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Sozialrecht + Praxis - Ausgabe April 2017

Monat für Monat das Wichtigste aus Sozialrecht, Versorgungs- und Behindertenrecht, Rente, Rehabilitation, Gesundheit, Pflege ... Herausgeber: Sozialverband VdK Deutschland e.V.

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<strong>Sozialrecht</strong> + <strong>Praxis</strong><br />

Fachzeitschrift für Sozialpolitiker und Schwerbehindertenvertreter<br />

Krankenversicherung<br />

Zuschüsse bei zahnärztlicher Behandlung<br />

Rentenversicherung<br />

VdK fordert armutsfeste Renten<br />

Bundessozialgericht<br />

Eingliederungshilfe<br />

Bundesverfassungsgericht<br />

Bewertung rentenrechtlicher Zeiten<br />

4/17<br />

27. Jahrgang<br />

GP 12025 DP AG


Inhalt<br />

Sozialpolitik<br />

Zahnbehandlung, Kieferorthopädie und<br />

Zahnersatz<br />

Von Horst Marburger 207<br />

IGeL-Monitor: Leistungen überwiegend<br />

negativ bewertet 219<br />

Zusatzbeiträge dürften <strong>2017</strong><br />

nicht steigen<br />

Von Dieter Leopold 221<br />

Ärztekammer: 2245 Behandlungsfehler<br />

2016 nachgewiesen 223<br />

1,8 Millionen Mitglieder:<br />

Sozialverband VdK wächst weiter 224<br />

Rentenreform aus Sicht des VdK<br />

notwendig<br />

Von Ulrike Mascher 225<br />

Soziale Gerechtigkeit: VdK-Kampagne<br />

zur Bundestagswahl gestartet 233<br />

Gesetz zur Stärkung der betrieblichen<br />

Altersversorgung 235<br />

VdK-Stellungnahme<br />

Krankenversicherung: Rechtslücke<br />

bei der Rente für Frauen geschlossen 239<br />

RECHT<br />

Vor dem Bundessozialgericht:<br />

Eingliederungshilfe, Schulbegleitung,<br />

Inklusionsklasse<br />

Mitgeteilt von Jörg Ungerer 240<br />

BEM: Kündigung im Krankheitsfall<br />

muss begründet sein 251<br />

VdK-Erfolg: Krankentagegeld-Bezug<br />

lückenlos anrechnen 253<br />

Verfahrensfehler: NRW-Heimverträge<br />

für Unterbringung nichtig 253<br />

Ansprüche nach dem Tod des<br />

Leistungsberechtigten<br />

Von Dirk Dahm 254<br />

Pflegekasse: Auch Reparaturkosten<br />

können zuschussfähig sein 257<br />

Heimkinder: Keine höhere Rente nach<br />

„Zwangsarbeit“258<br />

Vor dem Bundesverfassungsgericht:<br />

Anrechnung rentenrechtlicher Zeiten<br />

in der DDR<br />

Mitgeteilt von Jörg Ungerer 259<br />

Hartz-IV-Bezug: Ehe „auf dem Papier“<br />

kein Schutz vor Minderung 265<br />

LITERATUR<br />

Sozialgesetzbuch: Aktualisierte<br />

Gesamtausgabe von Walhalla 266<br />

Sozialwirtschaft: Digitalisierung<br />

und technische Assistenz 266<br />

<strong>Sozialrecht</strong>: Kompaktkommentar<br />

für die Arbeitnehmerberatung 267<br />

Lexikon: Arbeitsrecht von A bis Z<br />

leicht verständlich 267<br />

Psychotherapie: <strong>Praxis</strong>handbuch<br />

Richtlinie und Vereinbarung 268<br />

SERVICE<br />

Wiedereingliederung: Wirkung von BEM<br />

anonym und kostenlos checken 269<br />

REHADAT: Wissen zu Behinderungen<br />

und Arbeitsgestaltung 270<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


Sozialpolitik<br />

207<br />

Zahnbehandlung,<br />

Kieferorthopädie<br />

und Zahnersatz<br />

Gesetzliche Versicherte haben<br />

Anspruch auf Festzuschüsse<br />

Von Horst Marburger<br />

Zahnersatz wird in § 37 Abs. 1 Sozialgesetzbuch-Fünftes<br />

Buch (SGB V) als<br />

Bestandteil der Krankenbehandlung<br />

bezeichnet. Es wird hier von der zahnärztlichen<br />

Behandlung sowie von der<br />

Versorgung mit Zahnersatz einschließlich<br />

Zahnkronen und Suprakonstruktionen<br />

gesprochen.<br />

Absatz 2 des § 27 SGB V sieht aber bereits<br />

Einschränkungen vom Anspruch<br />

auf Leistungen bei Zahnersatz vor. Für<br />

bestimmte Personengruppen werden<br />

nämlich besondere (zusätzliche) Voraussetzungen<br />

für den Anspruch auf<br />

Zahnersatzleistungen gefordert.<br />

Für diese Personen wird eine Wartezeit<br />

gefordert. Sie haben nur dann Anspruch<br />

auf Versorgung mit Zahnersatz,<br />

wenn sie unmittelbar vor der Inanspruchnahme<br />

mindestens ein Jahr lang<br />

Mitglied einer gesetzlichen Krankenkasse<br />

oder familienversichert waren.<br />

Anspruch besteht auch, wenn die Behandlung<br />

aus medizinischen Gründen<br />

ausnahmsweise unaufschiebbar ist.<br />

Unter Inanspruchnahme der Leistung<br />

im vorstehenden Sinne ist der Beginn<br />

der zahnärztlichen Behandlung, das<br />

heißt die Ausstellung des Heil- und<br />

Kostenplanes, zu verstehen 1 .<br />

Es handelt sich hier um Versicherte:<br />

£ Personen, die sich nur vorübergehend<br />

im Inland aufhalten,<br />

£ zur Ausreise verpflichtete Ausländer,<br />

deren Aufenthalt aus völkerrechtlichen,<br />

politischen oder humanistischen<br />

Gründen geduldet wird,<br />

£ asylsuchende Ausländer, deren Asylverfahren<br />

noch nicht unanfechtbar<br />

abgeschlossen ist,<br />

£ Vertriebene sowie Spätaussiedler,<br />

ihre Ehegatten, gleichgeschlechtlichen<br />

Lebenspartner und Abkömmlinge.<br />

Hinsichtlich der Versorgung mit<br />

Zahnersatz aus medizinischen Gründen<br />

ist auch § 275 Abs. 2 Nr. 5 SGB V<br />

zu beachten. Danach haben die Krankenkassen<br />

durch den Medizinischen<br />

Dienst der Krankenversicherung<br />

(MDK) prüfen zu lassen, ob eine Versorgung<br />

aus medizinischen Gründen<br />

ausnahmsweise unaufschiebbar ist. Es<br />

bestehen hier „Hinweise zur Begutachtung<br />

von Zahnersatzfällen nach<br />

§ 27 Abs. 2 SGB V“, die zu beachten<br />

sind. Im Übrigen ist hier auch § 275<br />

Abs. 1 Nr. 1 SGB V zu berücksichtigen.<br />

Danach sind die Krankenkassen<br />

verpflichtet, bei Erbringung von Leistungen,<br />

insbesondere zur Prüfung von<br />

Voraussetzungen, Art und Umfang<br />

der Leistung, sowie bei Auffälligkeiten<br />

zur Prüfung der ordnungsgemäßen<br />

Abrechnung eine gutachtliche Stellungnahme<br />

des MDK einzuholen.<br />

Dies gilt auch für die Bereiche zahnärztliche<br />

Behandlung und Versorgung<br />

mit Zahnersatz.<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


208<br />

Sozialpolitik<br />

Wichtig: In diesem Zusammenhang<br />

bestimmt § 275 Abs. 5 SGB V, dass<br />

die Ärzte des MDK bei der Wahrnehmung<br />

ihrer medizinischen Aufgaben<br />

nur ihrem ärztlichen Gewissen unterworfen<br />

sind. Sie sind nicht berechtigt,<br />

in die ärztliche Behandlung einzugreifen.<br />

Im Übrigen werden die Fachaufgaben<br />

des MDK von Ärzten und Angehörigen<br />

anderer Heilberufe (§ 279 Abs. 5<br />

SGB V) wahrgenommen. Der MDK<br />

hat vorrangig Gutachter zu beauftragen.<br />

1. Zahnärztliche Behandlung<br />

als Leistung der gesetzlichen<br />

Krankenversicherung<br />

Nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB V<br />

umfasst die Krankenbehandlung auch<br />

die zahnärztliche Behandlung. Soweit<br />

in Zusammenhang mit der zahnärztlichen<br />

Behandlung erforderlich, erfolgt<br />

auch eine Versorgung mit Arznei-,<br />

Verband-, Heil- und Hilfsmitteln<br />

(§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V).<br />

Ist im Rahmen zahnärztlicher Behandlung<br />

im Einzelfall eine stationäre<br />

Krankenhausbehandlung erforderlich,<br />

erfolgt diese im Rahmen des § 27<br />

Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 SGB V.<br />

Nähere Einzelheiten sowohl zur ärztlichen<br />

als auch zur zahnärztlichen Behandlung<br />

finden sich in § 28 SGB V.<br />

Danach (Abs. 2) umfasst die zahnärztliche<br />

Behandlung die Tätigkeit des<br />

Zahnarztes, die zur Verhütung, Früherkennung<br />

und Behandlung von<br />

Zahn-, Mund- und Kiefererkrankungen<br />

nach den Regeln der zahnärztlichen<br />

Kunst ausreichend und<br />

zweckmäßig ist. Sie umfasst auch<br />

konser vierend-chirurgische und Röntgenleistungen,<br />

die im Zusammenhang<br />

mit Zahnersatz einschließlich Zahnkronen<br />

und Suprakonstruktionen erbracht<br />

werden.<br />

Wählen Versicherte bei Zahnfüllungen<br />

eine darüber hinausgehende Versorgung,<br />

haben sie die Mehrkosten<br />

selbst zu tragen. In diesen Fällen ist<br />

von den gesetzlichen Krankenkassen<br />

die vergleichbare preisgünstigere plastische<br />

Füllung als Sachleistung abzurechnen.<br />

Bei Wahl der nicht von dem Kassenleistungsanspruch<br />

gedeckten Versorgung<br />

ist vor Behandlungsbeginn eine<br />

schriftliche Vereinbarung zwischen<br />

dem Zahnarzt und dem Versicherten<br />

zu treffen.<br />

Die Mehrkostenregelungen gilt im<br />

Übrigen nicht für Fälle, in denen intakte<br />

plastische Füllungen ausgetauscht<br />

werden.<br />

Nicht zur zahnärztlichen Behandlung<br />

gehört die kieferorthopädische Behandlung<br />

von Versicherten, die zu Behandlungsbeginn<br />

das 18. Lebensjahr<br />

vollendet haben. Dies gilt nicht für<br />

Versicherte mit schweren Kieferanomalien,<br />

die ein Ausmaß haben, das<br />

kombinierte kieferchirurgische und<br />

kieferorthopädische Behandlungsmaßnahmen<br />

erfordert. Die Kieferorthopädische<br />

Behandlung selbst wird<br />

in § 29 SGB V angesprochen (vgl. dazu<br />

die Ausführungen unter 3.).<br />

Funktionsanalytische und funktionstherapeutische<br />

Maßnahmen gehören<br />

nicht zur zahnärztlichen<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


Sozialpolitik<br />

209<br />

Behandlung. Sie dürfen von den<br />

Krankenkassen auch nicht bezuschusst<br />

werden.<br />

Das Gleiche gilt für implantalogische<br />

Leistungen, es sei denn, es liegen seltene<br />

vom Gemeinsamen Bundesausschuss<br />

(G-BA) in Richtlinien nach<br />

§ 92 Abs. 1 SGB V festzulegende Ausnahmeindikationen<br />

für besonders<br />

schwere Fälle vor, in denen die Krankenkasse<br />

diese Leistungen einschließlich<br />

der Suprakonstruktion als Sachleistung<br />

im Rahmen einer medizinischen<br />

Gesamtbehandlung erbringt.<br />

Da § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB V entsprechend<br />

gilt, gehört in einem solchen<br />

Falle zur zahnärztlichen Behandlung<br />

auch die Hilfeleistung anderer Personen,<br />

die vom Zahnarzt angeordnet<br />

oder von ihm zu verantworten ist.<br />

Das Bundessozialgericht (BSG) hat<br />

mit Urteil vom 13. Juli 2004 2 festgestellt,<br />

dass die im Zusammenhang<br />

mit dem Anspruch auf Versorgung<br />

mit Implantaten einschlägige Ausnahme<br />

indikation einer „generalisierten<br />

genetischen Nichtanlage von<br />

Zähnen“ nicht vorliegt, wenn im<br />

Oberkiefer acht und im Unterkiefer<br />

fünf Zähne fehlen. Eine medizinische<br />

Gesamtbehandlung im vorstehenden<br />

Sinne verlangt, dass die Behandlung<br />

sich nicht nur in der Versorgung mit<br />

Zahnersatz erschöpft, sondern ein<br />

übergeordnetes Behandlungsziel verfolgt,<br />

in das sich die implantatischen<br />

Leistungen lediglich unterstützend<br />

einfügen 3 .<br />

Nach dem Urteil des BSG vom<br />

4. März 2014 4 haben Versicherte gegen<br />

ihre gesetzliche Krankenkasse<br />

auch dann nur in den geregelten Ausnahmefällen<br />

Anspruch auf Zahnimplantatversorgung,<br />

wenn sie contergangeschädigt<br />

sind.<br />

Im Übrigen haben die Teilnehmer an<br />

der Besprechung der Spitzenverbände<br />

der Krankenkassen zum Leistungsrecht<br />

vom 29. Juni 1990 5 darauf<br />

hingewiesen, dass dann, wenn<br />

infolge einer Tumor-Therapie die<br />

Versorgung mit Zahnersatz erforderlich<br />

wird, es sich dabei um eine Teilmaßnahme<br />

der ärztlichen, zahnärztlichen<br />

beziehungsweise kieferchirurgischen<br />

Gesamtbehandlung handelt.<br />

Es geht hier darum, dass der Zahnersatz<br />

zum Beispiel zum Ausgleich größerer<br />

Hohlräume im Kieferbereich<br />

oder im Zusammenhang mit größeren<br />

Kieferdefekten erforderlich ist.<br />

Die Kosten für die im Rahmen der<br />

Gesamtbehandlung notwendigen<br />

zahnprothetischen Versorgung sind<br />

von der Krankenkasse vollständig zu<br />

übernehmen 6 .<br />

Nach dem Urteil des BSG vom<br />

21. Juni 2011 7 haben Versicherte gegen<br />

ihre Krankenkasse jedenfalls<br />

dann Anspruch auf Reinigung ihrer<br />

Zahnimplantate, wenn die Implantatversorgung<br />

zulasten der Krankenkasse<br />

erfolgte. Im Urteil vom 21. Juni<br />

2011 wurde dann auch zum Ausdruck<br />

gebracht, dass der gesetzliche<br />

Anspruch Versicherter auf Implantatreinigung<br />

zulasten der gesetzlichen<br />

Krankenkasse auf die Entfernung<br />

harter Beläge von im Mund<br />

verbleibenden Zahnimplantaten beschränkt<br />

ist.<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


210<br />

Sozialpolitik<br />

2. Kieferorthopädische<br />

Behandlung<br />

2.1. Grundsätze<br />

In Zusammenhang mit den Leistungen<br />

„zahnärztliche Behandlung“ und<br />

„Zahnersatz“ ist auch § 29 SGB V zu<br />

beachten, der sich mit der kieferorthopädischen<br />

Behandlung beschäftigt.<br />

Danach haben Versicherte Anspruch<br />

auf kieferorthopädische Versorgung<br />

mit medizinisch begründeten<br />

Indikationsstellungen, bei denen eine<br />

Kiefer- oder Zahnfehlstellung<br />

vorliegt. Diese Fehlstellung muss das<br />

Kauen, Beißen, Sprechen oder Atmen<br />

erheblich beeinträchtigen oder<br />

zu beeinträchtigen drohen.<br />

Versicherte leisten zu der kieferorthopädischen<br />

Behandlung nach<br />

Vorstehendem einen Anteil in Höhe<br />

von 20 Prozent der Kosten an den<br />

Vertragszahnarzt (Kassenzahnarzt).<br />

Dies gilt nicht für im Zusammenhang<br />

mit kieferorthopädischer Behandlung<br />

erbrachte konservierendchirurgische<br />

und Röntgenleistungen.<br />

Befinden sich mindestens zwei<br />

versicherte Kinder, die bei Beginn<br />

der Behandlung das 18. Lebensjahr<br />

noch nicht vollendet haben und mit<br />

ihren Erziehungsberechtigten in einem<br />

gemeinsamen Haushalt leben,<br />

in kieferorthopädischer Behandlung,<br />

besteht für das zweite und jedes<br />

weitere Kind Anspruch auf 80<br />

Prozent der vorstehend genannten<br />

Kosten. Konservierend-chirurgische<br />

Leistungen und Röntgenleistungen,<br />

die im Zusammenhang mit kieferorthopädischen<br />

Behandlung erbracht<br />

werden, werden als Sachleistungen<br />

gewährt.<br />

Kieferorthopäden, die zur Teilnahme<br />

an der vertragsärztlichen Versorgung<br />

ermächtigt waren und die Ermächtigung<br />

zurückgegeben haben, dürfen<br />

eine Behandlung von gesetzlich<br />

Krankenversicherten nicht durchführen.<br />

Die Teilnehmer an der Besprechung<br />

der Spitzenverbände der Krankenkassen<br />

am 23. Januar 2001 8 haben sich<br />

mit dem Zeitpunkt der Auszahlung<br />

des vom Versicherten getragenen Eigenanteils<br />

beschäftigt. Sie wiesen in<br />

diesem Zusammenhang darauf hin,<br />

dass es fraglich sei, ob die Bestätigung<br />

des Zahnarztes oder Kieferorthopäden<br />

über den Abschluss der Behandlung<br />

„in dem durch den Behandlungsplan<br />

bestimmten medizinisch erforderlichen<br />

Umfang“ bereits vor der sogenannten<br />

Retentionsphase oder erst<br />

danach vorzunehmen sei. Als Besprechungsergebnis<br />

wurde festgehalten,<br />

dass die Spitzenverbände der Krankenkassen<br />

in Abstimmung mit der<br />

Kassenärztlichen Bundesvereinigung<br />

die Auffassung vertreten, dass Maßnahmen<br />

zur Retention bis zu zwei<br />

Jahre nach dem Ende des Kalendervierteljahres,<br />

für das die letzte Abschlagszahlung<br />

geleistet worden ist,<br />

abgerechnet werden können. Längstens<br />

muss dies aber bis zum Abschluss<br />

der Behandlung einschließlich der<br />

Retention geschehen. Der Zahnarzt<br />

oder Kieferorthopäde hat danach den<br />

Abschluss der Behandlung einschließlich<br />

der Retention schriftlich zu bestätigen.<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


Sozialpolitik<br />

211<br />

Bei Versicherten mit schweren Kieferanomalien<br />

ist die kieferorthopädische<br />

Behandlung der zahnärztlichen Behandlung<br />

als Sachleistung zuzuordnen,<br />

sodass eine Erhebung von Versichertenanteilen<br />

nicht in Betracht<br />

kommt 9 . Dies gilt sowohl für Kinder<br />

als auch für über 18 Jahre alte Versicherte,<br />

die bei schweren Kieferanomalien<br />

einen Anspruch auf kieferorthopädische<br />

Behandlung haben (vgl. die<br />

noch folgenden Ausführungen).<br />

2.2. Leistungsausschlüsse<br />

Seit 1. Januar 1993 ist § 28 Abs. 2<br />

Satz 6 SGB V zu beachten. Danach<br />

gehört nicht zur zahnärztlichen Behandlung<br />

die kieferorthopädische Behandlung<br />

von Versicherten, die zu<br />

Beginn der Behandlung das 18. Lebensjahr<br />

vollendet haben. Das gilt<br />

nicht für Versicherte mit schweren<br />

Kieferanomalien, die ein Ausmaß haben,<br />

das kombinierte kieferchirurgische<br />

und kieferorthopädische Behandlungsmaßnahmen<br />

erfordert. Nach den<br />

Ausführungen zu dieser Vorschrift im<br />

Gemeinsamen Rundschreiben der Arbeitsgemeinschaft<br />

der Spitzenverbände<br />

der Krankenkassen vom 9. Dezember<br />

1982 liegen nach der Intention des<br />

Gesetzgebers schwere Kieferanomalien<br />

insbesondere bei a) angeborenen<br />

Missbildungen des Gesichts und der<br />

Kiefer, b) skelettalen Dysgnatien und<br />

c) verletzungsbedingten Kieferfehlstellungen<br />

vor.<br />

Nach Auffassung des BSG im Urteil<br />

vom 9. Dezember 1997 10 sind die<br />

Ausnahmen vom Ausschluss kieferorthopädischer<br />

Leistungen für Erwachsene<br />

bei schweren Kieferanomalien<br />

keiner ausgedehnten Auslegung zugänglich.<br />

Durchgreifende verfassungsrechtliche<br />

Bedenken gegen den Ausschluss<br />

bestehen nach Ansicht des<br />

BSG im Übrigen nicht.<br />

Zu a) zählen zum Beispiel das Vrouzon-Syndrom,<br />

Treacher-Collins-Syndrom,<br />

Goldenhar-Syndrom, Binder-<br />

Syndrom, Nager-Syndrom, die hernifaciale<br />

Mikrosomie, alle medialen,<br />

schrägen und queren Gesichtsspaltformen,<br />

alle Lippen-, Kiefer-, Gaumenspaltformen,<br />

alle Formen von craniomaxillofacialen<br />

Dysosten, die durch<br />

angeborene Fehlbildungen oder Missbildungen<br />

verursacht sind.<br />

Zu b) heißt es im Gemeinsamen<br />

Rundschreiben, dass skelettale Kieferfehlstellungen<br />

auch unabhängig von<br />

angeborenen Missbildungen auftreten.<br />

Schwere Formen dieser Dysgnathien<br />

erfordern chirurgische Korrekturmaßnahmen<br />

in Form von<br />

Kieferosteotomien gemeinsam mit<br />

kieferorthopädischen Behandlungsmaßnahmen<br />

fußend auf einem einheitlichen<br />

kieferchirurgischen und<br />

kieferorthopädischen Therapiekonzept.<br />

Zu diesem skelettalen Dysgnathien<br />

zählen die Progonie, Mikrogenie,<br />

Latarognathie, alle Formen<br />

skelettal bedingter Diskrepanzen der<br />

Zahnbogenbreite oder Kieferbreite.<br />

Zu c) gehören skelettale Fehlstellungen<br />

der Kiefer und der stomatognathen<br />

Systeme, die durch Unfälle<br />

verursacht worden sind und die<br />

zur Behandlung chirurgisch-operative<br />

Korrekturmaßnahmen gemeinsam<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


212<br />

Sozialpolitik<br />

mit kieferorthopädischen Behandlungsmaßnahmen<br />

erforderlich machen.<br />

Die vorstehenden Grundsätze<br />

sind inzwischen in die Richtlinien für<br />

die kieferorthopädische Behandlung<br />

(vgl. dazu die nachfolgenden Ausführungen)<br />

übernommen worden.<br />

Wird ein Behandlungsplan vor dem<br />

18. Lebensjahr aufgestellt, die Behandlung<br />

aber mehrere Jahre danach<br />

nicht begonnen, ist der Anspruch des<br />

inzwischen über 18 Jahre alten Versicherten<br />

ausgeschlossen.<br />

Nach § 275 Abs. 3 SGB V können die<br />

Krankenkassen in geeigneten Fällen<br />

durch den MDK die medizinischen<br />

Voraussetzungen für die Durchführung<br />

der kieferorthopädischen Behandlung<br />

prüfen lassen.<br />

Welche Fälle für eine solche Prüfung<br />

geeignet sind, kann die Krankenkasse<br />

selbst entscheiden (Begründung der<br />

Bundesregierung zu § 29 Abs. 1<br />

SGB V). Sie kann sich auf Einzelfälle<br />

beschränken oder Gruppen von Behandlungsfällen<br />

zur Prüfung vorlegen.<br />

Es wird davon ausgegangen, dass<br />

die Spitzenverbände der Krankenkassen<br />

gemeinsam und einheitlich<br />

Gruppen von Behandlungsfällen<br />

festlegen, die für eine Prüfung in Betracht<br />

kommen. Allerdings soll das<br />

zwischen Krankenkassen und Kassenzahnärzten<br />

vereinbarte Gutachterverfahren<br />

Vorrang vor einer Prüfung<br />

durch den MDK haben. Die<br />

Prüfung soll vor Beginn der Behandlung<br />

erfolgen und kann die Behandlung<br />

begleiten, soweit dies zweckmäßig<br />

ist.<br />

Neben der medizinischen Notwendigkeit<br />

der kieferorthopädischen Behandlung<br />

können auch im Laufe der Behandlung<br />

auftretende Abweichungen<br />

und sonstige Gründe Anlass für die<br />

Einschaltung des MDK sein.<br />

Eine Prüfung der Notwendigkeit<br />

der kieferorthopädischen Behandlung<br />

kann auch bei einem Arztwechsel angezeigt<br />

sein, wenn die unterbrochene<br />

Behandlung von einem anderen kieferorthopädisch<br />

tätigen Zahnarzt oder<br />

Kieferorthopäden nicht zu den im Behandlungsplan<br />

bestimmten, sondern<br />

zu geänderten Bedingungen fortgesetzt<br />

werden soll.<br />

Nach § 29 Abs. 3 SGB V erstattet die<br />

Krankenkasse Versicherten den von<br />

ihnen getragenen Anteil an den Kosten,<br />

wenn die Behandlung in dem<br />

durch den Behandlungsplan bestimmten<br />

medizinisch erforderlichen Umfang<br />

abgeschlossen worden ist.<br />

Nach der Begründung der Bundesregierung<br />

zum Entwurf entfällt die<br />

Rückzahlung an den Versicherten,<br />

wenn die Sozialhilfe oder ein Dritter<br />

die Eigenbeteiligung übernommen<br />

hat. Die Rückzahlung an den Berechtigten<br />

richtet sich nach den allgemeinen<br />

Vorschriften (Erstattungsregelungen).<br />

Es kommt, so heißt es in der Regierungsbegründung<br />

weiter, für die Anwendung<br />

des § 29 Abs. 3 Satz 2 SGB V<br />

nicht darauf an, ob der Versicherte<br />

den Abbruch der kieferorthopädischen<br />

Behandlung verschuldet hat.<br />

Entscheidend ist lediglich, ob die Behandlung<br />

in dem vorgesehenen Um-<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


Sozialpolitik<br />

213<br />

fang abgeschlossen worden ist. Ist dieser<br />

Abschluss objektiv unmöglich<br />

(z. B. durch Tod des behandelnden<br />

Arztes oder des behandelten Versicherten),<br />

erstattet die Krankenkasse<br />

die Reisekosten.<br />

Das BSG hat am 15. Januar 1986 12<br />

festgestellt, dass eine Zahlungspflicht<br />

dann nicht besteht, wenn der Abbruch<br />

der Behandlung vom behandelnden<br />

Zahnarzt zu vertreten ist. Diese Entscheidung<br />

ist zwar zu dem bis zum<br />

31. Dezember 1988 geltenden Recht<br />

ergangen, zweifellos aber auch nach<br />

Inkrafttreten der Neuregelung noch<br />

anwendbar.<br />

In der Begründung der Bundesregierung<br />

zu § 29 SGB V wird ausgeführt,<br />

dass die Krankenkasse vor Behandlungsabschluss<br />

die Restkosten auch<br />

nicht vorschussweise übernehmen<br />

darf.<br />

In Fällen, in denen eine kieferorthopädische<br />

Behandlung aufgrund eines<br />

früheren Behandlungsbeginns abgeschlossen<br />

wird, ist für eine erneute kieferorthopädische<br />

Behandlung nach<br />

§ 29 SGB V der Behandlungsbedarf<br />

anhand der befundbezogenen kieferorthopädischen<br />

Indikationsgruppen<br />

festzustellen.<br />

In den Richtlinien über kieferorthopädische<br />

Behandlung heißt es auch, dass<br />

sich kieferorthopädische Maßnahmen<br />

durchweg auf längere Zeiträume erstrecken<br />

und weitgehend von der verständnisvollen<br />

Mitarbeit der Patienten<br />

(oder der Erziehungsberechtigten) abhängig<br />

sind. Diese sind deswegen vor<br />

Beginn der Behandlung und in deren<br />

Verlauf entsprechend aufzuklären und<br />

zu motivieren.<br />

2.3. Erstattung durch die<br />

Krankenkasse<br />

Die Erstattung des vom Versicherten<br />

getragenen Anteils in Höhe von 20 beziehungsweise<br />

zehn von Hundert erfolgt<br />

von der bei Abschluss der kieferorthopädischen<br />

Behandlung zuständigen<br />

Krankenkasse.<br />

Zuständig ist die Krankenkasse, bei<br />

der der Versicherte zu dem Zeitpunkt<br />

versichert war, an dem die Behandlung<br />

in dem durch den Behandlungsplan<br />

bestimmten medizinisch erforderlichen<br />

Umfang abgeschlossen wurde.<br />

Eine teilweise Rückforderung oder<br />

eine Verweisung zu anteiliger Kostenerstattung<br />

an früher zuständige Krankenkassen<br />

findet nicht statt. Dementsprechend<br />

ist ein teilweiser Ausgleich<br />

des vom Versicherten getragenen Eigenanteils<br />

nicht möglich, wenn der<br />

Versicherte während der laufenden<br />

kieferorthopädischen Behandlung aus<br />

der gesetzlichen Krankenversicherung<br />

ausgeschieden ist (z. B. Wechsel zur<br />

privaten Krankenversicherung).<br />

Als Tag des Abschlusses der Behandlung<br />

gilt der vom Kieferorthopäden<br />

oder Zahnarzt bestätigte Tag, an dem<br />

das im Behandlungsplan medizinisch<br />

bestimmte Ziel erreicht wurde. Leistungspflichtig<br />

ist nach § 2 Abs. 1 des<br />

Übereinkommens über die Abgrenzung<br />

der Leistungspflicht bei Kassenwechsel<br />

vom 14. Februar 1974 die<br />

Krankenkasse, bei der am ersten Tag<br />

des Quartals für das die Zahlung bestimmt<br />

ist, ein Versicherungsverhält-<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


