Sozialrecht + Praxis - Ausgabe April 2017
Monat für Monat das Wichtigste aus Sozialrecht, Versorgungs- und Behindertenrecht, Rente, Rehabilitation, Gesundheit, Pflege ... Herausgeber: Sozialverband VdK Deutschland e.V.
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<strong>Sozialrecht</strong> + <strong>Praxis</strong><br />
Fachzeitschrift für Sozialpolitiker und Schwerbehindertenvertreter<br />
Krankenversicherung<br />
Zuschüsse bei zahnärztlicher Behandlung<br />
Rentenversicherung<br />
VdK fordert armutsfeste Renten<br />
Bundessozialgericht<br />
Eingliederungshilfe<br />
Bundesverfassungsgericht<br />
Bewertung rentenrechtlicher Zeiten<br />
4/17<br />
27. Jahrgang<br />
GP 12025 DP AG
Inhalt<br />
Sozialpolitik<br />
Zahnbehandlung, Kieferorthopädie und<br />
Zahnersatz<br />
Von Horst Marburger 207<br />
IGeL-Monitor: Leistungen überwiegend<br />
negativ bewertet 219<br />
Zusatzbeiträge dürften <strong>2017</strong><br />
nicht steigen<br />
Von Dieter Leopold 221<br />
Ärztekammer: 2245 Behandlungsfehler<br />
2016 nachgewiesen 223<br />
1,8 Millionen Mitglieder:<br />
Sozialverband VdK wächst weiter 224<br />
Rentenreform aus Sicht des VdK<br />
notwendig<br />
Von Ulrike Mascher 225<br />
Soziale Gerechtigkeit: VdK-Kampagne<br />
zur Bundestagswahl gestartet 233<br />
Gesetz zur Stärkung der betrieblichen<br />
Altersversorgung 235<br />
VdK-Stellungnahme<br />
Krankenversicherung: Rechtslücke<br />
bei der Rente für Frauen geschlossen 239<br />
RECHT<br />
Vor dem Bundessozialgericht:<br />
Eingliederungshilfe, Schulbegleitung,<br />
Inklusionsklasse<br />
Mitgeteilt von Jörg Ungerer 240<br />
BEM: Kündigung im Krankheitsfall<br />
muss begründet sein 251<br />
VdK-Erfolg: Krankentagegeld-Bezug<br />
lückenlos anrechnen 253<br />
Verfahrensfehler: NRW-Heimverträge<br />
für Unterbringung nichtig 253<br />
Ansprüche nach dem Tod des<br />
Leistungsberechtigten<br />
Von Dirk Dahm 254<br />
Pflegekasse: Auch Reparaturkosten<br />
können zuschussfähig sein 257<br />
Heimkinder: Keine höhere Rente nach<br />
„Zwangsarbeit“258<br />
Vor dem Bundesverfassungsgericht:<br />
Anrechnung rentenrechtlicher Zeiten<br />
in der DDR<br />
Mitgeteilt von Jörg Ungerer 259<br />
Hartz-IV-Bezug: Ehe „auf dem Papier“<br />
kein Schutz vor Minderung 265<br />
LITERATUR<br />
Sozialgesetzbuch: Aktualisierte<br />
Gesamtausgabe von Walhalla 266<br />
Sozialwirtschaft: Digitalisierung<br />
und technische Assistenz 266<br />
<strong>Sozialrecht</strong>: Kompaktkommentar<br />
für die Arbeitnehmerberatung 267<br />
Lexikon: Arbeitsrecht von A bis Z<br />
leicht verständlich 267<br />
Psychotherapie: <strong>Praxis</strong>handbuch<br />
Richtlinie und Vereinbarung 268<br />
SERVICE<br />
Wiedereingliederung: Wirkung von BEM<br />
anonym und kostenlos checken 269<br />
REHADAT: Wissen zu Behinderungen<br />
und Arbeitsgestaltung 270<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
Sozialpolitik<br />
207<br />
Zahnbehandlung,<br />
Kieferorthopädie<br />
und Zahnersatz<br />
Gesetzliche Versicherte haben<br />
Anspruch auf Festzuschüsse<br />
Von Horst Marburger<br />
Zahnersatz wird in § 37 Abs. 1 Sozialgesetzbuch-Fünftes<br />
Buch (SGB V) als<br />
Bestandteil der Krankenbehandlung<br />
bezeichnet. Es wird hier von der zahnärztlichen<br />
Behandlung sowie von der<br />
Versorgung mit Zahnersatz einschließlich<br />
Zahnkronen und Suprakonstruktionen<br />
gesprochen.<br />
Absatz 2 des § 27 SGB V sieht aber bereits<br />
Einschränkungen vom Anspruch<br />
auf Leistungen bei Zahnersatz vor. Für<br />
bestimmte Personengruppen werden<br />
nämlich besondere (zusätzliche) Voraussetzungen<br />
für den Anspruch auf<br />
Zahnersatzleistungen gefordert.<br />
Für diese Personen wird eine Wartezeit<br />
gefordert. Sie haben nur dann Anspruch<br />
auf Versorgung mit Zahnersatz,<br />
wenn sie unmittelbar vor der Inanspruchnahme<br />
mindestens ein Jahr lang<br />
Mitglied einer gesetzlichen Krankenkasse<br />
oder familienversichert waren.<br />
Anspruch besteht auch, wenn die Behandlung<br />
aus medizinischen Gründen<br />
ausnahmsweise unaufschiebbar ist.<br />
Unter Inanspruchnahme der Leistung<br />
im vorstehenden Sinne ist der Beginn<br />
der zahnärztlichen Behandlung, das<br />
heißt die Ausstellung des Heil- und<br />
Kostenplanes, zu verstehen 1 .<br />
Es handelt sich hier um Versicherte:<br />
£ Personen, die sich nur vorübergehend<br />
im Inland aufhalten,<br />
£ zur Ausreise verpflichtete Ausländer,<br />
deren Aufenthalt aus völkerrechtlichen,<br />
politischen oder humanistischen<br />
Gründen geduldet wird,<br />
£ asylsuchende Ausländer, deren Asylverfahren<br />
noch nicht unanfechtbar<br />
abgeschlossen ist,<br />
£ Vertriebene sowie Spätaussiedler,<br />
ihre Ehegatten, gleichgeschlechtlichen<br />
Lebenspartner und Abkömmlinge.<br />
Hinsichtlich der Versorgung mit<br />
Zahnersatz aus medizinischen Gründen<br />
ist auch § 275 Abs. 2 Nr. 5 SGB V<br />
zu beachten. Danach haben die Krankenkassen<br />
durch den Medizinischen<br />
Dienst der Krankenversicherung<br />
(MDK) prüfen zu lassen, ob eine Versorgung<br />
aus medizinischen Gründen<br />
ausnahmsweise unaufschiebbar ist. Es<br />
bestehen hier „Hinweise zur Begutachtung<br />
von Zahnersatzfällen nach<br />
§ 27 Abs. 2 SGB V“, die zu beachten<br />
sind. Im Übrigen ist hier auch § 275<br />
Abs. 1 Nr. 1 SGB V zu berücksichtigen.<br />
Danach sind die Krankenkassen<br />
verpflichtet, bei Erbringung von Leistungen,<br />
insbesondere zur Prüfung von<br />
Voraussetzungen, Art und Umfang<br />
der Leistung, sowie bei Auffälligkeiten<br />
zur Prüfung der ordnungsgemäßen<br />
Abrechnung eine gutachtliche Stellungnahme<br />
des MDK einzuholen.<br />
Dies gilt auch für die Bereiche zahnärztliche<br />
Behandlung und Versorgung<br />
mit Zahnersatz.<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
208<br />
Sozialpolitik<br />
Wichtig: In diesem Zusammenhang<br />
bestimmt § 275 Abs. 5 SGB V, dass<br />
die Ärzte des MDK bei der Wahrnehmung<br />
ihrer medizinischen Aufgaben<br />
nur ihrem ärztlichen Gewissen unterworfen<br />
sind. Sie sind nicht berechtigt,<br />
in die ärztliche Behandlung einzugreifen.<br />
Im Übrigen werden die Fachaufgaben<br />
des MDK von Ärzten und Angehörigen<br />
anderer Heilberufe (§ 279 Abs. 5<br />
SGB V) wahrgenommen. Der MDK<br />
hat vorrangig Gutachter zu beauftragen.<br />
1. Zahnärztliche Behandlung<br />
als Leistung der gesetzlichen<br />
Krankenversicherung<br />
Nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB V<br />
umfasst die Krankenbehandlung auch<br />
die zahnärztliche Behandlung. Soweit<br />
in Zusammenhang mit der zahnärztlichen<br />
Behandlung erforderlich, erfolgt<br />
auch eine Versorgung mit Arznei-,<br />
Verband-, Heil- und Hilfsmitteln<br />
(§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V).<br />
Ist im Rahmen zahnärztlicher Behandlung<br />
im Einzelfall eine stationäre<br />
Krankenhausbehandlung erforderlich,<br />
erfolgt diese im Rahmen des § 27<br />
Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 SGB V.<br />
Nähere Einzelheiten sowohl zur ärztlichen<br />
als auch zur zahnärztlichen Behandlung<br />
finden sich in § 28 SGB V.<br />
Danach (Abs. 2) umfasst die zahnärztliche<br />
Behandlung die Tätigkeit des<br />
Zahnarztes, die zur Verhütung, Früherkennung<br />
und Behandlung von<br />
Zahn-, Mund- und Kiefererkrankungen<br />
nach den Regeln der zahnärztlichen<br />
Kunst ausreichend und<br />
zweckmäßig ist. Sie umfasst auch<br />
konser vierend-chirurgische und Röntgenleistungen,<br />
die im Zusammenhang<br />
mit Zahnersatz einschließlich Zahnkronen<br />
und Suprakonstruktionen erbracht<br />
werden.<br />
Wählen Versicherte bei Zahnfüllungen<br />
eine darüber hinausgehende Versorgung,<br />
haben sie die Mehrkosten<br />
selbst zu tragen. In diesen Fällen ist<br />
von den gesetzlichen Krankenkassen<br />
die vergleichbare preisgünstigere plastische<br />
Füllung als Sachleistung abzurechnen.<br />
Bei Wahl der nicht von dem Kassenleistungsanspruch<br />
gedeckten Versorgung<br />
ist vor Behandlungsbeginn eine<br />
schriftliche Vereinbarung zwischen<br />
dem Zahnarzt und dem Versicherten<br />
zu treffen.<br />
Die Mehrkostenregelungen gilt im<br />
Übrigen nicht für Fälle, in denen intakte<br />
plastische Füllungen ausgetauscht<br />
werden.<br />
Nicht zur zahnärztlichen Behandlung<br />
gehört die kieferorthopädische Behandlung<br />
von Versicherten, die zu Behandlungsbeginn<br />
das 18. Lebensjahr<br />
vollendet haben. Dies gilt nicht für<br />
Versicherte mit schweren Kieferanomalien,<br />
die ein Ausmaß haben, das<br />
kombinierte kieferchirurgische und<br />
kieferorthopädische Behandlungsmaßnahmen<br />
erfordert. Die Kieferorthopädische<br />
Behandlung selbst wird<br />
in § 29 SGB V angesprochen (vgl. dazu<br />
die Ausführungen unter 3.).<br />
Funktionsanalytische und funktionstherapeutische<br />
Maßnahmen gehören<br />
nicht zur zahnärztlichen<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
Sozialpolitik<br />
209<br />
Behandlung. Sie dürfen von den<br />
Krankenkassen auch nicht bezuschusst<br />
werden.<br />
Das Gleiche gilt für implantalogische<br />
Leistungen, es sei denn, es liegen seltene<br />
vom Gemeinsamen Bundesausschuss<br />
(G-BA) in Richtlinien nach<br />
§ 92 Abs. 1 SGB V festzulegende Ausnahmeindikationen<br />
für besonders<br />
schwere Fälle vor, in denen die Krankenkasse<br />
diese Leistungen einschließlich<br />
der Suprakonstruktion als Sachleistung<br />
im Rahmen einer medizinischen<br />
Gesamtbehandlung erbringt.<br />
Da § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB V entsprechend<br />
gilt, gehört in einem solchen<br />
Falle zur zahnärztlichen Behandlung<br />
auch die Hilfeleistung anderer Personen,<br />
die vom Zahnarzt angeordnet<br />
oder von ihm zu verantworten ist.<br />
Das Bundessozialgericht (BSG) hat<br />
mit Urteil vom 13. Juli 2004 2 festgestellt,<br />
dass die im Zusammenhang<br />
mit dem Anspruch auf Versorgung<br />
mit Implantaten einschlägige Ausnahme<br />
indikation einer „generalisierten<br />
genetischen Nichtanlage von<br />
Zähnen“ nicht vorliegt, wenn im<br />
Oberkiefer acht und im Unterkiefer<br />
fünf Zähne fehlen. Eine medizinische<br />
Gesamtbehandlung im vorstehenden<br />
Sinne verlangt, dass die Behandlung<br />
sich nicht nur in der Versorgung mit<br />
Zahnersatz erschöpft, sondern ein<br />
übergeordnetes Behandlungsziel verfolgt,<br />
in das sich die implantatischen<br />
Leistungen lediglich unterstützend<br />
einfügen 3 .<br />
Nach dem Urteil des BSG vom<br />
4. März 2014 4 haben Versicherte gegen<br />
ihre gesetzliche Krankenkasse<br />
auch dann nur in den geregelten Ausnahmefällen<br />
Anspruch auf Zahnimplantatversorgung,<br />
wenn sie contergangeschädigt<br />
sind.<br />
Im Übrigen haben die Teilnehmer an<br />
der Besprechung der Spitzenverbände<br />
der Krankenkassen zum Leistungsrecht<br />
vom 29. Juni 1990 5 darauf<br />
hingewiesen, dass dann, wenn<br />
infolge einer Tumor-Therapie die<br />
Versorgung mit Zahnersatz erforderlich<br />
wird, es sich dabei um eine Teilmaßnahme<br />
der ärztlichen, zahnärztlichen<br />
beziehungsweise kieferchirurgischen<br />
Gesamtbehandlung handelt.<br />
Es geht hier darum, dass der Zahnersatz<br />
zum Beispiel zum Ausgleich größerer<br />
Hohlräume im Kieferbereich<br />
oder im Zusammenhang mit größeren<br />
