Buch_OrnMitt11_12_2016_web
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
328 Ornithologische Mitteilungen • <strong>2016</strong> • Nr. 11/<strong>12</strong><br />
Die molekulargenetischen Methoden lenken in<br />
vielen Fällen die Aufmerksamkeit des Forschers<br />
auf die Existenz morphologisch naher, d. h. „kryptischer“,<br />
Formen und dienen manchmal als einziges<br />
Mittel für eine adäquate Wertung der Verwandtschaftsbeziehungen<br />
in großen polytypischen<br />
Komplexen (z. B. im Bereich der Gattungen Larus,<br />
Motacilla, Lanius, Remiz u. a.). Auf der anderen<br />
Seite zeigen die Daten der molekulargenetischen<br />
Analyse, dass einige morphologisch und ökologisch<br />
gut separierte Formen, die traditionell als<br />
Arten geführt werden, in Gruppen anderer Arten<br />
„eingebaut“ werden müssen, was Schwierigkeiten<br />
bezüglich ihrer taxonomischen Beurteilung<br />
schafft. Eine Reihe von allopatrischen Formen und<br />
Populationen innerhalb traditionell verstandener<br />
Arten dagegen erweisen sich nach den genetischen<br />
Parametern als eigenständig und praktisch auf<br />
Artniveau, was Folge ihrer längeren geografischen<br />
Isolation ist.<br />
Man darf auch die subjektiven Faktoren nicht<br />
ignorieren, die auf taxonomische Entscheidungen<br />
einwirken, so den Unterschied bei den Auffassungen,<br />
der Arbeitsweise und den Traditionen der<br />
wissenschaftlichen Schulen wie auch einzelner Wissenschaftler<br />
– in Nord-Eurasien und „im Westen“.<br />
Ausgehend von dem eben Gesagten haben wir<br />
eine Reihe von Kategorien nicht eindeutig bestimmter<br />
Taxa nahe dem Artstatus in der Vogelfauna<br />
Nord-Eurasiens herausgearbeitet und bringen<br />
einige Beispiele zur Illustration dessen. Die<br />
wissenschaftliche Nomenklatur entspricht Koblik<br />
& Archipov 2014, mit geringfügigen Änderungen.<br />
In eckigen Klammern fixieren wir den<br />
Status des Taxons im erweiterten Verständnis sensu<br />
lato (nicht als Superspezies!).<br />
1. Arten, die traditionell mit anderen<br />
vereinigt werden, doch untereinander<br />
nicht nahe verwandt sind (Existenz<br />
wesentlicher genetischer Unterschiede)<br />
Die Fehlerhaftigkeit bisheriger Zuordnungen ist<br />
entweder durch eine rein äußerliche (manchmal<br />
oberflächliche) Bestimmung begründet, z. B. bei<br />
Acrocephalus [arundinaceus] orientalis, Sitta [europaea]<br />
arctica, Parus [lugubris] hyrcanus, oder<br />
durch das Vorhandensein eines hybridogenen<br />
Polymorphismus, der das ursprüngliche Bild morphologischer<br />
Unterschiede verzerrt, so bei Motacilla<br />
[flava] tschutschensis und Lanius [excubitor]<br />
borealis.<br />
Die Präzisierung des Status des östlichen Rohrsängers,<br />
des Chinarohrsängers Acrocephalus orientalis,<br />
stellt ein typisches Beispiel der Erscheinung<br />
sogenannter „kryptischer Arten“ dar. Lange Zeit<br />
wurde er wegen seiner morphologischen Ähnlichkeit<br />
als Unterart des Drosselrohrsängers Acrocephalus<br />
arundinaceus (Vaurie 1959, Stepanjan<br />
2003) (Unterschiede nur in der Länge und Formel<br />
des Flügels sowie geringfügig in Teilen der Färbung)<br />
und als Vertretung dessen in Ostasien –<br />
ohne Berührung der Brutareale – angesehen.<br />
Entsprechend der molekulargenetischen Daten<br />
erweist sich die Form orientalis entschieden näher<br />
verwandt mit dem Turkestan-Stentorohrsänger<br />
Acrocephalus stentoreus brunescens, der sich bezüglich<br />
morphologischer Besonderheiten wesentlich<br />
von dieser, aber auch von Acrocephalus arundinaceus<br />
unterscheidet (Leisler et al. 1997, Helbig<br />
& Seibold 1999). Die Ergebnisse der Erforschung<br />
der Ökologie und Lockrufe der Vertreter<br />
der Gruppierung der großen (drosselartigen)<br />
Rohrsänger unterstützen diesen Standpunkt (Opajev<br />
2010). In der Gesamtheit der ermittelten<br />
Merkmale ist gerade Acrocephalus orientalis der<br />
archaischste Vertreter des Komplexes, der Eigenschaften<br />
der hypothetischen Ursprungsform aller<br />
drosselartigen Rohrsänger in sich trägt (Opajev<br />
2010). Im Fall der Beibehaltung der Form orientalis<br />
im Status einer Unterart von Acrocephalus<br />
arundinaceus, müssten wir in den Bestand von<br />
Acrocephalus arundinaceus ebenfalls eingliedern:<br />
Acrocephalus stentoreus (die turkestanische Unterart<br />
bildet mit Acrocephalus arundinaceus eine<br />
Zone der Sympatrie aus – Stepanjan 1983), aber<br />
auch Acrocephalus australis und Acrocephalus<br />
vaughani (Australien Ozeanien), die phylogenetisch<br />
näher zu orientalis als zu arundinaceus stehen<br />
(Leisler et al. 1997).<br />
Der Jakutische Kleiber Sitta arctica, erstbeschrieben<br />
durch S. A. Buturlin 1907, dagegen<br />
besitzt nur eine oberflächliche Ähnlichkeit mit<br />
dem weit verbreiteten gewöhnlichen Kleiber Sitta<br />
europaea. Schwer erreichbare Regionen Nordost-<br />
Asiens bewohnend und in den ornithologischen<br />
Kollektionen kaum vertreten, blieb diese Form der<br />
Mehrheit der Wissenschaftler wenig bekannt, so<br />
dass sie ihn folglich als Unterart von Sitta europaea<br />
ansahen, vor allem aus geografischen Erwägungen