214<br />

Sozialpolitik<br />

nis (Leistungsanspruch) bestand.<br />

Wird die erste Abschlagszahlung in<br />

demselben Quartal fällig, in dem der<br />

kieferorthopädische Behandlungsplan<br />

ausgestellt wurde, so ist abweichend<br />

vom Vorstehenden die Zahlung von<br />

der Krankenkasse zu leisten, bei der<br />

am Tage der Ausstellung des kieferorthopädischen<br />

Behandlungs planes<br />

ein Versicherungsverhältnis vorlag.<br />

Ein Versicherungsverhältnis in diesem<br />

Sinne liegt auch dann vor, wenn ein<br />

sogenannter nachgehender Leistungsanspruch<br />

gegeben ist.<br />

Bestand zu dem maßgebenden Zeitpunkt<br />

kein Versicherungsverhältnis im<br />

vorstehenden Sinne, so ist die Krankenkasse<br />

leistungspflichtig, bei der erstmals<br />

nach diesem Zeitpunkt ein Versicherungsverhältnis<br />

begründet wurde<br />

(§ 2 Abs. 2 des oben erwähnten Übereinkommens).<br />

Die nach den Absätzen 1 oder 2 des<br />

§ 2 des Übereinkommens leistungspflichtige<br />

Krankenkasse hat auch die<br />

Material- und Laboratoriumskosten,<br />

die Kosten für die Aufstellung des kieferorthopädischen<br />

Behandlungsplanes<br />

und sämt liche andere im Rahmen der<br />

kieferorthopädischen Behandlung anfallenden<br />

Kosten zu übernehmen, die<br />

mit der Gesundheitskarte für das betreffende<br />

Quartal abgerechnet werden<br />

(§ 2 Abs. 3 des Übereinkommens).<br />

Werden in einem Quartal Materialund<br />

Laboratoriumskosten oder andere<br />

Kosten für kieferorthopädische Behandlung<br />

abgerechnet, ohne dass eine<br />

Abschlagszahlung zu leisten ist (z. B.<br />

9. Quartal; vgl. dazu die noch folgenden<br />

Ausführungen), so sind diese Kosten<br />

von derjenigen Krankenkasse zu<br />

erbringen, bei der am ersten Tag dieses<br />

Quartals das Versicherungsverhältnis<br />

besteht. Bestand zu diesem Zeitpunkt<br />

kein Versicherungsverhältnis, so ist<br />

die Krankenkasse leistungspflichtig,<br />

bei der erstmals nach diesem Zeitpunkt<br />

ein Versicherungsverhältnis begründet<br />

wurde.<br />

Irrtümlich erbrachte Leistungen werden<br />

durch das Übereinkommen nicht<br />

erfasst. Hier ist aber das Übereinkommen<br />

über die Regelung des Erstattungsanspruchs<br />

bei irrtümlicher Leistungsgewährung<br />

anzuwenden.<br />

In seinem Urteil vom 10. Oktober<br />

1979 13 hat das BSG hervorgehoben,<br />

dass es sich bei der kieferorthopädischen<br />

Behandlung um eine – entsprechend<br />

dem Behandlungsplan<br />

dauernde – einheitliche Maßnahme<br />

handelt. An den Bescheid über die<br />

Leistungen bei kieferorthopädischer<br />

Behandlung ist die Krankenkasse gebunden,<br />

solange sich die Behandlung<br />

im Rahmen des Behandlungsplanes<br />

hält.<br />

3. Festzuschüsse zum Zahnersatz<br />

3.1. Rechtsgrundlagen<br />

Die Rechtsgrundlagen für die Leistung<br />

„Zahnersatz“ finden sich in den<br />

§§ 55-57 SGB V. In § 55 Abs. 1<br />

SGB V wird bestimmt, dass Versicherte<br />

(gilt also auch für Familienversicherte)<br />

Anspruch auf befundbezogene<br />

Festzuschüsse bei einer medizinisch<br />

notwendigen Versorgung mit<br />

Zahnersatz einschließlich Zahnkronen<br />

und Suprakonstruktionen haben.<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


Sozialpolitik<br />

215<br />

Es wird hier von zahnärztlichen und<br />

zahntechnischen Leistungen gesprochen.<br />

Dies gilt in den Fällen, in denen<br />

eine zahnprothetische Versorgung<br />

notwendig ist, und die geplante Versorgung<br />

einer Methode entspricht,<br />

die nach § 135 Abs. 1 SGB V anerkannt<br />

ist.<br />

Nach § 135 Abs. 1 SGB V dürfen<br />

neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden<br />

in der vertragsärztlichen<br />

und vertragszahnärztlichen Versorgung<br />

zulasten der Krankenkassen<br />

nur erbracht werden, wenn der G-BA<br />

in Richtlinien bestimmte Empfehlungen<br />

abgegeben hat.<br />

Anspruch besteht für die Fälle, in denen<br />

eine zahnprothetische Versorgung<br />

notwendig ist und die geplante<br />

Versorgung einer Methode entspricht,<br />

die durch den G-BA anerkannt<br />

wird.<br />

§ 56 Abs. 1 SGB V sieht ausdrücklich<br />

vor, dass der G-BA in Richtlinien die<br />

Befunde bestimmt, für die Festzuschüsse<br />

gewährt werden, und diesen<br />

prothetische Regelversorgungen zuzuordnen<br />

hat. Aufgrund dieser Vorschrift<br />

hat der G-BA die Festzuschuss-<br />

Richtlinien beschlossen. In einer Tabelle<br />

enthalten die Richtlinien die<br />

Befunde sowie die Regelversorgung<br />

(zahnärztliche und zahntechnische<br />

Leistungen).<br />

In der Präambel zu den Richtlinien<br />

heißt es, dass sich die dem jeweiligen<br />

Befund zugeordnete zahnprothetische<br />

Versorgung an den zahnmedizinisch<br />

notwendigen zahnärztlichen<br />

und zahntechnischen Leistungen orientiert,<br />

die zu einer ausreichenden<br />

zweckmäßigen und wirtschaftlichen<br />

Versorgung mit Zahnersatz einschließlich<br />

Zahnkronen und Suprakonstruktionen<br />

nach dem allgemein<br />

anerkannten Stand der medizinischen<br />

Erkenntnisse für den jeweiligen Befund<br />

gehören.<br />

Bei der Zuordnung der Regelversorgung<br />

sind auch die Funktionsdauer,<br />

die Stabilität und die Gegenbezahnung<br />

berücksichtigt worden.<br />

Dem Verband Deutscher Zahntechniker-Innungen<br />

wurde Gelegenheit zur<br />

Stellungnahme gegeben. Die Stellungnahme<br />

ist in die Entscheidung des<br />

G-BA einbezogen worden.<br />

Aus den Richtlinien des G-BA ergibt<br />

sich auch, dass die Festzuschüsse zu<br />

den Befunden erst dann gewährt werden,<br />

wenn die auslösenden Befunde<br />

mit Zahnersatz, Zahnkronen oder<br />

Spezialkonstruktionen versorgt sind.<br />

Bei Teilleistungen werden die Zuschüsse<br />

anteilig erbracht.<br />

Als Regelversorgung ist festsitzender<br />

Zahnersatz grundsätzlich indiziert,<br />

wenn eine natürliche Gegenbezahnung<br />

vorhanden ist. Funktionstüchtiger<br />

festsitzender Zahnersatz oder zeitgleich<br />

einzugliedernder festsitzender<br />

Zahnersatz wird der natürlichen Gegenbezahnung<br />

gleichgestellt.<br />

Bei Vorliegen einer herausnehmbaren<br />

Versorgung im Gegenkiefer (Modellgussklammerprothese,<br />

Totalprothese)<br />

ist festsitzender Zahnersatz grundsätzlich<br />

indiziert und zwar bei der Versorgung<br />

einer Lücke mit einem fehlenden<br />

Zahn je Seitenzahngebiet oder bis zu<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


216<br />

Sozialpolitik<br />

vier fehlenden Zähnen im Frontzahngebiet.<br />

Wichtig: Manche Zahnärzte lehnen<br />

bestimmte Leistungen für Kassenpatienten<br />

ab und erklären (wahrheitswidrig),<br />

eine solche Behandlung könne<br />

nur privat abgerechnet werden. Hier<br />

sollte im Zweifelsfall unbedingt bei<br />

der zuständigen Krankenkasse nachfragt<br />

werden, um unnötige Zuzahlungen<br />

für Leistungen zu vermeiden, die<br />

von der Krankenkasse problemlos<br />

übernommen werden. Manchmal hilft<br />

allerdings nur ein Arztwechsel.<br />

Anspruch auf Zahnersatz hat grundsätzlich<br />

jeder Versicherte einer gesetzlichen<br />

Krankenkasse.<br />

Achtung: Für bestimmte Personengruppen<br />

wird eine Wartezeit gefordert<br />

(vgl. dazu die obigen Ausführungen).<br />

4.2. Höhe des Zuschusses<br />

zum Zahnersatz<br />

Die Festzuschüsse betragen 50 Prozent<br />

der festgesetzten Beträge für die<br />

jeweilige Regelversorgung und erhöhen<br />

sich für eigene Bemühungen zur<br />

Gesunderhaltung der Zähne um 20<br />

Prozentpunkte auf 70 Prozent.<br />

Die Erhöhung entfällt, wenn<br />

£ der Gebisszustand des Versicherten<br />

regelmäßige Zahnpflege nicht erkennen<br />

lässt und<br />

£ der Versicherte während der letzten<br />

fünf Jahre vor Behandlungsbeginn<br />

die Vorsorgeuntersuchungen nicht<br />

in jedem Kalenderjahr in Anspruch<br />

genommen hat beziehungsweise sich<br />

nach Vollendung des 18. Lebensjahres<br />

nicht wenigstens einmal in jedem<br />

Kalenderjahr hat zahnärztlich untersuchen<br />

lassen.<br />

Die Festzuschüsse erhöhen sich um<br />

weitere zehn Prozent, wenn der Versicherte<br />

seine Zähne regelmäßig gepflegt<br />

und in den letzten zehn Kalenderjahren<br />

vor Behandlungsbeginn die vorstehend<br />

geschilderten Untersuchungen<br />

ohne Unterbrechung in Anspruch genommen<br />

hat.<br />

Wichtig: Versicherte sollten sich alle<br />

Untersuchungen vom Zahnarzt in<br />

ihrem Bonusheft bescheinigen lassen.<br />

Dieses Heft ist beim Zahnarzt kostenlos<br />

erhältlich. Mit diesem Eintrag gilt<br />

auch die regelmäßige Gebisspflege als<br />

nachgewiesen.<br />

Wählen Versicherte einen über die Regelversorgung<br />

hinausgehenden gleichartigen<br />

Zahnersatz, haben sie die<br />

Mehrkosten selbst zu tragen.<br />

Wichtig: Viele private Krankenversicherungsunternehmen<br />

bieten Ergänzungstarife<br />

an, um Lücken im Schutz<br />

der gesetzlichen Krankenversicherung<br />

zu schließen.<br />

Viele Tarife gewährleisten nicht den<br />

vollen Ersatz aller anfallenden Kosten.<br />

Versicherte sollten sich deshalb vor einem<br />

Abschluss unbedingt erkundigen,<br />

ob der Privatversicherer die nicht vom<br />

Krankenkassenzuschuss gedeckten<br />

Kosten ganz oder nur teilweise übernimmt.<br />

Vor Durchführung aller zahntechnischen<br />

Leistungen einschließlich Zahnersatz<br />

muss der Zahnarzt einen die<br />

gesamte Behandlung umfassenden<br />

Heil- und Kostenplan zur Vorlage bei<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


Sozialpolitik<br />

217<br />

der Krankenkasse ausstellen. Hierfür<br />

darf er keine Gebühren verlangen.<br />

Ebenso dürfen keine Pauschalen, etwa<br />

für Materialkosten, die beim Zahnarzt<br />

anfallen, in Rechnung gestellt werden.<br />

Diese Leistungen sind im Rahmen der<br />

vertragszahnärztlichen Versorgung für<br />

die Versicherten unentgeltlich zu erbringen.<br />

Nach § 55 Abs. 3 SGB V hat die Krankenkasse<br />

bei unzumutbarer Belastung<br />

einen Betrag zu den Festzuschüssen in<br />

gleicher Höhe allerdings höchstens in<br />

Höhe der entstandenen Kosten vorzunehmen.<br />

Um eine unzumutbare Belastung in<br />

diesem Sinne handelt es sich, wenn<br />

£ die monatlichen Bruttoeinnahmen<br />

zum Lebensunterhalt des Versicherten<br />

40 Prozent der monatlichen Bezugsgröße<br />

nicht übersteigen (<strong>2017</strong>:<br />

1190 Euro – gilt im gesamten Bundesgebiet),<br />

£ der Versicherte bestimmte Leistungen<br />

der Sozialhilfe, der Kriegsopferfürsorge,<br />

der Ausbildungsförderung<br />

oder der Bundesagentur für Arbeit<br />

erhält (§ 55 Abs. 2 Nr. 2 SGB V),<br />

£ die Kosten der Unterbringung in einem<br />

Heim oder einer ähnlichen<br />

Einrichtung von einem Träger der<br />

Sozialhilfe oder Kriegsopferfürsorge<br />

getragen werden (§ 55 Abs. 2 Nr. 3<br />

SGB V).<br />

In Zusammenhang mit der obigen<br />

Einkommensgrenze ist zu beachten,<br />

dass diese sich erhöht: für den ersten,<br />

im gemeinsamen Haushalt lebenden<br />

Angehörigen um 15 Prozent der monatlichen<br />

Bezugsgröße (<strong>2017</strong>: 446,25<br />

Euro) und für jeden weiteren solchen<br />

Angehörigen um zehn Prozent der<br />

monatlichen Bezugsgröße (<strong>2017</strong>:<br />

297,50 Euro).<br />

Nach dem Urteil des BSG vom 7. Mai<br />

2013 14 sind die Regelungen über die<br />

Ausgestaltung des Leistungsrechts für<br />

Zahnersatz und die Höhe des Festzuschusses<br />

mit höherrangigem Recht<br />

vereinbar 15 .<br />

Einnahmen zum Lebensunterhalt sind<br />

auch Einnahmen anderer im gemeinsamen<br />

Haushalt lebender Angehöriger.<br />

In Zusammenhang mit dem Anspruch<br />

auf Zahnersatz gehören zu den<br />

monatlichen Bruttoeinnahmen zum<br />

Lebensunterhalt auch die von den<br />

Kindern der Versicherten gezahlten<br />

Beträge zum Ausgleich ungedeckter<br />

Heimkosten 16 .<br />

Zu den Einnahmen zum Lebensunterhalt<br />

zählen allerdings Grundrenten<br />

nicht, die nach dem Bundesversorgungsgesetz<br />

(BVG) oder in entsprechender<br />

Anwendung des BVG sowie<br />

Renten und Beihilfen nach dem Bundesentschädigungsgesetz<br />

(BEG) bis<br />

zur Höhe der vergleichbaren Grundrente<br />

nach dem BVG gewährt werden<br />

(§ 55 Abs. 2 Satz 4 BVG).<br />

Wählen Versicherte einen über die Regelversorgung<br />

hinausgehenden gleichartigen<br />

Zahnersatz, haben sie die<br />

Mehrkosten gegenüber den vorgesehenen<br />

Leistungen selbst zu tragen (§ 55<br />

Abs. 4 SGB V).<br />

Die Krankenkassen haben nach § 55<br />

Abs. 7 SGB V die bewilligten Festzuschüsse<br />

auch in den Fällen zu erstat-<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


218<br />

Sozialpolitik<br />

Tabelle: Beispiel zur Ermittlung der Belastungsgrenze<br />

Berechnungsfähige Zahnersatzkosten 2000,00 €<br />

Anteil der Krankenkasse (50 %)<br />

Versichertenanteil (50 %)<br />

ten, in denen eine von der Regelversorgung<br />

abweichende, andersartige<br />

Versorgung durchgeführt wird.<br />

4.3. Überforderungsklausel<br />

Nach § 55 Abs. 3 SGB V haben Versicherte<br />

Anspruch auf eine weitere<br />

Kostenübernahme durch die gesetzliche<br />

Krankenkasse. Es geht hier um die<br />

sogenannte Überforderungsklausel.<br />

Die Krankenkasse hat bei der Versorgung<br />

mit Zahnersatz den von den<br />

1000,00 €<br />

1000,00 €<br />

Berechnung des Eigenanteils:<br />

Monatliche Einnahmen zum Lebensunterhalt Brutto<br />

(Ehemann: 2000 €, Ehefrau: 450 €) 2450,00 €<br />

abzüglich Einnahmegrenze § 55 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1, Satz 5 SGB V<br />

Im Jahr <strong>2017</strong><br />

./. 2331,25 €<br />

Unterschiedsbetrag = 218,75 €<br />

Zumutbarer Eigenanteil des Versicherten<br />

= 656,25 €<br />

(Unterschiedsbetrag x 3)<br />

Berechnung der von der Krankenkasse zu tragenden Kosten<br />

aufgrund der besonderen Härtefallregelung:<br />

Vom Versicherten zunächst zu tragender Anteil zu den Kosten für<br />

den Zahnersatz, siehe oben 1000,00 €<br />

abzüglich zumutbarer Eigenanteil des Versicherten ./. 656,25 €<br />

von der Krankenkasse zu übernehmender Restbetrag im Rahmen<br />

der Härtefallregelung nach § 55 Abs. 3 SGB V = 343,75 €<br />

Endgültiger Versichertenanteil = 656,25 €<br />

Endgültiger Kassenanteil = 1343,75 €<br />

Zahnersatz für das Mitglied, verheiratet, zwei Kinder.<br />

Quelle: Horst Marburger<br />

Versicherten zu tragenden Kostenanteil<br />

zu übernehmen, soweit der<br />

Anteil das Dreifache der Differenz<br />

zwischen den monatlichen Bruttoeinnahmen<br />

zum Lebensunterhalt<br />

und der zur Gewährung eines zweifachen<br />

Festzuschusses maßgebenden<br />

Einnahmegrenze übersteigt. Höchstens<br />

wird ein Betrag in Höhe der<br />

zweifachen Festzuschüsse, begrenzt<br />

auf die tatsächlichen Kosten, gewährt.<br />

¦<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


Sozialpolitik<br />

219<br />

Anmerkungen:<br />

1<br />

Ergebnis der Besprechung der Spitzenverbände<br />

der Krankenkassen vom<br />

22./23. Januar 2003 (Die Leistungen<br />

2003, S. 340).<br />

2<br />

B 1 KR 37/02 R (Die Leistungen<br />

2004 – Beil. – S. 265).<br />

3<br />

Vgl. BSG, Urteil vom 7. Mai 2013 (B<br />

1 KR 19/ 12 R; Die Leistungen 2013<br />

– Beil. – S. 207).<br />

4<br />

B 1 KR 6/13 R (Die Leistungen 2014<br />

– Beil. – S. 258).<br />

5<br />

Die Leistungen 1990, S. 362.<br />

6<br />

Vgl. dazu auch das Ergebnis der Besprechung<br />

der Spitzenverbände der<br />

Krankenkassen vom 22. Januar 1999<br />

(Die Leistungen 1999, S. 275).<br />

7<br />

B 1 KR 17/10 R (Die Leistungen<br />

2013 – Beil. – S. 333).<br />

8<br />

Die Leistungen 2001, S. 297.<br />

9<br />

Ergebnis der Besprechung der Spitzenverbände<br />

der Krankenkassen vom<br />

11./12. Mai 2000 (Die Leistungen<br />

2000 – Beil. – S. 555).<br />

10<br />

1 RK 11/96 (Die Leistungen 2000 –<br />

Beil. – S. 123).<br />

11<br />

BSG, Urteil vom 25. Februar 2003<br />

(B 1 KR 171/02; Die Leistungen<br />

2003 – Beil.- S. 135).<br />

12<br />

3 RK 61/84 (Die Leistungen 1985,<br />

S. 121).<br />

13<br />

3 RK 3/78 (Die Leistungen 1980,<br />

S. 19).<br />

14<br />

BSG, Urteil vom 7. Mai 2013 (B 1<br />

KR 5/12 R; Die Leistungen 2013 –<br />

Beil. – S. 206).<br />

15<br />

Vgl. dazu auch BSG, Urteil vom<br />

2. September 2014 (B 1 KR 12/13 R,<br />

Die Leistungen 2014 – Beil. –<br />

S. 366).<br />

16<br />

BSG, Urteil vom 8. September 2015<br />

(B 1 KR 22/14 R; Die Leistungen<br />

2015, S. 409).<br />

IGeL-Monitor<br />

Leistungen über wiegend<br />

negativ bewertet<br />

Zu einem nicht gerade erfreulichen<br />

Ergebnis ist der IGeL-Monitor des<br />

Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes<br />

der gesetzlichen Krankenversicherung<br />

(MDS) gekommen: Individuelle<br />

Gesundheitsleistungen, abgekürzt<br />

IGeL, schaden den Patienten<br />

in aller Regel mehr als sie nutzen.<br />

Dabei wurden seit Gründung des<br />

Monitors vor fünf Jahren insgesamt<br />

45 unterschiedliche Angebote gesichtet<br />

und fachlich bewertet.<br />

Nur drei Offerten hat der IGeL-<br />

Monitor als „tendenziell positiv“ bewertet,<br />

nämlich Akupunktur zur Migränevorbeugung,<br />

Lichttherapien zur<br />

Behandlung von saisonal auftretenden<br />

depressiven Störungen und Stoßwellentherapie<br />

gegen Fersenschmerzen.<br />

Ein eindeutiges „Gut“ ohne Einschränkung<br />

erhielt keine einzige individuelle<br />

Gesundheitsleistung. Eindeutig<br />

negativ beurteilt wurden<br />

Darmspülungen zur Reinigung des<br />

Verdauungstrakts, die Durchblutung<br />

fördernde Infusionen nach einem<br />

Hörsturz sowie Ultraschall-Untersuchungen<br />

der Eierstöcke zur Krebsfrüherkennung.<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


220<br />

Sozialpolitik<br />

Neben diesen schädlichen Angeboten<br />

nennt der IGeL-Monitor 17 weitere<br />

Behandlungsangebote mit „tendenziell<br />

negativer“ Wirkung. Dazu zählen<br />

Augenspiegelungen und Augeninnendruck-Messungen,<br />

Blutegeltherapien<br />

bei Kniearthrose und MRT-Untersuchungen<br />

zur Alzheimer-Früherkennung,<br />

Stoßwellenanwendungen gegen<br />

Sehnenreizungen („Tennisarm“) und<br />

die Sauerstoff-Therapie nach einem<br />

Hörsturz. 15-mal lautete das Urteil<br />

zur Nutzen-Schaden-Bilanz „unklar“.<br />

Auch die beiden jüngsten Bewertungen<br />

wurden mit „tendenziell negativ“<br />

beurteilt, und zwar der Lungenfunktionstest<br />

(Spirometrie) zur Früherkennung<br />

von Asthma und chronisch obstruktiver<br />

Bronchitis und für das Elektrokardiogramm<br />

zur Früherkennung<br />

einer koronaren Herzkrankheit, jeweils<br />

bei Patienten ohne Symptome.<br />

Die Wissenschaftler konnten keine<br />

Hinweise auf einen Nutzen dieser<br />

Technik ausmachen. Hingegen seien<br />

Schäden durch Übertherapie oder falsche<br />

Befunde möglich.<br />

Jahresumsatz 1,3 Milliarden<br />

Umfragen zufolge bieten 52 Prozent<br />

der niedergelassenen Arztpraxen IGe-<br />

Leistungen an. Der damit erzielte Jahresumsatz<br />

liegt bei rund 1,3 Milliarden<br />

Euro – ein teures Vergnügen für<br />

Patienten, die diese Leistungen aus eigener<br />

Tasche bezahlen müssen, weil<br />

sie von den gesetzlichen Krankenkassen<br />

nicht übernommen werden. Bei<br />

diesem Angebot handelt es sich um<br />

eine privatärztliche Leistung, die über<br />

das Maß einer medizinisch notwendigen<br />

ärztlichen Versorgung im Sinne<br />

des Sozialgesetzbuches V hinausgeht.<br />

Letztlich entscheidet der Gemeinsame<br />

Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen<br />

darüber, welche medizinischen<br />

Verfahren die gesetzlichen<br />

Krankenkassen bezahlen und was vom<br />

einzelnen Patienten als privatärztliche<br />

Leistung zu begleichen ist.<br />

Die Resonanz der Ärzteschaft auf den<br />

IGeL-Monitor ist gespalten. „Es gibt<br />

sehr unterschiedliche Reaktionen aus<br />

der Ärzteschaft. Wir sehen allerdings<br />

eine positive Entwicklung bei den Ärzten“,<br />

sagte MDS-Geschäftsführer Dr.<br />

Peter Pick. Zwar sei die Dynamik des<br />

Marktes weiterhin vorhanden. Aber<br />

Leistungen, die der Monitor negativ<br />

oder tendenziell negativ bewertet hat,<br />

werden eher weniger angeboten. Nach<br />

Picks Worten werden die Bewertungen<br />

des Monitors wahrgenommen<br />

und beeinflussen die Ärzte.<br />

Rund 2000 Nutzer pro Tag verzeichnet<br />

das Bewertungsportal im Durchschnitt<br />

(www.igel-monitor.de) Um<br />

Patienten noch besser bei der Entscheidung<br />

zu helfen, ob ein Angebot<br />

sinnvoll ist oder nicht, wurde die<br />

Homepage des IGeL-Monitors neu<br />

gestaltet. Die Bewertungen des Monitors<br />

recherchiert übrigens ein Team<br />

aus Medizinern und Methodikern des<br />

MDS. <br />

dl<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


Sozialpolitik<br />

221<br />

Zusatzbeiträge<br />

dürften <strong>2017</strong><br />

nicht steigen<br />

2016 erzielten Kassen Überschuss<br />

von 1,38 Milliarden<br />

Dieter Leopold<br />

Nach den vom Bundesgesundheitsministerium<br />

vorgelegten Finanzergebnissen<br />

für das Jahr 2016 haben die gesetzlichen<br />

Krankenkassen einen Überschuss<br />

von 1,38 Milliarden Euro erzielt. Damit<br />

stiegen ihre Finanzreserven auf mehr als<br />

15,9 Milliarden Euro. Hinzu kommt<br />

ein finanzielles Polster im Gesundheitsfonds<br />

von 9,1 Milliarden Euro. Damit<br />

betrug die Gesamtreserve der gesetzlichen<br />

Krankenversicherung (GKV) zum<br />

Jahreswechsel 2016/17 zusammen rund<br />

25 Milliarden Euro. 2015 war noch ein<br />

Defizit von 1,13 Milliarden Euro aufgelaufen.<br />

Damit sinkt die Wahrscheinlichkeit,<br />

dass die Krankenkassen ihre<br />

Zusatzbeiträge im kommenden Jahr auf<br />

breiter Front erhöhen.<br />

Bundesgesundheitsminister Hermann<br />

Gröhe kommentierte die aktuelle Situation<br />

mit den Worten: „Die gesetzliche<br />

Krankenversicherung steht mit<br />

Reserven von 25 Milliarden Euro weiterhin<br />

auf einer guten Grundlage. Dies<br />

zeigt, dass sich die Panikmache, mit<br />

der Versicherte verunsichert wurden,<br />

als falsch erwiesen hat. Wir haben die<br />

notwendigen Verbesserungen, etwa im<br />

Bereich der Prävention, der Hospizund<br />

Palliativversorgung oder der Stärkung<br />

von Stationspflege und Hygiene<br />

im Krankenhaus, mit Augenmaß und<br />

stets mit Blick auf ihre langfristige Finanzierbarkeit<br />

auf den Weg gebracht.“<br />

Einnahmen in Höhe von 224,15 Milliarden<br />

Euro standen <strong>Ausgabe</strong>n von<br />

222,77 Milliarden Euro gegenüber. Die<br />

Finanzlage der Krankenkassen insgesamt<br />

hat sich im Vergleich zu 2015 um<br />

rund 2,5 Milliarden Euro verbessert.<br />

Auf insgesamt 3,82 Milliarden Euro beliefen<br />

sich die Zuzahlungen der Versicherten.<br />

Der Steuerzuschuss des Bundes<br />

für versicherungsfremde Leistungen belief<br />

sich auf 13,86 Milliarden Euro.<br />

Bis auf die Innungskrankenkassen, die<br />

ein Minus von 33 Millionen Euro in<br />

ihrer Bilanz hatten, verzeichneten alle<br />

Krankenkassenarten im vergangenen<br />

Jahr ein positives Finanzergebnis,<br />

wenngleich die finanzielle Situation<br />

der einzelnen Krankenkassen unterschiedlich<br />

ist.<br />

Einen Überschuss von 935 Millionen<br />

Euro erzielten beispielsweise die Ortskrankenkassen,<br />

während es bei den<br />

Ersatzkassen 325 Millionen Euro waren.<br />

Die Betriebskrankenkassen melden<br />

einen Einnahmeüberschuss von<br />

29 Millionen Euro, und die Knappschaft<br />

beziffert ihren Überschuss auf<br />

100 Millionen Euro. Die Landwirtschaftliche<br />

Krankenkasse, die am Gesundheitsfonds<br />

nicht teilnimmt, hatte<br />

mit 31 Millionen Euro ebenfalls ein<br />

positives Ergebnis.<br />

Von Arzneimittelausgaben<br />

bis Nettoverwaltungskosten<br />

Je Versichertem verzeichneten die gesetzlichen<br />

Krankenkassen 2016 einen<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


222<br />

Sozialpolitik<br />

<strong>Ausgabe</strong>nzuwachs von 3,3 Prozent.<br />

Nach Zuwächsen von 9,4 Prozent je<br />

Versichertem im Jahr 2014 und von 4,0<br />

Prozent in 2015 sind die Arzneimittelausgaben<br />

der gesetzlichen Krankenkassen<br />

im vergangenen Jahr je Versichertem<br />

um moderate 3,1 Prozent gestiegen.<br />

Dies entspricht einem absoluten<br />

Zuwachs von 1,4 Milliarden Euro.<br />

Durch Rabattvereinbarungen mit den<br />

pharmazeutischen Unternehmen konnten<br />

die Krankenkassen deutlich entlastet<br />

werden. Dabei stiegen die Rabatterlöse<br />

im vergangenen Jahr um 7,8 Prozent<br />

auf rund 3,85 Milliarden Euro.<br />

Im Bereich der vertragsärztlichen Vergütung<br />

gab es einen Anstieg je Versichertem<br />

um 3,4 Prozent. Die <strong>Ausgabe</strong>n<br />

für ambulante psychotherapeutische<br />

Versorgung erhöhten sich um<br />

223 Millionen Euro, die <strong>Ausgabe</strong>n für<br />

Hochschulambulanzen um 75 Millionen<br />

Euro. Bei den <strong>Ausgabe</strong>n für zahnärztliche<br />

Behandlung betrug der Anstieg<br />

3,0 Prozent je Versichertem.<br />

Beim Zahnersatz gab es dagegen einen<br />

Rückgang um 1,3 Prozent.<br />

Die <strong>Ausgabe</strong>n für Krankenhausbehandlung<br />

gingen um 2,8 Prozent nach<br />

oben. Insgesamt erhielten die Krankenhäuser<br />

von den gesetzlichen Krankenkassen<br />

2016 rund 2,66 Milliarden<br />

Euro höhere Finanzmittel als im Jahr<br />

zuvor. Beim Krankengeld hat sich der<br />

Anstieg mit einem Plus von 2,9 Prozent<br />

weiter abgeflacht und war der<br />

niedrigste seit 2006.<br />

Bei den <strong>Ausgabe</strong>n für Präventionsleistungen<br />

haben die Krankenkassen ihre<br />

Aufwendungen im vergangenen Jahr<br />

von 177 auf 485 Millionen Euro fast<br />

verdreifacht. Dabei erreichten die<br />

<strong>Ausgabe</strong>n für Leistungen zur primären<br />

Prävention 217 Millionen Euro, für<br />

betriebliche Gesundheitsförderung<br />

143 Millionen Euro und für Prävention<br />

in nichtbetrieblichen Lebenswelten<br />

(z. B. Kita, Kindergärten, Schulen)<br />

125 Millionen Euro. Diese erfreuliche<br />

Entwicklung ist nicht zuletzt auf das<br />

neue Präventionsgesetz zurückzuführen.<br />

Mit ihm wurden die Krankenkassen<br />

verpflichtet, ihr bisheriges Engagement<br />

deutlich aufzubessern. Auch für<br />

die Förderung von Selbsthilfegruppen<br />

stiegen die <strong>Ausgabe</strong>n von rund 45 auf<br />

71 Millionen Euro. Für die Förderung<br />

der Hospize wurden rund 45 Millionen<br />

Euro, für die spezialisierte ambulante<br />

Palliativversorgung 73 Millionen<br />

Euro mehr ausgegeben als 2015.<br />

Die Nettoverwaltungskosten der<br />

Krankenkassen sind mit 4,5 Prozent je<br />

Versichertem nach insgesamt niedrigen<br />

Veränderungen in den Vorjahren<br />

stärker gestiegen als die Leistungsausgaben.<br />

Der überproportionale Zuwachs<br />

ist darauf zurückzuführen, dass<br />

eine Reihe größerer Krankenkassen<br />

bei einer positiven Finanzentwicklung<br />

vor allem im vierten Quartal vor dem<br />

Hintergrund des niedrigen Zinsniveaus<br />

deutlich stärkere Zuführungen<br />

zu den Rückstellungen für die künftige<br />

Altersversorgung ihrer Beschäftigten<br />

vorgenommen hat als ein Jahr zuvor.<br />

2015 hatte das Gesamtvolumen<br />

der Zuführungen zu diesen Rückstellungen<br />

rund 420 Millionen Euro betragen;<br />

2016 waren es rund 797 Millionen<br />

Euro. Ohne diese Zuführungen<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