Kieferdefekten erforderlich ist.<br />
Die Kosten für die im Rahmen der<br />
Gesamtbehandlung notwendigen<br />
zahnprothetischen Versorgung sind<br />
von der Krankenkasse vollständig zu<br />
übernehmen 6 .<br />
Nach dem Urteil des BSG vom<br />
21. Juni 2011 7 haben Versicherte gegen<br />
ihre Krankenkasse jedenfalls<br />
dann Anspruch auf Reinigung ihrer<br />
Zahnimplantate, wenn die Implantatversorgung<br />
zulasten der Krankenkasse<br />
erfolgte. Im Urteil vom 21. Juni<br />
2011 wurde dann auch zum Ausdruck<br />
gebracht, dass der gesetzliche<br />
Anspruch Versicherter auf Implantatreinigung<br />
zulasten der gesetzlichen<br />
Krankenkasse auf die Entfernung<br />
harter Beläge von im Mund<br />
verbleibenden Zahnimplantaten beschränkt<br />
ist.<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
210<br />
Sozialpolitik<br />
2. Kieferorthopädische<br />
Behandlung<br />
2.1. Grundsätze<br />
In Zusammenhang mit den Leistungen<br />
„zahnärztliche Behandlung“ und<br />
„Zahnersatz“ ist auch § 29 SGB V zu<br />
beachten, der sich mit der kieferorthopädischen<br />
Behandlung beschäftigt.<br />
Danach haben Versicherte Anspruch<br />
auf kieferorthopädische Versorgung<br />
mit medizinisch begründeten<br />
Indikationsstellungen, bei denen eine<br />
Kiefer- oder Zahnfehlstellung<br />
vorliegt. Diese Fehlstellung muss das<br />
Kauen, Beißen, Sprechen oder Atmen<br />
erheblich beeinträchtigen oder<br />
zu beeinträchtigen drohen.<br />
Versicherte leisten zu der kieferorthopädischen<br />
Behandlung nach<br />
Vorstehendem einen Anteil in Höhe<br />
von 20 Prozent der Kosten an den<br />
Vertragszahnarzt (Kassenzahnarzt).<br />
Dies gilt nicht für im Zusammenhang<br />
mit kieferorthopädischer Behandlung<br />
erbrachte konservierendchirurgische<br />
und Röntgenleistungen.<br />
Befinden sich mindestens zwei<br />
versicherte Kinder, die bei Beginn<br />
der Behandlung das 18. Lebensjahr<br />
noch nicht vollendet haben und mit<br />
ihren Erziehungsberechtigten in einem<br />
gemeinsamen Haushalt leben,<br />
in kieferorthopädischer Behandlung,<br />
besteht für das zweite und jedes<br />
weitere Kind Anspruch auf 80<br />
Prozent der vorstehend genannten<br />
Kosten. Konservierend-chirurgische<br />
Leistungen und Röntgenleistungen,<br />
die im Zusammenhang mit kieferorthopädischen<br />
Behandlung erbracht<br />
werden, werden als Sachleistungen<br />
gewährt.<br />
Kieferorthopäden, die zur Teilnahme<br />
an der vertragsärztlichen Versorgung<br />
ermächtigt waren und die Ermächtigung<br />
zurückgegeben haben, dürfen<br />
eine Behandlung von gesetzlich<br />
Krankenversicherten nicht durchführen.<br />
Die Teilnehmer an der Besprechung<br />
der Spitzenverbände der Krankenkassen<br />
am 23. Januar 2001 8 haben sich<br />
mit dem Zeitpunkt der Auszahlung<br />
des vom Versicherten getragenen Eigenanteils<br />
beschäftigt. Sie wiesen in<br />
diesem Zusammenhang darauf hin,<br />
dass es fraglich sei, ob die Bestätigung<br />
des Zahnarztes oder Kieferorthopäden<br />
über den Abschluss der Behandlung<br />
„in dem durch den Behandlungsplan<br />
bestimmten medizinisch erforderlichen<br />
Umfang“ bereits vor der sogenannten<br />
Retentionsphase oder erst<br />
danach vorzunehmen sei. Als Besprechungsergebnis<br />
wurde festgehalten,<br />
dass die Spitzenverbände der Krankenkassen<br />
in Abstimmung mit der<br />
Kassenärztlichen Bundesvereinigung<br />
die Auffassung vertreten, dass Maßnahmen<br />
zur Retention bis zu zwei<br />
Jahre nach dem Ende des Kalendervierteljahres,<br />
für das die letzte Abschlagszahlung<br />
geleistet worden ist,<br />
abgerechnet werden können. Längstens<br />
muss dies aber bis zum Abschluss<br />
der Behandlung einschließlich der<br />
Retention geschehen. Der Zahnarzt<br />
oder Kieferorthopäde hat danach den<br />
Abschluss der Behandlung einschließlich<br />
der Retention schriftlich zu bestätigen.<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
Sozialpolitik<br />
211<br />
Bei Versicherten mit schweren Kieferanomalien<br />
ist die kieferorthopädische<br />
Behandlung der zahnärztlichen Behandlung<br />
als Sachleistung zuzuordnen,<br />
sodass eine Erhebung von Versichertenanteilen<br />
nicht in Betracht<br />
kommt 9 . Dies gilt sowohl für Kinder<br />
als auch für über 18 Jahre alte Versicherte,<br />
die bei schweren Kieferanomalien<br />
einen Anspruch auf kieferorthopädische<br />
Behandlung haben (vgl. die<br />
noch folgenden Ausführungen).<br />
2.2. Leistungsausschlüsse<br />
Seit 1. Januar 1993 ist § 28 Abs. 2<br />
Satz 6 SGB V zu beachten. Danach<br />
gehört nicht zur zahnärztlichen Behandlung<br />
die kieferorthopädische Behandlung<br />
von Versicherten, die zu<br />
Beginn der Behandlung das 18. Lebensjahr<br />
vollendet haben. Das gilt<br />
nicht für Versicherte mit schweren<br />
Kieferanomalien, die ein Ausmaß haben,<br />
das kombinierte kieferchirurgische<br />
und kieferorthopädische Behandlungsmaßnahmen<br />
erfordert. Nach den<br />
Ausführungen zu dieser Vorschrift im<br />
Gemeinsamen Rundschreiben der Arbeitsgemeinschaft<br />
der Spitzenverbände<br />
der Krankenkassen vom 9. Dezember<br />
1982 liegen nach der Intention des<br />
Gesetzgebers schwere Kieferanomalien<br />
insbesondere bei a) angeborenen<br />
Missbildungen des Gesichts und der<br />
Kiefer, b) skelettalen Dysgnatien und<br />
c) verletzungsbedingten Kieferfehlstellungen<br />
vor.<br />
Nach Auffassung des BSG im Urteil<br />
vom 9. Dezember 1997 10 sind die<br />
Ausnahmen vom Ausschluss kieferorthopädischer<br />
Leistungen für Erwachsene<br />
bei schweren Kieferanomalien<br />
keiner ausgedehnten Auslegung zugänglich.<br />
Durchgreifende verfassungsrechtliche<br />
Bedenken gegen den Ausschluss<br />
bestehen nach Ansicht des<br />
BSG im Übrigen nicht.<br />
Zu a) zählen zum Beispiel das Vrouzon-Syndrom,<br />
Treacher-Collins-Syndrom,<br />
Goldenhar-Syndrom, Binder-<br />
Syndrom, Nager-Syndrom, die hernifaciale<br />
Mikrosomie, alle medialen,<br />
schrägen und queren Gesichtsspaltformen,<br />
alle Lippen-, Kiefer-, Gaumenspaltformen,<br />
alle Formen von craniomaxillofacialen<br />
Dysosten, die durch<br />
angeborene Fehlbildungen oder Missbildungen<br />
verursacht sind.<br />
Zu b) heißt es im Gemeinsamen<br />
Rundschreiben, dass skelettale Kieferfehlstellungen<br />
auch unabhängig von<br />
angeborenen Missbildungen auftreten.<br />
Schwere Formen dieser Dysgnathien<br />
erfordern chirurgische Korrekturmaßnahmen<br />
in Form von<br />
Kieferosteotomien gemeinsam mit<br />
kieferorthopädischen Behandlungsmaßnahmen<br />
fußend auf einem einheitlichen<br />
kieferchirurgischen und<br />
kieferorthopädischen Therapiekonzept.<br />
Zu diesem skelettalen Dysgnathien<br />
zählen die Progonie, Mikrogenie,<br />
Latarognathie, alle Formen<br />
skelettal bedingter Diskrepanzen der<br />
Zahnbogenbreite oder Kieferbreite.<br />
Zu c) gehören skelettale Fehlstellungen<br />
der Kiefer und der stomatognathen<br />
Systeme, die durch Unfälle<br />
verursacht worden sind und die<br />
zur Behandlung chirurgisch-operative<br />
Korrekturmaßnahmen gemeinsam<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
212<br />
Sozialpolitik<br />
mit kieferorthopädischen Behandlungsmaßnahmen<br />
erforderlich machen.<br />
Die vorstehenden Grundsätze<br />
sind inzwischen in die Richtlinien für<br />
die kieferorthopädische Behandlung<br />
(vgl. dazu die nachfolgenden Ausführungen)<br />
übernommen worden.<br />
Wird ein Behandlungsplan vor dem<br />
18. Lebensjahr aufgestellt, die Behandlung<br />
aber mehrere Jahre danach<br />
nicht begonnen, ist der Anspruch des<br />
inzwischen über 18 Jahre alten Versicherten<br />
ausgeschlossen.<br />
Nach § 275 Abs. 3 SGB V können die<br />
Krankenkassen in geeigneten Fällen<br />
durch den MDK die medizinischen<br />
Voraussetzungen für die Durchführung<br />
der kieferorthopädischen Behandlung<br />
prüfen lassen.<br />
Welche Fälle für eine solche Prüfung<br />
geeignet sind, kann die Krankenkasse<br />
selbst entscheiden (Begründung der<br />
Bundesregierung zu § 29 Abs. 1<br />
SGB V). Sie kann sich auf Einzelfälle<br />
beschränken oder Gruppen von Behandlungsfällen<br />
zur Prüfung vorlegen.<br />
Es wird davon ausgegangen, dass<br />
die Spitzenverbände der Krankenkassen<br />
gemeinsam und einheitlich<br />
Gruppen von Behandlungsfällen<br />
festlegen, die für eine Prüfung in Betracht<br />
kommen. Allerdings soll das<br />
zwischen Krankenkassen und Kassenzahnärzten<br />
vereinbarte Gutachterverfahren<br />
Vorrang vor einer Prüfung<br />
durch den MDK haben. Die<br />
Prüfung soll vor Beginn der Behandlung<br />
erfolgen und kann die Behandlung<br />
begleiten, soweit dies zweckmäßig<br />
ist.<br />
Neben der medizinischen Notwendigkeit<br />
der kieferorthopädischen Behandlung<br />
können auch im Laufe der Behandlung<br />
auftretende Abweichungen<br />
und sonstige Gründe Anlass für die<br />
Einschaltung des MDK sein.<br />
Eine Prüfung der Notwendigkeit<br />
der kieferorthopädischen Behandlung<br />
kann auch bei einem Arztwechsel angezeigt<br />
sein, wenn die unterbrochene<br />
Behandlung von einem anderen kieferorthopädisch<br />
tätigen Zahnarzt oder<br />
Kieferorthopäden nicht zu den im Behandlungsplan<br />
bestimmten, sondern<br />
zu geänderten Bedingungen fortgesetzt<br />
werden soll.<br />
Nach § 29 Abs. 3 SGB V erstattet die<br />
Krankenkasse Versicherten den von<br />
ihnen getragenen Anteil an den Kosten,<br />
wenn die Behandlung in dem<br />
durch den Behandlungsplan bestimmten<br />
medizinisch erforderlichen Umfang<br />
abgeschlossen worden ist.<br />
Nach der Begründung der Bundesregierung<br />
zum Entwurf entfällt die<br />
Rückzahlung an den Versicherten,<br />
wenn die Sozialhilfe oder ein Dritter<br />
die Eigenbeteiligung übernommen<br />
hat. Die Rückzahlung an den Berechtigten<br />
richtet sich nach den allgemeinen<br />
Vorschriften (Erstattungsregelungen).<br />
Es kommt, so heißt es in der Regierungsbegründung<br />
weiter, für die Anwendung<br />
des § 29 Abs. 3 Satz 2 SGB V<br />
nicht darauf an, ob der Versicherte<br />
den Abbruch der kieferorthopädischen<br />
Behandlung verschuldet hat.<br />
Entscheidend ist lediglich, ob die Behandlung<br />
in dem vorgesehenen Um-<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
Sozialpolitik<br />
213<br />
fang abgeschlossen worden ist. Ist dieser<br />
Abschluss objektiv unmöglich<br />
(z. B. durch Tod des behandelnden<br />
Arztes oder des behandelten Versicherten),<br />
erstattet die Krankenkasse<br />
die Reisekosten.<br />
Das BSG hat am 15. Januar 1986 12<br />
festgestellt, dass eine Zahlungspflicht<br />
dann nicht besteht, wenn der Abbruch<br />
der Behandlung vom behandelnden<br />
Zahnarzt zu vertreten ist. Diese Entscheidung<br />
ist zwar zu dem bis zum<br />
31. Dezember 1988 geltenden Recht<br />
ergangen, zweifellos aber auch nach<br />
Inkrafttreten der Neuregelung noch<br />
anwendbar.<br />
In der Begründung der Bundesregierung<br />
zu § 29 SGB V wird ausgeführt,<br />
dass die Krankenkasse vor Behandlungsabschluss<br />
die Restkosten auch<br />
nicht vorschussweise übernehmen<br />
darf.<br />
In Fällen, in denen eine kieferorthopädische<br />
Behandlung aufgrund eines<br />
früheren Behandlungsbeginns abgeschlossen<br />
wird, ist für eine erneute kieferorthopädische<br />
Behandlung nach<br />
§ 29 SGB V der Behandlungsbedarf<br />
