenden Schmetterling.<br />
„Kannst du mir sagen, was sich ereignet hat?“, ruft <strong>Ophelia</strong> ihm nach.<br />
Ich „ bin mir nicht sicher“, lautet die Antwort.<br />
„Aber eines weiß ich! Kennst du das nächstgelegene Dorf? Von dort ist der<br />
Nebel herbeigezogen. Zur selben Stunde ist die Wiese vertrocknet, als wäre sie ohne<br />
Saft und Kraft. Woher sollen wir nun unsere Nahrung nehmen?“
Bitte, „ verlasst mich nicht!“, fleht <strong>Ophelia</strong>.<br />
Weil ihre Rufe ungehört verklingen, weint sie<br />
herzzerreißend und zittert. Verzweifelt schaut<br />
sie in die Weite…<br />
Die pure Not hat die Schmetterlinge fortgetrieben.<br />
Sie sind auf der Suche nach einer grünen, blühenden<br />
Landschaft, die ihre Bedürfnisse stillen kann.<br />
<strong>Ophelia</strong> weiß, dass sie mit ihren Artgenossen nicht<br />
mithalten kann. Nie wird sie sich in die Lüfte<br />
aufschwingen können, nie sich frei fühlen wie ein<br />
Schmetterling.
<strong>Ophelia</strong> schlägt den Pfad in Richtung des Dorfes ein.<br />
„Nur nicht den Mut verlieren!“, ermahnt sie sich,<br />
nachdem die Tränen versiegt sind. „Allein und einsam<br />
möchte ich jedenfalls nicht bleiben. Vielleicht gelingt es mir, die<br />
Ursache für das mysteriöse Geschehen zu ergründen.“
Auf halber Strecke begegnet sie zwei Regenwürmern.<br />
„Habt ihr eine Ahnung, woher dieses düstere Gewölk gekommen ist?“, erkundigt<br />
sich <strong>Ophelia</strong>. „Es hat unsere schöne Wiese hinter dem Wald verdorben.“<br />
Bereitwillig erzählen die beiden von einem alten Erfinder, der am<br />
Rand der Siedlung wohnt.<br />
„Ziemlich geheimnisvoll hat er herumhantiert. Plötzlich ist dichter<br />
Qualm aufgestiegen, den ein Windstoß weitergetragen hat.<br />
Natürlich haben wir uns so schnell wie möglich in unserem<br />
Schlupfwinkel verkrochen.“
Langsam krabbelt <strong>Ophelia</strong> weiter.<br />
Einen Steinwurf entfernt beobachtet<br />
sie eine vermummte Gestalt, die einen<br />
bizarr anmutenden Garten mit Wasser<br />
besprengt. Wie angewurzelt steht sie da<br />
und blinzelt verwirrt. Der ungeheuer<br />
große Wuchs der Blumen, von denen<br />
manche sogar den Giebel des Hauses<br />
überragen, macht sie sprachlos.
„Du bist überrascht über meine Riesengewächse, nicht<br />
wahr?“, brüstet sich der Mann voller Stolz, als<br />
<strong>Ophelia</strong> schließlich eintrifft.<br />
„Bin ich… bin ich im Schlaraffenland?“, stammelt<br />
<strong>Ophelia</strong>. „Sind Sie gar ein Zauberer?“<br />
„Weit gefehlt!“, erwiderte der Alte und erzählt ihr<br />
von seinem Experiment. „Ich habe lange daran<br />
getüftelt, um eine üppige Ernte zu erzielen. Heute ist das<br />
Werk vollbracht.“<br />
„Wozu tragen Sie diese komische Bekleidung?“<br />
„Das ist ein Schutzanzug. Trotz meiner Vorsicht ist<br />
während des Versuchs giftiger Rauch ausgetreten.<br />
Prompt hat ein heftiger Luftzug das dunkle<br />
Geschwader vertrieben.“
<strong>Ophelia</strong> ist wütend und unglücklich.<br />
„Wissen Sie eigentlich, was Sie angestellt haben?<br />
Ich sollte ein Schmetterling mit bunt schimmernden Flügeln<br />
sein, wie kein Künstler sie mit seiner Farbpalette erschaffen<br />
kann! Habe ich die geringste Ähnlichkeit mit einem<br />
Schmetterling? Und glauben Sie, dass ich jemals eine<br />
einzige Blüte bestäuben kann?“
Bestürzt starrt der Alte zu Boden. „Mein Experiment hat<br />
so furchtbare Auswirkungen, dass du keine Flügel hast?“<br />
„Nicht nur das!“, klagt <strong>Ophelia</strong>. „Ein ganzer Landstrich<br />
ist verblichen! Blumen, Blüten, Stängel und Blätter sind<br />
eingeknickt. Bienen, Hummeln, Wespen, Schmetterlinge – sie<br />
sind geflohen, so weit ihre Flügel sie tragen.“<br />
„Ich habe nicht genug nachgedacht. Das schlechte Gewissen<br />
erdrückt mich beinahe. Ich verspreche dir aufrichtig, mein<br />
Bestes zu geben, damit das Pflanzenreich wieder genesen kann.<br />
Überzeug dich selbst davon und bleib in meiner Umgebung!<br />
Übrigens, du könntest mir helfen!“
Ich…?“, „ fragt <strong>Ophelia</strong> zaghaft. „Wie soll ich Ihnen ohne Flügel<br />
helfen können?“<br />
„Hier wimmelt es nur so von fleißigen Helfern“, beteuert<br />
der alte Mann. „Sie lockern unermüdlich das Erdreich auf und<br />
kümmern sich auf ihre Weise darum, dass die Pflanzen mehr<br />
Sauerstoff zum Wachsen bekommen.“
Allmählich fügt sich <strong>Ophelia</strong> in<br />
ihr Los, keine Flügel zu besitzen.<br />
Ihr gefällt der Gedanke, kleine,<br />
unterirdische Tunnel in die Erde zu<br />
graben. Sie ist sich bewusst darüber,<br />
kein <strong>Regenwurm</strong> zu sein. Aber sie<br />
entscheidet sich dafür, wie einer<br />
zu leben.<br />
Bald ist sie glücklich, doch noch<br />
einen Weg gefunden zu haben, um im<br />
Kreislauf der Natur einen nützlichen<br />
Beitrag leisten zu können.
Copyright © OPHELIA 2017 Lisa Riccarda Mitterbuchner<br />
Illustrationen & Story: Lisa Riccarda Mitterbuchner, Text: Hannelore Standl<br />
Alle Rechte vorbehalten
Die kleine Raupe <strong>Ophelia</strong> lebt mit ihren<br />
Artgenossen auf einer blühenden Blumenwiese.<br />
Ihr größter Wunsch ist es, wie ihre älteren<br />
Brüder und Schwestern fliegen zu lernen und<br />
den Blumen beim Wachsen zu helfen.<br />
Der Tag naht, an dem <strong>Ophelia</strong> sich verpuppt,<br />
doch es kommt anders als sie denkt...