Sozialpolitik<br />

223<br />

<strong>Ausgabe</strong>nart<br />

in Mrd.<br />

Euro<br />

Ärztliche Behandlung 3,4 40,72<br />

Zahnärztliche<br />

Behandlung 3,0 10,61<br />

Zahnersatz 1,3 3,26<br />

Arzneimittel 3,1 38,46<br />

Hilfsmittel 2,1 8,27<br />

je Versichertem<br />

Heilmittel 5,4 6,80<br />

Krankenhausbehandlung<br />

2,8 73,70<br />

Krankengeld 2,9 11,67<br />

Fahrkosten 4,8 5,26<br />

Vorsorge/<br />

Rehabilitation 3,1 3,44<br />

Schwangerschaft/<br />

Mutterschaft 4,7 1,33<br />

Häusliche<br />

Krankenpflege 7,9 5,77<br />

Leistungsausgaben 3,2 210,50<br />

insgesamt<br />

Nettoverwaltungskosten<br />

4,5 10,92<br />

Quelle: Dieter Leopold<br />

läge der Anstieg der Nettoverwaltungskosten<br />

deutlich unterhalb des Anstiegs<br />

der Leistungsausgaben. Gleichwohl<br />

sieht der Bundesgesundheitsminister<br />

die Krankenkassen im Bereich der Verwaltungskosten<br />

gefordert, sparsam mit<br />

den Beitragsmitteln der Versicherten<br />

und der Arbeitgeber umzugehen.<br />

Ergebnisse in Prozent<br />

und in absoluten Zahlen<br />

In den wichtigsten Leistungsbereichen<br />

der GKV gab es 2016 im Vergleich<br />

zum Vorjahreszeitraum Veränderungsraten<br />

(je Versichertem im vom Hundert)<br />

und daneben die absoluten Zahlen<br />

in Milliarden Euro, die jeweils in<br />

der Tabelle dargestellt sind. ¦<br />

Ärztekammer<br />

2245 Behandlungsfehler<br />

2016 nachgewiesen<br />

Die Zahl der ärztlichen Behandlungsfehler<br />

in Deutschland hat sich nach Angaben<br />

der Bundesärztekammer (BÄK)<br />

in den vergangenen Jahren kaum verändert.<br />

2016 trafen die Gutachterkommissionen<br />

und Schlichtungsstellen der<br />

Ärzteschaft bundesweit 7639 Entscheidungen<br />

zu Beschwerden von Patienten<br />

über Behandlungsfehler, gut 400 mehr<br />

als im Vorjahr. In 2245 Fällen (2015:<br />

2132; 2014: 2252) habe tatsächlich ein<br />

Behandlungsfehler oder eine mangelnde<br />

Risikoaufklärung vorgelegen. Dies<br />

geht aus der jährlichen statistischen Erhebung<br />

der BÄK hervor, die in Berlin<br />

vorgestellt wurde.<br />

In 1845 Fällen habe die Behandlung<br />

einen gesundheitlichen Schaden verursacht,<br />

der dann zu einem Anspruch des<br />

Patienten auf Entschädigung führte. In<br />

96 Fällen starb der Patient an dem Fehler.<br />

In 400 Fällen konnte kein Zusammenhang<br />

zwischen Behandlungsfehler<br />

und einer nachfolgenden Gesundheitsschädigung<br />

festgestellt werden.<br />

Allerdings werden nur Fälle in die Statistik<br />

aufgenommen, wenn eine Beschwerde<br />

von Patienten vorliegt. Ärzte,<br />

Pfleger oder andere Mitarbeiter eines<br />

Krankenhauses oder einer <strong>Praxis</strong><br />

sind nicht verpflichtet, Fehler zu mel-<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


224<br />

Sozialpolitik<br />

den, wenn ihnen welche auffallen. Zudem<br />

werden mögliche Behandlungsfehler,<br />

die wegen mangelnder Hygiene<br />

zu Infektionen führten, hier nicht berücksichtigt.<br />

An der Spitze der Beschwerden, bei<br />

denen der Antrag 2016 zur Entscheidung<br />

kam, lagen Arthrosen und Knochenbrüche:<br />

Knie- und Hüftarthrose-<br />

Behandlungen mit 577 Fällen gefolgt<br />

von Unterschenkel- und Sprunggelenkfrakturen<br />

(171 Beschwerden),<br />

Unterarmbrüchen (162) sowie Schulter<br />

und Oberarmfrakturen (154). Die<br />

Ärztekammer verwies auf die ständig<br />

steigende Zahl an Behandlungen. Im<br />

ambulanten Bereich habe sie demnach<br />

zwischen 2004 und 2015 um 160 Millionen<br />

auf mittlerweile 696 Millionen<br />

zugenommen. <br />

dpa<br />

1,8 Millionen Mitglieder<br />

Sozialverband VdK<br />

wächst weiter<br />

Rekord beim Sozialverband VdK:<br />

Dank des anhaltenden Wachstums<br />

zählt der Verband jetzt über 1,8 Millionen<br />

Mitglieder – so viel wie nie zuvor<br />

in seiner rund 70-jährigen Geschichte.<br />

Der Sozialverband VdK hat großes<br />

Potenzial. Denn immer mehr Menschen<br />

sehen ihre sozialpolitischen und<br />

sozialrechtlichen Interessen in<br />

Deutschland am besten durch diesen<br />

traditionsreichen wie modernen Verband<br />

vertreten. Nun konnte die Marke<br />

von 1,8 Millionen Mitgliedern übersprungen<br />

werden.<br />

„Der VdK wächst in allen Landesverbänden<br />

und kann sich auch in den östlichen<br />

Bundesländern immer mehr<br />

etablieren“, berichtet VdK-Bundesgeschäftsführer<br />

Jens Kaffenberger. Das<br />

anhaltende Mitgliederwachstum sei<br />

ein großes Kompliment für die zahlreichen<br />

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />

in Ehren- und Hauptamt, die<br />

den VdK „hervorragend repräsentieren“.<br />

Man nehme den großen Zuspruch<br />

als Ansporn, „immer noch besser<br />

zu werden“, erklärt Kaffenberger.<br />

VdK-Präsidentin Ulrike Mascher<br />

spricht den VdK-Mitgliedern und VdK-<br />

Mitarbeitern ihren Dank aus: „Ohne<br />

Ihr Engagement wären wir nie zu<br />

Deutschlands erfolgreichstem Sozialverband<br />

geworden“, betont sie. „Ich freue<br />

mich sehr über das Vertrauen, das wir in<br />

der Bevölkerung genießen. Die Menschen<br />

wissen, dass sie mit dem großen<br />

VdK einen starken Verbündeten für Solidarität<br />

und soziale Gerechtigkeit haben,<br />

der aktiv auf die Sozialpolitik Einfluss<br />

nimmt. Der VdK wird als soziale<br />

Schutzmacht wahrgenommen. Und offenbar<br />

ist er so notwendig wie nie, wenn<br />

so viele Menschen unsere Unterstützung<br />

benötigen“, so Mascher. bsc<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


Sozialpolitik<br />

225<br />

Rentenreformen<br />

aus Sicht des VdK<br />

notwendig<br />

Sozialpolitisches Forum des<br />

Sozialverbands VdK Bayern<br />

Von Ulrike Mascher<br />

Mit dem Thema der Zukunft der Rente<br />

und der gesamten Altersversorgung<br />

haben wir auch <strong>2017</strong> wieder, wie ich<br />

meine, ein brandaktuelles Forumsthema<br />

gewählt. Die Sorge, im Alter<br />

nicht genügend Geld zu haben, beschäftigt<br />

die gesamte Gesellschaft.<br />

Lassen Sie mich dazu nur einige<br />

Meinungsumfragen der vergangenen<br />

Monate zitieren.<br />

So hat im <strong>April</strong> 2016 eine Umfrage<br />

von Infratest dimap für das ARD-<br />

Morgenmagazin ergeben, dass sich die<br />

Mehrheit der Deutschen, die noch<br />

keine Rente oder Pension beziehen,<br />

nämlich 57 Prozent, für die eigene<br />

Rentenzeit nicht ausreichend abgesichert<br />

fühlen. Und je jünger, desto größer<br />

ist die Angst. Bei den 18- bis<br />

34-Jährigen sehen sich 62 Prozent<br />

nicht ausreichend abgesichert, bei den<br />

50- bis 64-Jährigen ist es immer noch<br />

jeder Zweite (51 Prozent).<br />

Besonders bei den Geringverdienern<br />

mit einem monatlichen Haushaltsnettoeinkommen<br />

unter 1500 Euro ist die<br />

Angst nach dieser Umfrage ausgeprägt:<br />

Eine große Mehrheit von 80<br />

Prozent sorgt sich um die eigene finanzielle<br />

Absicherung im Alter.<br />

Eine weitere Umfrage vom September<br />

2016 hat gezeigt: Laut einer Analyse des<br />

Meinungsforschungsinstitutes Allensbach<br />

blickt die Mehrheit der Deutschen<br />

zwischen 30 und 59 Jahren trotz aktueller<br />

materieller Zufriedenheit eher pessimistisch<br />

in die Zukunft. Viele sehen<br />

ihren Lebensstandard im Alter in Gefahr.<br />

60 Prozent fürchten inzwischen,<br />

im Alter Abstriche machen zu müssen.<br />

Nach einer weiteren Forsa-Umfrage<br />

vom November 2016 befürchten viele<br />

Deutsche, im Alter nicht mehr mit<br />

dem Geld auszukommen. Drei Viertel<br />

(75 Prozent) der Befragten sagten dabei,<br />

dass ihnen Altersarmut große oder<br />

sehr große Sorgen bereite. Fast genauso<br />

groß war die Angst vor sozialer Ungleichheit<br />

(72 Prozent).<br />

Und jetzt erst, im Februar <strong>2017</strong>, wurden<br />

Zahlen einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts<br />

Yougov veröffentlicht,<br />

nach der sich fast jeder<br />

Zweite in Deutschland davor fürchtet,<br />

nach dem Ausscheiden aus dem Arbeitsleben<br />

arm zu werden. Selbst unter<br />

den Erwerbstätigen fürchtet sich jeder<br />

Dritte, im Alter nicht genug Geld zu<br />

haben.<br />

Angst vor Altersarmut<br />

Dass die Angst vor Altersarmut in<br />

Deutschland deutlich größer ist als in<br />

anderen Ländern mit einem ähnlich<br />

hohen Lebensstandard wie zum Beispiel<br />

Großbritannien oder Kanada,<br />

könnte man nun gerne mit der sogenannten<br />

„German Angst“ abtun. Und<br />

so wird auch immer wieder darauf verwiesen,<br />

dass Deutschland kein Alters-<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


226<br />

Sozialpolitik<br />

armutsproblem hätte, da nur drei Prozent<br />

der Rentnerinnen und Rentner in<br />

Deutschland Grundsicherung im Alter<br />

beziehen würden. Immerhin waren<br />

das 2015 jedoch schon 536121 Empfängerinnen<br />

und Empfänger.<br />

Stellt man des Weiteren der bundesweiten<br />

Armutsgefährdungsschwelle<br />

von aktuell 942 Euro die aktuellen<br />

Rentenzahlbeträge gegenüber, mit<br />

dem Ergebnis, dass insgesamt 39,1<br />

Prozent aller Rentner und deutliche<br />

81,1 Prozent der Rentnerinnen in den<br />

alten Bundesländern sowie 31,2 Prozent<br />

der Rentner und 64,3 Prozent der<br />

Rentnerinnen in den neuen Bundesländern<br />

Renten unterhalb von 900<br />

Euro und damit unterhalb der Armutsgefährdungsschwelle<br />

erhalten,<br />

wird auf weitere Einkünfte und das<br />

Gesamthaushaltseinkommen als richtigerer<br />

anzulegender Einkommensmaßstab<br />

hingewiesen.<br />

Beide Positionen sind sicher nicht von<br />

der Hand zu weisen. Dennoch liegt die<br />

Wahrheit, wie so oft, in der Mitte. Die<br />

Alterssicherung über die gesetzliche<br />

Rentenversicherung (GRV) entfernt<br />

sich immer weiter von ihrem ursprünglichen<br />

Ziel, den Lebensstandard im<br />

Alter zu sichern. Bisher gab es einen<br />

Konsens darüber, dass das Vertrauen<br />

auf ein sicheres Alterseinkommen der<br />

Kern unseres solidarisch aufgebauten<br />

Sozialstaats ist und die lebensstandardsichernde<br />

Altersversorgung mit einer<br />

generationengerechten Finanzierung<br />

verbunden sein muss.<br />

Das Ziel, einen niedrigen Beitragssatz<br />

(unter 20 Prozent) zu sichern, tritt allerdings<br />

heute immer stärker an diese<br />

Stelle und dominiert die Rentendebatte.<br />

Aktuell liegt der Rentenversicherungsbeitragssatz<br />

bei 18,7 Prozent und damit<br />

auf einem so niedrigen Niveau,<br />

wie wir es zuletzt 1995 (mit 18,6 Prozent),<br />

das heißt vor mehr als 20 Jahren,<br />

hatten. Vom Höchststand der<br />

späten 90er Jahre (1997 bis 1999) mit<br />

20,3 Prozent sind wir weit entfernt.<br />

Und doch wird gerade von Arbeitgeberseite<br />

so getan, als ob der Wirtschaftsstandort<br />

Deutschland mit jedem<br />

Zehntel Rentenbeitragssatz mehr<br />

vor der Zerreißprobe stehen würde.<br />

Dabei stehen wir wirtschaftlich gut da.<br />

Selten haben Unternehmen so viel<br />

verdient, nie haben sie bisher so viele<br />

Waren ins Ausland verkaufen können.<br />

Deutschland vermeldet Rekordbeschäftigung,<br />

und zwar nicht nur<br />

bei Billigjobs, sondern bei regulärer,<br />

sozialversicherungspflichtiger Arbeit.<br />

Zum dritten Mal in Folge hat der<br />

Staat 2016 auf allen Ebenen – Bund,<br />

Länder, Kommunen und Sozialversicherung<br />

– mehr eingenommen als ausgegeben:<br />

fast 24 Milliarden Euro, der<br />

höchste Überschuss seit der Wiedervereinigung.<br />

Aus Sicht des VdK ist<br />

daher der Zeitpunkt günstig, sich<br />

noch einmal über die Verteilung der<br />

Mittel in Deutschland und die Stabilisierung<br />

unseres Altersvorsorgesystems<br />

Gedanken zu machen.<br />

Lassen Sie mich gleich voranstellen:<br />

Falsch wäre es, mit dem Gießkannensystem<br />

vorzugehen. Wir müssen ge-<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


Sozialpolitik<br />

227<br />

zielt die Schwachstellen anschauen<br />

und beseitigen.<br />

Unabdingbar für den VdK ist, dass Armutsfestigkeit<br />

in der ersten Säule unserer<br />

Altersvorsorge, das heißt in der<br />

GRV, erreicht wird. Die Versuche in<br />

der Vergangenheit, die finanzielle<br />

Vorsorge für das Alter durch die weiteren<br />

Säulen der betrieblichen und<br />

privaten Altersvorsorge abzusichern,<br />

haben gezeigt, dass der Leistungsabbau<br />

in der GRV nicht durch die anderen<br />

(freiwilligen) Säulen aufgefangen<br />

werden kann. Immer mehr Menschen<br />

rutschen deswegen in die bedrohliche<br />

Nähe der Grundsicherung.<br />

Für den VdK sind betriebliche und<br />

private Altersvorsorge zweifellos wichtig,<br />

doch nicht als Kompensation sondern<br />

als Ergänzung zur gesetzlichen<br />

Rente.<br />

Wir müssen uns dabei auch die Ergebnisse<br />

des jüngsten Alterssicherungsberichts<br />

vergegenwärtigen: die GRV-<br />

Leistungen – bezogen auf alle 65-Jährigen<br />

und Älteren – machen heute<br />

stolze 63 Prozent der Bruttoeinnahmen<br />

zum Leben im Alter aus, betriebliche<br />

Altersversorgung und private<br />

Vorsorge nur jeweils acht Prozent und<br />

weiteres Einkommen nur sieben Prozent.<br />

Zwar haben 70,4 Prozent der sozialversicherungspflichtig<br />

Beschäftigten<br />

heute eine zusätzliche betriebliche<br />

oder private Altersvorsorge. Die Verbreitungsquoten<br />

und späteren Leistungshöhen<br />

unterscheiden sich im<br />

Detail aber sehr deutlich, insbesondere<br />

wenn man nach der Einkommenshöhe<br />

der Beschäftigten differenziert.<br />

Gerade unter den Beziehern niedrigerer<br />

Einkommen ist die zusätzliche Altersvorsorge<br />

eher wenig verbreitet.<br />

Stabilisierung und Erhöhung<br />

des Rentenniveaus<br />

Als wichtigste Maßnahme zur Stärkung<br />

des gesetzlichen Rentensystems<br />

brauchen wir eine Stabilisierung und<br />

maßvolle Erhöhung des Rentenniveaus:<br />

Denn die gesetzlich vorgesehene<br />

Senkung des Rentenniveaus, das<br />

aktuell bei rund 48 Prozent liegt,<br />

schiebt immer mehr Geringverdiener<br />

und auch ganz normale Arbeitnehmer<br />

in Richtung Grundsicherung. Sie<br />

macht auch alle bisher erreichten Verbesserungen,<br />

zum Beispiel bei der Erwerbsminderungsrente<br />

oder der Mütterrente,<br />

nach einigen Jahren wieder<br />

zunichte.<br />

Als Argumente für diese angeblich unverzichtbare<br />

Absenkung des Rentenniveaus<br />

werden längere Rentenbezugszeiten<br />

wegen der heute höheren Lebenserwartung<br />

und weniger<br />

Rentenbeitragszahler aufgrund weniger<br />

Geburten genannt. Und auch der<br />

Wegfall von vielen Arbeitsplätzen<br />

durch die Digitalisierung wird dabei<br />

ins Spiel gebracht.<br />

Als potentielle Stellschrauben in der<br />

Rentenniveaudiskussion fungieren<br />

deshalb die vor allem von gut situierten<br />

Professoren und Wissenschaftlern<br />

gern angeführte Erhöhung der Lebensarbeitszeit<br />

durch eine weitere Erhöhung<br />

des Renteneintrittsalters auf<br />

70 und mehr Jahre und die von der<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


228<br />

Sozialpolitik<br />

Wirtschaft vehement abgelehnte Erhöhung<br />

des Rentenbeitragssatzes.<br />

Kurz gesagt: Rentenalter oder Beitragssatz!?<br />

Die Wahl also zwischen<br />

Pest oder Cholera.<br />

Nebenbei bemerkt: Es ist schon erstaunlich,<br />

dass in unserem Land<br />

gleichzeitig eine Erhöhung des Rentenalters<br />

auf über 70 und eine Beschränkung<br />

des Führerscheins für Ältere<br />

auf Mitte 70 diskutiert werden.<br />

Doch für den VdK sind damit die<br />

Stellschrauben keineswegs erschöpfend<br />

aufgezählt. Wir müssen uns stärker<br />

mit der gerechten Verteilung des<br />

Jahr um Jahr erwirtschafteten Reichtums,<br />

einer sachgerechten Finanzierung<br />

von familienpolitischen Leistungen<br />

wie der Mütterrente oder gesamtgesellschaftlichen<br />

Aufgaben wie der<br />

Ost-West-Angleichung der aktuellen<br />

Rentenwerte beschäftigen: Wieso sollte<br />

man die Altersvorsorge nur von den<br />

sozialversicherungspflichtigen Alterseinkommen<br />

finanzieren lassen? Was<br />

ist mit einer stärkeren Besteuerung des<br />

Kapitals und damit einer stärkeren Beteiligung<br />

der Unternehmensgewinne?<br />

Auch insgesamt sollten die Bürger<br />

nach ihrer Leistungsfähigkeit in Anspruch<br />

genommen werden. Das Beispiel<br />

Schweiz zeigt, dass es auch ohne<br />

Beitragsbemessungsgrenze geht und<br />

daher gerade Gutverdiener mehr als<br />

andere zum Alterseinkommen beitragen<br />

sollten und können. Der Schweizer<br />

Einkommensmillionär zahlt von<br />

seinem gesamten Einkommen einen<br />

Beitrag und erhält eine Höchstrente<br />

von 2350 Franken pro Monat in der<br />

Alters- und Hinterlassenenversicherung<br />

(AHV).<br />

Personengruppen<br />

Neben der Frage des Rentenniveaus<br />

müssen wir uns außerdem mit bestimmten<br />

Personengruppen besonders<br />

beschäftigen. An erster Stelle zu nennen<br />

ist hier die Gruppe der Menschen<br />

mit einer Erwerbsminderung.<br />

Wir haben uns bereits im Frühjahr<br />

2014 bei unserem VdK-Forum mit<br />

den Menschen beschäftigt, die im Erwerbsleben<br />

krank werden und nicht<br />

mehr arbeiten können. Damals waren<br />

wir uns alle einig, dass für diese Menschen<br />

mehr getan werden muss: Angefangen<br />

von zielgerichteter und umfassender<br />

medizinischer und möglicherweise<br />

beruflicher Rehabilitation, um<br />

eine dauerhafte Erwerbsminderung zu<br />

vermeiden, bis hin zur deutlichen Erhöhung<br />

der Rentenleistungen.<br />

Untersuchungen zeigen, dass sich bei<br />

drei Viertel der Personen in Haushalten<br />

von Erwerbsminderungsrentnern<br />

die finanzielle Situation infolge der Erwerbsminderungsberentung<br />

verschlechtert<br />

hat. Von allen Personen,<br />

die in den Haushalten von Erwerbsminderungsrentnern<br />

leben, sind sogar<br />

rund 40 Prozent armutsgefährdet.<br />

Zwar wurden mit dem Rentenpaket<br />

2014 und der Erhöhung der Zurechnungszeiten<br />

auf das 62. Lebensjahr<br />

bereits erste wichtige Maßnahmen ergriffen,<br />

diese Menschen besser im<br />

Hinblick auf das nicht selbst gewählte<br />

Schicksal einer Erwerbsminderung abzusichern.<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


Sozialpolitik<br />

229<br />

Gleichwohl kann bisher noch keinesfalls<br />

von bekämpfter Armut gesprochen<br />

werden. Die durchschnittlichen<br />

Rentenzahlbeträge neuer Erwerbsminderungsrenten<br />

lagen 2015 bei den<br />

Männern in den alten Bundesländern<br />

bei 702 Euro, bei Frauen bei 640 Euro.<br />

In den neuen Bundesländern erhielten<br />

Männer 643 Euro, Frauen 717<br />

Euro.<br />

Auch wenn hier jetzt aktuell mit dem<br />

sogenannten Erwerbsminderungs-<br />

Leistungsverbesserungsgesetz noch<br />

mal nachgebessert werden soll, halten<br />

wir die aktuell geplante Regelung für<br />

unzureichend. Denn die Zurechnungszeiten<br />

für Erwerbsminderungsrenten<br />

sollen erst ab 2018 und dann<br />

nur schrittweise bis 2024 weiter angehoben<br />

werden.<br />

Erhöhung der Zurechnungszeit<br />

Damit die Menschen, die heute eine<br />

Erwerbsminderung erfahren, überhaupt<br />

profitieren können, muss die<br />

weitere Erhöhung der Zurechnungszeit<br />

auch heute und wie im Jahr 2014<br />

in einem Schritt erfolgen. Daneben<br />

sollte sich die Koalition nun endlich<br />

durchringen, auf die systemwidrigen<br />

Abschläge von bis zu 10,8 Prozent zu<br />

verzichten. Mehr als 34 Abschlagsmonate<br />

mussten sich die Neurentner<br />

2015 durchschnittlich anrechnen lassen,<br />

obwohl der Gang in die Erwerbsminderungsrente<br />

keine freiwillige<br />

Entscheidung ist.<br />

Lassen sie mich auch etwas zum Argument<br />

der Gegner der Abschaffung der<br />

Abschläge sagen. Diese meinen, dass<br />

die Abschläge bleiben müssten, da<br />

sonst massenhafte Ausweichreaktionen<br />

der Versicherten weg von anderen<br />

Rentenarten, zum Beispiel der Altersrente,<br />

in die Erwerbsminderungsrente<br />

folgen würden.<br />

Aus der <strong>Praxis</strong> der VdK-Kreisgeschäftsstellen<br />

betrachtet, ist diese Argumentation<br />

absurd. Jeder, der schon<br />

einmal selbst ein Verfahren – ob als<br />

Kläger oder als Bevollmächtigter – geführt<br />

hat, weiß, wie hoch die (medizinischen)<br />

Hürden sind, die überwunden<br />

werden müssen, um eine Erwerbsminderungsrente<br />

zu bekommen. Je<br />

nach persönlichem Gusto bekommt in<br />

diesem Land niemand eine Erwerbsminderungsrente.<br />

Bestandsrentner<br />

Betonen möchte ich, dass es dem VdK<br />

äußerst wichtig ist, dass auch die Bestandsrentner<br />

an den Verbesserungen<br />

teilhaben können. Daher fordert der<br />

VdK: Auch die 1,7 Millionen Bestandsrentnerinnen<br />

und Bestandsrentner<br />

müssen an den Besserungen beteiligt<br />

werden. Nur dann kann sich der<br />

Gesetzgeber wirklich auf die Fahnen<br />

schreiben, etwas gegen die Armutsgefährdung<br />

dieses Personenkreises unternommen<br />

zu haben.<br />

Als weitere Personengruppen, die besonderer<br />

Unterstützung bedürfen,<br />

sind aus Sicht des VdK die Gruppe der<br />

Geringverdiener zu nennen. Nach Angaben<br />

der Bundesregierung betrug<br />

2014 die Niedriglohnschwelle zehn<br />

Euro Bruttostundenlohn – damit sogar<br />

noch um Einiges höher als der ak-<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


230<br />

Sozialpolitik<br />

tuelle Mindestlohn von 8,84 Euro.<br />

18,4 Prozent der Beschäftigten in den<br />

alten Bundesländern, das heißt knapp<br />

ein Fünftel, und 34,6 Prozent der Beschäftigten<br />

in den neuen Bundesländern,<br />

das heißt ein Drittel aller Beschäftigten,<br />

haben 2014 mit Niedriglohn<br />

gearbeitet.<br />

Besonders von den Niedriglohnbeschäftigungen<br />

betroffen sind Frauen:<br />

Sie hatten zu 26,5 Prozent einen Job<br />

mit Niedriglohn (Männer: 15,5 Prozent).<br />

Damit können natürlich keine<br />

ausreichenden Rentenansprüche erworben<br />

werden.<br />

Eine Auskunft des Bundesarbeitsministeriums<br />

zeigt, dass bei einer wöchentlichen<br />

Arbeitszeit von 38,5 Stunden<br />

über 45 Jahre sozialversicherungspflichtiger<br />

Beschäftigung hinweg im<br />

Jahr 2016 bereits ein Stundenlohn<br />

von 11,68 Euro erforderlich gewesen<br />

wäre, um den durchschnittlichen<br />

Grundsicherungsbedarf von 788 Euro<br />

zu erreichen. Ich überlasse es ihrem<br />

Rechenvermögen, auszurechnen, bei<br />

welcher Rentenhöhe Personen landen,<br />

die diese 11,68-Euro-Grenze nicht erreichen.<br />

Rente nach Mindesteinkommen<br />

Dringend sind aus Sicht des VdK<br />

Maßnahmen notwendig, die Rentenbeträge<br />

für diesen Personenkreis aufzubessern,<br />

unter anderem natürlich<br />

mit einer kontinuierlichen Erhöhung<br />

des Mindestlohns. Der VdK hat aber<br />

darüber hinaus mehrmals darauf hingewiesen,<br />

und ich möchte es heute<br />

noch einmal tun, dass wir mit der<br />

Rente nach Mindesteinkommen beziehungsweise<br />

nach Mindestentgeltpunkten<br />

bereits ein taugliches und erprobtes<br />

Instrument für diesen Personenkreis<br />

hätten, wir müssen es nur<br />

wieder zur Anwendung bringen.<br />

Bis 1992 wurde es angewandt und<br />

kam vor allem Frauen in Leichtlohngruppen,<br />

die unterdurchschnittlich<br />

verdient haben, zugute.<br />

Für diese Regelung müssen oder mussten<br />

zwei Voraussetzungen erfüllt sein:<br />

£ Es müssen insgesamt wenigstens 35<br />

Jahre rentenrechtlicher Zeiten vorliegen.<br />

Dazu zählen Beitragszeiten,<br />

beitragsfreie Zeiten und Berücksichtigungszeiten.<br />

£ Außerdem muss der Durchschnitt<br />

des Rentenanspruchs aus vollwertigen<br />

Pflichtbeitragszeiten unter 75<br />

Prozent des Durchschnittseinkommens<br />

liegen.<br />

Trifft beides zu, werden die Rentenanwartschaften<br />

auf diesen Wert aufgestockt.<br />

Wichtig wäre außerdem für diese<br />

Menschen, dass es sich für sie auszahlt,<br />

zusätzlich fürs Alter vorzusorgen.<br />

Wie ich ausgeführt habe, ist die<br />

zusätzliche Altersvorsorge generell<br />

noch zu wenig verbreitet und in besonders<br />

geringem Maße bei Geringverdienern.<br />

Für Geringverdiener sollte<br />

daher insbesondere die von<br />

Arbeitgebern finanzierte betriebliche<br />

Altersversorgung weiter vorangebracht<br />

werden.<br />

Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur<br />

Stärkung der betrieblichen Altersver-<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