anhand der befundbezogenen kieferorthopädischen<br />
Indikationsgruppen<br />
festzustellen.<br />
In den Richtlinien über kieferorthopädische<br />
Behandlung heißt es auch, dass<br />
sich kieferorthopädische Maßnahmen<br />
durchweg auf längere Zeiträume erstrecken<br />
und weitgehend von der verständnisvollen<br />
Mitarbeit der Patienten<br />
(oder der Erziehungsberechtigten) abhängig<br />
sind. Diese sind deswegen vor<br />
Beginn der Behandlung und in deren<br />
Verlauf entsprechend aufzuklären und<br />
zu motivieren.<br />
2.3. Erstattung durch die<br />
Krankenkasse<br />
Die Erstattung des vom Versicherten<br />
getragenen Anteils in Höhe von 20 beziehungsweise<br />
zehn von Hundert erfolgt<br />
von der bei Abschluss der kieferorthopädischen<br />
Behandlung zuständigen<br />
Krankenkasse.<br />
Zuständig ist die Krankenkasse, bei<br />
der der Versicherte zu dem Zeitpunkt<br />
versichert war, an dem die Behandlung<br />
in dem durch den Behandlungsplan<br />
bestimmten medizinisch erforderlichen<br />
Umfang abgeschlossen wurde.<br />
Eine teilweise Rückforderung oder<br />
eine Verweisung zu anteiliger Kostenerstattung<br />
an früher zuständige Krankenkassen<br />
findet nicht statt. Dementsprechend<br />
ist ein teilweiser Ausgleich<br />
des vom Versicherten getragenen Eigenanteils<br />
nicht möglich, wenn der<br />
Versicherte während der laufenden<br />
kieferorthopädischen Behandlung aus<br />
der gesetzlichen Krankenversicherung<br />
ausgeschieden ist (z. B. Wechsel zur<br />
privaten Krankenversicherung).<br />
Als Tag des Abschlusses der Behandlung<br />
gilt der vom Kieferorthopäden<br />
oder Zahnarzt bestätigte Tag, an dem<br />
das im Behandlungsplan medizinisch<br />
bestimmte Ziel erreicht wurde. Leistungspflichtig<br />
ist nach § 2 Abs. 1 des<br />
Übereinkommens über die Abgrenzung<br />
der Leistungspflicht bei Kassenwechsel<br />
vom 14. Februar 1974 die<br />
Krankenkasse, bei der am ersten Tag<br />
des Quartals für das die Zahlung bestimmt<br />
ist, ein Versicherungsverhält-<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
214<br />
Sozialpolitik<br />
nis (Leistungsanspruch) bestand.<br />
Wird die erste Abschlagszahlung in<br />
demselben Quartal fällig, in dem der<br />
kieferorthopädische Behandlungsplan<br />
ausgestellt wurde, so ist abweichend<br />
vom Vorstehenden die Zahlung von<br />
der Krankenkasse zu leisten, bei der<br />
am Tage der Ausstellung des kieferorthopädischen<br />
Behandlungs planes<br />
ein Versicherungsverhältnis vorlag.<br />
Ein Versicherungsverhältnis in diesem<br />
Sinne liegt auch dann vor, wenn ein<br />
sogenannter nachgehender Leistungsanspruch<br />
gegeben ist.<br />
Bestand zu dem maßgebenden Zeitpunkt<br />
kein Versicherungsverhältnis im<br />
vorstehenden Sinne, so ist die Krankenkasse<br />
leistungspflichtig, bei der erstmals<br />
nach diesem Zeitpunkt ein Versicherungsverhältnis<br />
begründet wurde<br />
(§ 2 Abs. 2 des oben erwähnten Übereinkommens).<br />
Die nach den Absätzen 1 oder 2 des<br />
§ 2 des Übereinkommens leistungspflichtige<br />
Krankenkasse hat auch die<br />
Material- und Laboratoriumskosten,<br />
die Kosten für die Aufstellung des kieferorthopädischen<br />
Behandlungsplanes<br />
und sämt liche andere im Rahmen der<br />
kieferorthopädischen Behandlung anfallenden<br />
Kosten zu übernehmen, die<br />
mit der Gesundheitskarte für das betreffende<br />
Quartal abgerechnet werden<br />
(§ 2 Abs. 3 des Übereinkommens).<br />
Werden in einem Quartal Materialund<br />
Laboratoriumskosten oder andere<br />
Kosten für kieferorthopädische Behandlung<br />
abgerechnet, ohne dass eine<br />
Abschlagszahlung zu leisten ist (z. B.<br />
9. Quartal; vgl. dazu die noch folgenden<br />
Ausführungen), so sind diese Kosten<br />
von derjenigen Krankenkasse zu<br />
erbringen, bei der am ersten Tag dieses<br />
Quartals das Versicherungsverhältnis<br />
besteht. Bestand zu diesem Zeitpunkt<br />
kein Versicherungsverhältnis, so ist<br />
die Krankenkasse leistungspflichtig,<br />
bei der erstmals nach diesem Zeitpunkt<br />
ein Versicherungsverhältnis begründet<br />
wurde.<br />
Irrtümlich erbrachte Leistungen werden<br />
durch das Übereinkommen nicht<br />
erfasst. Hier ist aber das Übereinkommen<br />
über die Regelung des Erstattungsanspruchs<br />
bei irrtümlicher Leistungsgewährung<br />
anzuwenden.<br />
In seinem Urteil vom 10. Oktober<br />
1979 13 hat das BSG hervorgehoben,<br />
dass es sich bei der kieferorthopädischen<br />
Behandlung um eine – entsprechend<br />
dem Behandlungsplan<br />
dauernde – einheitliche Maßnahme<br />
handelt. An den Bescheid über die<br />
Leistungen bei kieferorthopädischer<br />
Behandlung ist die Krankenkasse gebunden,<br />
solange sich die Behandlung<br />
im Rahmen des Behandlungsplanes<br />
hält.<br />
3. Festzuschüsse zum Zahnersatz<br />
3.1. Rechtsgrundlagen<br />
Die Rechtsgrundlagen für die Leistung<br />
„Zahnersatz“ finden sich in den<br />
§§ 55-57 SGB V. In § 55 Abs. 1<br />
SGB V wird bestimmt, dass Versicherte<br />
(gilt also auch für Familienversicherte)<br />
Anspruch auf befundbezogene<br />
Festzuschüsse bei einer medizinisch<br />
notwendigen Versorgung mit<br />
Zahnersatz einschließlich Zahnkronen<br />
und Suprakonstruktionen haben.<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
Sozialpolitik<br />
215<br />
Es wird hier von zahnärztlichen und<br />
zahntechnischen Leistungen gesprochen.<br />
Dies gilt in den Fällen, in denen<br />
eine zahnprothetische Versorgung<br />
notwendig ist, und die geplante Versorgung<br />
einer Methode entspricht,<br />
die nach § 135 Abs. 1 SGB V anerkannt<br />
ist.<br />
Nach § 135 Abs. 1 SGB V dürfen<br />
neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden<br />
in der vertragsärztlichen<br />
und vertragszahnärztlichen Versorgung<br />
zulasten der Krankenkassen<br />
nur erbracht werden, wenn der G-BA<br />
in Richtlinien bestimmte Empfehlungen<br />
abgegeben hat.<br />
Anspruch besteht für die Fälle, in denen<br />
eine zahnprothetische Versorgung<br />
notwendig ist und die geplante<br />
Versorgung einer Methode entspricht,<br />
die durch den G-BA anerkannt<br />
wird.<br />
§ 56 Abs. 1 SGB V sieht ausdrücklich<br />
vor, dass der G-BA in Richtlinien die<br />
Befunde bestimmt, für die Festzuschüsse<br />
gewährt werden, und diesen<br />
prothetische Regelversorgungen zuzuordnen<br />
hat. Aufgrund dieser Vorschrift<br />
hat der G-BA die Festzuschuss-<br />
Richtlinien beschlossen. In einer Tabelle<br />
enthalten die Richtlinien die<br />
Befunde sowie die Regelversorgung<br />
(zahnärztliche und zahntechnische<br />
Leistungen).<br />
In der Präambel zu den Richtlinien<br />
heißt es, dass sich die dem jeweiligen<br />
Befund zugeordnete zahnprothetische<br />
Versorgung an den zahnmedizinisch<br />
notwendigen zahnärztlichen<br />
und zahntechnischen Leistungen orientiert,<br />
die zu einer ausreichenden<br />
zweckmäßigen und wirtschaftlichen<br />
Versorgung mit Zahnersatz einschließlich<br />
Zahnkronen und Suprakonstruktionen<br />
nach dem allgemein<br />
anerkannten Stand der medizinischen<br />
Erkenntnisse für den jeweiligen Befund<br />
gehören.<br />
Bei der Zuordnung der Regelversorgung<br />
sind auch die Funktionsdauer,<br />
die Stabilität und die Gegenbezahnung<br />
berücksichtigt worden.<br />
Dem Verband Deutscher Zahntechniker-Innungen<br />
wurde Gelegenheit zur<br />
Stellungnahme gegeben. Die Stellungnahme<br />
ist in die Entscheidung des<br />
G-BA einbezogen worden.<br />
Aus den Richtlinien des G-BA ergibt<br />
sich auch, dass die Festzuschüsse zu<br />
den Befunden erst dann gewährt werden,<br />
wenn die auslösenden Befunde<br />
mit Zahnersatz, Zahnkronen oder<br />
Spezialkonstruktionen versorgt sind.<br />
Bei Teilleistungen werden die Zuschüsse<br />
anteilig erbracht.<br />
Als Regelversorgung ist festsitzender<br />
Zahnersatz grundsätzlich indiziert,<br />
wenn eine natürliche Gegenbezahnung<br />
vorhanden ist. Funktionstüchtiger<br />
festsitzender Zahnersatz oder zeitgleich<br />
einzugliedernder festsitzender<br />
Zahnersatz wird der natürlichen Gegenbezahnung<br />
gleichgestellt.<br />
Bei Vorliegen einer herausnehmbaren<br />
Versorgung im Gegenkiefer (Modellgussklammerprothese,<br />
Totalprothese)<br />
ist festsitzender Zahnersatz grundsätzlich<br />
indiziert und zwar bei der Versorgung<br />
einer Lücke mit einem fehlenden<br />
Zahn je Seitenzahngebiet oder bis zu<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
216<br />
Sozialpolitik<br />
vier fehlenden Zähnen im Frontzahngebiet.<br />
Wichtig: Manche Zahnärzte lehnen<br />
bestimmte Leistungen für Kassenpatienten<br />
ab und erklären (wahrheitswidrig),<br />
eine solche Behandlung könne<br />
nur privat abgerechnet werden. Hier<br />
sollte im Zweifelsfall unbedingt bei<br />
der zuständigen Krankenkasse nachfragt<br />
werden, um unnötige Zuzahlungen<br />
für Leistungen zu vermeiden, die<br />
von der Krankenkasse problemlos<br />
übernommen werden. Manchmal hilft<br />
allerdings nur ein Arztwechsel.<br />
Anspruch auf Zahnersatz hat grundsätzlich<br />
jeder Versicherte einer gesetzlichen<br />
Krankenkasse.<br />
Achtung: Für bestimmte Personengruppen<br />
wird eine Wartezeit gefordert<br />
(vgl. dazu die obigen Ausführungen).<br />
4.2. Höhe des Zuschusses<br />
zum Zahnersatz<br />
Die Festzuschüsse betragen 50 Prozent<br />
der festgesetzten Beträge für die<br />
jeweilige Regelversorgung und erhöhen<br />
sich für eigene Bemühungen zur<br />
Gesunderhaltung der Zähne um 20<br />
Prozentpunkte auf 70 Prozent.<br />
Die Erhöhung entfällt, wenn<br />
£ der Gebisszustand des Versicherten<br />
regelmäßige Zahnpflege nicht erkennen<br />
lässt und<br />
£ der Versicherte während der letzten<br />
fünf Jahre vor Behandlungsbeginn<br />
die Vorsorgeuntersuchungen nicht<br />
in jedem Kalenderjahr in Anspruch<br />
genommen hat beziehungsweise sich<br />
nach Vollendung des 18. Lebensjahres<br />
nicht wenigstens einmal in jedem<br />
Kalenderjahr hat zahnärztlich untersuchen<br />
lassen.<br />
Die Festzuschüsse erhöhen sich um<br />
weitere zehn Prozent, wenn der Versicherte<br />
seine Zähne regelmäßig gepflegt<br />
und in den letzten zehn Kalenderjahren<br />
vor Behandlungsbeginn die vorstehend<br />
geschilderten Untersuchungen<br />
ohne Unterbrechung in Anspruch genommen<br />
hat.<br />
Wichtig: Versicherte sollten sich alle<br />
Untersuchungen vom Zahnarzt in<br />
ihrem Bonusheft bescheinigen lassen.<br />
Dieses Heft ist beim Zahnarzt kostenlos<br />
erhältlich. Mit diesem Eintrag gilt<br />
auch die regelmäßige Gebisspflege als<br />
nachgewiesen.<br />
Wählen Versicherte einen über die Regelversorgung<br />
hinausgehenden gleichartigen<br />
Zahnersatz, haben sie die<br />
Mehrkosten selbst zu tragen.<br />
Wichtig: Viele private Krankenversicherungsunternehmen<br />
bieten Ergänzungstarife<br />
an, um Lücken im Schutz<br />
der gesetzlichen Krankenversicherung<br />
zu schließen.<br />
Viele Tarife gewährleisten nicht den<br />
vollen Ersatz aller anfallenden Kosten.<br />
Versicherte sollten sich deshalb vor einem<br />
Abschluss unbedingt erkundigen,<br />
ob der Privatversicherer die nicht vom<br />
Krankenkassenzuschuss gedeckten<br />
Kosten ganz oder nur teilweise übernimmt.<br />
Vor Durchführung aller zahntechnischen<br />
Leistungen einschließlich Zahnersatz<br />
muss der Zahnarzt einen die<br />