Sozialpolitik<br />

231<br />

sorgung will die Koalition hier ab<br />

2018 Verbesserungen auf den Weg<br />

bringen, unter anderem durch eine<br />

Optimierung der steuerlichen Förderung<br />

und eine Haftungsentlastung der<br />

Arbeitgeber.<br />

Zusätzliche Altersvorsorge<br />

Bemerkenswert ist, dass nun endlich<br />

daran gedacht wird, die Bereitschaft<br />

zur zusätzlichen Altersvorsorge durch<br />

Freibeträge bei der Grundsicherung<br />

im Alter und bei Erwerbsminderung<br />

zu stärken. Vorgesehen ist aktuell, dass<br />

bis zu 202 Euro abgesetzt werden können<br />

– 100 Euro monatlich aus einer<br />

zusätzlichen Altersvorsorge (bAV-,<br />

private Riester- oder Rürup-Renten<br />

unabhängig von einer etwaigen staatlichen<br />

Förderung sowie Rentenbeträge,<br />

die aus Zeiten einer freiwilligen Versicherung<br />

in der GRV resultieren), zuzüglich<br />

30 Prozent des diesen Betrags<br />

übersteigenden Einkommens aus einer<br />

zusätzlichen Altersvorsorge bis zu<br />

einer Grenze von 50 Prozent der Regelbedarfsstufe<br />

1 (2016 wären dies<br />

202 Euro).<br />

Doch was ist mit einem Freibetrag in<br />

der Grundsicherung für die gesetzliche<br />

Rente? Hier werden die Renten aus<br />

der GRV stark benachteiligt.<br />

Gleichzeitig wird mit diesem Gesetz<br />

zudem eine neue Gerechtigkeitslücke<br />

eröffnet: Denn betriebliche Riester-<br />

Verträge sollen wie die privaten Riester-Verträge<br />

in der Auszahlungsphase<br />

von der Beitragspflicht zur Krankenund<br />

Pflegeversicherung befreit werden.<br />

Bewusst nicht berücksichtigt wurden<br />

die Krankenkassenbeiträge bei sonstigen<br />

Betriebsrenten und Direktversicherungen<br />

– eine permanente Quelle<br />

des Unmuts und des Unverständnisses<br />

vieler tausender Betriebsrentner.<br />

Vor knapp drei Wochen erst hat die<br />

Bundesregierung einen diesbezüglichen<br />

Änderungsantrag des Bundesrates<br />

harsch abgelehnt. Vorrangig mit<br />

dem Argument (Zitat): „Die Verbeitragung<br />

von Versorgungsbezügen aus<br />

Betriebsrenten ist ein unverzichtbarer<br />

Bestandteil für eine solidarische und<br />

nachhaltige Finanzierung der gesetzlichen<br />

Krankenversicherung (…). Die<br />

derzeitigen Beitragseinnahmen der gesetzlichen<br />

Krankenversicherung aus<br />

den Versorgungsbezügen belaufen<br />

sich auf rund 5,3 Milliarden Euro. Eine<br />

Absenkung des Beitragssatzes (…)<br />

führt zu Mindereinnahmen der gesetzlichen<br />

Krankenversicherung in Höhe<br />

von jährlich rund 2,5 Milliarden Euro,<br />

die über einen deutlichen Anstieg<br />

der Zusatzbeiträge für alle Mitglieder<br />

refinanziert werden müssten.“<br />

Wie wäre es denn mit einer Wiedereinführung<br />

der vollen paritätischen<br />

Beiträge für Arbeitgeber? Es geht bei<br />

dieser Regelung also keineswegs um<br />

irgendwelche Sachgründe oder Systematiken,<br />

sondern rein ums Geld.<br />

Mütterrente<br />

Lassen Sie mich an dieser Stelle auf eine<br />

weitere Lücke hinweisen, bei der die<br />

Finanzierung im Vordergrund steht:<br />

Das dritte Mütterrentenjahr, das für<br />

die Jahre <strong>2017</strong> bis 2019 rund 7,2 Mil-<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


232<br />

Sozialpolitik<br />

liarden Euro jährlich kosten würde,<br />

Tendenz anschließend sinkend.<br />

Um zu vermeiden, dass immer mehr<br />

Frauen im Alter in die Armutsfalle<br />

tappen, muss diese Gerechtigkeitslücke<br />

bei den Mütterrenten geschlossen<br />

werden. Frauen, die ihre Kinder vor<br />

1992 bekommen haben, müssen endlich<br />

auch das dritte Erziehungsjahr anerkannt<br />

bekommen. Ich bin hier sehr<br />

froh, dass der bayerische Ministerpräsident<br />

Horst Seehofer auf der 70-Jahr-<br />

Feier des Sozialverbands VdK Bayern<br />

im Januar noch einmal öffentlich die<br />

Unterstützung dieser VdK-Forderung<br />

bekundet hat.<br />

Darüber hinaus ist es wichtig, dass die<br />

Mütterrente bei den betroffenen Frauen<br />

auch tatsächlich ankommt. Auch deswegen<br />

ist es wichtig, dass es einen Freibetrag<br />

für Grundsicherungsbezieher für<br />

die gesetzliche Rente gibt. Bisher wird<br />

die Mütterrente, ebenso wie Rentenanpassungen,<br />

nämlich eins zu eins mit der<br />

Grundsicherung verrechnet.<br />

Als vorletzten Punkt möchte ich auf<br />

einen Personenkreis zu sprechen kommen,<br />

der ebenfalls im Alter finanziell<br />

äußerst schlecht dasteht. Ich spreche<br />

hier von der Gruppe der Selbstständigen.<br />

Abgesehen von der Gruppe der<br />

Freiberufler, die in Versorgungswerken,<br />

mindestens wie in der GRV abgesichert<br />

ist, haben viele weitere Selbstständige<br />

keine oder kaum eine Altersversorgung.<br />

Die Hälfte der heute auf<br />

staatliche Grundsicherung angewiesenen<br />

Menschen hat keine Rentenansprüche<br />

– weder aus einer privaten,<br />

noch aus der GRV, noch ein sonstiges<br />

Einkommen. So lag beispielsweise im<br />

Jahr 2015 bei 112 762 Personen das<br />

anzurechnende Einkommen bei der<br />

Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung<br />

bei unter 100 Euro.<br />

Für diese Personen brauchen wir eine<br />

Lösung, möglicherweise nach dem<br />

Vorbild der Künstlersozialkasse.<br />

Langzeitarbeitslose<br />

Zuletzt ist es mir wichtig, einen Personenkreis<br />

wieder in die öffentliche Aufmerksamkeit<br />

zurück zu rücken, dessen<br />

Altersarmut gesetzlich produziert wird:<br />

die Gruppe der Langzeitarbeitslosen.<br />

2010 wurden die Rentenbeiträge für<br />

Arbeitslosengeld-II-Bezieher im Rahmen<br />

des Kürzungspakets gestrichen,<br />

um, nach den Worten der Gesetzesbegründung,<br />

„die Anreize zur Aufnahme<br />

einer sozialversicherungspflichtigen<br />

Beschäftigung zu stärken.“ Damals betrug<br />

der monatliche Rentenanspruch<br />

für Langzeitarbeitslose nach der Abschaffung<br />

der Arbeitslosenhilfe und<br />

vorangegangenen Kürzungen nur<br />

noch 2,09 Euro.<br />

Die Anreize waren offenbar nicht groß<br />

genug: Wir haben einen harten Kern<br />

von rund einer Million Menschen, die<br />

sich von Januar 2005 bis Dezember<br />

2014 durchgehend in der Grundsicherung<br />

für Arbeitsuchende befanden.<br />

Bezogen auf den Anfangsbestand im<br />

Januar 2005 verblieben damit gut 16<br />

Prozent der damals 6,2 Millionen<br />

Leistungsbeziehenden zehn Jahre und<br />

länger im Leistungsbezug.<br />

Diese Menschen, zu denen vor allem<br />

Ältere, gering oder nicht Qualifizierte<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


Sozialpolitik<br />

233<br />

und Personen mit Kinderbetreuungsaufgaben<br />

zählen, müssen deutlich besser<br />

unterstützt werden – auch im Hinblick<br />

auf ihre spätere Rentensituation.<br />

Daher sollten die Rentenbeiträge im<br />

Hartz-IV-Bezug noch einmal grundlegend<br />

überdacht werden.<br />

Darüber hinaus fordert der Sozialverband<br />

VdK einen dauerhaft öffentlich<br />

geförderten Arbeitsmarkt. Ein neues<br />

Verständnis öffentlicher Verantwortung<br />

für langzeitarbeitslose Menschen<br />

ist genauso notwendig wie eine neue<br />

Struktur der arbeitsmarktpolitischen<br />

Förderung. Langzeitarbeitslose Menschen<br />

mit mehreren Vermittlungshemmnissen<br />

brauchen ein dauerhaftes<br />

Gefüge statt befristeter Arbeitsmarktprogramme.<br />

Sie müssen tariflich entlohnt<br />

und sozialversicherungspflichtig<br />

und arbeitsrechtlich abgesichert beschäftigt<br />

werden. Wir dürfen diese<br />

Menschen nicht ausgrenzen, sondern<br />

müssen sie wieder in die Mitte unserer<br />

Gesellschaft holen. ¦<br />

Vortrag auf dem Sozialpolitischen<br />

Forum des Sozialverbands VdK Bayern<br />

in München am 13. März <strong>2017</strong>.<br />

Soziale Gerechtigkeit<br />

VdK-Kampagne zur<br />

Bundestagswahl gestartet<br />

Deutschland droht zu zerreißen. Das<br />

symbolisiert der Schriftzug der VdK-<br />

Aktion zur Bundestagswahl. Mit dem<br />

Motto „Soziale Spaltung stoppen!“<br />

formuliert der Sozialverband seine<br />

Kernforderung an die Kandidatinnen<br />

und Kandidaten, die sich am 24. September<br />

zur Wahl stellen.<br />

Über 16 Millionen Menschen sind in<br />

Deutschland von Armut und sozialer<br />

Ausgrenzung bedroht. „Trotz der großen<br />

Wirtschaftskraft wächst die soziale<br />

Kluft in Deutschland immer weiter“,<br />

warnt Ulrike Mascher, Präsidentin des<br />

Sozialverbands VdK Deutschland. Wie<br />

kaum ein anderer Interessenverband<br />

konnte der VdK in den letzten Jahren<br />

sozialpolitisch wichtige Weichen stellen.<br />

Die Anhebung der Mütterrente,<br />

die Fortschritte bei der Erwerbsminderungsrente,<br />

die Verbesserungen für Demenzkranke<br />

durch die Pflegereform<br />

oder die Einführung des Mindestlohns:<br />

Den Anstrengungen des mitgliederstarken<br />

Sozialverbands VdK ist es mit<br />

zu verdanken, dass diese Gesetzesänderungen<br />

durchgesetzt werden konnten.<br />

Der VdK wird auch weiterhin keine<br />

Ruhe geben. „Es gibt noch etliche Baustellen<br />

in der Sozialpolitik, an der auch<br />

die nächste Bundesregierung mit<br />

Nachdruck arbeiten muss“, erklärt Mascher.<br />

Daher werde sich der Sozialverband<br />

VdK in den kommenden Monaten<br />

aktiv in den Bundestagswahlkampf<br />

und in die noch vorher anstehenden<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


234<br />

Sozialpolitik<br />

Landtagswahlkämpfe einschalten.<br />

Denn: „Der Kurswechsel für eine sozial<br />

gerechte Gesellschaft ist noch lange<br />

nicht vollzogen“, so die VdK-Präsidentin.<br />

Der Sozialverband VdK hat deshalb<br />

zu den Themen Rente, Gesundheit,<br />

Pflege, Behinderung und Armut<br />

Kernforderungen aufgestellt und Vorschläge<br />

zur Finanzierung einer solidarischen<br />

Sozialpolitik gemacht.<br />

Gerade in der Rentenpolitik gibt es<br />

auch für die neue Bundesregierung genug<br />

zu tun. „Oberstes Ziel muss sein,<br />

Altersarmut zu bekämpfen“, fordert<br />

Ulrike Mascher. Seit Jahren werden<br />

Rentenbezieher immer mehr abgehängt.<br />

Das Rentenniveau darf deshalb<br />

nicht weiter sinken. Die Kürzungsfaktoren<br />

in der Rentenformel müssen abgeschafft<br />

werden, damit die Renten<br />

wieder parallel zu den Löhnen steigen.<br />

Weitere Maßnahmen gegen Altersarmut<br />

sind die Abschaffung der Abschläge<br />

für Erwerbsminderungsrentner, die<br />

vollständige Angleichung der Mütterrenten,<br />

ein Freibetrag für Grundsicherungsbezieher<br />

und höhere Renten für<br />

Bezieher von Niedrigeinkommen.<br />

Von der Gesundheitspolitik erwartet<br />

der Sozialverband VdK die Entlastung<br />

der Versicherten. Konkret müssen die<br />

unsozialen Zusatzbeiträge abgeschafft<br />

und die solidarische Finanzierung wieder<br />

eingeführt werden, fordert der<br />

VdK. In der Pflegepolitik gibt es zwar<br />

Fortschritte, dennoch muss noch viel<br />

mehr für Pflegebedürftige, pflegende<br />

Angehörige und Pflegekräfte getan<br />

werden, so der VdK. „Wir brauchen<br />

bezahlbare Pflegeleistungen und Finanzierungshilfen<br />

für den Wohnungs-<br />

VdK-Aktion zur Bundestagswahl<br />

„Soziale Spaltung stoppen!“ im<br />

Internet unter www.vdk.de/btw17<br />

mit Forderungskatalog, Themenblättern<br />

und vielem mehr. Die Seite<br />

wird regelmäßig unter anderem<br />

durch Videos aus dem VdK-TV,<br />

aktuelle Meldungen und Pressemitteilungen<br />

aktualisiert.<br />

umbau“, erklärt Mascher. Auch in Sachen<br />

Inklusion fehlen noch wichtige<br />

Bausteine für das gleichberechtigte<br />

Miteinander von Menschen mit und<br />

ohne Behinderung.<br />

Schule, Arbeitsmarkt und Barrierefreiheit<br />

sind Themen, „bei denen die Politik<br />

mehr Gas geben muss“, sagt die<br />

VdK-Präsidentin. Eine neu ausgerichtete<br />

Arbeitsmarktpolitik muss das soziale<br />

Abrutschen von immer mehr Bevölkerungsgruppen<br />

stoppen. Minijobs<br />

sowie Zeit- und Leiharbeit müssen<br />

eingedämmt, der Mindestlohn muss<br />

angehoben werden. Zudem brauchen<br />

Familien und Menschen mit weniger<br />

Einkommen günstigen Wohnraum.<br />

„Unsere Forderungen sind nicht utopisch,<br />

sie sind notwendig und bezahlbar.<br />

Soziale Balance schafft inneren<br />

Frieden und muss durch eine sozial<br />

gerechte Steuerpolitik finanziert werden“,<br />

stellt Ulrike Mascher klar. bsc<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


Sozialpolitik<br />

235<br />

Gesetz zur Stärkung<br />

der betrieblichen<br />

Altersversorgung<br />

Stellungnahme des<br />

VdK Deutschland zum Entwurf<br />

1. Zu den Zielen des<br />

Referentenentwurfs und den<br />

Maßnahmen ihrer Umsetzung<br />

Mit den Reformen des Rentenversicherungsrechts<br />

und der damit verbundenen<br />

Änderung der Rentenanpassungsformel<br />

kam die Politik zu der<br />

Erkenntnis und Erwartung, die Auswirkungen<br />

des sinkenden Rentenniveaus<br />

könnten und müssten die Bürgerinnen<br />

und Bürger durch verstärkte<br />

eigene Altersvorsorge in der zweiten<br />

und dritten Säule kompensieren. Die<br />

Politik ging seinerzeit davon aus, dass<br />

es den Bürgerinnen und Bürgern zumutbar<br />

sei, vier Prozent ihres Erwerbseinkommens<br />

in die betriebliche oder<br />

private Altersvorsorge zu investieren<br />

und dass der ganz überwiegende Teil<br />

dies auch tun werde.<br />

Fünfzehn Jahre später gewinnen Politik<br />

und Fachöffentlichkeit jedoch zunehmend<br />

die Überzeugung, dass die<br />

Absicherung in der zweiten und der<br />

dritten Säule weit hinter den Erwartungen<br />

zurückgeblieben ist. Zwar<br />

konnte zwischen 2001 und 2015 der<br />

Anteil der Bürgerinnen und Bürger,<br />

die über eine betriebliche Rentenanwartschaft<br />

verfügen, um 30 Prozent<br />

gesteigert werden. Dennoch hatten<br />

Ende 2015 nur etwas weniger als<br />

60 Prozent aller sozialversicherungspflichtig<br />

Beschäftigten eine solche Anwartschaft.<br />

Leider werden vor allem<br />

Beschäftigte mit niedrigem Einkommen<br />

und solche, die in kleinen und<br />

mittleren Unternehmen (KMU) arbeiten,<br />

nicht erreicht. Von den Beschäftigten,<br />

deren Einkommen unter<br />

1500 Euro im Monat liegt, hat fast die<br />

Hälfte weder eine Riester- noch eine<br />

Betriebsrente. In Betrieben mit weniger<br />

als zehn Beschäftigten haben nur<br />

etwa 28 Prozent der Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeiter eine Anwartschaft auf<br />

eine Betriebsrente.<br />

Deshalb kommt die Regierungskoalition<br />

zu dem Ergebnis, dass weitere Anstrengungen<br />

nötig sind, um eine möglichst<br />

hohe Abdeckung mit betrieblicher<br />

Alterssicherung zu erreichen.<br />

Dieses Ziel verfolgt der vorliegende<br />

Entwurf eines Betriebsrentenstärkungsgesetzes.<br />

Der Entwurf sieht unter<br />

anderem vor,<br />

£ im Rahmen des sogenannten Sozialpartnermodells<br />

die Möglichkeit zu<br />

eröffnen, dass Arbeitgeber auf tariflicher<br />

Grundlage eine reine Beitragszusage<br />

zur betrieblichen Altersvorsorge<br />

bei völliger Haftungsfreistellung<br />

abgeben,<br />

£ die Verpflichtung der Arbeitgeber,<br />

die durch Entgeltumwandlung ersparten<br />

Sozialversicherungsbeiträge<br />

in bestimmtem Umfang an die Beschäftigten<br />

weiterzugeben,<br />

£ die Einführung eines neuen steuerlichen<br />

Fördermodells für Geringverdiener,<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


236<br />

Sozialpolitik<br />

£ die Schaffung von Anreizen zur privaten<br />

Vorsorge für Geringverdiener<br />

im Bereich der Grundsicherung sowie<br />

£ den Ausbau von Informationen über<br />

die Möglichkeiten der freiwilligen<br />

Altersvorsorge über die erweiterten<br />

Renteninformationen der Deutschen<br />

Rentenversicherung.<br />

Bewertung des VdK<br />

Trotz aller Mahnungen und erheblicher<br />

finanzieller Anreize zu einer zusätzlichen<br />

Absicherung durch betriebliche<br />

Altersvorsorge und private Vorsorge<br />

haben zehn Jahre Erfahrungen<br />

mit Riester-Vorsorge gezeigt, dass die<br />

gesamte Bevölkerung hierfür nicht zu<br />

gewinnen ist.<br />

Gerade die armutsgefährdeten Zielgruppen<br />

wie Geringverdiener, Langzeitarbeitslose,<br />

Solo-Selbstständige<br />

und Erwerbsgeminderte werden nicht<br />

im erforderlichen Umfang erreicht.<br />

Zudem lässt sich Altersarmut am<br />

effektivsten im umlagefinanzierten<br />

Pflichtversicherungssystem der gesetzlichen<br />

Rentenversicherung (GRV) bekämpfen.<br />

Das Erwerbsminderungsrisiko<br />

lässt sich nach allen bisherigen<br />

Erfahrungen überhaupt nicht in der<br />

zweiten und dritten Säule zu einheitlichen<br />

Konditionen für alle Versicherten<br />

sowie einer ausreichenden Renditeerwartung<br />

absichern.<br />

Aus Sicht des Sozialverbands VdK<br />

kann für die breite Bevölkerung die<br />

kontinuierliche Absenkung des Sicherungsniveaus<br />

durch zusätzliche betriebliche<br />

und öffentlich geförderte private<br />

Vorsorge nicht ausgeglichen werden.<br />

Sie ist nicht geeignet, die GRV, die für<br />

die Mehrzahl der Versicherten die alleinige<br />

beziehungsweise tragende Säule<br />

der Altersversorgung darstellt, ganz<br />

oder teilweise zu ersetzen. Aus Sicht des<br />

VdK lässt sich deshalb das gesetzgeberische<br />

Ziel eines höheren Versorgungsniveaus<br />

aller Beschäftigten nicht durch<br />

einen freiwilligen Ausbau der Betriebsrenten<br />

erreichen.<br />

Zur Lebensstandardsicherung sind betriebliche<br />

und private Altersvorsorge<br />

aber eine sinnvolle und notwendige<br />

Ergänzung.<br />

2. Wesentliche Inhalte<br />

des Entwurfs<br />

2.1. Sozialpartnermodell<br />

In § 1 Abs. 2 Betriebsrentenstärkungsgesetz<br />

wird den Tarifparteien die<br />

Möglichkeit eröffnet, reine Beitragszusagen<br />

zu vereinbaren. Wesentliche<br />

Regelungsinhalte sollen dem Tarifvertrag<br />

vorbehalten bleiben. Hauptunterschied<br />

zu den bisherigen Modellen der<br />

Betriebsrenten ist, dass die Arbeitgeber<br />

von den Zusageformen „Leistungszusage“,<br />

„beitragsorientierte<br />

Leistungszusage“ und „Beitragszusage<br />

mit Mindestleistung“ entbunden werden<br />

und sich somit nicht mehr zur<br />

Zahlung von Mindestbetriebsrenten<br />

verpflichten. Damit sind die teilnehmenden<br />

Arbeitnehmer nur noch verpflichtet,<br />

die Finanzierungsbeiträge an<br />

die durchführende Einrichtung zu<br />

zahlen. Es wird durch die Entwurfsformulierung<br />

klargestellt, dass die Arbeitgeber<br />

für die Leistungen aus diesen<br />

Beiträgen auch nicht subsidiär einste-<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


Sozialpolitik<br />

237<br />

hen und dass sie durch diese Art der<br />

Zusage auch keine weiteren Verpflichtungen<br />

nach dem Betriebsrentengesetz<br />

treffen. Nicht einmal eine Insolvenzsicherung<br />

über den Pensions-Sicherungs-Verein<br />

ist vorgesehen.<br />

Der Entwurf betrachtet die bisherigen<br />

Formen der Leistungszusagen als<br />

„Verbreitungshemmnis“ und lobt die<br />

vorgesehenen Beitragszusagen als Beseitigung<br />

der angenommenen Verbreitungshemmnisse<br />

und als Basis der<br />

„vollständigen Kosten- und Planungssicherheit“<br />

aufseiten der Arbeitgeber.<br />

Bewertung des VdK<br />

Aus Sicht des VdK überwiegen bei dem<br />

Sozialpartnermodell die Negativa:<br />

£ Es besteht keine obligatorische Arbeitgeberbeteiligung.<br />

£ Das Risiko für den Erfolg der Kapitalanlage<br />

trägt allein der Arbeitnehmer.<br />

£ Es gibt kein festes Vorsorgeziel und<br />

keine Garantie für die Auszahlungsphase.<br />

£ Es bestehen keine Vorgaben für die<br />

Absicherung des Invaliditätsrisikos.<br />

£ Durch die tarifvertragliche Grundlage<br />

kann es nur zu branchenspezifischen<br />

Lösungen kommen und keine<br />

Absicherung für breite Bevölkerungsgruppen<br />

erreicht werden.<br />

Dieses Modell bietet für den Arbeitnehmer<br />

keinerlei Sicherheiten dafür,<br />

dass seine Alterssicherung spürbar verbessert<br />

wird. Daher ist zu bezweifeln,<br />

dass hiermit ein freiwilliger Ausbau<br />

der betrieblichen Altersvorsorge erreicht<br />

wird.<br />

2.2. Zusatzbeiträge<br />

des Arbeitgebers<br />

Nach § 23 Abs. 2 Betriebsrentenstärkungsgesetz<br />

sollen Arbeitgeber künftig<br />

nicht mehr vom Sparverhalten ihrer<br />

Arbeitnehmer profitieren können und<br />

bei einer Entgeltumwandlung den Arbeitgeberanteil<br />

an den eingesparten<br />

Sozialversicherungsbeiträgen nicht<br />

mehr behalten können, sondern zugunsten<br />

des Beschäftigten an die Versorgungseinrichtung<br />

zahlen.<br />

Bewertung des VdK<br />

Die Regelung ist grundsätzlich sachgerecht<br />

und läuft auf eine faire Behandlung<br />

der Beschäftigten hinaus. Es ist<br />

aber nicht nachzuvollziehen, warum<br />

der Anteil der zu zahlenden Beiträge<br />

auf 15 Prozent begrenzt werden kann.<br />

Ergänzend weist der Sozialverband<br />

VdK auf seine Vorbehalte gegenüber<br />

dem Modell der Entgeltumwandlung<br />

hin, da dieses gegenüber der Sozialversicherung<br />

zu Mindereinnahmen führt<br />

und zur Verkürzung von Rentenanwartschaften<br />

der Betroffenen beiträgt.<br />

2.3. Freibeträge in der<br />

Grundsicherung für Ältere<br />

Um die Akzeptanz der freiwilligen Altersvorsorge<br />

gerade auch gegenüber<br />

dem Kreis der Niedrigverdiener zu stärken,<br />

die in besonderem Maße auf zusätzliche<br />

Altersvorsorge angewiesen<br />

sind, soll in § 82 Abs. 4 und 5 SGB XII<br />

ein Freibetrag eingeführt werden. Der<br />

Freibetrag soll ganz oder teilweise verhindern,<br />

dass frühere Niedrigverdiener,<br />

die wegen ihrer oft sehr niedrigen Renten<br />

zusätzlich Leistungen der Grundsi-<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


238<br />

Sozialpolitik<br />

cherung im Alter oder bei Erwerbsminderung<br />

beantragen müssen, nicht in<br />

den Genuss ihrer freiwilligen Altersvorsorge<br />

kommen, weil diese im Rahmen<br />

des SGB XII angerechnet wird.<br />

Bewertung des VdK<br />

Die Einführung von Anrechnungsfreibeträgen<br />

in der Grundsicherung ist<br />

sinnvoll. Freibeträge müssen aber auch<br />

für Leistungen der GRV gelten. So<br />

kann durch Freibeträge sichergestellt<br />

werden, dass zum Beispiel Menschen,<br />

die langfristig in die GRV einbezahlt<br />

und/oder zusätzlich betrieblich oder<br />

privat für das Alter vorgesorgt haben,<br />

bessergestellt werden als Menschen,<br />

die überhaupt nicht vorgesorgt haben.<br />

2.4. Auskunftserteilung zur<br />

zusätzlichen Altersvorsorge<br />

Die Auskunftserteilung der GRV, die<br />

Renteninformationen, sollen dahingehend<br />

erweitert werden, dass mit ihnen<br />

künftig über die gesamte staatlich geförderte<br />

zusätzliche Altersvorsorge<br />

(§ 15 Abs. 4 SGB I) Auskünfte erteilt<br />

werden. Dazu gehören die Riester-<br />

Rente, die Basis-Rente und die betriebliche<br />

Altersversorgung.<br />

Bewertung des VdK<br />

Der Sozialverband VdK hält das Anliegen<br />

für sinnvoll und notwendig,<br />

weil viele Menschen wegen der komplizierten<br />

Materie davor zurückschrecken,<br />

die Initiative für eigene freiwillige<br />

Vorsorge zu ergreifen. Mit der<br />

Deutschen Rentenversicherung wird<br />

auch eine vertrauenswürdige Institution<br />

ausgewählt. Allerdings kann das<br />

Verfahren im Hinblick auf das Ziel<br />

der Verbreiterung der betrieblichen<br />

Altersvorsorge nur so wirksam sein,<br />

wie die Vorsorgemöglichkeiten überhaupt<br />

Anreize setzen. In diesem Zusammenhang<br />

verweist der Sozialverband<br />

VdK auf seine oben unter Ziffer<br />

2.1. dargestellten tiefen Bedenken.<br />

2.5. Neue steuerliche<br />

Fördermittel<br />

Ab 2018 erhalten Arbeitgeber, die einen<br />

Beitrag zur betrieblichen Altersversorgung<br />

von Arbeitnehmern mit geringem<br />

Einkommen leisten, einen staatlichen<br />

Zuschuss in Form eines<br />

BAV-Förderbetrages (§ 100 EStG). Die<br />

geförderten Altersvorsorgebeiträge liegen<br />

kalenderjährlich zwischen mindestens<br />

240 Euro und höchstens 480 Euro.<br />

Als geringes Einkommen definiert der<br />

Entwurf einen monatlichen Bruttoarbeitslohn<br />

von maximal 2000 Euro.<br />

Bewertung des VdK<br />

Der Sozialverband VdK bewertet den<br />

BAV-Förderbetrag im Hinblick auf<br />

das Ziel, die betriebliche Altersvorsorge<br />

gerade für Niedrigverdiener attraktiver<br />

zu machen, als Schritt in die richtige<br />

Richtung. Allerdings ist die Begrenzung<br />

niedriger Einkommen auf<br />

einen Betrag von monatlich 2000 Euro<br />

brutto deutlich zu gering.<br />

Ebenso ist die gewählte Obergrenze<br />

der geförderten Altersvorsorgebeiträge<br />

(480 Euro im Jahr oder 40 Euro monatlich)<br />

unzureichend. Da die Gruppe<br />

der Niedrigverdiener zur Zahlung eigener<br />

Beiträge finanziell in der Regel<br />

nicht in der Lage ist, lässt sich allein<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