gesamte Behandlung umfassenden<br />
Heil- und Kostenplan zur Vorlage bei<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
Sozialpolitik<br />
217<br />
der Krankenkasse ausstellen. Hierfür<br />
darf er keine Gebühren verlangen.<br />
Ebenso dürfen keine Pauschalen, etwa<br />
für Materialkosten, die beim Zahnarzt<br />
anfallen, in Rechnung gestellt werden.<br />
Diese Leistungen sind im Rahmen der<br />
vertragszahnärztlichen Versorgung für<br />
die Versicherten unentgeltlich zu erbringen.<br />
Nach § 55 Abs. 3 SGB V hat die Krankenkasse<br />
bei unzumutbarer Belastung<br />
einen Betrag zu den Festzuschüssen in<br />
gleicher Höhe allerdings höchstens in<br />
Höhe der entstandenen Kosten vorzunehmen.<br />
Um eine unzumutbare Belastung in<br />
diesem Sinne handelt es sich, wenn<br />
£ die monatlichen Bruttoeinnahmen<br />
zum Lebensunterhalt des Versicherten<br />
40 Prozent der monatlichen Bezugsgröße<br />
nicht übersteigen (<strong>2017</strong>:<br />
1190 Euro – gilt im gesamten Bundesgebiet),<br />
£ der Versicherte bestimmte Leistungen<br />
der Sozialhilfe, der Kriegsopferfürsorge,<br />
der Ausbildungsförderung<br />
oder der Bundesagentur für Arbeit<br />
erhält (§ 55 Abs. 2 Nr. 2 SGB V),<br />
£ die Kosten der Unterbringung in einem<br />
Heim oder einer ähnlichen<br />
Einrichtung von einem Träger der<br />
Sozialhilfe oder Kriegsopferfürsorge<br />
getragen werden (§ 55 Abs. 2 Nr. 3<br />
SGB V).<br />
In Zusammenhang mit der obigen<br />
Einkommensgrenze ist zu beachten,<br />
dass diese sich erhöht: für den ersten,<br />
im gemeinsamen Haushalt lebenden<br />
Angehörigen um 15 Prozent der monatlichen<br />
Bezugsgröße (<strong>2017</strong>: 446,25<br />
Euro) und für jeden weiteren solchen<br />
Angehörigen um zehn Prozent der<br />
monatlichen Bezugsgröße (<strong>2017</strong>:<br />
297,50 Euro).<br />
Nach dem Urteil des BSG vom 7. Mai<br />
2013 14 sind die Regelungen über die<br />
Ausgestaltung des Leistungsrechts für<br />
Zahnersatz und die Höhe des Festzuschusses<br />
mit höherrangigem Recht<br />
vereinbar 15 .<br />
Einnahmen zum Lebensunterhalt sind<br />
auch Einnahmen anderer im gemeinsamen<br />
Haushalt lebender Angehöriger.<br />
In Zusammenhang mit dem Anspruch<br />
auf Zahnersatz gehören zu den<br />
monatlichen Bruttoeinnahmen zum<br />
Lebensunterhalt auch die von den<br />
Kindern der Versicherten gezahlten<br />
Beträge zum Ausgleich ungedeckter<br />
Heimkosten 16 .<br />
Zu den Einnahmen zum Lebensunterhalt<br />
zählen allerdings Grundrenten<br />
nicht, die nach dem Bundesversorgungsgesetz<br />
(BVG) oder in entsprechender<br />
Anwendung des BVG sowie<br />
Renten und Beihilfen nach dem Bundesentschädigungsgesetz<br />
(BEG) bis<br />
zur Höhe der vergleichbaren Grundrente<br />
nach dem BVG gewährt werden<br />
(§ 55 Abs. 2 Satz 4 BVG).<br />
Wählen Versicherte einen über die Regelversorgung<br />
hinausgehenden gleichartigen<br />
Zahnersatz, haben sie die<br />
Mehrkosten gegenüber den vorgesehenen<br />
Leistungen selbst zu tragen (§ 55<br />
Abs. 4 SGB V).<br />
Die Krankenkassen haben nach § 55<br />
Abs. 7 SGB V die bewilligten Festzuschüsse<br />
auch in den Fällen zu erstat-<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
218<br />
Sozialpolitik<br />
Tabelle: Beispiel zur Ermittlung der Belastungsgrenze<br />
Berechnungsfähige Zahnersatzkosten 2000,00 €<br />
Anteil der Krankenkasse (50 %)<br />
Versichertenanteil (50 %)<br />
ten, in denen eine von der Regelversorgung<br />
abweichende, andersartige<br />
Versorgung durchgeführt wird.<br />
4.3. Überforderungsklausel<br />
Nach § 55 Abs. 3 SGB V haben Versicherte<br />
Anspruch auf eine weitere<br />
Kostenübernahme durch die gesetzliche<br />
Krankenkasse. Es geht hier um die<br />
sogenannte Überforderungsklausel.<br />
Die Krankenkasse hat bei der Versorgung<br />
mit Zahnersatz den von den<br />
1000,00 €<br />
1000,00 €<br />
Berechnung des Eigenanteils:<br />
Monatliche Einnahmen zum Lebensunterhalt Brutto<br />
(Ehemann: 2000 €, Ehefrau: 450 €) 2450,00 €<br />
abzüglich Einnahmegrenze § 55 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1, Satz 5 SGB V<br />
Im Jahr <strong>2017</strong><br />
./. 2331,25 €<br />
Unterschiedsbetrag = 218,75 €<br />
Zumutbarer Eigenanteil des Versicherten<br />
= 656,25 €<br />
(Unterschiedsbetrag x 3)<br />
Berechnung der von der Krankenkasse zu tragenden Kosten<br />
aufgrund der besonderen Härtefallregelung:<br />
Vom Versicherten zunächst zu tragender Anteil zu den Kosten für<br />
den Zahnersatz, siehe oben 1000,00 €<br />
abzüglich zumutbarer Eigenanteil des Versicherten ./. 656,25 €<br />
von der Krankenkasse zu übernehmender Restbetrag im Rahmen<br />
der Härtefallregelung nach § 55 Abs. 3 SGB V = 343,75 €<br />
Endgültiger Versichertenanteil = 656,25 €<br />
Endgültiger Kassenanteil = 1343,75 €<br />
Zahnersatz für das Mitglied, verheiratet, zwei Kinder.<br />
Quelle: Horst Marburger<br />
Versicherten zu tragenden Kostenanteil<br />
zu übernehmen, soweit der<br />
Anteil das Dreifache der Differenz<br />
zwischen den monatlichen Bruttoeinnahmen<br />
zum Lebensunterhalt<br />
und der zur Gewährung eines zweifachen<br />
Festzuschusses maßgebenden<br />
Einnahmegrenze übersteigt. Höchstens<br />
wird ein Betrag in Höhe der<br />
zweifachen Festzuschüsse, begrenzt<br />
auf die tatsächlichen Kosten, gewährt.<br />
¦<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
Sozialpolitik<br />
219<br />
Anmerkungen:<br />
1<br />
Ergebnis der Besprechung der Spitzenverbände<br />
der Krankenkassen vom<br />
22./23. Januar 2003 (Die Leistungen<br />
2003, S. 340).<br />
2<br />
B 1 KR 37/02 R (Die Leistungen<br />
2004 – Beil. – S. 265).<br />
3<br />
Vgl. BSG, Urteil vom 7. Mai 2013 (B<br />
1 KR 19/ 12 R; Die Leistungen 2013<br />
– Beil. – S. 207).<br />
4<br />
B 1 KR 6/13 R (Die Leistungen 2014<br />
– Beil. – S. 258).<br />
5<br />
Die Leistungen 1990, S. 362.<br />
6<br />
Vgl. dazu auch das Ergebnis der Besprechung<br />
der Spitzenverbände der<br />
Krankenkassen vom 22. Januar 1999<br />
(Die Leistungen 1999, S. 275).<br />
7<br />
B 1 KR 17/10 R (Die Leistungen<br />
2013 – Beil. – S. 333).<br />
8<br />
Die Leistungen 2001, S. 297.<br />
9<br />
Ergebnis der Besprechung der Spitzenverbände<br />
der Krankenkassen vom<br />
11./12. Mai 2000 (Die Leistungen<br />
2000 – Beil. – S. 555).<br />
10<br />
1 RK 11/96 (Die Leistungen 2000 –<br />
Beil. – S. 123).<br />
11<br />
BSG, Urteil vom 25. Februar 2003<br />
(B 1 KR 171/02; Die Leistungen<br />
2003 – Beil.- S. 135).<br />
12<br />
3 RK 61/84 (Die Leistungen 1985,<br />
S. 121).<br />
13<br />
3 RK 3/78 (Die Leistungen 1980,<br />
S. 19).<br />
14<br />
BSG, Urteil vom 7. Mai 2013 (B 1<br />
KR 5/12 R; Die Leistungen 2013 –<br />
Beil. – S. 206).<br />
15<br />
Vgl. dazu auch BSG, Urteil vom<br />
2. September 2014 (B 1 KR 12/13 R,<br />
Die Leistungen 2014 – Beil. –<br />
S. 366).<br />
16<br />
BSG, Urteil vom 8. September 2015<br />
(B 1 KR 22/14 R; Die Leistungen<br />
2015, S. 409).<br />
IGeL-Monitor<br />
Leistungen über wiegend<br />
negativ bewertet<br />
Zu einem nicht gerade erfreulichen<br />
Ergebnis ist der IGeL-Monitor des<br />
Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes<br />
der gesetzlichen Krankenversicherung<br />
(MDS) gekommen: Individuelle<br />
Gesundheitsleistungen, abgekürzt<br />
IGeL, schaden den Patienten<br />
in aller Regel mehr als sie nutzen.<br />
Dabei wurden seit Gründung des<br />
Monitors vor fünf Jahren insgesamt<br />
45 unterschiedliche Angebote gesichtet<br />
und fachlich bewertet.<br />
Nur drei Offerten hat der IGeL-<br />
Monitor als „tendenziell positiv“ bewertet,<br />
nämlich Akupunktur zur Migränevorbeugung,<br />
Lichttherapien zur<br />
Behandlung von saisonal auftretenden<br />
depressiven Störungen und Stoßwellentherapie<br />
gegen Fersenschmerzen.<br />
Ein eindeutiges „Gut“ ohne Einschränkung<br />
erhielt keine einzige individuelle<br />
Gesundheitsleistung. Eindeutig<br />
negativ beurteilt wurden<br />
Darmspülungen zur Reinigung des<br />
Verdauungstrakts, die Durchblutung<br />
fördernde Infusionen nach einem<br />
Hörsturz sowie Ultraschall-Untersuchungen<br />
der Eierstöcke zur Krebsfrüherkennung.<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
220<br />
Sozialpolitik<br />
Neben diesen schädlichen Angeboten<br />
nennt der IGeL-Monitor 17 weitere<br />
Behandlungsangebote mit „tendenziell<br />
negativer“ Wirkung. Dazu zählen<br />
Augenspiegelungen und Augeninnendruck-Messungen,<br />
Blutegeltherapien<br />
bei Kniearthrose und MRT-Untersuchungen<br />
zur Alzheimer-Früherkennung,<br />
Stoßwellenanwendungen gegen<br />
Sehnenreizungen („Tennisarm“) und<br />
die Sauerstoff-Therapie nach einem<br />
Hörsturz. 15-mal lautete das Urteil<br />
zur Nutzen-Schaden-Bilanz „unklar“.<br />
Auch die beiden jüngsten Bewertungen<br />
wurden mit „tendenziell negativ“<br />
beurteilt, und zwar der Lungenfunktionstest<br />
(Spirometrie) zur Früherkennung<br />
von Asthma und chronisch obstruktiver<br />
Bronchitis und für das Elektrokardiogramm<br />
zur Früherkennung<br />
einer koronaren Herzkrankheit, jeweils<br />
bei Patienten ohne Symptome.<br />
Die Wissenschaftler konnten keine<br />
Hinweise auf einen Nutzen dieser<br />
Technik ausmachen. Hingegen seien<br />
Schäden durch Übertherapie oder falsche<br />
Befunde möglich.<br />
Jahresumsatz 1,3 Milliarden<br />
Umfragen zufolge bieten 52 Prozent<br />
der niedergelassenen Arztpraxen IGe-<br />
Leistungen an. Der damit erzielte Jahresumsatz<br />
liegt bei rund 1,3 Milliarden<br />
Euro – ein teures Vergnügen für<br />
Patienten, die diese Leistungen aus eigener<br />
Tasche bezahlen müssen, weil<br />
sie von den gesetzlichen Krankenkassen<br />
nicht übernommen werden. Bei<br />
diesem Angebot handelt es sich um<br />
eine privatärztliche Leistung, die über<br />
das Maß einer medizinisch notwendigen<br />
ärztlichen Versorgung im Sinne<br />
des Sozialgesetzbuches V hinausgeht.<br />
Letztlich entscheidet der Gemeinsame<br />
Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen<br />
darüber, welche medizinischen<br />
Verfahren die gesetzlichen<br />
Krankenkassen bezahlen und was vom<br />
einzelnen Patienten als privatärztliche<br />
Leistung zu begleichen ist.<br />
Die Resonanz der Ärzteschaft auf den<br />
IGeL-Monitor ist gespalten. „Es gibt<br />
sehr unterschiedliche Reaktionen aus<br />
der Ärzteschaft. Wir sehen allerdings<br />
eine positive Entwicklung bei den Ärzten“,<br />
sagte MDS-Geschäftsführer Dr.<br />
Peter Pick. Zwar sei die Dynamik des<br />
Marktes weiterhin vorhanden. Aber<br />
Leistungen, die der Monitor negativ<br />
oder tendenziell negativ bewertet hat,<br />
werden eher weniger angeboten. Nach<br />
Picks Worten werden die Bewertungen<br />
des Monitors wahrgenommen<br />
und beeinflussen die Ärzte.<br />
Rund 2000 Nutzer pro Tag verzeichnet<br />
das Bewertungsportal im Durchschnitt<br />
(www.igel-monitor.de) Um<br />
Patienten noch besser bei der Entscheidung<br />
zu helfen, ob ein Angebot<br />
sinnvoll ist oder nicht, wurde die<br />
Homepage des IGeL-Monitors neu<br />
gestaltet. Die Bewertungen des Monitors<br />
recherchiert übrigens ein Team<br />
aus Medizinern und Methodikern des<br />
MDS. <br />
dl<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
Sozialpolitik<br />
221<br />
Zusatzbeiträge<br />
dürften <strong>2017</strong><br />
nicht steigen<br />
2016 erzielten Kassen Überschuss<br />
von 1,38 Milliarden<br />
Dieter Leopold<br />
Nach den vom Bundesgesundheitsministerium<br />
vorgelegten Finanzergebnissen<br />
für das Jahr 2016 haben die gesetzlichen<br />
Krankenkassen einen Überschuss<br />
von 1,38 Milliarden Euro erzielt. Damit<br />
stiegen ihre Finanzreserven auf mehr als<br />
15,9 Milliarden Euro. Hinzu kommt<br />
ein finanzielles Polster im Gesundheitsfonds<br />
von 9,1 Milliarden Euro. Damit<br />
betrug die Gesamtreserve der gesetzlichen<br />
Krankenversicherung (GKV) zum<br />
Jahreswechsel 2016/17 zusammen rund<br />
25 Milliarden Euro. 2015 war noch ein<br />
Defizit von 1,13 Milliarden Euro aufgelaufen.<br />
Damit sinkt die Wahrscheinlichkeit,<br />
dass die Krankenkassen ihre<br />
Zusatzbeiträge im kommenden Jahr auf<br />
breiter Front erhöhen.<br />
Bundesgesundheitsminister Hermann<br />
Gröhe kommentierte die aktuelle Situation<br />
mit den Worten: „Die gesetzliche<br />
Krankenversicherung steht mit<br />
Reserven von 25 Milliarden Euro weiterhin<br />
auf einer guten Grundlage. Dies<br />
zeigt, dass sich die Panikmache, mit<br />
der Versicherte verunsichert wurden,<br />
als falsch erwiesen hat. Wir haben die<br />
notwendigen Verbesserungen, etwa im<br />
Bereich der Prävention, der Hospizund<br />
Palliativversorgung oder der Stärkung<br />
von Stationspflege und Hygiene<br />
im Krankenhaus, mit Augenmaß und<br />
stets mit Blick auf ihre langfristige Finanzierbarkeit<br />
auf den Weg gebracht.“<br />
Einnahmen in Höhe von 224,15 Milliarden<br />
Euro standen <strong>Ausgabe</strong>n von<br />
222,77 Milliarden Euro gegenüber. Die<br />
Finanzlage der Krankenkassen insgesamt<br />
hat sich im Vergleich zu 2015 um<br />
rund 2,5 Milliarden Euro verbessert.<br />
Auf insgesamt 3,82 Milliarden Euro beliefen<br />
sich die Zuzahlungen der Versicherten.<br />
Der Steuerzuschuss des Bundes<br />
für versicherungsfremde Leistungen belief<br />
sich auf 13,86 Milliarden Euro.<br />
Bis auf die Innungskrankenkassen, die<br />
ein Minus von 33 Millionen Euro in<br />
ihrer Bilanz hatten, verzeichneten alle<br />
Krankenkassenarten im vergangenen<br />
Jahr ein positives Finanzergebnis,<br />
wenngleich die finanzielle Situation<br />
der einzelnen Krankenkassen unterschiedlich<br />
ist.<br />
Einen Überschuss von 935 Millionen<br />
Euro erzielten beispielsweise die Ortskrankenkassen,<br />
während es bei den<br />
Ersatzkassen 325 Millionen Euro waren.<br />
Die Betriebskrankenkassen melden<br />
einen Einnahmeüberschuss von<br />
29 Millionen Euro, und die Knappschaft<br />
beziffert ihren Überschuss auf<br />
100 Millionen Euro. Die Landwirtschaftliche<br />
Krankenkasse, die am Gesundheitsfonds<br />
nicht teilnimmt, hatte<br />
mit 31 Millionen Euro ebenfalls ein<br />
positives Ergebnis.<br />
Von Arzneimittelausgaben<br />
bis Nettoverwaltungskosten<br />
Je Versichertem verzeichneten die gesetzlichen<br />
Krankenkassen 2016 einen<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
222<br />
Sozialpolitik<br />
<strong>Ausgabe</strong>nzuwachs von 3,3 Prozent.<br />
Nach Zuwächsen von 9,4 Prozent je<br />
Versichertem im Jahr 2014 und von 4,0<br />
Prozent in 2015 sind die Arzneimittelausgaben<br />
der gesetzlichen Krankenkassen<br />
im vergangenen Jahr je Versichertem<br />
um moderate 3,1 Prozent gestiegen.<br />
Dies entspricht einem absoluten<br />
Zuwachs von 1,4 Milliarden Euro.<br />
Durch Rabattvereinbarungen mit den<br />
pharmazeutischen Unternehmen konnten<br />
die Krankenkassen deutlich entlastet<br />
werden. Dabei stiegen die Rabatterlöse<br />
im vergangenen Jahr um 7,8 Prozent<br />
auf rund 3,85 Milliarden Euro.<br />
Im Bereich der vertragsärztlichen Vergütung<br />
gab es einen Anstieg je Versichertem<br />
um 3,4 Prozent. Die <strong>Ausgabe</strong>n<br />
für ambulante psychotherapeutische<br />
Versorgung erhöhten sich um<br />
223 Millionen Euro, die <strong>Ausgabe</strong>n für<br />
Hochschulambulanzen um 75 Millionen<br />
Euro. Bei den <strong>Ausgabe</strong>n für zahnärztliche<br />
Behandlung betrug der Anstieg<br />
3,0 Prozent je Versichertem.<br />
Beim Zahnersatz gab es dagegen einen<br />
Rückgang um 1,3 Prozent.<br />
Die <strong>Ausgabe</strong>n für Krankenhausbehandlung<br />
gingen um 2,8 Prozent nach<br />
oben. Insgesamt erhielten die Krankenhäuser<br />
von den gesetzlichen Krankenkassen<br />
2016 rund 2,66 Milliarden<br />
Euro höhere Finanzmittel als im Jahr<br />
zuvor. Beim Krankengeld hat sich der<br />
Anstieg mit einem Plus von 2,9 Prozent<br />
weiter abgeflacht und war der<br />
niedrigste seit 2006.<br />
Bei den <strong>Ausgabe</strong>n für Präventionsleistungen<br />
haben die Krankenkassen ihre<br />
Aufwendungen im vergangenen Jahr<br />
von 177 auf 485 Millionen Euro fast<br />
verdreifacht. Dabei erreichten die<br />
<strong>Ausgabe</strong>n für Leistungen zur primären<br />
Prävention 217 Millionen Euro, für<br />
betriebliche Gesundheitsförderung<br />
143 Millionen Euro und für Prävention<br />
in nichtbetrieblichen Lebenswelten<br />
(z. B. Kita, Kindergärten, Schulen)<br />
125 Millionen Euro. Diese erfreuliche<br />
Entwicklung ist nicht zuletzt auf das<br />
neue Präventionsgesetz zurückzuführen.<br />
Mit ihm wurden die Krankenkassen<br />
verpflichtet, ihr bisheriges Engagement<br />
deutlich aufzubessern. Auch für<br />
die Förderung von Selbsthilfegruppen<br />
stiegen die <strong>Ausgabe</strong>n von rund 45 auf<br />
71 Millionen Euro. Für die Förderung<br />
der Hospize wurden rund 45 Millionen<br />
Euro, für die spezialisierte ambulante<br />
Palliativversorgung 73 Millionen<br />
Euro mehr ausgegeben als 2015.<br />
Die Nettoverwaltungskosten der<br />
Krankenkassen sind mit 4,5 Prozent je<br />
Versichertem nach insgesamt niedrigen<br />
Veränderungen in den Vorjahren<br />
stärker gestiegen als die Leistungsausgaben.<br />
Der überproportionale Zuwachs<br />
ist darauf zurückzuführen, dass<br />
eine Reihe größerer Krankenkassen<br />
bei einer positiven Finanzentwicklung<br />
vor allem im vierten Quartal vor dem<br />
Hintergrund des niedrigen Zinsniveaus<br />
deutlich stärkere Zuführungen<br />
zu den Rückstellungen für die künftige<br />
Altersversorgung ihrer Beschäftigten<br />
vorgenommen hat als ein Jahr zuvor.<br />
2015 hatte das Gesamtvolumen<br />
der Zuführungen zu diesen Rückstellungen<br />
rund 420 Millionen Euro betragen;<br />
2016 waren es rund 797 Millionen<br />
Euro. Ohne diese Zuführungen<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
Sozialpolitik<br />
223<br />
<strong>Ausgabe</strong>nart<br />
in Mrd.<br />
Euro<br />
Ärztliche Behandlung 3,4 40,72<br />
Zahnärztliche<br />
Behandlung 3,0 10,61<br />
Zahnersatz 1,3 3,26<br />
Arzneimittel 3,1 38,46<br />
Hilfsmittel 2,1 8,27<br />
je Versichertem<br />
Heilmittel 5,4 6,80<br />
Krankenhausbehandlung<br />
2,8 73,70<br />
Krankengeld 2,9 11,67<br />
Fahrkosten 4,8 5,26<br />
Vorsorge/<br />
Rehabilitation 3,1 3,44<br />
Schwangerschaft/<br />
Mutterschaft 4,7 1,33<br />
Häusliche<br />
Krankenpflege 7,9 5,77<br />
Leistungsausgaben 3,2 210,50<br />
insgesamt<br />
Nettoverwaltungskosten<br />
4,5 10,92<br />
Quelle: Dieter Leopold<br />
läge der Anstieg der Nettoverwaltungskosten<br />
deutlich unterhalb des Anstiegs<br />
der Leistungsausgaben. Gleichwohl<br />
sieht der Bundesgesundheitsminister<br />
die Krankenkassen im Bereich der Verwaltungskosten<br />
gefordert, sparsam mit<br />
den Beitragsmitteln der Versicherten<br />
und der Arbeitgeber umzugehen.<br />
Ergebnisse in Prozent<br />
und in absoluten Zahlen<br />
In den wichtigsten Leistungsbereichen<br />
der GKV gab es 2016 im Vergleich<br />
zum Vorjahreszeitraum Veränderungsraten<br />
(je Versichertem im vom Hundert)<br />
und daneben die absoluten Zahlen<br />
in Milliarden Euro, die jeweils in<br />
der Tabelle dargestellt sind. ¦<br />
Ärztekammer<br />
2245 Behandlungsfehler<br />
2016 nachgewiesen<br />
Die Zahl der ärztlichen Behandlungsfehler<br />
in Deutschland hat sich nach Angaben<br />
der Bundesärztekammer (BÄK)<br />
in den vergangenen Jahren kaum verändert.<br />
2016 trafen die Gutachterkommissionen<br />
und Schlichtungsstellen der<br />
Ärzteschaft bundesweit 7639 Entscheidungen<br />
zu Beschwerden von Patienten<br />
über Behandlungsfehler, gut 400 mehr<br />
als im Vorjahr. In 2245 Fällen (2015:<br />
2132; 2014: 2252) habe tatsächlich ein<br />
Behandlungsfehler oder eine mangelnde<br />
Risikoaufklärung vorgelegen. Dies<br />
geht aus der jährlichen statistischen Erhebung<br />
der BÄK hervor, die in Berlin<br />
vorgestellt wurde.<br />
In 1845 Fällen habe die Behandlung<br />
einen gesundheitlichen Schaden verursacht,<br />
der dann zu einem Anspruch des<br />
Patienten auf Entschädigung führte. In<br />
96 Fällen starb der Patient an dem Fehler.<br />
In 400 Fällen konnte kein Zusammenhang<br />
zwischen Behandlungsfehler<br />
und einer nachfolgenden Gesundheitsschädigung<br />
festgestellt werden.<br />
Allerdings werden nur Fälle in die Statistik<br />
aufgenommen, wenn eine Beschwerde<br />
von Patienten vorliegt. Ärzte,<br />
Pfleger oder andere Mitarbeiter eines<br />
Krankenhauses oder einer <strong>Praxis</strong><br />
sind nicht verpflichtet, Fehler zu mel-<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
224<br />
Sozialpolitik<br />
den, wenn ihnen welche auffallen. Zudem<br />
werden mögliche Behandlungsfehler,<br />
die wegen mangelnder Hygiene<br />
zu Infektionen führten, hier nicht berücksichtigt.<br />
An der Spitze der Beschwerden, bei<br />
denen der Antrag 2016 zur Entscheidung<br />
kam, lagen Arthrosen und Knochenbrüche:<br />
Knie- und Hüftarthrose-<br />
Behandlungen mit 577 Fällen gefolgt<br />
von Unterschenkel- und Sprunggelenkfrakturen<br />
(171 Beschwerden),<br />
Unterarmbrüchen (162) sowie Schulter<br />
und Oberarmfrakturen (154). Die<br />
Ärztekammer verwies auf die ständig<br />
steigende Zahl an Behandlungen. Im<br />
ambulanten Bereich habe sie demnach<br />
zwischen 2004 und 2015 um 160 Millionen<br />
auf mittlerweile 696 Millionen<br />
zugenommen. <br />
dpa<br />
1,8 Millionen Mitglieder<br />
Sozialverband VdK<br />
wächst weiter<br />
Rekord beim Sozialverband VdK:<br />
Dank des anhaltenden Wachstums<br />
zählt der Verband jetzt über 1,8 Millionen<br />
Mitglieder – so viel wie nie zuvor<br />
in seiner rund 70-jährigen Geschichte.<br />
Der Sozialverband VdK hat großes<br />
Potenzial. Denn immer mehr Menschen<br />
sehen ihre sozialpolitischen und<br />
sozialrechtlichen Interessen in<br />
Deutschland am besten durch diesen<br />
traditionsreichen wie modernen Verband<br />
vertreten. Nun konnte die Marke<br />
von 1,8 Millionen Mitgliedern übersprungen<br />
werden.<br />
„Der VdK wächst in allen Landesverbänden<br />
und kann sich auch in den östlichen<br />
Bundesländern immer mehr<br />
etablieren“, berichtet VdK-Bundesgeschäftsführer<br />
Jens Kaffenberger. Das<br />
anhaltende Mitgliederwachstum sei<br />
ein großes Kompliment für die zahlreichen<br />
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />
in Ehren- und Hauptamt, die<br />
den VdK „hervorragend repräsentieren“.<br />
Man nehme den großen Zuspruch<br />
als Ansporn, „immer noch besser<br />
zu werden“, erklärt Kaffenberger.<br />
VdK-Präsidentin Ulrike Mascher<br />
spricht den VdK-Mitgliedern und VdK-<br />
Mitarbeitern ihren Dank aus: „Ohne<br />
Ihr Engagement wären wir nie zu<br />