Sozialpolitik<br />

239<br />

mit Arbeitgeberbeiträgen in dieser<br />

Höhe keine wesentliche Verbesserung<br />

der Altersvorsorge erreichen. ¦<br />

Stellungnahme des Sozialverbands VdK<br />

Deutschland e. V. zum Entwurf eines<br />

Gesetzes zur Stärkung der betrieblichen<br />

Altersversorgung und zur Änderung anderer<br />

Gesetze (Betriebsrentenstärkungsgesetz)<br />

vom 23. März <strong>2017</strong>.<br />

Krankenversicherung<br />

Rechtslücke bei der Rente<br />

für Frauen geschlossen<br />

Für viele Frauen war es wie ein böses<br />

Erwachen: Weil sie wegen längerer<br />

Kindererziehungszeiten über ihren<br />

Ehemann privat krankenversichert waren,<br />

wurden sie als Rentnerinnen nicht<br />

in die Krankenversicherung für Rentner<br />

aufgenommen. Der Sozialverband<br />

VdK hatte sich dafür stark gemacht,<br />

dies zu ändern. Mit Erfolg, denn jetzt<br />

hat der Gesetzgeber endlich reagiert.<br />

Ab sofort werden pauschal drei Jahre<br />

für jedes Kind den Mitgliedszeiten in<br />

der gesetzlichen Krankenversicherung,<br />

die zum Zugang in der Krankenversicherung<br />

der Rentner notwendig sind,<br />

gleichgestellt. Hintergrund: Wer in<br />

der zweiten Hälfte seines Berufslebens<br />

nicht zu 90 Prozent gesetzlich versichert<br />

ist, muss sich als Rentner freiwillig<br />

krankenversichern (9/10-Regelung).<br />

Das heißt, es muss der volle<br />

Beitragssatz auf das Einkommen gezahlt<br />

werden und nicht, wie in der<br />

Krankenversicherung für Rentner, nur<br />

der halbe Beitragssatz ausschließlich<br />

auf die Rente.<br />

Ein Beispiel: Wer mit 15 Jahren eine<br />

Berufsausbildung begonnen hat und<br />

mit 63 Jahren in Rente geht, für den<br />

ist ein Zeitraum von 48 Jahren zu prüfen.<br />

Davon muss er in der zweiten<br />

Hälfte (24 Jahre) zu 9/10 (21,6 Jahre)<br />

Mitglied in der gesetzlichen Krankenversicherung<br />

gewesen sein. Die Frist<br />

beginnt mit der erstmaligen Aufnahme<br />

einer Beschäftigung und endet mit<br />

dem Tag der Rentenantragstellung.<br />

Manchen Frauen fehlten nur wenige<br />

Monate oder gar Wochen an der vorgeschriebenen<br />

Zeit.<br />

Wer die 9/10-Regelung nicht erfüllte,<br />

hatte schnell einen Krankenkassenbeitrag<br />

von 60 Prozent der Rente und<br />

mehr zu berappen. „Das hat viele, die<br />

ihr Leben lang fleißig gearbeitet haben,<br />

stark benachteiligt. Für sie war<br />

Altersarmut vorprogrammiert“, so<br />

VdK-Präsidentin Ulrike Mascher.<br />

Deshalb sei es längst überfällig gewesen,<br />

dass die Politik für Abhilfe sorgt.<br />

Die Neuregelung ist im Rahmen des<br />

Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetzes<br />

im März dieses Jahres erfolgt.<br />

Der entsprechende Paragraph im Sozialgesetzbuch<br />

V wurde so abgeändert,<br />

dass die betroffenen Frauen die<br />

9/10-Regelung erfüllen können. ikl<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


240<br />

Recht<br />

Aus der<br />

Rechtsprechung des<br />

Bundessozialgerichts<br />

Mitgeteilt von Jörg Ungerer<br />

EINGLIEDERUNGSHILFE<br />

Sozialhilfe – Eingliederungshilfe –<br />

Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung<br />

– Kostenübernahme für eine<br />

Schulbegleitung – Inklusionsklasse<br />

einer Regelschule – wesentliche geistige<br />

Behinderung – Nachrang der Sozialhilfe<br />

– Hilfe außerhalb des Kernbereichs<br />

der pädagogischen Arbeit<br />

§§ 19 Abs. 3, 53 Abs. 1 Satz 1, 54<br />

Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 92 Abs. 2 Sätze<br />

1 und 2 SGB XII<br />

Kurzbericht<br />

Im Streit ist die Übernahme von Kosten<br />

für einen Schulbegleiter (Schuljahr<br />

2012/2013) in Höhe von 18236,30<br />

Euro.<br />

Die 2002 geborene Klägerin, die aufgrund<br />

ihrer Behinderung an einer<br />

Sprach-, einer motorischen Entwicklungs-<br />

und einer Kommunikationsstörung<br />

sowie einer Schwäche der Feinmotorik<br />

leidet, besuchte im Schuljahr<br />

2012/2013 mit Billigung des zuständigen<br />

Schulamtes die erste Grundschulklasse<br />

einer Regelschule. Dort<br />

wurde sie gemeinsam mit nichtbehinderten<br />

Kindern unter Einschaltung<br />

einer Kooperationslehrerin sowie eines<br />

Schulbegleiters unterrichtet. Den zuvor<br />

gestellten Antrag auf Übernahme<br />

der Kosten für den Schulbegleiter hat<br />

der Beklagte abgelehnt; er wurde jedoch<br />

im Rahmen eines einstweiligen<br />

Anordnungsverfahrens verpflichtet,<br />

vorläufig die angefallenen Kosten zu<br />

übernehmen. Die Klage hatte im<br />

Hauptverfahren in beiden Instanzen<br />

Erfolg. Zur Begründung seiner Entscheidung<br />

hat das Landessozialgericht<br />

(LSG) Baden-Württemberg ausgeführt,<br />

außerhalb des Kernbereichs der<br />

pädagogischen Tätigkeit, der vorliegend<br />

nicht tangiert sei, soweit es die<br />

Arbeit des Schulbegleiters betreffe,<br />

müsse der Beklagte die Kosten für unterstützende<br />

Hilfen übernehmen.<br />

Urteil des 8. Senats des Bundessozialgerichts<br />

vom 09.12.2016 – B 8<br />

SO 8/15 R<br />

Hiergegen wendet sich der Beklagte<br />

mit der Revision.<br />

Die Sache ist mangels ausreichender<br />

tatsächlicher Feststellungen zum Umfang<br />

des Anspruchs im Sinne eines<br />

Grundlagenbescheids für einen (späteren)<br />

Schuldbeitritt, wie er von der Klägerin<br />

bislang noch beantragt ist, an das<br />

LSG zurückverwiesen worden.<br />

Das LSG hat zu Unrecht ohne Anschlussberufung<br />

der Klägerin den als<br />

Verpflichtung zum Erlass eines<br />

Grundlagenbescheids formulierten<br />

Tenor des Sozialgerichts (SG) Reutlingen<br />

dahin geändert, dass der Beklagte<br />

„die Kosten für den Integrationshelfer<br />

für das Schuljahr 2012/2013<br />

zu tragen habe“. Nach der Zurückverweisung<br />

der Sache kann dies durch<br />

Erhebung einer Anschlussberufung<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


Recht<br />

241<br />

durch die Klägerin und entsprechenden<br />

Antrag noch korrigiert werden<br />

(§ 99 Abs. 3 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz,<br />

SGG) – Antrag auf Beitritt zur<br />

gegenüber der Beigeladenen zu 2 bestehenden<br />

Schuld.<br />

Es fehlen für eine endgültige Beurteilung<br />

auch ohne eine solche Anschlussberufung<br />

notwendige tatsächliche<br />

Feststellungen zum erforderlichen<br />

Umfang der Hilfen und zur richtigen<br />

Höhe der Kosten des Schulbegleiters.<br />

Entgegen anderer, falscher Pressemeldungen<br />

nach der mündlichen Verhandlung<br />

zum Ergebnis dieses Rechtsstreits<br />

hat das LSG jedoch zu Recht<br />

angenommen, dass der Beklagte im<br />

Rahmen der Eingliederungshilfe<br />

(§§ 53 ff. SGB XII) die Kosten für einen<br />

Schulbegleiter (hier in der „Inklusionsklasse“<br />

einer Regelschule) durch<br />

Schuldbeitritt und Zahlung an die<br />

Beigeladene zu 2 zu übernehmen hat,<br />

weil die Klägerin als wesentlich geistig<br />

behindertes Kind aufgrund der Behinderung<br />

ohne zusätzliche Unterstützung<br />

durch einen solchen Begleiter die<br />

individuell auf seine Fähigkeit und<br />

Fertigkeiten abgestimmten Lerninhalte<br />

nach den bindenden Feststellungen<br />

des LSG nicht verarbeiten und umsetzen<br />

konnte; dies hat unterstützende<br />

Leistungen einer Schulbegleitung erforderlich<br />

gemacht.<br />

Bei diesen Unterstützungsmaßnahmen<br />

handelte es sich nicht um den<br />

Kernbereich allgemeiner Schulbildung,<br />

für den allein die Schulbehörden<br />

die Leistungszuständigkeit besitzen.<br />

Im Rahmen des Nachrangs der<br />

Sozialhilfe außerhalb des Kernbereichs<br />

ist lediglich Voraussetzung,<br />

dass eine notwendige Schulbegleitung<br />

tatsächlich von anderen nicht übernommen<br />

oder getragen wird. Gegen<br />

wen im schulischen Kernbereich ein<br />

Anspruch des behinderten Menschen<br />

bestehen würde, ist nicht Gegenstand<br />

des sozial hilferechtlichen Verfahrens<br />

gegen den Beklagten. Gleiches gilt für<br />

die Frage nach einer vorrangigen Verpflichtung<br />

einer anderen juristischen<br />

Person außerhalb des Kernbereichs;<br />

diese wäre Gegenstand eines eventuellen<br />

Verfahrens des Beklagten gegen<br />

einen denkbaren Schuldner nach<br />

Überleitung des aus dem Schulrecht<br />

resultierenden Anspruchs auf sich<br />

(§ 93 SGB XII).<br />

Aus den Entscheidungsgründen<br />

1. Tatbestand<br />

Im Streit ist die Übernahme von Kosten<br />

für einen Schulbegleiter im Wege<br />

des Schuldbeitritts für das Schuljahr<br />

2012/2013 in Höhe von 18 236,30<br />

Euro.<br />

Die Klägerin ist 2002 mit einem<br />

Down-Syndrom geboren, aus dem eine<br />

Sprach- und motorische Entwicklungsverzögerung,<br />

eine Störung der<br />

Kommunikation sowie eine Schwäche<br />

der Feinmotorik resultieren. Ein Grad<br />

der Behinderung von 100 und die<br />

Merkzeichen „G“ und „H“ sind festgestellt;<br />

sie ist der Pflegestufe I nach<br />

dem Sozialgesetzbuch-Elftes Buch/Soziale<br />

Pflegeversicherung (SGB XI) zugeordnet.<br />

Zunächst absolvierte die Klägerin zwei<br />

Grundschuljahre in der L.-Schule<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


242<br />

Recht<br />

(Sonderpädagogisches Bildungs- und<br />

Beratungszentrum, SBBZ, mit Förderschwerpunkt<br />

geistige Entwicklung).<br />

Nachdem das Staatliche Schulamt<br />

festgestellt hatte, dass bei ihr zwar<br />

ein sonderpädagogischer Förderbedarf<br />

im Sinne der Schule für geistig Behinderte<br />

bestehe, die Förderung aber gemeinsam<br />

von der K.-Schule R. (Regelschule)<br />

und dem SBBZ an der K.-<br />

Schule übernommen werden könne<br />

(Bescheid vom 2. August 2010), besuchte<br />

die Klägerin ab dem Schuljahr<br />

2010/2011, nochmals beginnend mit<br />

der ersten Grundschulklasse, die Regelschule.<br />

Dort wurde sie gemeinsam<br />

mit nichtbehinderten Schülern, zieldifferent<br />

mit dem Bildungsangebot<br />

nach dem Bildungsgang der Schule<br />

für geistig Behinderte, unterrichtet.<br />

Durch eine Kooperationslehrerin des<br />

SBBZ erfolgte eine sonderpädagogische<br />

Betreuung.<br />

Den Antrag auf Übernahme der Kosten<br />

eines (zusätzlichen) Schulbegleiters<br />

für das Schuljahr 2011/2012 lehnte<br />

der Beklagte ebenso ab (Bescheid<br />

vom 18. Januar 2012; Widerspruchsbescheid<br />

vom 23. Juli 2012) wie den<br />

Antrag auf Übernahme der Kosten eines<br />

Schulbegleiters für das Schuljahr<br />

2012/2013 (Bescheid vom 27. November<br />

2012; Widerspruchsbescheid<br />

vom 22. <strong>April</strong> 2013), „übernahm“<br />

aber „vorläufig“ die Kosten für die ab<br />

12. November 2012 tätigen, bei der<br />

Beigeladenen zu 2 beschäftigten<br />

Schulbegleiter im Umfang von 17<br />

Stunden und 15 Minuten wöchentlich<br />

zum Preis von 43 Euro je Stunde<br />

aufgrund einer Verpflichtung im Rahmen<br />

des einstweiligen Rechtsschutzes<br />

(Beschluss des LSG Baden-Württemberg<br />

vom 7. November 2012). Es fielen<br />

Kosten in Höhe von insgesamt<br />

18 236,30 Euro an.<br />

Die zur gemeinsamen Verhandlung<br />

und Entscheidung verbundenen Klagen<br />

hatten insoweit Erfolg, als das SG<br />

festgestellt hat, dass der Bescheid vom<br />

18. Januar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids<br />

vom 23. Juli<br />

2012 rechtswidrig gewesen sei, und<br />

den Beklagten unter Abweisung der<br />

Klage im Übrigen (betreffend das<br />

Schuljahr 2013/2014; insoweit war<br />

noch keine Entscheidung des Beklagten<br />

über die Kostenübernahme für eine<br />

Schulbegleitung erfolgt) und Aufhebung<br />

des Bescheids vom 27. November<br />

2012 in der Gestalt des<br />

Widerspruchsbescheids vom 22. <strong>April</strong><br />

2013 verurteilt hat, die Kosten einer<br />

qualifizierten Hilfskraft im Umfang<br />

von 17 Stunden und 15 Minuten wöchentlich<br />

zu einem Betrag von 43 Euro<br />

pro Stunde für das Schuljahr<br />

2012/2013 „zu bewilligen“ (Urteil<br />

vom 18. Juni 2013).<br />

Das LSG hat die Berufung des Beklagten<br />

„mit der Maßgabe“ zurückgewiesen,<br />

dass dieser „die Kosten für den<br />

Integrationshelfer/Schulbegleiter für<br />

das Schuljahr 2012/2013 in Höhe von<br />

18 236,30 Euro zu tragen“ habe (Urteil<br />

vom 18. Februar 2015). Zur Begründung<br />

seiner Entscheidung hat das<br />

LSG ausgeführt, die Schulbegleitung<br />

für die Klägerin sei eine Maßnahme<br />

der Eingliederungshilfe, die den der<br />

Sozialhilfe nicht zugänglichen Kernbereich<br />

der pädagogischen schulischen<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


Recht<br />

243<br />

Tätigkeit nicht tangiere; es handle sich<br />

lediglich um unterstützende Hilfen im<br />

Zusammenhang mit der Ermöglichung<br />

einer angemessenen Schulbildung,<br />

für die eine nachrangige Zuständigkeit<br />

des Beklagten bestehe. Der<br />

Kernbereich sei, anders als dieser meine,<br />

nicht nach Maßgabe des Schulrechts<br />

für das Land Baden-Württemberg,<br />

sondern bundeseinheitlich nach<br />

sozialhilferechtlichen Kriterien zu bestimmen.<br />

Ungedeckter Hilfebedarf habe bei der<br />

Klägerin in der Unterstützung bei der<br />

Fokussierung der Aufmerksamkeit auf<br />

das Unterrichtsgeschehen, im Verdeutlichen<br />

und Wiederholen von<br />

Aufgabenstellungen, bei der Unterstützung<br />

in Arbeitsphasen sowie der<br />

Auswahl der richtigen Bücher und<br />

Hefte, bei der Selbstorganisation,<br />

beim Aufbau von Ordnungsprinzipien<br />

und in der Interaktion mit anderen<br />

Schülern sowie den Lehrern im Sinne<br />

einer Kommunikationshilfe bestanden.<br />

Dabei sei es um Impulse, zum<br />

Beispiel Fingerzeige auf die jeweilige<br />

Aufgabe, gegangen, um die Klägerin<br />

auf das Unterrichtsgeschehen hinzuweisen.<br />

Bestehender sonderpädagogischer<br />

Bedarf werde hingegen durch<br />

die Kooperationslehrkraft des SBBZ<br />

abgedeckt.<br />

Mit seiner Revision rügt der Beklagte<br />

eine Verletzung der §§ 53, 54 Sozialgesetzbuch-Zwölftes<br />

Buch/Sozialhilfe<br />

(SGB XII). Der Kernbereich pädagogischer<br />

Arbeit sei nach Maßgabe des<br />

jeweiligen Landesschulrechts zu bestimmen.<br />

Eine Bestimmung nach<br />

Maßgabe des SGB XII verstoße gegen<br />

Art. 70 Grundgesetz (GG) und führe<br />

im Ergebnis zu einer Bedarfsdeckungslücke,<br />

wenn bundesrechtlich<br />

der Kernbereich weit, landesrechtlich<br />

aber eng verstanden werde. Die rechtliche<br />

Verpflichtung, behinderte Kinder<br />

zu fördern, bestehe im Übrigen<br />

nach dem Landesschulrecht Baden-<br />

Württemberg auch in Regelschulen.<br />

Deren Förderung in Regelschulen stehe<br />

unter dem Vorbehalt, dass sie dem<br />

Unterricht folgen könnten. Sei dies<br />

nicht der Fall, habe ihre Beschulung<br />

in sogenannten Sonderschulen zu erfolgen.<br />

2. Entscheidungsgründe<br />

Die Revision des Beklagten ist im Sinne<br />

der Aufhebung des Urteils des LSG<br />

und der Zurückverweisung der Sache<br />

an dieses Gericht begründet (§ 170<br />

Abs. 2 Satz 2 SGG).<br />

2.1. Gegenstand des Verfahrens<br />

Gegenstand des Verfahrens ist nur<br />

noch der Bescheid vom 27. November<br />

2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids<br />

vom 22. <strong>April</strong> 2013 (§ 95<br />

SGG), soweit der sachlich und örtlich<br />

zuständige Beklagte (§ 97 Abs. 1, § 98<br />

Abs. 1 SGB XII in Verbindung mit<br />

§ 3 Abs. 2 Satz 1 SGB XII und §§ 1, 2<br />

des baden-württembergischen Ausführungsgesetzes<br />

zum SGB XII, AG-<br />

SGB XII, vom 1. Juli 2004, Gesetzblatt<br />

534; eine Heranziehung kreisangehöriger<br />

Gemeinden nach § 3<br />

AG-SGB XII ist im Landkreis Tübingen<br />

nicht erfolgt) den Antrag der Klägerin<br />

auf Übernahme von Kosten für<br />

einen Schulbegleiter für das Schuljahr<br />

2012/2013 abgelehnt hat.<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


244<br />

Recht<br />

Der durch das LSG getroffenen Sachentscheidung<br />

über einen konkreten<br />

Betrag stand allerdings das Verbot der<br />

„reformatio in peius“ entgegen. Zwar<br />

hätte die Klägerin im Berufungsverfahren<br />

in verfahrensrechtlich zulässiger<br />

Weise (BSG SozR 1750 § 521<br />

ZPO Nr. 11) im Wege einer Anschlussberufung<br />

(§ 202 SGG in<br />

Verbindung mit § 524 Zivilprozessordnung,<br />

ZPO) noch den Beitritt<br />

des Beklagten zu einer mittlerweile<br />

bestimmbaren Schuld, nämlich<br />

18 236,30 Euro, geltend machen können<br />

(nicht die Leistung selbst – dazu<br />

gleich), ohne dass darin eine Klageänderung<br />

zu sehen gewesen wäre (§ 99<br />

Abs. 3 Nr. 3 SGG); jedoch fehlte es an<br />

einem dafür erforderlichen Antrag der<br />

Klägerin.<br />

2.2. Berufungsverfahren<br />

Gegen die Entscheidung des SG hat<br />

nur der Beklagte, nicht die Klägerin<br />

Berufung eingelegt; diese hat vor dem<br />

LSG ausschließlich beantragt, die Berufung<br />

des Beklagten zurückzuweisen,<br />

sodass es sich bei der im Tenor der<br />

LSG-Entscheidung ausgesprochenen<br />

„Änderung“ des SG-Tenors, anders als<br />

das LSG meinte, nicht nur um eine<br />

bloße „Korrektur“ gehandelt hat. Die<br />

erforderliche Anschlussberufung kann<br />

jedoch nach der Zurückverweisung<br />

der Sache an das LSG, die ohnedies<br />

erforderlich ist, nachgeholt werden.<br />

Demgegenüber hat das SG seine Entscheidung<br />

noch zulässigerweise, dem<br />

klägerischen Antrag entsprechend, auf<br />

die streitbefangenen „Grundlagen“<br />

des geltend gemachten Anspruchs beschränkt<br />

(Verurteilung zum Erlass eines<br />

sogenannten Grundlagenbescheids),<br />

indem es den Beklagten verurteilt<br />

hat, die Kosten „einer<br />

qualifizierten Hilfskraft“ im Umfang<br />

von 17 Stunden und 15 Minuten wöchentlich<br />

zu einem Betrag von 43 Euro<br />

pro Stunde für das Schuljahr<br />

2012/2013 „zu bewilligen“. Damit<br />

hat es den Beklagten noch nicht zum<br />

Schuldbeitritt verurteilt. Diese zulässige<br />

Form der Entscheidung ist von einem<br />

Grundurteil zu unterscheiden,<br />

das hier nicht hätte ergehen dürfen,<br />

weil keine Leistung in Geld begehrt<br />

worden ist (§ 130 Abs. 1 Satz 1 SGG).<br />

Der Antrag der Klägerin war insoweit<br />

zu Recht auf den Erlass eines Grundlagenbescheids,<br />

nicht bereits auf Erlass<br />

eines konkreten Bewilligungsbescheids<br />

in Form eines Schuldbeitritts gerichtet.<br />

Für den Erlass eines Grundlagenbescheids<br />

bedarf es keiner ausdrücklichen<br />

gesetzlichen Ermächtigung; es<br />

genügt, dass sich dessen Zulässigkeit<br />

aus dem normativen Kontext ergibt<br />

(BSG SozR 3-4100 § 128 Nr. 4 S. 35).<br />

Dies ist bei der vorliegenden Leistung<br />

der Eingliederungshilfe der Fall. Eine<br />

Vorabentscheidung über die Übernahme<br />

von Kosten für eine Schulbegleitung<br />

je Schuljahr hinsichtlich ihrer<br />

Geeignetheit, Erforderlichkeit und der<br />

Höhe der Vergütung ist nach der gesetzlichen<br />

Systematik sinnvoll und<br />

entspricht sowohl den Interessen des<br />

Hilfebedürftigen als auch denen der<br />

Behörde. Die hilfebedürftige Person<br />

benötigt und erhält durch eine bindende<br />

„Vorabentscheidung“, an die<br />

die Behörde bei der Entscheidung<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


Recht<br />

245<br />

über den Schuldbeitritt und die Zahlung<br />

an den Dritten gebunden ist<br />

(BSG SozR 4-3200 § 82 Nr. 1 Rd. Nr.<br />

29), Planungssicherheit. Es ist der<br />

hilfe bedürftigen Person nicht zuzumuten,<br />

ohne Rechtssicherheit bezüglich<br />

der Kostentragung das Risiko eingehen<br />

zu müssen, einen Vertrag mit<br />

dem Leistungserbringer zu schließen,<br />

gegebenenfalls zu verauslagende Kosten<br />

aber nicht erstattet zu erhalten<br />

(BSG SozR 4-3250 § 14 Nr. 24 Rd.<br />

Nr. 16). Die Behörde hat durch eine<br />

solche Grundlagenentscheidung andererseits<br />

insbesondere die Möglichkeit,<br />

im Hinblick auf gegebenenfalls bestehende<br />

Verträge mit Leistungserbringern<br />

nach den §§ 75 ff. SGB XII künftigen<br />

Streit um die Höhe der zu übernehmenden<br />

Vergütung zu vermeiden.<br />

2.3. Klageart<br />

Richtige Klageart ist – auch nach Erhebung<br />

der Anschlussberufung – die<br />

kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage<br />

(§ 54 Abs. 1, 4 SGG).<br />

Die Klägerin kann neben dem Schuldbeitritt<br />

vom Beklagten nicht verlangen,<br />

erneut 18 236,30 Euro an die Beigeladene<br />

zu 2 zu zahlen. Es bedarf<br />

vielmehr (nur) noch der Verpflichtung<br />

des Beklagten zum Erlass eines<br />

Verwaltungsaktes mit Drittwirkung<br />

(Schuldbeitritt), der im Verhältnis aller<br />

an der Leistungsverschaffung Beteiligten<br />

einen Rechtsgrund für die Zahlung<br />

schafft (vgl. auch Bundesgerichtshof,<br />

BGH, Urteil vom 31. März 2016,<br />

III ZR 267/15). Denn die einstweilige<br />

Anordnung verliert mit der endgültigen<br />

Entscheidung ihre Rechtswirkungen<br />

(vgl. BSG SozR 4-3500 § 90 Nr.<br />

1 Rd. Nr. 12 mit weiteren Nachweisen)<br />

und kann damit nicht den Rechtsgrund<br />

für das Behaltendürfen der Leistung<br />

bilden.<br />

2.4. Hilfe zur angemessenen<br />

Schulbildung<br />

(Eingliederungshilfe)<br />

Inhaltlich geht es um die vom Vermögenseinsatz<br />

gänzlich und hier vom<br />

Einkommenseinsatz freigestellte Hilfe<br />

(§ 92 Abs. 2 Sätze 1 und 2 SGB XII)<br />

zu einer angemessenen Schulbildung<br />

nach § 19 Abs. 3 (in der Normfassung<br />

des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen<br />

und zur Änderung des<br />

Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch<br />

vom 24. März 2011, BGBl I<br />

453) in Verbindung mit § 53 Abs. 1<br />

Satz 1 (in der Normfassung des Gesetzes<br />

zur Einordnung des Sozialhilferechts<br />

in das Sozialgesetzbuch vom<br />

27. Dezember 2003, BGBl. I 3022<br />

erhalten hat), § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1<br />

SGB XII (in der Normfassung des<br />

Gesetzes zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs<br />

im Krankenhaus vom<br />

30. Juli 2009, BGBl. I 2495) und<br />

§ 12 Nr. 1 Eingliederungshilfe-Verordnung<br />

(Eingliederungshilfe-VO, in<br />

der Normfassung des Gesetzes vom<br />

27. Dezember 2003) in Verbindung<br />

mit § 92 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB XII<br />

(in der Normfassung des Gesetzes vom<br />

24. März 2011).<br />

Ob die Klägerin einen Anspruch auf<br />

Schuldbeitritt hat, konnte der Senat<br />

jedoch – auch soweit es die Grundlagenentscheidung<br />

des SG betrifft –<br />

nicht abschließend beurteilen. Es feh-<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


246<br />

Recht<br />

len zum einen tatsächliche Feststellungen<br />

des LSG (§ 163 SGG) zum<br />

erforderlichen quantitativen Umfang<br />

der für die Klägerin notwendigen und<br />

geeigneten Hilfen durch eine Schulbegleitung<br />

und zum anderen zur maßgeblichen<br />

Höhe der Vergütung, zu<br />

Existenz und Inhalt von Vereinbarungen,<br />

insbesondere zu einer Vergütungsvereinbarung,<br />

zwischen dem Beklagten<br />

und der Beigeladenen zu 2<br />

nach den §§ 75 ff. SGB XII. Besteht<br />

eine solche Vereinbarung nicht, wäre<br />

die zu übernehmende Höhe der Vergütung<br />

nach § 75 Abs. 4 SGB XII<br />

zu bestimmen, wofür dann weitere<br />

(hier nicht getroffene) Feststellungen<br />

zu Vereinbarungen mit anderen<br />

Leistungserbringern am Ort der Leistungserbringung<br />

oder in seiner nächsten<br />

Umgebung für vergleichbare<br />

Leistungen erforderlich wären.<br />

Bei den von der Beigeladenen zu 2 erbrachten<br />

Leistungen handelt es sich<br />

allerdings der Sache nach um Hilfen<br />

zur angemessenen Schulbildung als<br />

Leistung der Eingliederungshilfe. Die<br />

Klägerin erfüllt die personenbezogenen<br />

Voraussetzungen des § 53 Abs. 1<br />

Satz 1 SGB XII. Danach werden Leistungen<br />

der Eingliederungshilfe – als<br />

gebundene Leistung – an Personen<br />

erbracht, die durch eine Behinderung<br />

im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch-Neuntes<br />

Buch/Rehabilitation<br />

und Teilhabe behinderter Menschen<br />

(SGB IX) wesentlich in ihrer<br />

Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben,<br />

eingeschränkt oder von einer<br />

solchen wesentlichen Behinderung<br />

bedroht sind, wenn und solange nach<br />

den Besonderheiten des Einzelfalls,<br />

insbesondere nach Art und Schwere<br />

der Behinderung, Aussicht besteht,<br />

dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe<br />

erfüllt werden kann. Diese Voraussetzungen<br />

liegen nach den bindenden<br />

tatsächlichen Feststellungen des<br />

LSG (§ 163 SGG) vor; bei der Klägerin<br />

besteht eine geistige Behinderung,<br />

die sich in einer Sprach- und motorischen<br />

Entwicklungsverzögerung, einer<br />

Störung der Kommunikation sowie<br />

einer Schwäche der Feinmotorik zeigt.<br />

a) Teilhabe<br />

Diese geistige Behinderung ist auch<br />

wesentlich (§ 2 Eingliederungshilfe-<br />

VO). Voraussetzung für die Annahme<br />

der Wesentlichkeit der Behinderung<br />

ist danach, dass der geistig behinderte<br />

Mensch in erheblichem Umfang in<br />

seiner Fähigkeit zur Teilhabe am Leben<br />

in der Gesellschaft eingeschränkt<br />

ist. Dies ist bei der Klägerin der Fall.<br />

Die durch ihre Behinderung hervorgerufenen<br />

Beeinträchtigungen lassen<br />

den erfolgreichen Besuch des Unterrichts<br />

an der Grundschule als Regelschule<br />

ohne Unterstützung nicht zu.<br />

Auch die für sie individuell und auf<br />

ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten abgestimmten<br />

Lerninhalte im Rahmen<br />

eines zieldifferenten Unterrichts konnte<br />

sie ohne zusätzliche Unterstützung<br />

nicht verarbeiten und umsetzen (zur<br />

Bedeutung der Grundschulausbildung<br />

vgl. bereits BSGE 110, 301 ff. Rd. Nr.<br />

19 mit weiteren Nachweisen = SozR<br />

4-3500 § 54 Nr. 8).<br />

Die Schulbegleitung ist im vorliegenden<br />

Fall eine Hilfe zur angemessenen<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