Deutschlands erfolgreichstem Sozialverband<br />
geworden“, betont sie. „Ich freue<br />
mich sehr über das Vertrauen, das wir in<br />
der Bevölkerung genießen. Die Menschen<br />
wissen, dass sie mit dem großen<br />
VdK einen starken Verbündeten für Solidarität<br />
und soziale Gerechtigkeit haben,<br />
der aktiv auf die Sozialpolitik Einfluss<br />
nimmt. Der VdK wird als soziale<br />
Schutzmacht wahrgenommen. Und offenbar<br />
ist er so notwendig wie nie, wenn<br />
so viele Menschen unsere Unterstützung<br />
benötigen“, so Mascher. bsc<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
Sozialpolitik<br />
225<br />
Rentenreformen<br />
aus Sicht des VdK<br />
notwendig<br />
Sozialpolitisches Forum des<br />
Sozialverbands VdK Bayern<br />
Von Ulrike Mascher<br />
Mit dem Thema der Zukunft der Rente<br />
und der gesamten Altersversorgung<br />
haben wir auch <strong>2017</strong> wieder, wie ich<br />
meine, ein brandaktuelles Forumsthema<br />
gewählt. Die Sorge, im Alter<br />
nicht genügend Geld zu haben, beschäftigt<br />
die gesamte Gesellschaft.<br />
Lassen Sie mich dazu nur einige<br />
Meinungsumfragen der vergangenen<br />
Monate zitieren.<br />
So hat im <strong>April</strong> 2016 eine Umfrage<br />
von Infratest dimap für das ARD-<br />
Morgenmagazin ergeben, dass sich die<br />
Mehrheit der Deutschen, die noch<br />
keine Rente oder Pension beziehen,<br />
nämlich 57 Prozent, für die eigene<br />
Rentenzeit nicht ausreichend abgesichert<br />
fühlen. Und je jünger, desto größer<br />
ist die Angst. Bei den 18- bis<br />
34-Jährigen sehen sich 62 Prozent<br />
nicht ausreichend abgesichert, bei den<br />
50- bis 64-Jährigen ist es immer noch<br />
jeder Zweite (51 Prozent).<br />
Besonders bei den Geringverdienern<br />
mit einem monatlichen Haushaltsnettoeinkommen<br />
unter 1500 Euro ist die<br />
Angst nach dieser Umfrage ausgeprägt:<br />
Eine große Mehrheit von 80<br />
Prozent sorgt sich um die eigene finanzielle<br />
Absicherung im Alter.<br />
Eine weitere Umfrage vom September<br />
2016 hat gezeigt: Laut einer Analyse des<br />
Meinungsforschungsinstitutes Allensbach<br />
blickt die Mehrheit der Deutschen<br />
zwischen 30 und 59 Jahren trotz aktueller<br />
materieller Zufriedenheit eher pessimistisch<br />
in die Zukunft. Viele sehen<br />
ihren Lebensstandard im Alter in Gefahr.<br />
60 Prozent fürchten inzwischen,<br />
im Alter Abstriche machen zu müssen.<br />
Nach einer weiteren Forsa-Umfrage<br />
vom November 2016 befürchten viele<br />
Deutsche, im Alter nicht mehr mit<br />
dem Geld auszukommen. Drei Viertel<br />
(75 Prozent) der Befragten sagten dabei,<br />
dass ihnen Altersarmut große oder<br />
sehr große Sorgen bereite. Fast genauso<br />
groß war die Angst vor sozialer Ungleichheit<br />
(72 Prozent).<br />
Und jetzt erst, im Februar <strong>2017</strong>, wurden<br />
Zahlen einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts<br />
Yougov veröffentlicht,<br />
nach der sich fast jeder<br />
Zweite in Deutschland davor fürchtet,<br />
nach dem Ausscheiden aus dem Arbeitsleben<br />
arm zu werden. Selbst unter<br />
den Erwerbstätigen fürchtet sich jeder<br />
Dritte, im Alter nicht genug Geld zu<br />
haben.<br />
Angst vor Altersarmut<br />
Dass die Angst vor Altersarmut in<br />
Deutschland deutlich größer ist als in<br />
anderen Ländern mit einem ähnlich<br />
hohen Lebensstandard wie zum Beispiel<br />
Großbritannien oder Kanada,<br />
könnte man nun gerne mit der sogenannten<br />
„German Angst“ abtun. Und<br />
so wird auch immer wieder darauf verwiesen,<br />
dass Deutschland kein Alters-<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
226<br />
Sozialpolitik<br />
armutsproblem hätte, da nur drei Prozent<br />
der Rentnerinnen und Rentner in<br />
Deutschland Grundsicherung im Alter<br />
beziehen würden. Immerhin waren<br />
das 2015 jedoch schon 536121 Empfängerinnen<br />
und Empfänger.<br />
Stellt man des Weiteren der bundesweiten<br />
Armutsgefährdungsschwelle<br />
von aktuell 942 Euro die aktuellen<br />
Rentenzahlbeträge gegenüber, mit<br />
dem Ergebnis, dass insgesamt 39,1<br />
Prozent aller Rentner und deutliche<br />
81,1 Prozent der Rentnerinnen in den<br />
alten Bundesländern sowie 31,2 Prozent<br />
der Rentner und 64,3 Prozent der<br />
Rentnerinnen in den neuen Bundesländern<br />
Renten unterhalb von 900<br />
Euro und damit unterhalb der Armutsgefährdungsschwelle<br />
erhalten,<br />
wird auf weitere Einkünfte und das<br />
Gesamthaushaltseinkommen als richtigerer<br />
anzulegender Einkommensmaßstab<br />
hingewiesen.<br />
Beide Positionen sind sicher nicht von<br />
der Hand zu weisen. Dennoch liegt die<br />
Wahrheit, wie so oft, in der Mitte. Die<br />
Alterssicherung über die gesetzliche<br />
Rentenversicherung (GRV) entfernt<br />
sich immer weiter von ihrem ursprünglichen<br />
Ziel, den Lebensstandard im<br />
Alter zu sichern. Bisher gab es einen<br />
Konsens darüber, dass das Vertrauen<br />
auf ein sicheres Alterseinkommen der<br />
Kern unseres solidarisch aufgebauten<br />
Sozialstaats ist und die lebensstandardsichernde<br />
Altersversorgung mit einer<br />
generationengerechten Finanzierung<br />
verbunden sein muss.<br />
Das Ziel, einen niedrigen Beitragssatz<br />
(unter 20 Prozent) zu sichern, tritt allerdings<br />
heute immer stärker an diese<br />
Stelle und dominiert die Rentendebatte.<br />
Aktuell liegt der Rentenversicherungsbeitragssatz<br />
bei 18,7 Prozent und damit<br />
auf einem so niedrigen Niveau,<br />
wie wir es zuletzt 1995 (mit 18,6 Prozent),<br />
das heißt vor mehr als 20 Jahren,<br />
hatten. Vom Höchststand der<br />
späten 90er Jahre (1997 bis 1999) mit<br />
20,3 Prozent sind wir weit entfernt.<br />
Und doch wird gerade von Arbeitgeberseite<br />
so getan, als ob der Wirtschaftsstandort<br />
Deutschland mit jedem<br />
Zehntel Rentenbeitragssatz mehr<br />
vor der Zerreißprobe stehen würde.<br />
Dabei stehen wir wirtschaftlich gut da.<br />
Selten haben Unternehmen so viel<br />
verdient, nie haben sie bisher so viele<br />
Waren ins Ausland verkaufen können.<br />
Deutschland vermeldet Rekordbeschäftigung,<br />
und zwar nicht nur<br />
bei Billigjobs, sondern bei regulärer,<br />
sozialversicherungspflichtiger Arbeit.<br />
Zum dritten Mal in Folge hat der<br />
Staat 2016 auf allen Ebenen – Bund,<br />
Länder, Kommunen und Sozialversicherung<br />
– mehr eingenommen als ausgegeben:<br />
fast 24 Milliarden Euro, der<br />
höchste Überschuss seit der Wiedervereinigung.<br />
Aus Sicht des VdK ist<br />
daher der Zeitpunkt günstig, sich<br />
noch einmal über die Verteilung der<br />
Mittel in Deutschland und die Stabilisierung<br />
unseres Altersvorsorgesystems<br />
Gedanken zu machen.<br />
Lassen Sie mich gleich voranstellen:<br />
Falsch wäre es, mit dem Gießkannensystem<br />
vorzugehen. Wir müssen ge-<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
Sozialpolitik<br />
227<br />
zielt die Schwachstellen anschauen<br />
und beseitigen.<br />
Unabdingbar für den VdK ist, dass Armutsfestigkeit<br />
in der ersten Säule unserer<br />
Altersvorsorge, das heißt in der<br />
GRV, erreicht wird. Die Versuche in<br />
der Vergangenheit, die finanzielle<br />
Vorsorge für das Alter durch die weiteren<br />
Säulen der betrieblichen und<br />
privaten Altersvorsorge abzusichern,<br />
haben gezeigt, dass der Leistungsabbau<br />
in der GRV nicht durch die anderen<br />
(freiwilligen) Säulen aufgefangen<br />
werden kann. Immer mehr Menschen<br />
rutschen deswegen in die bedrohliche<br />
Nähe der Grundsicherung.<br />
Für den VdK sind betriebliche und<br />
private Altersvorsorge zweifellos wichtig,<br />
doch nicht als Kompensation sondern<br />
als Ergänzung zur gesetzlichen<br />
Rente.<br />
Wir müssen uns dabei auch die Ergebnisse<br />
des jüngsten Alterssicherungsberichts<br />
vergegenwärtigen: die GRV-<br />
Leistungen – bezogen auf alle 65-Jährigen<br />
und Älteren – machen heute<br />
stolze 63 Prozent der Bruttoeinnahmen<br />
zum Leben im Alter aus, betriebliche<br />
Altersversorgung und private<br />
Vorsorge nur jeweils acht Prozent und<br />
weiteres Einkommen nur sieben Prozent.<br />
Zwar haben 70,4 Prozent der sozialversicherungspflichtig<br />
Beschäftigten<br />
heute eine zusätzliche betriebliche<br />
oder private Altersvorsorge. Die Verbreitungsquoten<br />
und späteren Leistungshöhen<br />
unterscheiden sich im<br />
Detail aber sehr deutlich, insbesondere<br />
wenn man nach der Einkommenshöhe<br />
der Beschäftigten differenziert.<br />
Gerade unter den Beziehern niedrigerer<br />
Einkommen ist die zusätzliche Altersvorsorge<br />
eher wenig verbreitet.<br />
Stabilisierung und Erhöhung<br />
des Rentenniveaus<br />
Als wichtigste Maßnahme zur Stärkung<br />
des gesetzlichen Rentensystems<br />
brauchen wir eine Stabilisierung und<br />
maßvolle Erhöhung des Rentenniveaus:<br />
Denn die gesetzlich vorgesehene<br />
Senkung des Rentenniveaus, das<br />
aktuell bei rund 48 Prozent liegt,<br />
schiebt immer mehr Geringverdiener<br />
und auch ganz normale Arbeitnehmer<br />
in Richtung Grundsicherung. Sie<br />
macht auch alle bisher erreichten Verbesserungen,<br />
zum Beispiel bei der Erwerbsminderungsrente<br />
oder der Mütterrente,<br />
nach einigen Jahren wieder<br />
zunichte.<br />
Als Argumente für diese angeblich unverzichtbare<br />
Absenkung des Rentenniveaus<br />
werden längere Rentenbezugszeiten<br />
wegen der heute höheren Lebenserwartung<br />
und weniger<br />
Rentenbeitragszahler aufgrund weniger<br />
Geburten genannt. Und auch der<br />
Wegfall von vielen Arbeitsplätzen<br />
durch die Digitalisierung wird dabei<br />
ins Spiel gebracht.<br />
Als potentielle Stellschrauben in der<br />
Rentenniveaudiskussion fungieren<br />
deshalb die vor allem von gut situierten<br />
Professoren und Wissenschaftlern<br />
gern angeführte Erhöhung der Lebensarbeitszeit<br />
durch eine weitere Erhöhung<br />
des Renteneintrittsalters auf<br />
70 und mehr Jahre und die von der<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
228<br />
Sozialpolitik<br />
Wirtschaft vehement abgelehnte Erhöhung<br />
des Rentenbeitragssatzes.<br />
Kurz gesagt: Rentenalter oder Beitragssatz!?<br />
Die Wahl also zwischen<br />
Pest oder Cholera.<br />
Nebenbei bemerkt: Es ist schon erstaunlich,<br />
dass in unserem Land<br />
gleichzeitig eine Erhöhung des Rentenalters<br />
auf über 70 und eine Beschränkung<br />
des Führerscheins für Ältere<br />
auf Mitte 70 diskutiert werden.<br />
Doch für den VdK sind damit die<br />
Stellschrauben keineswegs erschöpfend<br />
aufgezählt. Wir müssen uns stärker<br />
mit der gerechten Verteilung des<br />
Jahr um Jahr erwirtschafteten Reichtums,<br />
einer sachgerechten Finanzierung<br />
von familienpolitischen Leistungen<br />
wie der Mütterrente oder gesamtgesellschaftlichen<br />
Aufgaben wie der<br />
Ost-West-Angleichung der aktuellen<br />
Rentenwerte beschäftigen: Wieso sollte<br />
man die Altersvorsorge nur von den<br />
sozialversicherungspflichtigen Alterseinkommen<br />
finanzieren lassen? Was<br />
ist mit einer stärkeren Besteuerung des<br />
Kapitals und damit einer stärkeren Beteiligung<br />
der Unternehmensgewinne?<br />
Auch insgesamt sollten die Bürger<br />
nach ihrer Leistungsfähigkeit in Anspruch<br />
genommen werden. Das Beispiel<br />
Schweiz zeigt, dass es auch ohne<br />
Beitragsbemessungsgrenze geht und<br />