Recht<br />

247<br />

Schulbildung im Sinne des Sozialhilferechts,<br />

die nicht den Kernbereich<br />

pädagogischer Tätigkeit berührt, für<br />

den eine Zuständigkeit des Beklagten<br />

ausgeschlossen wäre. Nach § 54<br />

Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII in Verbindung<br />

mit § 12 Eingliederungshilfe-VO<br />

umfasst die Hilfe zu einer<br />

angemessenen Schulbildung auch<br />

heilpädagogische sowie sonstige Maßnahmen<br />

zugunsten körperlich und<br />

geistig behinderter Kinder und Jugendlicher,<br />

wenn die Maßnahme erforderlich<br />

und geeignet ist, dem behinderten<br />

Menschen den Schulbesuch<br />

im Rahmen der allgemeinen<br />

Schulpflicht zu ermöglichen und zu<br />

erleichtern, also insoweit die Behinderungsfolgen<br />

zu beseitigen oder zu mildern<br />

(vgl. dazu BSGE 101, 79 ff. Rd.<br />

Nr. 27 mit weiteren Nachweisen =<br />

SozR 4-3500 § 54 Nr. 1).<br />

Eine allgemeingültige Definition dessen,<br />

was unter einer „angemessenen<br />

Schulbildung“ zu verstehen ist, gibt es<br />

weder im SGB IX noch im SGB XII;<br />

auch § 12 Eingliederungshilfe-VO<br />

benennt nur beispielhaft Maßnahmen,<br />

die Gegenstand einer möglichen<br />

Hilfe zur angemessenen Schulbildung<br />

sein können (vgl. BSG SozR 4-1500<br />

§ 130 Nr. 4). Gleiches gilt für Art. 24<br />

Abs. 2 des Übereinkommens der Vereinten<br />

Nationen über die Rechte von<br />

Menschen mit Behinderungen vom<br />

13. Dezember 2006 (UN-Behindertenrechtskonvention,<br />

UN-BRK, Gesetz<br />

vom 21. Dezember 2008, BGBl.<br />

II 1419, in der Bundesrepublik in<br />

Kraft seit 26. März 2009, BGBl. II<br />

812), das als ranggleiches Bundesrecht<br />

im Rahmen der Auslegung zu beachten<br />

und anzuwenden ist (hierzu<br />

BSGE 110, 194 ff. Rd. Nr. 19 = SozR<br />

4-1100 Art. 3 Nr. 69). Art. 24 Abs. 2<br />

UN-BRK setzt ebenfalls ein „allgemeines<br />

Bildungssystem“ voraus, zu<br />

dem Menschen mit Behinderung<br />

gleichberechtigter Zugang zu ermöglichen<br />

und die notwendige Unterstützung<br />

zu leisten ist; die UN-BRK<br />

schreibt selbst aber keine Anforderungen<br />

an ein „allgemeines Bildungssystem“<br />

fest. Die Entscheidung darüber,<br />

was für das einzelne Kind die „angemessene<br />

Schulbildung“ darstellt, obliegt<br />

deshalb, wie § 54 Abs. 1 Satz 1<br />

Nr. 1 zweiter Halbsatz SGB XII deutlich<br />

macht, der Schulverwaltung<br />

(BSG SozR 4-1500 § 130 Nr. 4 Rd.<br />

Nr. 21). Diese hat im Fall der Klägerin<br />

einen sonderpädagogischen Förderbedarf<br />

im Sinne der Schule für<br />

geistig Behinderte festgestellt, zugleich<br />

aber erlaubt, dass die Förderung<br />

in der K.-Schule (als Regelgrundschule)<br />

in Kooperation mit dem<br />

SBBZ zieldifferent durchgeführt werden<br />

kann.<br />

Der Kernbereich pädagogischer Tätigkeit<br />

ist vorliegend nicht berührt.<br />

Der Senat hat hierzu bereits unter<br />

Verweis auf § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1<br />

zweiter Halbsatz SGB XII, wonach<br />

die Bestimmungen über die Ermöglichung<br />

der Schulbildung im Rahmen<br />

der allgemeinen Schulpflicht von den<br />

Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung<br />

nach Maßgabe des Sozialhilferechts<br />

unberührt bleiben, ausgeführt,<br />

dass sich dieser Kernbereich<br />

schon aus systematischen Gründen<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


248<br />

Recht<br />

nach Maßgabe des Sozialhilferechts<br />

bestimmt (vgl. zuletzt BSG SozR<br />

4-1500 § 130 Nr. 4 mit weiteren<br />

Nachweisen); dem hat sich das Bundesverwaltungsgericht<br />

(BVerwG) für<br />

den Bereich der Jugendhilfe angeschlossen<br />

(BVerwGE 145, 1 ff.).<br />

Schulrechtliche Verpflichtungen bestehen<br />

demnach grundsätzlich neben<br />

den sozialhilferechtlichen. Dies hat<br />

zur Folge, dass im Kernbereich pädagogischer<br />

Tätigkeit keine, auch keine<br />

nachrangige Leistungspflicht des<br />

Sozial hilfeträgers besteht (BSGE 110,<br />

301 ff. Rd. Nr. 21 mit weiteren Nachweisen<br />

= SozR 4-3500 § 54 Nr. 8),<br />

weil es sich um originär und ausschließlich<br />

schulrechtliche Verpflichtungen<br />

handelt.<br />

Anders als der Beklagte meint, ist die<br />

Regelung über die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen<br />

zwischen<br />

Bund und Ländern nach Art. 70 GG,<br />

wonach den Ländern im Bereich des<br />

Schulwesens die alleinige Gesetzgebungskompetenz<br />

zugewiesen ist, für<br />

die vom Senat gefundene Auslegung<br />

ohne Bedeutung. Denn der Senat legt<br />

gerade kein (landesrechtlich geregeltes)<br />

Schulrecht aus, sondern bundesrechtlich<br />

normiertes Leistungsrecht<br />

(Eingliederungshilfe). Dies bedeutet<br />

umgekehrt, dass mit der Entscheidung<br />

der Schulverwaltung über die Form<br />

der Erfüllung der allgemeinen Schulpflicht<br />

keine Aussage darüber getroffen<br />

wird, ob und inwieweit zur Erfüllung<br />

dieser Pflicht Leistungen der Sozialhilfe<br />

zu gewähren sind. Dem<br />

Beklagten ist insoweit zwar zuzugestehen,<br />

dass durch die Entscheidung der<br />

Schulverwaltung, der Klägerin eine<br />

inklusive Beschulung zu ermöglichen,<br />

Bedarfe entstehen können, die bei einer<br />

Beschulung in einer sogenannten<br />

Sonder- oder Förderschule gegebenenfalls<br />

nicht durch den Sozialhilfeträger<br />

getragen werden müssten, weil<br />

die Sonder- oder Förderschulen über<br />

mehr Personal zur Unterstützung der<br />

behinderten Kinder verfügen. Dies<br />

ändert aber nichts an der nachrangigen<br />

Leistungspflicht des Sozialhilfeträgers.<br />

Der Terminus „Kernbereich“ ist<br />

im Übrigen kein schulrechtlicher Begriff<br />

(dazu später).<br />

Der Kernbereich pädagogischer Tätigkeit<br />

ist nicht betroffen, wenn die<br />

Schulbegleitung die eigentliche pädagogische<br />

Arbeit der Lehrkraft nur absichert<br />

(„begleitet“). Den Kernbereich<br />

berühren deshalb alle integrierenden,<br />

beaufsichtigenden und fördernden Assistenzdienste<br />

nicht, die flankierend<br />

zum Unterricht erforderlich sind, damit<br />

der behinderte Mensch das pädagogische<br />

Angebot der Schule überhaupt<br />

wahrnehmen kann (so auch<br />

DIJuF-Rechtsgutachten vom 6. August<br />

2014 zur vergleichbaren Abgrenzungsproblematik<br />

in der Jugendhilfe<br />

unter Verweis auf LSG Nordrhein-<br />

Westfalen, Beschluss vom 5. Februar<br />

2014, L 9 SO 413/13 B ER). Die Vorgabe<br />

und Vermittlung der Lerninhalte,<br />

somit der Unterricht selbst, seine<br />

Inhalte, das pädagogische Konzept der<br />

Wissensvermittlung wie auch die Bewertung<br />

der Schülerleistungen bleibt<br />

den Lehrkräften vorbehalten, ist damit<br />

dem Kernbereich der pädagogischen<br />

Arbeit zuzuordnen.<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


Recht<br />

249<br />

b) Erforderlichkeit und Eignung<br />

der Hilfe<br />

Die gegenüber der Klägerin erbrachte<br />

Hilfe ist auch geeignet zur Erreichung<br />

der Eingliederungsziele (§ 53 Abs. 1<br />

Satz 1 SGB XII) und der Sache nach<br />

erforderlich (zur quantitativen Erforderlichkeit<br />

später). Die Erforderlichkeit<br />

und Eignung der Hilfe verlangt<br />

eine am Einzelfall orientierte, individuelle<br />

Beurteilung, ein individualisiertes<br />

Förderverständnis (vgl. BSGE 110,<br />

301 ff. Rd. Nr. 21 = SozR 4-3500 § 54<br />

Nr. 8; SozR 4-3500 § 54 Nr. 6 Rd.<br />

Nr. 22), das einer Kategorisierung der<br />

in Betracht kommenden Hilfen oder<br />

Maßnahmen nach abstrakt-generellen<br />

Kriterien entgegensteht. Damit verbietet<br />

sich eine Differenzierung danach,<br />

ob eine Hilfe (ganz oder teilweise)<br />

pädagogischen Charakter hat.<br />

Nach den bindenden Feststellungen<br />

des LSG (§ 163 SGG) konnte die<br />

Klägerin dem Unterricht, insbesondere<br />

in den lernintensiven Fächern<br />

Deutsch und Mathematik, nicht folgen.<br />

Sie beschäftigte sich mit sich<br />

selbst, sobald sie den Anschluss verpasst<br />

hatte, oder störte Mitschüler.<br />

Durch die bewusste Fokussierung ihrer<br />

Aufmerksamkeit auf das zu bearbeitende<br />

Thema mithilfe einer<br />

„1:1-Unterstützung“ durch die Schulbegleitung<br />

konnte hingegen ein Lernfortschritt<br />

erzielt werden. Die Schulbegleitung<br />

hat insbesondere die Aufmerksamkeit<br />

der Klägerin auf die<br />

gerade zu erledigende Aufgabe gelenkt,<br />

sie im Vorfeld dabei unterstützt,<br />

die erforderlichen Arbeitsunterlagen<br />

bereitzulegen und diese entsprechend<br />

dem auf sie angepassten<br />

Lernziel zu benutzen. Dass zur Erfüllung<br />

dieser Aufgabe gegebenenfalls<br />

pädagogische Kenntnisse und Fertigkeiten<br />

notwendig waren und zur Anwendung<br />

kamen, zum Beispiel indem<br />

der Klägerin eine von der Lehrerin<br />

gestellte Aufgabe durch die Schulbegleitung<br />

nochmals in einer für sie besser<br />

verständlichen Art und Weise erklärt<br />

worden ist, ist qualitativ für die<br />

Beurteilung der Erforderlichkeit und<br />

Eignung der Hilfe ohne Bedeutung.<br />

Das Ergebnis wird geradezu gestützt<br />

durch die Ausführungen des Beklagten,<br />

der eine Bestimmung des Kernbereichs<br />

pädagogischer Tätigkeit für<br />

die jeweilige Schulform nach landesrechtlichen<br />

Schulvorschriften und die<br />

Schulziele nach Maßgabe der für die<br />

Schulform geltenden allgemeinen Bildungspläne<br />

fordert. Lässt man unberücksichtigt,<br />

dass, wie ausgeführt, ein<br />

solches Verständnis bereits dem<br />

Wortlaut und der Systematik der für<br />

die Beurteilung des Hilfebedarfs der<br />

Klägerin allein maßgeblichen sozialhilferechtlichen<br />

Vorschriften widerspricht,<br />

bleibt bei einer derartigen Argumentation<br />

außer Acht, dass die Klägerin<br />

gerade nicht nach dem<br />

allgemeinen Bildungsplan der Regelgrundschule,<br />

sondern zieldifferent,<br />

das heißt nach einem auf sie individuell<br />

abgestimmten Bildungs- und<br />

Kompetenzplan, wenn auch im Klassenverbund<br />

mit nichtbehinderten<br />

Kindern, unterrichtet wird. Ob nach<br />

dem Landesrecht Baden-Württemberg<br />

die Förderung und Unterrichtung<br />

behinderter Kinder an einer Re-<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


250<br />

Recht<br />

gelschule, wie der Beklagte meint,<br />

unter dem (ungeschriebenen) Vorbehalt<br />

steht, dass diese dem Unterricht<br />

der Regelschule folgen können, kann<br />

offenbleiben.<br />

Dieses Argument könnte allenfalls von<br />

Bedeutung sein für die Entscheidung<br />

der Schulverwaltung über die Erfüllung<br />

der Schulbesuchspflicht behinderter<br />

Kinder an Regelschulen; steht<br />

die Zulässigkeit der Beschulung an einer<br />

Regelschule allerdings fest, kann<br />

dieses Argument nicht (auch) dem<br />

Anspruch auf Deckung des sozialhilferechtlichen<br />

Hilfebedarfs entgegengehalten<br />

werden. Folglich ist der Einwand<br />

des Beklagten, die Schulverwaltung<br />

sei verpflichtet, sehe sie nicht von<br />

der Feststellung der Sonderschulpflicht<br />

ab, die Verhältnisse an den<br />

Schulen so auszugestalten, dass ein<br />

gemeinsames Verfolgen „des Bildungsgangs“<br />

möglich sei, bei fehlender<br />

Pflichterfüllung ohne Bedeutung.<br />

Denn dieses Vorbringen zielt nur darauf<br />

ab, gegebenenfalls aus dem Landesrecht<br />

resultierende Verpflichtungen<br />

der Schulverwaltung im Hinblick<br />

auf die Ausstattung der Schulen<br />

durchzusetzen, mindert aber nicht den<br />

sozialhilferechtlichen Hilfebedarf der<br />

Klägerin.<br />

c) Bedarfsdeckung<br />

Zudem ist der Einwand des Beklagten<br />

nicht zutreffend, die Bestimmung des<br />

Kernbereichs pädagogischer Tätigkeit<br />

nach Maßgabe des Sozialhilferechts<br />

könne zu „Bedarfsunterdeckungen“<br />

führen, wenn ein Bundesland im Rahmen<br />

seiner schulrechtlichen Gesetzgebungskompetenz<br />

den Kernbereich der<br />

Aufgaben der Schule sehr eng ziehen<br />

sollte, aus Sicht des Sozialhilferechts<br />

der Kernbereich aber weiter gehend als<br />

das landesrechtliche Schulrecht zu ziehen<br />

sei. Normativ ist, wie ausgeführt,<br />

bei systematisch zutreffender Auslegung<br />

der §§ 53, 54 SGB XII in Verbindung<br />

mit § 12 Eingliederungshilfe-<br />

VO bereits keine Bedarfsdeckungslücke<br />

denkbar. Es ist zudem kaum<br />

vorstellbar, dass der Kernbereich pädagogischer<br />

Arbeit, den der Senat wie<br />

aufgezeigt (eng) auf die Unterrichtsgestaltung<br />

selbst begrenzt sieht (BSGE<br />

112, 196 ff. Rd. Nr. 17 = SozR 4-3500<br />

§ 54 Nr. 10), landesschulrechtlich enger<br />

geregelt werden kann.<br />

Landesschulrecht kann keinen sozialhilferechtlich<br />

bestimmten Kernbereich<br />

regeln. Die Argumentation des<br />

Beklagten setzt bei der unzutreffenden<br />

Annahme an, der Begriff des „Kernbereichs<br />

pädagogischer Tätigkeit“ sei<br />

schulrechtlicher Natur; jedoch handelt<br />

es sich um einen rein für das Sozialhilferecht<br />

entwickelten Begriff, der<br />

für das Schulrecht ohne rechtliche Bedeutung<br />

ist. Die Wissensvermittlung<br />

durch Unterricht, gleichgültig in welcher<br />

Form, stellt jedenfalls den elementaren<br />

Auftrag der Schule dar.<br />

Faktische „Bedarfsdeckungslücken“<br />

wären insoweit in einer unzureichenden<br />

Versorgung der Schulen mit<br />

Lehrkräften denkbar, für die der<br />

Sozial hilfeträger Leistungen allerdings<br />

auch nicht nachrangig zu erbringen<br />

hat (BSGE 110, 301 ff. Rd. Nr. 21<br />

mit weiteren Nachweisen = SozR<br />

4-3500 § 54 Nr. 8).<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


Recht<br />

251<br />

2.5. Leistungspflicht<br />

Der außerhalb des Kernbereichs bestehende<br />

Hilfebedarf der Klägerin wurde<br />

tatsächlich von dritter Seite nicht gedeckt,<br />

sodass eine (nur nachrangige)<br />

Leistungspflicht des Beklagten (§ 2<br />

Abs. 1 SGB XII) besteht. Selbst wenn<br />

ein Anspruch auf Hilfe durch eine<br />

Schulbegleitung gegen den Schulträger<br />

bestünde, könnte dies die Ablehnung<br />

der Leistung gegenüber der Klägerin<br />

nicht rechtfertigen (BSGE 103,<br />

171 ff. Rd. Nr. 20 = SozR 4-3500 § 54<br />

Nr. 5; BSG-Urteil vom 30. Juni 2016,<br />

B 8 SO 7/15 R, Rd. Nr. 22).<br />

Gegen welchen Träger im Kernbereich<br />

ein Leistungsanspruch des behinderten<br />

Menschen bestehen würde,<br />

ist für das vorliegende Verfahren ebenso<br />

wenig von Bedeutung wie die Frage,<br />

welche andere juristische Person<br />

für Leistungen außerhalb des Kernbereichs<br />

gegebenenfalls (vorrangig) zuständig<br />

wäre und auf welche Rechtsgrundlage<br />

ein derartiger Anspruch gestützt<br />

werden könnte. Diese Frage<br />

wäre Gegenstand eines möglichen<br />

Verfahrens des Beklagten gegen einen<br />

denkbaren Schuldner nach Überleitung<br />

eines sich gegebenenfalls aus dem<br />

Schulrecht ergebenden Anspruchs auf<br />

sich (§ 93 SGB XII).<br />

Allerdings fehlt es an Feststellungen<br />

des LSG (§ 163 SGG) zur Beurteilung<br />

des erforderlichen quantitativen Umfangs<br />

der Hilfen. Allein der Umstand,<br />

dass Hilfen nur im Umfang der vom<br />

SG zugesprochenen Stundenzahl in<br />

Anspruch genommen worden sind,<br />

macht Feststellungen zur quantitativen<br />

Erforderlichkeit nicht entbehrlich.<br />

Außerdem wird das LSG die schuldrechtliche<br />

Verpflichtung der Klägerin<br />

gegenüber der Beigeladenen zu 2 (zur<br />

Maßgeblichkeit der vertraglichen Verpflichtung<br />

für den Umfang des<br />

Schuldbeitritts vgl. nur BSGE 110,<br />

301 ff. Rd. Nr. 24 = SozR 4-3500 § 54<br />

Nr. 8; für Leistungen in Einrichtungen<br />

BSG SozR 4-3500 § 53 Nr. 4 Rd.<br />

Nr. 13 ff.) sowie die Existenz und den<br />

Inhalt von Verträgen (§§ 75 ff.<br />

SGB XII) zwischen dem Beklagten<br />

und der Beigeladenen zu 2 festzustellen<br />

und gegebenenfalls auch über die<br />

Kosten des Revisionsverfahrens zu<br />

entscheiden haben. Darüber hinaus<br />

wird es auf eine Vollstreckbarkeit des<br />

Urteilstenors zu achten haben. ¦<br />

BEM<br />

Kündigung im Krankheitsfall<br />

muss begründet sein<br />

Hält ein Arbeitgeber bei einem erkrankten<br />

Arbeitnehmer ein eigentlich<br />

vorgeschriebenes betriebliches Eingliederungsmanagement<br />

(BEM) für<br />

nutzlos, muss er dies beim Ausspruch<br />

einer krankheitsbedingten Kündigung<br />

genau begründen können. Wird der<br />

Arbeitgeber dieser Darlegungspflicht<br />

nicht gerecht, ist die krankheitsbedingte<br />

Kündigung unverhältnismäßig<br />

und damit unwirksam, entschied das<br />

Landesarbeitsgericht (LAG) Rheinland-Pfalz<br />

in Mainz in einem am<br />

27. Februar <strong>2017</strong> schriftlich veröffentlichten<br />

Urteil (Az.: 8 Sa 359/16). Die<br />

Nutzlosigkeit des BEM werde nicht<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


252<br />

Recht<br />

schon dadurch belegt, dass der Beschäftigte<br />

in einem früheren Gespräch<br />

zu vorherigen „schicksalhaften“ Erkrankungen<br />

erklärt hatte, dass der Arbeitgeber<br />

da nicht helfen könne.<br />

Im konkreten Fall ging es um einen<br />

Maschinenarbeiter, der seit dem<br />

21. November 1988 in einem Betrieb<br />

für Wellpappenprodukte beschäftigt<br />

ist. Seit 2011 war der Mann immer<br />

wieder kurzfristig erkrankt. So war er<br />

2011 insgesamt 47 Tage, 2012 42 Tage,<br />

2013 73 Tage und 2014 164 Tage<br />

krank.<br />

Anfang 2015 führte der Arbeitgeber<br />

mit dem Arbeiter ein Gespräch vor<br />

dem BEM-Ausschuss durch, um die<br />

Möglichkeiten eines BEM auszuloten.<br />

Dabei hatte der Arbeitnehmer geäußert,<br />

dass es sich bei ihm um „schicksalhafte<br />

Erkrankungen“ gehandelt habe,<br />

bei dem der Arbeitgeber eh nichts<br />

machen könne.<br />

Als der Beschäftigte danach wieder arbeitsunfähig,<br />

diesmal an der Hand, erkrankte,<br />

kündigte der Arbeitgeber das<br />

Arbeitsverhältnis zum 30. September<br />

2016 wegen der zahlreichen Kurzerkrankungen.<br />

Die Durchführung eines<br />

BEM sah er als „nutzlos“ an, da der<br />

Beschäftigte dies in dem früheren Gespräch<br />

ebenfalls so eingeschätzt habe.<br />

Auch gebe es für den Arbeiter im Betrieb<br />

keinen freien Arbeitsplatz mit geringeren<br />

körperlichen Belastungen.<br />

Der Arbeitnehmer erhob Kündigungsschutzklage<br />

und meinte, dass der Arbeitgeber<br />

ein BEM als milderes Mittel<br />

zur Kündigung hätte durchführen<br />

müssen.<br />

BEM anbieten und prüfen<br />

Das LAG erklärte in seinem Urteil vom<br />

10. Januar <strong>2017</strong> die Kündigung für unwirksam.<br />

Bei einer krankheitsbedingten<br />

Kündigung müsse geprüft werden, ob<br />

die Kündigung sozial gerechtfertigt ist,<br />

ob die Arbeitsunfähigkeit betriebliche<br />

Interessen „erheblich beeinträchtigt“<br />

haben und ob diese zu einer nicht mehr<br />

hinzunehmenden Belastung des Arbeitgebers<br />

führen. Hier habe der Arbeitgeber<br />

aber nicht nachgewiesen, dass es zur<br />

Kündigung keine Alternative mehr gibt.<br />

Sie sei daher unverhältnismäßig. Das<br />

Gesetz sehe vor, dass, sobald ein Arbeitnehmer<br />

länger als sechs Wochen in einem<br />

Jahr erkrankt ist, der Arbeitgeber<br />

ein BEM anbieten und prüfen muss.<br />

Gehe der Arbeitgeber von der „objektiven<br />

Nutzlosigkeit“ eines BEM aus,<br />

müsse er detailliert vortragen, warum<br />

dieses nicht neuerliche Krankheitszeiten<br />

vermeiden könne. Allein der Hinweis<br />

auf ein früheres Gespräch mit dem<br />

Beschäftigten und dessen Aussage zu<br />

seinen „schicksalhaften Erkrankungen“<br />

reichen als Nachweis für die Nutzlosigkeit<br />

eines BEM nicht aus. Es fehlten<br />

Angaben des Arbeitgebers, warum eine<br />

technische Umgestaltung des Arbeitsplatzes<br />

nicht möglich gewesen sei.<br />

Auch hätte bei einem BEM Reha-Bedarf<br />

beim Beschäftigten erkannt werden<br />

können. Entsprechende Reha-<br />

Maßnahmen hätten künftige Fehlzeiten<br />

möglicherweise reduzieren können.<br />

Da der Arbeitgeber die objektive Nutzlosigkeit<br />

des BEM nicht ausreichend<br />

dargelegt hat, könne der Kläger seinen<br />

Job behalten, urteilte das LAG. jur<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


Recht<br />

253<br />

VdK-Erfolg<br />

Krankentagegeld-Bezug<br />

lückenlos anrechnen<br />

Die Bundesrechtsabteilung des Sozialverbands<br />

VdK hat für ein VdK-Mitglied<br />

vor dem Bundessozialgericht<br />

(BSG) in Kassel einen Erfolg erstritten.<br />

Danach dürfen Zeiten des Krankentagegeld-Bezuges<br />

auf das Arbeitslosengeld<br />

(ALG) I bei privat und gesetzlich<br />

Krankenversicherten nicht<br />

unterschiedlich angerechnet werden<br />

(Az.: B 11 AL 4/16 R).<br />

Das arbeitslose Mitglied bekam laut<br />

Vertrag seiner privaten Krankenversicherung<br />

das Krankentagegeld nicht sofort,<br />

sondern erst ab dem 43. Tag der<br />

Krankmeldung gezahlt. Die Richter<br />

urteilten, dass die Bundesagentur für<br />

Arbeit (BA) die Zeiten des Krankentagegeld-Bezuges<br />

trotz der Zahlungslücke<br />

auf den ALG-I-Anspruch anrechnen<br />

muss. Eine Monatsfrist, wie vom Landessozialgericht<br />

angenommen, gelte<br />

hier nicht. Der Kläger müsse mit gesetzlich<br />

Krankenversicherten gleichgestellt<br />

werden. Diese erhielten unmittelbar<br />

nach Ende des Beschäftigungsverhältnisses<br />

Krankengeld, sodass keine<br />

Leistungslücke wie bei privat Krankenversicherten<br />

entstehen könne, argumentierten<br />

die Richter. Der Leiter der<br />

VdK-Bundesrechtsabteilung, Jörg Ungerer,<br />

begrüßte die Vereinheitlichung<br />

des Anrechnungszeitpunktes von Krankentagegeld<br />

auf das ALG I bei privat<br />

und gesetzlich Krankenversicherten.<br />

Hier habe das BSG Rechtsklarheit für<br />

künftige Fälle geschaffen. sko<br />

Verfahrensfehler<br />

NRW-Heimverträge für<br />

Unterbringung nichtig<br />

Die überörtlichen Sozialhilfeträger in<br />

Nordrhein-Westfalen haben nach<br />

Auffassung des Bundessozialgerichts<br />

(BSG) seit Jahren unwirksame und damit<br />

nichtige Verträge über die Heimvergütung<br />

für die Unterbringung behinderter<br />

Menschen abgeschlossen.<br />

Denn grundsätzlich ist nach Bundesrecht<br />

der örtliche und nicht der überörtliche<br />

Sozialhilfeträger ermächtigt,<br />

entsprechende Vergütungsvereinbarungen<br />

mit den Heimträgern zu vereinbaren,<br />

betonten die Kasseler Richter<br />

am 8. März <strong>2017</strong> (Az.: B 8 SO<br />

20/15 R). jur<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


254<br />

Recht<br />

Ansprüche nach<br />

dem Tod des<br />

Leistungsberechtigten<br />

Sonderrechtsnachfolge und<br />

Vererbung von Geldleistungen<br />

Von Dirk Dahm<br />

1. Einleitung<br />

Stirbt der Leistungsberechtigte nach<br />

dem Beginn des Leistungsverfahrens,<br />

geht der materiellrechtliche Leistungsanspruch<br />

gemäß § 56 SGB I auf den<br />

oder die Sonderrechtsnachfolger oder<br />

gemäß § 58 SGB I auf den oder die<br />

Erben über. Die Rechtsnachfolge,<br />

gleich welcher Art, umfasst nur Ansprüche<br />

auf Geldleistungen. Ansprüche<br />

auf Dienst- und Sachleistungen<br />

sind wegen ihres höchstpersönlichen<br />

Charakters vom Rechtsübergang ausgeschlossen<br />

1 ; sie erlöschen mit dem<br />

Tod des Berechtigten (§ 59 Satz 1<br />

SGB I). Ansprüche auf Geldleistungen<br />

erlöschen mit dem Tod des Berechtigten<br />

(Versicherten) nur, wenn sie zu<br />

diesem Zeitpunkt weder festgestellt<br />

sind noch ein Verwaltungsverfahren<br />

über sie anhängig ist.<br />

Die einem Berechtigten von einem<br />

Sozialleistungsträger erbrachten Leistungen<br />

dienen oftmals dem Unterhalt<br />

aller in einem Familienhaushalt zusammenlebenden<br />

Personen. Daher sehen<br />

die §§ 56 bis 59 SGB I eine Sonderrechtsnachfolge<br />

für laufende Geldleistungen<br />

dieser Art vor, unabhängig<br />

vom zivilrechtlichen Erbrecht der<br />

§§ 1922 ff. BGB. Verstirbt daher ein<br />

Leistungsberechtigter, sollen die in<br />

§ 56 SGB I aufgeführten Familienmitglieder,<br />

die mit ihm bis zu seinem Tod<br />

in einem Haushalt zusammengelebt<br />

haben, als Sonderrechtsnachfolger die<br />

fälligen Ansprüche geltend machen<br />

können. 2<br />

2. Sonderrechtsnachfolge<br />

gemäß § 56 SGB I<br />

Gemäß § 56 Abs. 1 SGB I stehen fällige<br />

Ansprüche auf laufende Geldleistungen<br />

beim Tod des Berechtigten<br />

nacheinander dem Ehegatten, dem<br />

Lebenspartner, den Kindern, den Eltern<br />

oder dem Haushaltsführer zu,<br />

wenn diese mit dem Berechtigten zur<br />

Zeit seines Todes in einem gemeinsamen<br />

Haushalt gelebt haben oder von<br />

ihm wesentlich unterhalten worden<br />

sind. Mehreren Personen einer Gruppe<br />

stehen die Ansprüche zu gleichen<br />

Teilen zu (§ 56 Abs. 1 Satz 2 SGB I).<br />

Die Sonderrechtsnachfolge gemäß<br />

§ 56 SGB I tritt nur ein, wenn es<br />

sich um fällige Ansprüche auf lau -<br />

fende Geldleistungen handelt; laufende<br />

Geldleistungen sind regelmäßig<br />

wiederkehrende Leistungen für bestimmte<br />

Zeitabschnitte 3 . Bei einmaligen<br />

Geldleistungen findet die Vererbung<br />

nach § 58 SGB I statt 4 .<br />

Anders als im Erbrecht bestimmt sich<br />

die Rechtsnachfolge nach der häuslichen<br />

Gemeinschaft 5 und der wesentlichen<br />

Unterhaltsleistung durch den<br />

Berechtigten. Diese Regelung geht davon<br />

aus, dass nicht rechtzeitig erfüllte<br />

Ansprüche auf laufende Geldleistungen<br />

auch die Lebensführung der mit<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