daher gerade Gutverdiener mehr als<br />
andere zum Alterseinkommen beitragen<br />
sollten und können. Der Schweizer<br />
Einkommensmillionär zahlt von<br />
seinem gesamten Einkommen einen<br />
Beitrag und erhält eine Höchstrente<br />
von 2350 Franken pro Monat in der<br />
Alters- und Hinterlassenenversicherung<br />
(AHV).<br />
Personengruppen<br />
Neben der Frage des Rentenniveaus<br />
müssen wir uns außerdem mit bestimmten<br />
Personengruppen besonders<br />
beschäftigen. An erster Stelle zu nennen<br />
ist hier die Gruppe der Menschen<br />
mit einer Erwerbsminderung.<br />
Wir haben uns bereits im Frühjahr<br />
2014 bei unserem VdK-Forum mit<br />
den Menschen beschäftigt, die im Erwerbsleben<br />
krank werden und nicht<br />
mehr arbeiten können. Damals waren<br />
wir uns alle einig, dass für diese Menschen<br />
mehr getan werden muss: Angefangen<br />
von zielgerichteter und umfassender<br />
medizinischer und möglicherweise<br />
beruflicher Rehabilitation, um<br />
eine dauerhafte Erwerbsminderung zu<br />
vermeiden, bis hin zur deutlichen Erhöhung<br />
der Rentenleistungen.<br />
Untersuchungen zeigen, dass sich bei<br />
drei Viertel der Personen in Haushalten<br />
von Erwerbsminderungsrentnern<br />
die finanzielle Situation infolge der Erwerbsminderungsberentung<br />
verschlechtert<br />
hat. Von allen Personen,<br />
die in den Haushalten von Erwerbsminderungsrentnern<br />
leben, sind sogar<br />
rund 40 Prozent armutsgefährdet.<br />
Zwar wurden mit dem Rentenpaket<br />
2014 und der Erhöhung der Zurechnungszeiten<br />
auf das 62. Lebensjahr<br />
bereits erste wichtige Maßnahmen ergriffen,<br />
diese Menschen besser im<br />
Hinblick auf das nicht selbst gewählte<br />
Schicksal einer Erwerbsminderung abzusichern.<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
Sozialpolitik<br />
229<br />
Gleichwohl kann bisher noch keinesfalls<br />
von bekämpfter Armut gesprochen<br />
werden. Die durchschnittlichen<br />
Rentenzahlbeträge neuer Erwerbsminderungsrenten<br />
lagen 2015 bei den<br />
Männern in den alten Bundesländern<br />
bei 702 Euro, bei Frauen bei 640 Euro.<br />
In den neuen Bundesländern erhielten<br />
Männer 643 Euro, Frauen 717<br />
Euro.<br />
Auch wenn hier jetzt aktuell mit dem<br />
sogenannten Erwerbsminderungs-<br />
Leistungsverbesserungsgesetz noch<br />
mal nachgebessert werden soll, halten<br />
wir die aktuell geplante Regelung für<br />
unzureichend. Denn die Zurechnungszeiten<br />
für Erwerbsminderungsrenten<br />
sollen erst ab 2018 und dann<br />
nur schrittweise bis 2024 weiter angehoben<br />
werden.<br />
Erhöhung der Zurechnungszeit<br />
Damit die Menschen, die heute eine<br />
Erwerbsminderung erfahren, überhaupt<br />
profitieren können, muss die<br />
weitere Erhöhung der Zurechnungszeit<br />
auch heute und wie im Jahr 2014<br />
in einem Schritt erfolgen. Daneben<br />
sollte sich die Koalition nun endlich<br />
durchringen, auf die systemwidrigen<br />
Abschläge von bis zu 10,8 Prozent zu<br />
verzichten. Mehr als 34 Abschlagsmonate<br />
mussten sich die Neurentner<br />
2015 durchschnittlich anrechnen lassen,<br />
obwohl der Gang in die Erwerbsminderungsrente<br />
keine freiwillige<br />
Entscheidung ist.<br />
Lassen sie mich auch etwas zum Argument<br />
der Gegner der Abschaffung der<br />
Abschläge sagen. Diese meinen, dass<br />
die Abschläge bleiben müssten, da<br />
sonst massenhafte Ausweichreaktionen<br />
der Versicherten weg von anderen<br />
Rentenarten, zum Beispiel der Altersrente,<br />
in die Erwerbsminderungsrente<br />
folgen würden.<br />
Aus der <strong>Praxis</strong> der VdK-Kreisgeschäftsstellen<br />
betrachtet, ist diese Argumentation<br />
absurd. Jeder, der schon<br />
einmal selbst ein Verfahren – ob als<br />
Kläger oder als Bevollmächtigter – geführt<br />
hat, weiß, wie hoch die (medizinischen)<br />
Hürden sind, die überwunden<br />
werden müssen, um eine Erwerbsminderungsrente<br />
zu bekommen. Je<br />
nach persönlichem Gusto bekommt in<br />
diesem Land niemand eine Erwerbsminderungsrente.<br />
Bestandsrentner<br />
Betonen möchte ich, dass es dem VdK<br />
äußerst wichtig ist, dass auch die Bestandsrentner<br />
an den Verbesserungen<br />
teilhaben können. Daher fordert der<br />
VdK: Auch die 1,7 Millionen Bestandsrentnerinnen<br />
und Bestandsrentner<br />
müssen an den Besserungen beteiligt<br />
werden. Nur dann kann sich der<br />
Gesetzgeber wirklich auf die Fahnen<br />
schreiben, etwas gegen die Armutsgefährdung<br />
dieses Personenkreises unternommen<br />
zu haben.<br />
Als weitere Personengruppen, die besonderer<br />
Unterstützung bedürfen,<br />
sind aus Sicht des VdK die Gruppe der<br />
Geringverdiener zu nennen. Nach Angaben<br />
der Bundesregierung betrug<br />
2014 die Niedriglohnschwelle zehn<br />
Euro Bruttostundenlohn – damit sogar<br />
noch um Einiges höher als der ak-<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
230<br />
Sozialpolitik<br />
tuelle Mindestlohn von 8,84 Euro.<br />
18,4 Prozent der Beschäftigten in den<br />
alten Bundesländern, das heißt knapp<br />
ein Fünftel, und 34,6 Prozent der Beschäftigten<br />
in den neuen Bundesländern,<br />
das heißt ein Drittel aller Beschäftigten,<br />
haben 2014 mit Niedriglohn<br />
gearbeitet.<br />
Besonders von den Niedriglohnbeschäftigungen<br />
betroffen sind Frauen:<br />
Sie hatten zu 26,5 Prozent einen Job<br />
mit Niedriglohn (Männer: 15,5 Prozent).<br />
Damit können natürlich keine<br />
ausreichenden Rentenansprüche erworben<br />
werden.<br />
Eine Auskunft des Bundesarbeitsministeriums<br />
zeigt, dass bei einer wöchentlichen<br />
Arbeitszeit von 38,5 Stunden<br />
über 45 Jahre sozialversicherungspflichtiger<br />
Beschäftigung hinweg im<br />
Jahr 2016 bereits ein Stundenlohn<br />
von 11,68 Euro erforderlich gewesen<br />
wäre, um den durchschnittlichen<br />
Grundsicherungsbedarf von 788 Euro<br />
zu erreichen. Ich überlasse es ihrem<br />
Rechenvermögen, auszurechnen, bei<br />
welcher Rentenhöhe Personen landen,<br />
die diese 11,68-Euro-Grenze nicht erreichen.<br />
Rente nach Mindesteinkommen<br />
Dringend sind aus Sicht des VdK<br />
Maßnahmen notwendig, die Rentenbeträge<br />
für diesen Personenkreis aufzubessern,<br />
unter anderem natürlich<br />
mit einer kontinuierlichen Erhöhung<br />
des Mindestlohns. Der VdK hat aber<br />
darüber hinaus mehrmals darauf hingewiesen,<br />
und ich möchte es heute<br />
noch einmal tun, dass wir mit der<br />
Rente nach Mindesteinkommen beziehungsweise<br />
nach Mindestentgeltpunkten<br />
bereits ein taugliches und erprobtes<br />
Instrument für diesen Personenkreis<br />
hätten, wir müssen es nur<br />
wieder zur Anwendung bringen.<br />
Bis 1992 wurde es angewandt und<br />
kam vor allem Frauen in Leichtlohngruppen,<br />
die unterdurchschnittlich<br />
verdient haben, zugute.<br />
Für diese Regelung müssen oder mussten<br />
zwei Voraussetzungen erfüllt sein:<br />
£ Es müssen insgesamt wenigstens 35<br />
Jahre rentenrechtlicher Zeiten vorliegen.<br />
Dazu zählen Beitragszeiten,<br />
beitragsfreie Zeiten und Berücksichtigungszeiten.<br />
£ Außerdem muss der Durchschnitt<br />
des Rentenanspruchs aus vollwertigen<br />
Pflichtbeitragszeiten unter 75<br />
Prozent des Durchschnittseinkommens<br />
liegen.<br />
Trifft beides zu, werden die Rentenanwartschaften<br />
auf diesen Wert aufgestockt.<br />
Wichtig wäre außerdem für diese<br />
Menschen, dass es sich für sie auszahlt,<br />
zusätzlich fürs Alter vorzusorgen.<br />
Wie ich ausgeführt habe, ist die<br />
zusätzliche Altersvorsorge generell<br />
noch zu wenig verbreitet und in besonders<br />
geringem Maße bei Geringverdienern.<br />
Für Geringverdiener sollte<br />
daher insbesondere die von<br />
Arbeitgebern finanzierte betriebliche<br />
Altersversorgung weiter vorangebracht<br />
werden.<br />
Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur<br />
Stärkung der betrieblichen Altersver-<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
Sozialpolitik<br />
231<br />
sorgung will die Koalition hier ab<br />
2018 Verbesserungen auf den Weg<br />
bringen, unter anderem durch eine<br />
Optimierung der steuerlichen Förderung<br />
und eine Haftungsentlastung der<br />
Arbeitgeber.<br />
Zusätzliche Altersvorsorge<br />
Bemerkenswert ist, dass nun endlich<br />
daran gedacht wird, die Bereitschaft<br />
zur zusätzlichen Altersvorsorge durch<br />
Freibeträge bei der Grundsicherung<br />
im Alter und bei Erwerbsminderung<br />
zu stärken. Vorgesehen ist aktuell, dass<br />
bis zu 202 Euro abgesetzt werden können<br />
– 100 Euro monatlich aus einer<br />
zusätzlichen Altersvorsorge (bAV-,<br />
private Riester- oder Rürup-Renten<br />
unabhängig von einer etwaigen staatlichen<br />
Förderung sowie Rentenbeträge,<br />
die aus Zeiten einer freiwilligen Versicherung<br />
in der GRV resultieren), zuzüglich<br />
30 Prozent des diesen Betrags<br />
übersteigenden Einkommens aus einer<br />
zusätzlichen Altersvorsorge bis zu<br />
einer Grenze von 50 Prozent der Regelbedarfsstufe<br />
1 (2016 wären dies<br />
202 Euro).<br />
Doch was ist mit einem Freibetrag in<br />
der Grundsicherung für die gesetzliche<br />
Rente? Hier werden die Renten aus<br />
der GRV stark benachteiligt.<br />
Gleichzeitig wird mit diesem Gesetz<br />
zudem eine neue Gerechtigkeitslücke<br />
eröffnet: Denn betriebliche Riester-<br />
Verträge sollen wie die privaten Riester-Verträge<br />
in der Auszahlungsphase<br />
von der Beitragspflicht zur Krankenund<br />
Pflegeversicherung befreit werden.<br />
Bewusst nicht berücksichtigt wurden<br />
die Krankenkassenbeiträge bei sonstigen<br />
Betriebsrenten und Direktversicherungen<br />
– eine permanente Quelle<br />
des Unmuts und des Unverständnisses<br />
vieler tausender Betriebsrentner.<br />
Vor knapp drei Wochen erst hat die<br />
Bundesregierung einen diesbezüglichen<br />
Änderungsantrag des Bundesrates<br />
harsch abgelehnt. Vorrangig mit<br />
dem Argument (Zitat): „Die Verbeitragung<br />
von Versorgungsbezügen aus<br />
Betriebsrenten ist ein unverzichtbarer<br />
Bestandteil für eine solidarische und<br />
nachhaltige Finanzierung der gesetzlichen<br />
Krankenversicherung (…). Die<br />
derzeitigen Beitragseinnahmen der gesetzlichen<br />
Krankenversicherung aus<br />
den Versorgungsbezügen belaufen<br />
sich auf rund 5,3 Milliarden Euro. Eine<br />
Absenkung des Beitragssatzes (…)<br />
führt zu Mindereinnahmen der gesetzlichen<br />
Krankenversicherung in Höhe<br />
von jährlich rund 2,5 Milliarden Euro,<br />
die über einen deutlichen Anstieg<br />
der Zusatzbeiträge für alle Mitglieder<br />
refinanziert werden müssten.“<br />
Wie wäre es denn mit einer Wiedereinführung<br />
der vollen paritätischen<br />
Beiträge für Arbeitgeber? Es geht bei<br />
dieser Regelung also keineswegs um<br />
irgendwelche Sachgründe oder Systematiken,<br />
sondern rein ums Geld.<br />
Mütterrente<br />
Lassen Sie mich an dieser Stelle auf eine<br />
weitere Lücke hinweisen, bei der die<br />
Finanzierung im Vordergrund steht:<br />
Das dritte Mütterrentenjahr, das für<br />
die Jahre <strong>2017</strong> bis 2019 rund 7,2 Mil-<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
232<br />
Sozialpolitik<br />
liarden Euro jährlich kosten würde,<br />
Tendenz anschließend sinkend.<br />
Um zu vermeiden, dass immer mehr<br />
Frauen im Alter in die Armutsfalle<br />
tappen, muss diese Gerechtigkeitslücke<br />