Recht<br />

255<br />

dem Leistungsberechtigten in einem<br />

gemeinsamen Haushalt lebenden Familienangehörigen<br />

beschränkt; sie will<br />

die so entstandene Benachteiligung<br />

ausgleichen 6 .<br />

Als Sonderrechtsnachfolger kommen<br />

nur die in § 56 Abs. 1 SGB I genannten<br />

Personen in Betracht; § 56 SGB I<br />

trifft insoweit eine abschließende Regelung.<br />

Die Zugehörigkeit zu dem in<br />

§ 56 SGB I genannten Personenkreis<br />

muss im Zeitpunkt des Todes des Berechtigten<br />

vorliegen 7 . Die fälligen Ansprüche<br />

auf laufende Geldleistungen<br />

stehen dem Sonderrechtsnachfolger<br />

beim Tod des Berechtigten ohne besondere<br />

rechtsgeschäftliche Übertragung<br />

und unabhängig vom Willen des<br />

Berechtigten zu.<br />

Der nach § 56 SGB I Berechtigte kann<br />

gemäß § 57 Abs. 1 SGB I auf die Sonderrechtsnachfolge<br />

innerhalb von<br />

sechs Wochen nach ihrer Kenntnis<br />

durch schriftliche Erklärung gegenüber<br />

dem Leistungsträger verzichten.<br />

Bei einem Verzicht innerhalb dieser<br />

Frist gelten die Ansprüche als nicht auf<br />

ihn übergegangen; sie stehen gemäß<br />

§ 57 Abs. 1 SGB I den Personen zu, die<br />

ohne den Verzichtenden berechtigt<br />

wären. Es handelt sich um eine Regelung<br />

vergleichbar der Ausschlagung<br />

einer Erbschaft nach §§ 1942 ff. BGB 8 .<br />

Gibt es keine weiteren Sonderrechtsnachfolger<br />

oder verzichten alle, tritt<br />

die Vererbung nach § 58 SGB I ein 9 .<br />

3. Vererbung nach dem<br />

Bürgerlichen Gesetzbuch<br />

Soweit fällige Ansprüche auf Geldleistungen<br />

nicht einem Sonderrechtsnachfolger<br />

zustehen, werden sie nach<br />

den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs<br />

(BGB) vererbt. Bereits der<br />

Wortlaut des § 58 SGB I bringt zum<br />

Ausdruck, dass die Vererbung nach<br />

den Vorschriften des BGB gegenüber<br />

der Sonderrechtsnachfolge subsidiär<br />

ist. Obwohl vom Gesetzgeber lediglich<br />

als subsidiäre Regelung gewollt,<br />

sind die Fälle der Vererbung im Sinne<br />

des § 58 SGB I häufiger als die der<br />

Sonderrechtsnachfolge gemäß § 56<br />

SGB I.<br />

Oft wird von dem Anspruchssteller<br />

zunächst eine letztwillige Verfügung<br />

vorgelegt. Dies ist entweder ein eigenhändiges<br />

oder ein öffentliches Testament<br />

(§§ 2247, 2232 BGB). Die Vorlage<br />

eines Erbvertrages (§§ 2274 ff.<br />

BGB) ist höchst unwahrscheinlich,<br />

weil diese Form der Erbeinsetzung in<br />

Versichertenkreisen weitgehend unüblich<br />

ist. Eine Verpflichtung des Versicherungsträgers<br />

zur Feststellung des<br />

materiellen Erbrechts besteht nicht;<br />

sie wäre ihm auch nicht zuzumuten 10 .<br />

Von einer Befriedigung von Ansprüchen<br />

des oder der Erben nur auf die<br />

Vorlage eines eigenhändigen Testamentes<br />

hin ist allerdings wegen der<br />

Möglichkeit des jederzeitigen Widerrufs<br />

eines eigenhändigen Testamentes<br />

(§ 2253 BGB) Abstand zu nehmen.<br />

Um der Gefahr zu entgehen, nicht mit<br />

befreiender Wirkung geleistet zu haben<br />

– bei Vorlage eines späteren Testamentes<br />

mit anderer Erbeinsetzung<br />

– ist darauf zu drängen, dass vom Anspruchssteller<br />

(Erben) ein Erbschein<br />

vorgelegt wird. Häufig wird daraufhin<br />

vorgebracht, die Kosten für die Aus-<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


256<br />

Recht<br />

stellung eines Erbscheins stünden in<br />

einem unangemessenen Verhältnis zu<br />

dem noch auszuzahlenden Gelbetrag.<br />

Diesem Vorbringen kann damit begegnet<br />

werden, dass die Ausstellung<br />

eines Erbscheins in Angelegenheiten<br />

der Sozialversicherung gebührenfrei<br />

geschieht: Gemäß § 64 Abs. 2 Satz 2<br />

SGB X entfallen Gerichtskosten, die<br />

in Angelegenheiten der freiwilligen<br />

Gerichtsbarkeit nach der Kostenordnung<br />

vorgesehen sind; hierzu zählt<br />

auch die Erwirkung eines Erbscheins 11 .<br />

Der ausgestellte und vorgelegte Erbschein<br />

bezeugt das Erbrecht zur Zeit<br />

des Erbfalls und enthält den Namen<br />

des Erben oder der Miterben, ob der<br />

verstorbene Versicherte allein oder<br />

von mehreren Personen und zu welchen<br />

Anteilen beerbt worden ist. Der<br />

Versicherungsträger wird daher genau<br />

in Kenntnis gesetzt, an wen eine aufgelaufene<br />

Leistung auszuzahlen ist.<br />

4. Das Erlöschen von Ansprüchen<br />

auf Geldleistungen gemäß<br />

§ 59 SGB I<br />

Gemäß § 59 SGB I erlöschen Ansprüche<br />

auf Dienst- oder Sachleistungen<br />

mit dem Tod des Berechtigten, Ansprüche<br />

auf Geldleistungen nur, wenn<br />

sie im Zeitpunkt des Todes des Berechtigten<br />

weder festgestellt sind noch<br />

ein Verwaltungsverfahren über sie anhängig<br />

ist 12 .<br />

§ 59 SGB I stellt klar, dass Ansprüche<br />

auf Dienst- und Sachleistungen im<br />

Sinne des § 11 SGB I grundsätzlich<br />

mit dem Tod des Berechtigten untergehen;<br />

es wird mit dieser Aussage eine<br />

dem Wesen dieser Sozialleistungsansprüche<br />

entsprechende Selbstverständlichkeit<br />

normiert (z. B. bestimmte<br />

Maßnahmen der Krankenbehandlung<br />

machen für Rechtsnachfolger keinen<br />

Sinn) 13 . Das Landessozialgericht für<br />

das Land Nordrhein-Westfalen musste<br />

jedoch in einer Entscheidung vom<br />

3. November 2015 14 herausstellen,<br />

dass ein Anspruch auf Sozialhilfeleistungen<br />

wegen seines höchstpersönlichen<br />

Charakters grundsätzlich nicht<br />

im Wege der Sonderrechtsnachfolge<br />

und auch nicht im Wege der Vererbung<br />

auf einen Dritten übergehen,<br />

wenn nach dem Tod des Hilfesuchenden<br />

die Leistung nicht mehr der Erfüllung<br />

des mit ihr verfolgten Zweckes<br />

dienen würde; denn eine (etwa vorhandengewesene)<br />

Notlage in der Person<br />

des Hilfebedürftigen lässt sich<br />

nach dessen Tod nicht mehr beheben.<br />

Der Anspruch geht deshalb mit dem<br />

Tod unter, und zwar unabhängig von<br />

einer etwaigen Rechtshängigkeit 15 . ¦<br />

Anmerkungen:<br />

1<br />

Dahm, Die BG 2007, S. 254.<br />

2<br />

Eichenhofer/Wenner, § 56 SGB I,<br />

Anm. 1.<br />

3<br />

KassKomm § 56 SGB I, Anm. 6c.<br />

4<br />

Dahm, Kompass 1992, S. 427.<br />

5<br />

Zu der die häusliche Gemeinschaft oder<br />

den gemeinsamen Haushalt kennzeichnende<br />

Wohn- und Lebensgemeinschaft<br />

vgl. BSG vom 3. Juni 1981, Breithaupt<br />

1982, S. 11.<br />

6<br />

BT-Drucks. 7/868, S. 33.<br />

7<br />

KassKomm § 56 SGBI, Anm. 9.<br />

8<br />

Eichenhofer/Wenner, § 57 SGB I<br />

Anm. 1.<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


Recht<br />

257<br />

9<br />

Dahm, Kompass 1992, S. 428.<br />

10<br />

Dahm, Die BG 2007, S. 254.<br />

11<br />

Pickel, §§ 64 SGB X, Anm. 19.<br />

12<br />

Zum Erlöschen vgl. auch Dahm, Die<br />

Rentenversicherung 2010, S. 32.<br />

13<br />

Wagner, juris <strong>Praxis</strong>Komm. SGB I,<br />

§ 59 Anm. 7.<br />

14<br />

L 20 SO 388/15 B ER.<br />

15<br />

BSG vom 23. Juli 2014, B 8 SO<br />

14/13 R.<br />

Pflegekasse<br />

Auch Reparaturkosten<br />

können zuschussfähig sein<br />

Bezuschusst die Pflegekasse den behindertengerechten<br />

Umbau einer<br />

Wohnung, können auch später angefallene<br />

Reparaturkosten zuschussfähig<br />

sein. Insgesamt dürfen aber die Umbaumaßnahme<br />

und die geltend gemachten<br />

Reparaturkosten den gesetzlichen<br />

Zuschuss-Höchstbetrag von<br />

derzeit 4000 Euro nicht überschreiten,<br />

urteilte am 25. Januar <strong>2017</strong> das Bundessozialgericht<br />

(BSG) in Kassel (Az.:<br />

B 3 P 4/16 R und B 3 P 2/15 R).<br />

Nach den gesetzlichen Bestimmungen<br />

übernimmt die Pflegekasse grundsätzlich<br />

die Reparaturkosten von Hilfsmitteln,<br />

wie beispielsweise einen Rollstuhl.<br />

Soll eine Wohnung behindertengerecht<br />

umgebaut und das<br />

Wohnumfeld nach den individuellen<br />

Bedürfnissen verbessert werden, gewährt<br />

die Pflegekasse einen Zuschuss.<br />

Fielen in diesem Zusammenhang Reparaturen<br />

an, blieben bislang die Betroffenen<br />

oder gegebenenfalls die Sozialhilfe<br />

auf den Kosten sitzen.<br />

Im ersten jetzt entschiedenen Fall hatte<br />

ein behinderter Rollstuhlfahrer aus<br />

Coburg geklagt. Der Mann lebt im<br />

Rahmen des betreuten Wohnens in<br />

einer eigenen Wohnung. 2010 hatte er<br />

bei der Pflegekasse der AOK Bayern<br />

einen Zuschuss für die individuelle<br />

Verbesserung seines Wohnumfeldes<br />

beantragt.<br />

Die Pflegekasse gewährte den damals<br />

geltenden Höchstsatz von 2557 Euro.<br />

Das Bad wurde daraufhin behindertengerecht<br />

umgebaut. Auch ein elektrisches<br />

Türöffnungssystem wurde<br />

eingebaut, sodass der Rollstuhlfahrer<br />

eigenständig und ohne fremde Hilfe<br />

seine Wohnung verlassen kann. Doch<br />

als 2013 der Motor des Systems kaputt<br />

ging, fielen weitere 547 Euro für Reparaturen<br />

an. Ohne Erfolg machte er<br />

das Geld bei der Pflegekasse geltend.<br />

Reparaturkosten müssten nur bei<br />

Hilfsmitteln übernommen werden,<br />

nicht aber bei Reparaturen für Maßnahmen<br />

einer Wohnumfeld-Verbesserung.<br />

Diese unterschiedliche Behandlung<br />

habe der Gesetzgeber bewusst in<br />

Kauf genommen.<br />

Auch im zweiten Verfahren ging es<br />

um entsprechende Reparaturkosten,<br />

diesmal für einen gebrauchten Treppenlift.<br />

Die Pflegekasse der AOK<br />

Rheinland/Hamburg hatte diesen bei<br />

einem an Muskelschwund leidenden<br />

Mann bezuschusst, den Restbetrag<br />

zahlte das Kölner Sozialamt. Als mehrere<br />

Reparaturen anfielen, verlangte<br />

das Sozialamt, dass die Pflegekasse<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


258<br />

Recht<br />

auch diese Kosten, insgesamt 1526<br />

Euro, übernimmt.<br />

Das BSG wies den Rollstuhlfahrer<br />

und auch die Stadt Köln ab. Nach den<br />

Urteilen kann aber dennoch ein Anspruch<br />

auf Geld für die Reparaturen<br />

bestehen. Grundsätzlich müsse die<br />

Pflegekasse nur Reparaturen für Hilfsmittel<br />

übernehmen, erklärten die Kasseler<br />

Richter. Sowohl bei dem Türöffnungssystem<br />

als auch bei dem Treppenlift<br />

handele es sich aber nicht um<br />

Hilfsmittel, sondern um eine individuelle<br />

Verbesserung des Wohnumfeldes.<br />

Von einer solchen Wohnumfeldverbesserung<br />

sei auszugehen, wenn die<br />

Verbesserungen bei einem Umzug<br />

nicht ohne weiteres mitgenommen<br />

werden können.<br />

Differenzbetrag<br />

Doch die Kasseler Richter eröffneten<br />

behinderten und pflegebedürftigen<br />

Menschen einen Weg, wie diese zumindest<br />

den gesetzlichen Höchstbetrag<br />

für den Pflegekassen-Zuschuss<br />

ausreizen können. Denn wurde der<br />

gesetzliche Höchstzuschuss von derzeit<br />

4000 Euro für die Wohnumfeldverbesserung<br />

noch nicht ausgeschöpft,<br />

könnten Betroffene den Differenzbetrag<br />

für spätere Reparaturkosten verwenden.<br />

Bagatellbeträge könnten davon aber<br />

ausgeschlossen werden. Lohne sich eine<br />

Reparatur wegen eines wirtschaftlichen<br />

Totalschadens gar nicht mehr,<br />

könne bei der Pflegekasse ein ganz<br />

neuer Zuschuss für eine Wohnumfeldverbesserung<br />

beantragt werden.<br />

In den beiden verhandelten Fällen<br />

hätten die Kläger jedoch den gesetzlichen<br />

Zuschuss bereits ausgeschöpft<br />

gehabt, sodass kein Spielraum zur<br />

Übernahme der später angefallenen<br />

Reparaturkosten bleibe.<br />

Der in Coburg lebende Rollstuhlfahrer<br />

hatte das Geld aber letztlich auf<br />

anderem Wege bekommen. Da das<br />

Verfahren vor dem Landessozialgericht<br />

(LSG) München zu lange gedauert<br />

hatte, hatte er 1500 Euro Entschädigung<br />

wegen überlanger Verfahrensdauer<br />

erhalten. <br />

jur<br />

Heimkinder<br />

Keine höhere Rente nach<br />

„Zwangsarbeit“<br />

Ehemalige Heimkinder können ihre<br />

im Kinderheim zwangsweise geleistete<br />

Arbeit nicht auf ihre Renten anrechnen<br />

lassen. Eine versicherungspflichtige<br />

Beschäftigung hat nach damaligem<br />

Recht nicht vorgelegen, sodass die<br />

Rentenversicherung diese Zeiten nicht<br />

als Beitragszeiten für die Rente anerkennen<br />

muss, entschied das Landessozialgericht<br />

(LSG) Baden-Württemberg<br />

in Stuttgart in einem am 13. März<br />

<strong>2017</strong> bekanntgegebenen Urteil (Az.:<br />

L 8 R 1262/16). <br />

jur<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


Recht<br />

259<br />

Vor dem<br />

Bundesverfassungsgericht<br />

Mitgeteilt von Jörg Ungerer<br />

RENTENVERSICHERUNG<br />

Bewertung rentenrechtlicher Zeiten<br />

in der DDR<br />

Art. 14 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 GG;<br />

§ 259a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI<br />

Orientierungssätze<br />

£ Rentenrechtliche Anwartschaften unterfallen<br />

nur insoweit dem Schutz der<br />

Eigentumsgarantie (Art. 14 Abs. 1<br />

GG), als sie ein Äquivalent zu einer<br />

nicht unerheblichen Eigenleistung<br />

darstellen (vgl. Bundesverfassungsgericht,<br />

BVerfG, 28. Februar 1980,<br />

1 BvL 17/77, BVerfGE 53, 257, 291<br />

f.; BVerfG, 28. <strong>April</strong> 1999, 1 BvL<br />

32/95, BVerfGE 100, 1, 33). (Rn. 8)<br />

£ Rentenanwartschaften, die in der<br />

Deutschen Demokratischen Republik<br />

(DDR) begründet wurden und<br />

im Zeitpunkt ihres Beitritts zur<br />

Bundesrepublik bestanden, nehmen<br />

am Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG<br />

teil. Dieser Schutz kommt den Rentenanwartschaften<br />

aber nur in der<br />

Form zu, die sie aufgrund des Einigungsvertrags<br />

(EinigVtr) erhalten<br />

haben (vgl. BVerfGE 100, 1, 37).<br />

Die konkrete Reichweite der Eigentumsgarantie<br />

ergibt sich erst aus der<br />

gesetzgeberischen Bestimmung von<br />

Inhalt und Schranken des Eigentums<br />

(vgl. BVerfGE 53, 257, 292).<br />

(Rn. 10)<br />

£ Soweit eine Verletzung des Art. 14<br />

Abs. 1 GG durch die nachträgliche<br />

Beschränkung der rentenrechtlichen<br />

Vertrauensschutzvorschrift des § 259a<br />

SGB 6 auf rentennahe Jahrgänge gerügt<br />

wird, setzt sich der Beschwerdeführer<br />

nicht hinreichend damit auseinander,<br />

dass sich weder aus dem in<br />

Art. 30 Abs. 5 Satz 1 EinigVtr vorgesehenen<br />

Recht zur Herstellung der<br />

Rechtseinheit in der Renten- und<br />

Unfallversicherung, kurz Rentenüberleitungsgesetz<br />

(RÜG), noch<br />

aus dem Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetz<br />

(Rü-ErgG) eine über<br />

§ 259a SGB 6 hinausgehende Pflicht<br />

zur Bewertung rentenrechtlicher Zeiten<br />

ergibt. (Rn. 12)<br />

£ Zudem geht der Beschwerdeführer<br />

nicht auf die Ansicht des Landessozialgerichts<br />

(LSG) ein, wonach eine<br />

rentenrechtliche Gesamtposition<br />

aus einer nach dem Fremdrentengesetz<br />

(FRG) erworbenen Rentenanwartschaft<br />

und einer später bei einem<br />

Rentenversicherungsträger der<br />

Bundesrepublik erworbenen Rentenanwartschaft<br />

auch zu einem späteren<br />

Zeitpunkt noch teilbar sei.<br />

(Rn. 13)<br />

£ Hinsichtlich der Rüge einer Verletzung<br />

des Rückwirkungsverbots legt<br />

der Beschwerdeführer die Schutzwürdigkeit<br />

seines Vertrauens nicht<br />

hinreichend dar. (Rn. 16)<br />

£ Was den allgemeinen Gleichheitssatz<br />

betrifft, ist zum einen keine<br />

nachvollziehbare Vergleichsgrup-<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


260<br />

Recht<br />

penbildung zu erkennen; zum anderen<br />

fehlt es an einer Auseinandersetzung<br />

mit einer Rechtfertigung der<br />

fortwährenden Anwendung des<br />

FRG auf die vor dem 1. Januar 1937<br />

geborenen Versicherten. (Rn. 19)<br />

(Rn. 20)<br />

Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts<br />

vom 13.12.16 – 1<br />

BvR 713/13.<br />

Tenor<br />

Die Verfassungsbeschwerde wird<br />

nicht zur Entscheidung angenommen.<br />

Aus den Urteilsgründen<br />

Die Verfassungsbeschwerde betrifft<br />

die Bewertung von in der DDR zurückgelegten<br />

rentenversicherungsrechtlichen<br />

Zeiten von Personen, die<br />

aus der DDR vor dem 18. Mai 1990<br />

in die damalige Bundesrepublik übergesiedelt<br />

sind.<br />

1. Tatbestand<br />

Übersiedler aus der DDR wurden zunächst,<br />

weil sie infolge ihrer Flucht<br />

den für sie zuständigen Rentenversicherungsträger<br />

der DDR nicht mehr<br />

in Anspruch nehmen konnten, durch<br />

das Fremdrentengesetz (FRG) nach<br />

dem sogenannten Eingliederungsprinzip<br />

so gestellt, als hätten sie ihre rentenrechtlichen<br />

Beitragszeiten in der<br />

Bundesrepublik erbracht. Zu diesem<br />

Zweck wurde diesen Personen pauschal<br />

und ohne Bezug auf die in der<br />

DDR tatsächlich erzielten Einkommen<br />

oder gezahlten Beiträge ein bestimmtes<br />

versicherungspflichtiges Einkommen<br />

in Abhängigkeit von der jeweils<br />

ausgeübten beruflichen Tätigkeit<br />

zugeordnet. Die Anwendbarkeit des<br />

FRG auf in der DDR zurückgelegte<br />

Beitragszeiten wurde ab dem Fall der<br />

Mauer schrittweise immer weiter eingeschränkt.<br />

Nach der Schaffung der Währungs-,<br />

Wirtschafts- und Sozialunion zum<br />

1. Juli 1990 galt das FRG nur noch für<br />

in der DDR zurückgelegte Beschäftigungszeiten<br />

von Übersiedlern, die vor<br />

dem 18. Mai 1990 ihren gewöhnlichen<br />

Aufenthalt in der Bundesrepublik<br />

genommen hatten („Bestandsübersiedler“).<br />

Nach der Wiedervereinigung sah das<br />

im EinigVtr vorgesehene RÜG eine<br />

Anwendbarkeit des FRG nur noch<br />

übergangsweise für Versicherte mit einem<br />

Rentenbeginn vor dem 1. Januar<br />

1996 vor. Zur Verwaltungsvereinfachung<br />

wurde diese Regelung durch<br />

das Rü-ErgG vom 24. Juni 1993 rückwirkend<br />

zum 1. Januar 1992 dahingehend<br />

geändert, dass die Vertrauensschutzregelung<br />

(§ 259a Sozialgesetzbuch-Sechstes<br />

Buch, SGB VI) nicht<br />

mehr auf den sich eher nach Zufall<br />

ergebenden Zeitpunkt des tatsächlichen<br />

Rentenbeginns bezogen ist, sondern<br />

für alle Versicherten gilt, die vor<br />

dem 1. Januar 1937 geboren sind und<br />

damit bei Inkrafttreten des einheitlichen<br />

Rentenrechts nach dem SGB VI<br />

bereits das 55. Lebensjahr vollendet<br />

hatten.<br />

Im Ergebnis wird bei der Rentenberechnung<br />

nach der seit dem Jahr 1993<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


Recht<br />

261<br />

geltenden Fassung des § 259a SGB VI<br />

nur auf diejenigen Übersiedler, die vor<br />

dem 1. Januar 1937 geboren sind, ausgründen<br />

des Vertrauensschutzes noch<br />

das FRG angewandt. Damit erfasste<br />

die rückwirkende Umstellung der<br />

Rentenberechnung auch Übersiedler,<br />

die seit den 1970er Jahren in der Bundesrepublik<br />

lebten. Diese Rentenberechnung<br />

kann zu einer geringeren<br />

Rente als bei Anwendung des FRG<br />

führen, weil mit dem FRG Übersiedlern<br />

für ihre in der DDR zurückgelegte<br />

Erwerbsbiographie Rentenansprüche<br />

entsprechend dem westdeutschen<br />

Rentensystem gutgeschrieben wurden,<br />

nunmehr dagegen auf die in der<br />

DDR tatsächlich in die Rentenversicherung<br />

eingezahlten Beiträge abgestellt<br />

wird.<br />

2. Verfassungsbeschwerde<br />

Die Voraussetzungen für die Annahme<br />

der Verfassungsbeschwerde zur<br />

Entscheidung (§ 93a Abs. 2 BVerfGG)<br />

liegen nicht vor. Der Verfassungsbeschwerde<br />

kommt keine grundsätzliche<br />

verfassungsrechtliche Bedeutung zu<br />

(§ 93 Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG).<br />

Ihre Annahme ist auch nicht zur<br />

Durchsetzung des als verletzt bezeichneten<br />

Grundrechts angezeigt (§ 93a<br />

Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).<br />

2.1. Begründung nicht<br />

ausreichend<br />

Art. 14 Abs. 1 Grundgesetz (GG)<br />

schützt Rentenansprüche und auch<br />

Rentenanwartschaften (vgl. BVerfGE<br />

53, 257, 289 f.; 55, 114, 131; 58, 81,<br />

109; 69, 272, 298), soweit diese im<br />

Geltungsbereich des GG erworben<br />

worden sind (vgl. BVerfGE 100, 1, 32).<br />

Nach der Rechtsprechung des BVerfG<br />

unterliegen hingegen durch das FRG<br />

begründete Rentenanwartschaften<br />

nicht dem Schutz des Art. 14 Abs. 1<br />

GG, wenn ihnen ausschließlich Beitrags-<br />

und Beschäftigungszeiten zugrunde<br />

liegen, die in den Herkunftsgebieten<br />

erbracht oder zurückgelegt<br />

wurden. Im Falle der durch das FRG<br />

begründeten Rechte fehlt es am Erfordernis<br />

der an einen Versicherungsträger<br />

in der Bundesrepublik erbrachten<br />

Eigenleistung, die für die Anerkennung<br />

einer sozialversicherungsrechtlichen<br />

Rechtsposition als Eigentum im<br />

Sinne von Art. 14 Abs. 1 GG unverzichtbar<br />

ist. Nur als Äquivalent einer<br />

nicht unerheblichen eigenen Leistung,<br />

die der besondere Grund für die Anerkennung<br />

als Eigentumsposition ist,<br />

erfahren rentenversicherungsrechtliche<br />

Anwartschaften den Schutz des<br />

Art. 14 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 53,<br />

257, 291 f.; 100, 1, 33).<br />

Wenn der Gesetzgeber sich entschließt,<br />

die in den Herkunftsländern<br />

zurückgelegten Beitrags- und Beschäftigungszeiten<br />

wie Zeiten zu behandeln,<br />

welche die Berechtigten im System<br />

der gesetzlichen Rentenversicherung<br />

(GRV) der Bundesrepublik<br />

zurückgelegt haben, so ist dies ein Akt<br />

besonderer staatlicher Fürsorge. Der<br />

Gesetzgeber verfolgt damit das legitime<br />

Ziel, insbesondere Vertriebene,<br />

Aussiedler und Spätaussiedler, die in<br />

die Bundesrepublik übersiedeln, soweit<br />

als möglich mithilfe auch der Sozialversicherung<br />

zu integrieren, ohne<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


262<br />

Recht<br />

zu dieser Lösung durch Art. 116 GG<br />

und das Sozialstaatsprinzip verfassungsrechtlich<br />

verpflichtet zu sein. Eigentumsgeschützte<br />

Rechtspositionen<br />

im Sinne des Art. 14 Abs. 1 GG werden<br />

aber hierdurch mangels Eigenleistung<br />

der Berechtigten durch das FRG<br />

nicht begründet. Soweit die nach dem<br />

FRG Berechtigten Beiträge zur Rentenversicherung<br />

in den Herkunftsländern<br />

gezahlt haben, sind diese Beiträge<br />

nicht den Versicherungsträgern der<br />

Bundesrepublik zugeflossen, deren gesetzliche<br />

Aufgabe es ist, die Rentenleistungen<br />

an die nicht mehr erwerbstätige<br />

Generation zu finanzieren. Die<br />

für den Eigentumsschutz erforderliche<br />

Eigenleistung kann auch nicht in der<br />

von den Berechtigten in deren Herkunftsländern<br />

persönlich geleisteten<br />

Arbeit bestehen, da diese Arbeitsleistung<br />

in einem anderen Rechts-, Wirtschafts-<br />

und Sozialsystem als dem der<br />

Bundesrepublik erbracht wurde. Sie<br />

ist Wertschöpfung, die nicht innerhalb<br />

der zur Leistung verpflichteten<br />

Solidargemeinschaft erfolgt und ihr<br />

auch nicht zugutegekommen ist.<br />

Es ist im Übrigen auch nichts dafür<br />

ersichtlich, dass der Gesetzgeber mit<br />

der Gewährung von Rechtsansprüchen<br />

auf der Grundlage seiner Entscheidung<br />

für das rentenversicherungsrechtliche<br />

Eingliederungsprinzip<br />

Eigentum im Sinne des Art. 14 Abs. 1<br />

GG begründen wollte (vgl. BVerfGE<br />

116, 96, 122 f.).<br />

In der DDR begründete und im Zeitpunkt<br />

ihres Beitritts zur Bundesrepublik<br />

bestehende Rentenanwartschaften<br />

nehmen als Rechtspositionen, die der<br />

EinigVtr grundsätzlich anerkannt hat,<br />

am Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG teil.<br />

Zwar entfaltet Art. 14 Abs. 1 GG seine<br />

Schutzwirkung nur im Geltungsbereich<br />

des GG. Dieser erstreckte sich<br />

vor der Vereinigung der beiden deutschen<br />

Staaten nicht auf das Gebiet der<br />

DDR. Das GG trat dort mit dem Beitritt<br />

auch nicht rückwirkend in Kraft.<br />

Bis zum Beitritt genossen daher die in<br />

der DDR erworbenen Rentenanwartschaften<br />

nicht den Schutz von Art. 14<br />

Abs. 1 GG. Mit dem Beitritt und der<br />

Anerkennung durch den EinigVtr gelangten<br />

sie jedoch wie andere vermögenswerte<br />

Rechtspositionen in den<br />

Schutzbereich dieses Grundrechts<br />

(vgl. dazu allgemein BVerfGE 91,<br />

294, 307 f.).<br />

Der verfassungsrechtliche Eigentumsschutz<br />

kommt den Rentenanwartschaften<br />

aber nur in der Form zu, die<br />

sie aufgrund des Vertrages zwischen<br />

der Bundesrepublik Deutschland<br />

(BRD) und der DDR über die Herstellung<br />

der Einheit Deutschlands erhalten<br />

haben (vgl. BVerfGE 100, 1,<br />

37). Auch für rentenversicherungsrechtliche<br />

Rechtspositionen gilt, dass<br />

sich die konkrete Reichweite der Eigentumsgarantie<br />

erst aus der Bestimmung<br />

von Inhalt und Schranken des<br />

Eigentums ergibt, die nach Art. 14<br />

Abs. 1 Satz 2 GG Sache des Gesetzgebers<br />

ist (vgl. BVerfGE 53, 257, 292).<br />

Aus Art. 30 Abs. 5 Satz 1 des EinigVtr<br />

ergibt sich, dass die Einzelheiten der<br />

Überleitung des Sozialgesetzbuches-<br />

Sechstes Buch auf das Beitrittsgebiet<br />

in einem Bundesgesetz geregelt werden.<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


Recht<br />

263<br />

Das Vorbringen des Beschwerdeführers<br />

setzt sich insofern nicht in einer<br />

den Anforderungen an die Begründung<br />

einer Verfassungsbeschwerde genügenden<br />

Art und Weise damit auseinander,<br />

dass sich weder aus dem in Art. 30<br />

Abs. 5 Satz 1 des EinigVtr genannten<br />

Bundesgesetz, dem RÜG, noch aus<br />

dem nachfolgenden Rü-ErG eine<br />

Pflicht zur Bewertung von im Beitrittsgebiet<br />

zurückgelegten rentenrechtlichen<br />

Zeiten nach dem FRG über den<br />

Anwendungsbereich des § 259a Abs. 1<br />

Satz 1 Nr. 1 SGB VI hinaus ergibt.<br />

Das BVerfG hat zwar bislang nicht<br />

über die Frage entschieden, ob die von<br />

den Berechtigten aus dem FRG abgeleiteten<br />

Anwartschaften dem Eigentumsschutz<br />

des Art. 14 Abs. 1 GG<br />

dann unterliegen, wenn sie sich zusammen<br />

mit den in der GRV der Bundesrepublik<br />

erworbenen Rentenanwartschaften<br />

zu einer rentenrechtlichen<br />

Gesamtrechtsposition verbinden<br />

(vgl. BVerfGE 116, 96, 124).<br />

Die Begründung der Verfassungsbeschwerde<br />

genügt hingegen auch insoweit<br />

nicht den sich aus § 23 Abs. 1<br />

Satz 2, § 92 BVerfGG ergebenden Anforderungen.<br />

Richtet sich demnach<br />

die Verfassungsbeschwerde gegen eine<br />

gerichtliche Entscheidung, bedarf es<br />

in der Regel einer ins Einzelne gehenden<br />

argumentativen Auseinandersetzung<br />

mit der angegriffenen Entscheidung<br />

und ihrer konkreten Begründung<br />

(vgl. BVerfGE 88, 40, 45; 101,<br />

331, 345 f.).<br />

Auf die Ausführungen des Berufungsgerichts<br />

geht der Beschwerdeführer<br />

hingegen nicht ein. Nach dessen Ansicht<br />

besteht ein grundgesetzlicher Eigentumsschutz<br />

für eine solche rentenrechtliche<br />

Gesamtposition nicht, weil<br />

eine nach dem FRG erworbene Rentenanwartschaft<br />

und eine später hinzukommende<br />

(bei einem Rentenversicherungsträger<br />

der Bundesrepublik<br />

erworbene) Rentenanwartschaft auch<br />

zu einem späteren Zeitpunkt teilbar<br />

sei und deshalb beide Anwartschaften<br />

unterschiedlichen rechtlichen Schicksalen<br />

zugänglich seien.<br />

2.2. Begründung nicht schlüssig<br />

Eine unzulässige unechte Rückwirkung<br />

wegen der Änderung der Bewertung<br />

der in der DDR zurückgelegten<br />

rentenrechtlichen Zeiten legt der Beschwerdeführer<br />

ebenso nicht substantiiert<br />

und schlüssig dar.<br />

Eine unechte Rückwirkung ist nach<br />

der Rechtsprechung des BVerfG verfassungsrechtlich<br />

grundsätzlich zulässig.<br />

Aus dem Grundsatz des Vertrauensschutzes<br />

und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip<br />

können sich jedoch<br />

Grenzen der Zulässigkeit ergeben.<br />

Diese sind allerdings erst überschritten,<br />

wenn die vom Gesetzgeber angeordnete<br />

unechte Rückwirkung zur Erreichung<br />

des Gesetzeszwecks nicht<br />

geeignet oder erforderlich ist oder<br />

wenn die Bestandsinteressen der Betroffenen<br />

die Veränderungsgründe des<br />

Gesetzgebers überwiegen (vgl.<br />

BVerfGE 95, 64, 86; 96, 330, 340;<br />

101, 239, 263). Dabei ist zu berücksichtigen,<br />

dass in Rentenanwartschaften<br />

von vornherein die Möglichkeit<br />

von Änderungen in gewissen Grenzen<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


264<br />

Recht<br />

angelegt sind. Eine Unabänderlichkeit<br />

der bei der Begründung bestehenden<br />

Bedingungen widerspräche dem Rentenversicherungsverhältnis,<br />

das im<br />

Unterschied zum Privatversicherungsverhältnis<br />

von Anfang an nicht auf<br />

dem reinen Versicherungsprinzip,<br />

sondern wesentlich auf dem Gedanken<br />

des sozialen Ausgleichs beruht<br />

(vgl. BVerfGE 11, 221, 226; 22, 241,<br />

253).<br />

Daher gebührt dem Gesetzgeber auch<br />

für Eingriffe in bestehende Rentenanwartschaften<br />

Gestaltungsfreiheit. Insoweit<br />

kommt es indessen darauf an,<br />

dass für diese Eingriffe legitimierende<br />

Gründe gegeben sind (vgl. BVerfGE<br />

31, 275, 290). Solche Gründe liegen<br />

bei Regelungen vor, die dazu dienen,<br />

die Funktions- und Leistungsfähigkeit<br />

des Systems der GRV im Interesse aller<br />

zu erhalten, zu verbessern oder veränderten<br />

wirtschaftlichen Bedingungen<br />

anzupassen (vgl. BVerfGE 53,<br />

257, 293).<br />

Der Beschwerdeführer setzt sich<br />

nicht hinreichend mit der Frage der<br />

Schutzwürdigkeit seines Vertrauens<br />

im Hinblick auf die fortwährende<br />

Bewertung seiner im Beitrittsgebiet<br />

zurückgelegten rentenrechtlichen<br />

Zeiten nach dem FRG auseinander.<br />

Allein das Vertrauen in den Fortbestand<br />

einer gesetzlichen Lage ist nicht<br />

schutzwürdig. Auch geht der Beschwerdeführer<br />

im Rahmen seines<br />

Vorbringens nicht auf die Argumentation<br />

des Fachgerichts in der Berufungsinstanz<br />

ein, wonach Vertrauensschutz<br />

– und damit weiterhin die<br />

Anwendung des FRG – nur deshalb<br />

den vor dem 1. Januar 1937 geborenen<br />

Versicherten zukommt, weil sie<br />

zum Zeitpunkt der Einführung des<br />

§ 259a SGB VI im Jahr 1992 relativ<br />

nah an der Grenze zur Regelaltersrente<br />

waren. Für den danach geborenen<br />

Personenkreis hat sich die Änderung<br />

der Bewertung der rentenrechtlichen<br />

Zeiten erst allmählich<br />

ausgewirkt und es ist ihnen die Möglichkeit<br />

verblieben, sich auf die geänderte<br />

Bewertung einzustellen. So ist<br />

auch der Beschwerdeführer noch bis<br />

2009 einer versicherungspflichtigen<br />

Beschäftigung nachgegangen, die<br />

ihm genügend Zeit gab, seine Alterssicherung<br />

entsprechend anzupassen.<br />

2.3. Ungleichbehandlung nicht<br />

ausreichend begründet<br />

Auch ein Verstoß gegen den allgemeinen<br />

Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG)<br />

ergibt sich aus dem Vorbringen des<br />

Beschwerdeführers nicht hinreichend.<br />

Der allgemeine Gleichheitssatz gebietet<br />

dem Gesetzgeber, wesentlich Gleiches<br />

gleich und wesentlich Ungleiches ungleich<br />

zu behandeln (vgl. BVerfGE<br />

116, 164, 180; 122, 210, 230). Aus<br />

ihm ergeben sich je nach Regelungsgegenstand<br />

und Differenzierungsmerkmalen<br />

unterschiedliche Grenzen für<br />

den Gesetzgeber, die von einem bloßen<br />

Willkürverbot bis zu einer strengen<br />

Bindung an die Verhältnismäßigkeitserfordernisse<br />

reichen (vgl. BVerfGE<br />

110, 274, 291; 122, 210, 230). Bei der<br />

Überprüfung eines Gesetzes auf seine<br />

Vereinbarkeit mit dem Gleichheitssatz<br />

ist vom BVerfG nicht zu untersuchen,<br />

ob der Gesetzgeber die zweckmäßigste<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


Recht<br />

265<br />

oder gerechteste Lösung gefunden hat,<br />

sondern nur, ob er die verfassungsrechtlichen<br />

Grenzen seiner Gestaltungsfreiheit<br />

überschritten hat (vgl.<br />

BVerfGE 84, 348, 359 mit weiteren<br />

Nachweisen; 110, 412, 436).<br />

Die Begründung der Verfassungsbeschwerde<br />

lässt eine nachvollziehbare<br />

Vergleichsgruppenbildung nicht erkennen.<br />

Sie lässt offen, ob der Beschwerdeführer<br />

eine Ungleichbehandlung<br />

gegenüber der Gruppe rügt, die<br />

vor dem 1. Januar 1937 geboren ist<br />

und auf deren rentenrechtliche Zeiten<br />

gemäß § 259a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1<br />

SGB VI das FRG weiterhin anwendbar<br />

ist, oder ob er eine nicht zulässige<br />

Gleichbehandlung mit der Gruppe<br />

der DDR-Übersiedler rügt, die nach<br />

dem 18. Mai 1990 in dem Gebiet der<br />

Bundesrepublik ohne dem Beitrittsgebiet<br />

ihren gewöhnlichen Aufenthalt<br />

begründet hat.<br />

Im Rahmen einer möglichen Rechtfertigung<br />

der Ungleichbehandlung<br />

lassen die Ausführungen des Beschwerdeführers<br />

ebenso wie bei der<br />

Rüge der Verletzung des Grundsatzes<br />

des Vertrauensschutzes eine Auseinandersetzung<br />

mit der Frage vermissen,<br />

ob die fortwährende Anwendung des<br />

FRG auf die vor dem 1. Januar 1937<br />

geborenen Versicherten gerechtfertigt<br />

ist, weil sie zum Zeitpunkt der Einführung<br />

des § 259a SGB VI im Jahr 1992<br />

relativ nah an der Grenze zur Regelaltersrente<br />

waren und dem danach geborenen<br />

Personenkreis die Möglichkeit<br />

verblieben ist, sich auf die geänderte<br />

Bewertung einzustellen. Der<br />

Beschwerdeführer setzt sich insofern<br />

auch nicht mit der bereits erwähnten<br />

Rechtsprechung des BVerfG auseinander,<br />

wonach in Rentenanwartschaften<br />

von vornherein die Möglichkeit<br />

von Änderungen in gewissen Grenzen<br />

angelegt ist (vgl. BVerfGE 11, 221,<br />

226; 22, 241, 253). Diese Entscheidung<br />

ist unanfechtbar. ¦<br />

Hartz-IV-Bezug<br />

Ehe „auf dem Papier“ kein<br />

Schutz vor Minderung<br />

Leben zwei mit anderen Partnern verheiratete<br />

Hartz-IV-Bezieher zusammen,<br />

bilden sie trotzdem eine Bedarfsgemeinschaft.<br />

Denn eine nur „auf dem<br />

Papier“ bestehende Ehe schließt eine<br />

anderweitige Partnerschaft in einer<br />

Bedarfsgemeinschaft nicht aus, entschied<br />

das Sozialgericht Düsseldorf in<br />

einem am 3. März <strong>2017</strong> bekanntgegebenen<br />

Urteil (Az.: S 12 AS 32/14).<br />

Damit müsse das Einkommen des einen<br />

Partners auch beim anderen Partner<br />

mindernd auf die Hartz-IV-Leistungen<br />

angerechnet werden. jur<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


266<br />

Literatur<br />

Sozialgesetzbuch<br />

Aktualisierte Gesamtausgabe<br />

von Walhalla<br />

Das gesamte Sozialgesetzbuch SGB I bis<br />

SGB XII. Mit Durchführungsverordnungen,<br />

dem Bundeskindergeldgesetz,<br />

dem Wohngeldgesetz und dem Sozialgerichtsgesetz.<br />

Walhalla Fachverlag,<br />

23. aktualisierte <strong>Ausgabe</strong> (Rechtsstand:<br />

15. Januar <strong>2017</strong>), 1568 Seiten. 19,95<br />

Euro, ISBN 978-3-8029-2047-9.<br />

Die vorliegende, auf den neuesten<br />

Stand gebrachte Textsammlung enthält<br />

in ungekürzter Fassung alle Teile<br />

des Sozialgesetzbuches (SGB), aber<br />

auch das Bundeskindergeldgesetz, das<br />

Wohngeldgesetz als besondere Teile<br />

des SGB sowie das Sozialgerichtsgesetz<br />

und darüber hinaus alle für die <strong>Praxis</strong><br />

relevanten Durchführungsverordnungen.<br />

Sie berücksichtigt auch die neu<br />

ermittelten Regelbedarfe ab 1. Januar<br />

<strong>2017</strong>, den Ausschluss von EU-Ausländern<br />

von regelmäßigen Existenzsicherungsleistungen,<br />

die Optimierung des<br />

Meldeverfahrens, den flexiblen Übergang<br />

in die Rente sowie die Neuerungen<br />

in der Pflegeversicherung (Pflegebedürftigkeitsbegriff,<br />

Pflegegrade, Begutachtungsinstrument).<br />

Das Kompendium ist auf die praktischen<br />

Anforderungen ausgerichtet. Es<br />

bietet allen, die mit dem SGB täglich<br />

oder regelmäßig arbeiten, einen umfassenden<br />

und aktuellen Überblick<br />

über die Gesetzes- und Verordnungslage<br />

und erleichtert so rechtssicheres<br />

Handeln, zumal im <strong>Sozialrecht</strong> heute<br />

Aufklärung, Beratung und Information<br />

gefragt sind.<br />

Der kompakte Band in handlicher<br />

Form mit seitlicher Markierung und<br />

einem ausführlichen Stichwortverzeichnis<br />

ermöglicht es, jederzeit auf<br />

sämtliche Rechtsgrundlagen zurückzugreifen<br />

– ob im Büro, in Sitzungen,<br />

bei Klienten, vor Gericht oder im Studium<br />

und kann zur Anschaffung empfohlen<br />

werden. <br />

dl<br />

Sozialwirtschaft<br />

Digitalisierung und<br />

technische Assistenz<br />

Hagemann, Tim (Hrsg.): Gestaltung des<br />

Sozial- und Gesundheitswesens im Zeitalter<br />

von Digitalisierung und technischer<br />

Assistenz (Forschung und Entwicklung<br />

in der Sozialwirtschaft, Band 11),<br />

Nomos Verlag <strong>2017</strong>, 542 S., 119 Euro,<br />

ISBN 978-3-8487-3656-0.<br />

Die Begriffe Digitalisierung und Arbeit<br />

4.0 sind in aller Munde. Auch im<br />

Sozial- und Gesundheitswesen lässt<br />

sich erahnen, wie allumfassend Arbeitsfelder<br />

und gesellschaftliche Verhältnisse<br />

sich ändern werden. Digitale<br />

Technologien und Roboter werden<br />

unseren Alltag prägen. Sie vernetzen<br />

Menschen, Geräte und Gegenstände<br />

miteinander und schaffen neue Formen<br />

der Interaktion und Kommunikation.<br />

Solche Systeme werden in<br />

atemberaubendem Tempo autonomer<br />

und können unabhängig von menschlicher<br />

Steuerung agieren. Und sie sind<br />

zunehmend in der Lage, komplexe<br />

Entscheidungen selbst zu treffen. Da-<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


Literatur<br />

267<br />

durch entstehen vielerlei Möglichkeiten<br />

- der Unterstützung, aber auch der<br />

Kontrolle und einer grundlegenden<br />

Reorganisation zahlreicher sozialer<br />

Dienstleistungen.<br />

In der Publikation wird in Beiträgen<br />

dargestellt und diskutiert, welche Auswirkungen<br />

dies für soziale Räume, die<br />

Gesundheitsversorgung, für Beratung<br />

und Therapie, für die berufliche Bildung<br />

und für die Leitung von Sozialunternehmen<br />

hat. <br />

pd<br />

<strong>Sozialrecht</strong><br />

Kompaktkommentar für<br />

die Arbeitnehmerberatung<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17<br />

Brall, Natalie/Kerschbaumer, Judith/<br />

Scheer, Ulrich/Westermann, Bernd<br />

(Hrsg.): <strong>Sozialrecht</strong> – Kompaktkommentar<br />

für die Arbeitnehmerberatung –<br />

SGB I bis SGB XII und SGG, Bund-<br />

Verlag, 2. Auflage, Frankfurt <strong>2017</strong>,<br />

2275 Seiten, Subskriptionspreis bis<br />

31. Mai <strong>2017</strong> 98 Euro, danach 129<br />

Euro, ISBN 978-3-7663-6510-1.<br />

Das <strong>Sozialrecht</strong> ist ein komplexes<br />

Rechtsgebiet, mit dem sich auch Interessenvertreter<br />

befassen müssen. Viele<br />

arbeitsrechtliche Fragen sind ohne einen<br />

Blick auf die sozialrechtlichen<br />

Folgen nicht zu beantworten. Klar<br />

und verständlich erläutert der Kompaktkommentar<br />

das gesamte <strong>Sozialrecht</strong><br />

– konzentriert aufbereitet in einem<br />

Band. Die Kommentierungen<br />

beschränken sich dabei auf die wesentlichen<br />

Vorschriften, die für die<br />

Beratung von Arbeitnehmern notwendig<br />

sind. Kernpunkte sind Kranken-,<br />

Renten-, Unfall- und Pflegeversicherung,<br />

Arbeitsförderung, Grundsicherung<br />

und Sozialhilfe, Wohngeld,<br />

Kindergeld und Elterngeld, Schwerbehindertenrecht<br />

und Sozialdatenschutz.<br />

Alle wichtigen Neuerungen sind eingearbeitet<br />

und kommentiert, wie das<br />

achte Gesetz zur Änderung des Sozialgesetzbuches-Zweites<br />

Buch/Ergänzung<br />

personalrechtlicher Bestimmungen,<br />

das Gesetz zur Neuorganisation<br />

der bundesunmittelbaren Unfallkassen<br />

(BUK-Neuorganisationsgesetz),<br />

das Gesetz zur Anpassung steuerlicher<br />

Regelungen an die Rechtsprechung<br />

des Bundesverfassungsgerichts, das<br />

Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz<br />

der Gesetzlichen<br />

Krankenversicherung (GKV),<br />

das Präventionsgesetz, das GKV-Versorgungsstärkungsgesetz,<br />

das Kinder-<br />

und Jugendhilfeverwaltungsvereinfachungsgesetz,<br />

das Leistungsverbesserungsgesetz<br />

der Rentenversicherung<br />

und das Tarifautonomiestärkungsgesetz.<br />

<br />

pd<br />

Lexikon<br />

Arbeitsrecht von A bis Z<br />

leicht verständlich<br />

Schaub, Günter/Koch, Ulrich: Arbeitsrecht<br />

von A-Z. (Beck-Rechtsberater im<br />

dtv; 51211), 21. überarbeitete Auflage<br />

<strong>2017</strong>, 730 Seiten, 19,90 Euro, ISBN<br />

978-3-406-70511-3.<br />

Das Lexikon bietet leicht verständlich,<br />

was man vom Arbeitsrecht wissen sollte.<br />

Die Stichworte geben mehr als eine


268<br />

Literatur<br />

erste Orientierung. Dargestellt ist das<br />

gesamte Arbeitsrecht von der Begründung<br />

bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses.<br />

Zusätzlich werden viele<br />

Randgebiete behandelt, wie zum Beispiel<br />

Arbeitsvermittlung, Arbeitslosenversicherung,<br />

Ausbildungsförderung,<br />

Lohnpfändung und Lohnsteuerrecht.<br />

Einen weiteren Schwerpunkt<br />

bildet das Recht besonderer Gruppen<br />

von Arbeitnehmern, etwa von Jugendlichen,<br />

schwerbehinderten Menschen<br />

und Heimarbeitern.<br />

Für die Neuauflage haben die Autoren<br />

die rund 350 Stichworte zum aktuellen<br />

Recht um neue ergänzt und die bestehenden<br />

hinsichtlich Rechtsprechung<br />

und Gesetzgebung komplett überarbeitet.<br />

Berücksichtigt sind insbesondere<br />

die Neuregelungen im Pflegezeitund<br />

Familienpflegezeitgesetz sowie im<br />

Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz<br />

(BEEG) wie auch die Einführung<br />

des gesetzlichen Mindestlohns und das<br />

Gesetz zur Tarifeinheit. pd<br />

Psychotherapie<br />

<strong>Praxis</strong>handbuch Richtlinie<br />

und Vereinbarung<br />

Bender, Carmen/Berner, Barbara/Best,<br />

Dieter/Dilling, Julian/Schaff, Christa/<br />

Uhlemann, Thomas: <strong>Praxis</strong>handbuch<br />

Psychotherapie-Richtlinie und Psychotherapie-Vereinbarung<br />

(Gesundheitswesen<br />

in der <strong>Praxis</strong>), medhochzwei Verlag<br />

<strong>2017</strong>, 250 Seiten. 49,99 Euro, ISBN<br />

978-3-86216-354-0.<br />

Mit der neuen Psychotherapie-Richtlinie<br />

und der Psychotherapie-Vereinbarung<br />

ändern sich die Rahmenbedingungen<br />

für die ambulante psychotherapeutische<br />

Versorgung als Leistung<br />

der gesetzlichen Krankenkassen grundlegend.<br />

Das Versorgungsangebot wird<br />

um die psychotherapeutische Sprechstunde<br />

und die psychotherapeutische<br />

Akutbehandlung erweitert, die Behandlungsabfolge<br />

wird klarer strukturiert<br />

und die Begründung eines Psychotherapieantrags<br />

stark vereinfacht.<br />

Mit der persönlichen telefonischen<br />

Erreichbarkeit und dem verpflichtenden<br />

An gebot der psycho therapeutischen<br />

Sprechstunden wachsen aber auch die<br />

Anforderungen an psychotherapeutische<br />

Praxen.<br />

Das „<strong>Praxis</strong>handbuch Psychotherapie-<br />

Richtlinie und Psychotherapie-Vereinbarung“<br />

erläutert die neuen Regelwerke<br />

und die Veränderungen und<br />

bietet den Vertragspsychotherapeuten<br />

und Vertragsärzten, die psychotherapeutisch<br />

tätig sind, eine wichtige Hilfe<br />

für den <strong>Praxis</strong>alltag. Die Änderungen<br />

werden detailliert und anhand praktischer<br />

Beispiele beschrieben.<br />

Die Autoren waren als Vertreter des<br />

Spitzenverbandes der Gesetzlichen<br />

Krankenkassen und der Kassenärztlichen<br />

Bundesvereinigung maßgeblich<br />

an der Reform beteiligt. pd<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


Service<br />

269<br />

Wiedereingliederung<br />

Wirkung von BEM anonym<br />

und kostenlos checken<br />

Der Verein der zertifizierten Disability<br />

Manager Deutschlands e. V.<br />

(VDiMa e. V.) will eine qualitativ<br />

hochwertige berufliche Wiedereingliederung<br />

von Arbeitnehmerinnen<br />

und Arbeitnehmern am Arbeitsplatz<br />

erreichen. Der Verein ist die Interessenvertretung<br />

der in Deutschland tätigen<br />

zertifizierten Disability Manager,<br />

darunter Versicherer und leitende<br />

Angestellte, Gewerkschaftler und<br />

Berufs genossenschaftler, Soziologen<br />

und Arbeitsvermittler, Fachärzte und<br />

Reha-Experten.<br />

Die Disability Manager sind spezialisiert<br />

auf die Verbesserung der Leistungsfähigkeit<br />

von Mitarbeitern, die<br />

von Einschränkungen oder Behinderungen<br />

betroffen sind. Dieses noch<br />

verhältnismäßig junge Berufsbild ins<br />

Bewusstsein von Betroffenen, Arbeitnehmern<br />

und Arbeitgebern zu holen,<br />

dafür setzt sich der Verein der zertifizierten<br />

Disability Manager Deutschlands<br />

e. V. ein.<br />

„Jeder unserer Disability Manager begleitet<br />

Arbeitnehmer und Arbeitgeber<br />

fachlich versiert und erfahren, als<br />

Mittler und Motivator als Berater und<br />

Begleiter“, sagt VDiMa-Geschäftsführer<br />

Gustav Pruß. Durch die Unterstützung<br />

verkürze sich in der Regel die<br />

Dauer der Arbeitsunfähigkeit, Rückfälle<br />

würden vermieden und aus ursprünglichen<br />

Einschränkungen entstünden<br />

Chancen für alle Seiten.<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17<br />

Wer prüfen möchte, wie wirkungsvoll<br />

die Umsetzung des betrieblichen Eingliederungsmanagements<br />

(BEM) im<br />

Betrieb oder Unternehmen tatsächlich<br />

ist, kann das jetzt ganz einfach tun.<br />

Der VDiMa e. V. bietet ab sofort in<br />

Zusammenarbeit mit dem Institut für<br />

Qualitätssicherung in Prävention und<br />

Rehabilitation (IQPR) in Köln eine<br />

Möglichkeit der Online-Selbstbewertung<br />

des BEM an. Der anonyme und<br />

kostenfreie BEM-Selbstcheck ist auf<br />

www.vdima.de abrufbar.<br />

Mit dem Fragebogen lässt sich ohne<br />

großen Aufwand eine erste Bewertung<br />

des BEM vornehmen. Für den Fall,<br />

dass sich daraus ein Verbesserungsbedarf<br />

ergibt, werden Tipps und Kontaktadressen<br />

für das weitere Vorgehen<br />

gegeben. Da es sich um einen „Selbst-<br />

Check“ handelt, sollten die 19 Fragen<br />

ehrlich und ungeschönt beantwortet<br />

werden, um tragfähige Ergebnisse zu<br />

erhalten.<br />

Der VDiMA bietet unter anderem<br />

auch Fortbildungsseminare an und<br />

vermittelt qualifizierte Experten in einem<br />

fachübergreifenden Netzwerk zu<br />

unterschiedlichen Fragestellungen:<br />

£ zur Verkürzung der Arbeitsunfähigkeit<br />

und Vermeidung neuer Arbeitsunfähigkeitszeiten,<br />

£ zur professionellen Begleitung der<br />

Menschen mit Einschränkungen,<br />

£ zur persönlichen Beratung von Arbeitgeber,<br />

Betriebsrat und Gewerkschaft<br />

sowie<br />

£ zur Inanspruchnahme möglicher<br />

Fördermittel.


270<br />

Service<br />

Der VDiMa wurde im September<br />

2006 gegründet. Die Geschäftsstelle ist<br />

beim Landesverband Nordost der<br />

Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung<br />

in Berlin angesiedelt. Mitglied<br />

werden können Personen mit einer<br />

Zertifizierung als Disability Manager<br />

ebenso wie Personen, die sich aktiv für<br />

Belange und Interessen des Disability<br />

Managements einsetzen. sko<br />

Kontakt: VDiMa, Fregestraße 44,<br />

12161 Berlin, Telefon (030)<br />

85105 5221, Fax (0 30) 85105-52 25,<br />

E-Mail info@vdima.de und unter<br />

www.vdima.de im Internet.<br />

REHADAT<br />

Wissen zu Behinderungen<br />

und Arbeitsgestaltung<br />

Die REHADAT-Wissensreihe vermittelt<br />

Basiswissen zu Erkrankungen<br />

oder Behinderungen sowie Lösungen<br />

für individuelle Arbeitsgestaltungen –<br />

zum Beispiel mit Hilfsmitteln, technischen<br />

Arbeitshilfen, Baumaßnahmen,<br />

organisatorischen Maßnahmen oder<br />

personeller Unterstützung. Zielgruppe<br />

sind Arbeitgeber, Betriebsärzte, betroffene<br />

Arbeitnehmer sowie alle Fachleute,<br />

die an der beruflichen Teilhabe<br />

von Menschen mit Erkrankung oder<br />

Behinderung beteiligt sind.<br />

Die einzelnen <strong>Ausgabe</strong>n können unter<br />

www.rehadat.info/de/publikationen/<br />

index.html heruntergeladen werden.<br />

Zur Verfügung stehen bisher:<br />

£ Diabetes: Ich bin doch nicht aus Zucker!<br />

Wie sich die berufliche Teilhabe<br />

von Menschen mit Diabetes mellitus<br />

gestalten lässt,<br />

£ Rollstuhlnutzer: Nur den Tag absitzen?<br />

Nichts für mich! Wie sich die<br />

berufliche Teilhabe von Rollstuhlnutzern<br />

gestalten lässt,<br />

£ Inkontinenz: Über sowas kann man<br />

nicht sprechen? Wie sich die berufliche<br />

Teilhabe von Menschen mit<br />

Inkontinenz gestalten lässt,<br />

£ Multiple Sklerose: Und manchmal<br />

kribbeln meine Beine – Wie sich die<br />

berufliche Teilhabe von Menschen<br />

mit Multipler Sklerose gestalten<br />

lässt,<br />

£ Epilepsie: Wenn die Neuronen Sonderschicht<br />

machen – Wie sich die<br />

berufliche Teilhabe von Menschen<br />

mit Epilepsie gestalten lässt.<br />

Die <strong>Ausgabe</strong>n Rollstuhlnutzer, Inkontinenz<br />

und Multiple Sklerose<br />

enthalten zusätzlich jeweils eine<br />

REHADAT-Befragung zum Joballtag.<br />

REHADAT (www.rehadat.de) ist ein<br />

kostenfreies zentrales Informationsangebot<br />

zur beruflichen Teilhabe von<br />

Menschen mit Behinderung. Die<br />

Informationen sind in Portalen und<br />

Datenbanken öffentlich zugänglich.<br />

Rund 100000 Einträge werden laufend<br />

aktualisiert und sind mit externen<br />

Informationen im Internet verlinkt.<br />

Außerdem entwickelt REHADAT die<br />

Software REHADAT-Elan.<br />

REHADAT wird beim Institut der<br />

deutschen Wirtschaft Köln erstellt.<br />

Das Bundesministerium für Arbeit<br />

und Soziales fördert das Projekt aus<br />

dem Ausgleichsfonds.<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


Autoren/Impressum<br />

Online-Service für<br />

S+P-Abonnenten<br />

Als Leser von „<strong>Sozialrecht</strong> + <strong>Praxis</strong>“<br />

können Sie Änderungen zu Ihrem<br />

Abonnement auf der Website des VdK<br />

Deutschland selbst vornehmen.<br />

Das Formular gibt es unter<br />

www.vdk.de/permalink/8408<br />

Sammelordner<br />

für S+P<br />

Besser Ordnung halten Sie mit den<br />

praktischen Sammelordnern von S+P<br />

für 15,00 Euro pro Jahrgang.<br />

Kontakt: VdK-Service GmbH<br />

Linienstraße 131<br />

10115 Berlin<br />

Telefon (0 30) 9 210580-0<br />

Fax (030) 9210580-999<br />

E-Mail: service@vdk.de<br />

Dirk Dahm, Ass. iur., Verwaltungsdirektor<br />

a. D., Berufsgenossenschaft<br />

Rohstoffe und chemische Industrie<br />

Bochum.<br />

Ines Klut (ikl), Redakteurin, Sozialverband<br />

VdK Deutschland.<br />

Sabine Kohls (sko), Redakteurin, Sozialverband<br />

VdK Deutschland.<br />

Dieter Leopold (dl), Dr. iur., AOK-<br />

Geschäftsführer a. D., Autor von<br />

Fachkommentaren.<br />

Horst Marburger, Oberverwaltungsrat<br />

a. D., ehemaliger Abteilungsleiter<br />

AOK Baden-Württemberg.<br />

Ulrike Mascher, Präsidentin, Sozialverband<br />

VdK Deutschland.<br />

Bettina Schubarth (bsc), Dr. phil.,<br />

Pressesprecherin, Abteilungsleiterin<br />

Presse, PR, Neue Medien, Sozialverband<br />

VdK Bayern.<br />

Jörg Ungerer, Leiter der Bundesrechtsabteilung,<br />

Sozialverband VdK<br />

Deutschland.<br />

impressum<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong><br />

Herausgeber: Sozialverband VdK Deutschland e. V., www.vdk.de<br />

Abonnement: VdK Service GmbH<br />

Linienstraße 131, 10115 Berlin, Telefon (0 30) 9 21 05 80-0, Fax (0 30) 9 21 05 80-999, service@vdk.de<br />

Bezugspreis: 26,40 Euro zzgl. Versandkosten/Mehrwertsteuer<br />

<strong>Sozialrecht</strong> + <strong>Praxis</strong> erscheint zwölf Mal jährlich am 20. jeden Monats. Das Abonnement verlängert sich um ein<br />

Jahr, wenn es nicht spätestens drei Monate vor Ablauf des Kalenderjahres gekündigt wird.<br />

Redaktion: Sabine Kohls, Ruth Seyboth-Kurth, Kristin Enge, sup@vdk.de<br />

Agenturen: Deutsche Presse-Agentur (dpa), JurAgentur (jur)<br />

Druck: Dimetria-VdK gemeinnützige GmbH, Rennbahnstraße 48, 94315 Straubing, www.dimetria.de<br />

Namentlich gekennzeichnete Artikel geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.<br />

Für unverlangt eingesandte Manuskripte kann keine Gewähr übernommen werden.<br />

ISSN 0939-401X<br />

<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17


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