bei den Mütterrenten geschlossen<br />
werden. Frauen, die ihre Kinder vor<br />
1992 bekommen haben, müssen endlich<br />
auch das dritte Erziehungsjahr anerkannt<br />
bekommen. Ich bin hier sehr<br />
froh, dass der bayerische Ministerpräsident<br />
Horst Seehofer auf der 70-Jahr-<br />
Feier des Sozialverbands VdK Bayern<br />
im Januar noch einmal öffentlich die<br />
Unterstützung dieser VdK-Forderung<br />
bekundet hat.<br />
Darüber hinaus ist es wichtig, dass die<br />
Mütterrente bei den betroffenen Frauen<br />
auch tatsächlich ankommt. Auch deswegen<br />
ist es wichtig, dass es einen Freibetrag<br />
für Grundsicherungsbezieher für<br />
die gesetzliche Rente gibt. Bisher wird<br />
die Mütterrente, ebenso wie Rentenanpassungen,<br />
nämlich eins zu eins mit der<br />
Grundsicherung verrechnet.<br />
Als vorletzten Punkt möchte ich auf<br />
einen Personenkreis zu sprechen kommen,<br />
der ebenfalls im Alter finanziell<br />
äußerst schlecht dasteht. Ich spreche<br />
hier von der Gruppe der Selbstständigen.<br />
Abgesehen von der Gruppe der<br />
Freiberufler, die in Versorgungswerken,<br />
mindestens wie in der GRV abgesichert<br />
ist, haben viele weitere Selbstständige<br />
keine oder kaum eine Altersversorgung.<br />
Die Hälfte der heute auf<br />
staatliche Grundsicherung angewiesenen<br />
Menschen hat keine Rentenansprüche<br />
– weder aus einer privaten,<br />
noch aus der GRV, noch ein sonstiges<br />
Einkommen. So lag beispielsweise im<br />
Jahr 2015 bei 112 762 Personen das<br />
anzurechnende Einkommen bei der<br />
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung<br />
bei unter 100 Euro.<br />
Für diese Personen brauchen wir eine<br />
Lösung, möglicherweise nach dem<br />
Vorbild der Künstlersozialkasse.<br />
Langzeitarbeitslose<br />
Zuletzt ist es mir wichtig, einen Personenkreis<br />
wieder in die öffentliche Aufmerksamkeit<br />
zurück zu rücken, dessen<br />
Altersarmut gesetzlich produziert wird:<br />
die Gruppe der Langzeitarbeitslosen.<br />
2010 wurden die Rentenbeiträge für<br />
Arbeitslosengeld-II-Bezieher im Rahmen<br />
des Kürzungspakets gestrichen,<br />
um, nach den Worten der Gesetzesbegründung,<br />
„die Anreize zur Aufnahme<br />
einer sozialversicherungspflichtigen<br />
Beschäftigung zu stärken.“ Damals betrug<br />
der monatliche Rentenanspruch<br />
für Langzeitarbeitslose nach der Abschaffung<br />
der Arbeitslosenhilfe und<br />
vorangegangenen Kürzungen nur<br />
noch 2,09 Euro.<br />
Die Anreize waren offenbar nicht groß<br />
genug: Wir haben einen harten Kern<br />
von rund einer Million Menschen, die<br />
sich von Januar 2005 bis Dezember<br />
2014 durchgehend in der Grundsicherung<br />
für Arbeitsuchende befanden.<br />
Bezogen auf den Anfangsbestand im<br />
Januar 2005 verblieben damit gut 16<br />
Prozent der damals 6,2 Millionen<br />
Leistungsbeziehenden zehn Jahre und<br />
länger im Leistungsbezug.<br />
Diese Menschen, zu denen vor allem<br />
Ältere, gering oder nicht Qualifizierte<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
Sozialpolitik<br />
233<br />
und Personen mit Kinderbetreuungsaufgaben<br />
zählen, müssen deutlich besser<br />
unterstützt werden – auch im Hinblick<br />
auf ihre spätere Rentensituation.<br />
Daher sollten die Rentenbeiträge im<br />
Hartz-IV-Bezug noch einmal grundlegend<br />
überdacht werden.<br />
Darüber hinaus fordert der Sozialverband<br />
VdK einen dauerhaft öffentlich<br />
geförderten Arbeitsmarkt. Ein neues<br />
Verständnis öffentlicher Verantwortung<br />
für langzeitarbeitslose Menschen<br />
ist genauso notwendig wie eine neue<br />
Struktur der arbeitsmarktpolitischen<br />
Förderung. Langzeitarbeitslose Menschen<br />
mit mehreren Vermittlungshemmnissen<br />
brauchen ein dauerhaftes<br />
Gefüge statt befristeter Arbeitsmarktprogramme.<br />
Sie müssen tariflich entlohnt<br />
und sozialversicherungspflichtig<br />
und arbeitsrechtlich abgesichert beschäftigt<br />
werden. Wir dürfen diese<br />
Menschen nicht ausgrenzen, sondern<br />
müssen sie wieder in die Mitte unserer<br />
Gesellschaft holen. ¦<br />
Vortrag auf dem Sozialpolitischen<br />
Forum des Sozialverbands VdK Bayern<br />
in München am 13. März <strong>2017</strong>.<br />
Soziale Gerechtigkeit<br />
VdK-Kampagne zur<br />
Bundestagswahl gestartet<br />
Deutschland droht zu zerreißen. Das<br />
symbolisiert der Schriftzug der VdK-<br />
Aktion zur Bundestagswahl. Mit dem<br />
Motto „Soziale Spaltung stoppen!“<br />
formuliert der Sozialverband seine<br />
Kernforderung an die Kandidatinnen<br />
und Kandidaten, die sich am 24. September<br />
zur Wahl stellen.<br />
Über 16 Millionen Menschen sind in<br />
Deutschland von Armut und sozialer<br />
Ausgrenzung bedroht. „Trotz der großen<br />
Wirtschaftskraft wächst die soziale<br />
Kluft in Deutschland immer weiter“,<br />
warnt Ulrike Mascher, Präsidentin des<br />
Sozialverbands VdK Deutschland. Wie<br />
kaum ein anderer Interessenverband<br />
konnte der VdK in den letzten Jahren<br />
sozialpolitisch wichtige Weichen stellen.<br />
Die Anhebung der Mütterrente,<br />
die Fortschritte bei der Erwerbsminderungsrente,<br />
die Verbesserungen für Demenzkranke<br />
durch die Pflegereform<br />
oder die Einführung des Mindestlohns:<br />
Den Anstrengungen des mitgliederstarken<br />
Sozialverbands VdK ist es mit<br />
zu verdanken, dass diese Gesetzesänderungen<br />
durchgesetzt werden konnten.<br />
Der VdK wird auch weiterhin keine<br />
Ruhe geben. „Es gibt noch etliche Baustellen<br />
in der Sozialpolitik, an der auch<br />
die nächste Bundesregierung mit<br />
Nachdruck arbeiten muss“, erklärt Mascher.<br />
Daher werde sich der Sozialverband<br />
VdK in den kommenden Monaten<br />
aktiv in den Bundestagswahlkampf<br />
und in die noch vorher anstehenden<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
234<br />
Sozialpolitik<br />
Landtagswahlkämpfe einschalten.<br />
Denn: „Der Kurswechsel für eine sozial<br />
gerechte Gesellschaft ist noch lange<br />
nicht vollzogen“, so die VdK-Präsidentin.<br />
Der Sozialverband VdK hat deshalb<br />
zu den Themen Rente, Gesundheit,<br />
Pflege, Behinderung und Armut<br />
Kernforderungen aufgestellt und Vorschläge<br />
zur Finanzierung einer solidarischen<br />
Sozialpolitik gemacht.<br />
Gerade in der Rentenpolitik gibt es<br />
auch für die neue Bundesregierung genug<br />
zu tun. „Oberstes Ziel muss sein,<br />
Altersarmut zu bekämpfen“, fordert<br />
Ulrike Mascher. Seit Jahren werden<br />
Rentenbezieher immer mehr abgehängt.<br />
Das Rentenniveau darf deshalb<br />
nicht weiter sinken. Die Kürzungsfaktoren<br />
in der Rentenformel müssen abgeschafft<br />
werden, damit die Renten<br />
wieder parallel zu den Löhnen steigen.<br />
Weitere Maßnahmen gegen Altersarmut<br />
sind die Abschaffung der Abschläge<br />
für Erwerbsminderungsrentner, die<br />
vollständige Angleichung der Mütterrenten,<br />
ein Freibetrag für Grundsicherungsbezieher<br />
und höhere Renten für<br />
Bezieher von Niedrigeinkommen.<br />
Von der Gesundheitspolitik erwartet<br />
der Sozialverband VdK die Entlastung<br />
der Versicherten. Konkret müssen die<br />
unsozialen Zusatzbeiträge abgeschafft<br />
und die solidarische Finanzierung wieder<br />
eingeführt werden, fordert der<br />
VdK. In der Pflegepolitik gibt es zwar<br />
Fortschritte, dennoch muss noch viel<br />
mehr für Pflegebedürftige, pflegende<br />
Angehörige und Pflegekräfte getan<br />
werden, so der VdK. „Wir brauchen<br />
bezahlbare Pflegeleistungen und Finanzierungshilfen<br />
für den Wohnungs-<br />
VdK-Aktion zur Bundestagswahl<br />
„Soziale Spaltung stoppen!“ im<br />
Internet unter www.vdk.de/btw17<br />
mit Forderungskatalog, Themenblättern<br />
und vielem mehr. Die Seite<br />
wird regelmäßig unter anderem<br />
durch Videos aus dem VdK-TV,<br />
aktuelle Meldungen und Pressemitteilungen<br />
aktualisiert.<br />
umbau“, erklärt Mascher. Auch in Sachen<br />
Inklusion fehlen noch wichtige<br />
Bausteine für das gleichberechtigte<br />
Miteinander von Menschen mit und<br />
ohne Behinderung.<br />
Schule, Arbeitsmarkt und Barrierefreiheit<br />
sind Themen, „bei denen die Politik<br />
mehr Gas geben muss“, sagt die<br />
VdK-Präsidentin. Eine neu ausgerichtete<br />
Arbeitsmarktpolitik muss das soziale<br />
Abrutschen von immer mehr Bevölkerungsgruppen<br />
stoppen. Minijobs<br />
sowie Zeit- und Leiharbeit müssen<br />
eingedämmt, der Mindestlohn muss<br />
angehoben werden. Zudem brauchen<br />
Familien und Menschen mit weniger<br />
Einkommen günstigen Wohnraum.<br />
„Unsere Forderungen sind nicht utopisch,<br />
sie sind notwendig und bezahlbar.<br />
Soziale Balance schafft inneren<br />
Frieden und muss durch eine sozial<br />
gerechte Steuerpolitik finanziert werden“,<br />
stellt Ulrike Mascher klar. bsc<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
Sozialpolitik<br />
235<br />
Gesetz zur Stärkung<br />
der betrieblichen<br />
Altersversorgung<br />
Stellungnahme des<br />
VdK Deutschland zum Entwurf<br />
1. Zu den Zielen des<br />
Referentenentwurfs und den<br />
Maßnahmen ihrer Umsetzung<br />
Mit den Reformen des Rentenversicherungsrechts<br />
und der damit verbundenen<br />
Änderung der Rentenanpassungsformel<br />
kam die Politik zu der<br />
Erkenntnis und Erwartung, die Auswirkungen<br />
des sinkenden Rentenniveaus<br />
könnten und müssten die Bürgerinnen<br />
und Bürger durch verstärkte<br />
eigene Altersvorsorge in der zweiten<br />
und dritten Säule kompensieren. Die<br />
Politik ging seinerzeit davon aus, dass<br />
es den Bürgerinnen und Bürgern zumutbar<br />
sei, vier Prozent ihres Erwerbseinkommens<br />
in die betriebliche oder<br />
private Altersvorsorge zu investieren<br />
und dass der ganz überwiegende Teil<br />
dies auch tun werde.<br />
Fünfzehn Jahre später gewinnen Politik<br />
und Fachöffentlichkeit jedoch zunehmend<br />
die Überzeugung, dass die<br />
Absicherung in der zweiten und der<br />
dritten Säule weit hinter den Erwartungen<br />
zurückgeblieben ist. Zwar<br />
konnte zwischen 2001 und 2015 der<br />
Anteil der Bürgerinnen und Bürger,<br />
die über eine betriebliche Rentenanwartschaft<br />
verfügen, um 30 Prozent<br />
gesteigert werden. Dennoch hatten<br />
Ende 2015 nur etwas weniger als<br />
60 Prozent aller sozialversicherungspflichtig<br />
Beschäftigten eine solche Anwartschaft.<br />
Leider werden vor allem<br />
Beschäftigte mit niedrigem Einkommen<br />
und solche, die in kleinen und<br />
mittleren Unternehmen (KMU) arbeiten,<br />
nicht erreicht. Von den Beschäftigten,<br />
deren Einkommen unter<br />
1500 Euro im Monat liegt, hat fast die<br />
Hälfte weder eine Riester- noch eine<br />
Betriebsrente. In Betrieben mit weniger<br />
als zehn Beschäftigten haben nur<br />
etwa 28 Prozent der Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeiter eine Anwartschaft auf<br />
eine Betriebsrente.<br />
Deshalb kommt die Regierungskoalition<br />
zu dem Ergebnis, dass weitere Anstrengungen<br />
nötig sind, um eine möglichst<br />
hohe Abdeckung mit betrieblicher<br />
Alterssicherung zu erreichen.<br />
Dieses Ziel verfolgt der vorliegende<br />
Entwurf eines Betriebsrentenstärkungsgesetzes.<br />
Der Entwurf sieht unter<br />
anderem vor,<br />
£ im Rahmen des sogenannten Sozialpartnermodells<br />
die Möglichkeit zu<br />
eröffnen, dass Arbeitgeber auf tariflicher<br />
Grundlage eine reine Beitragszusage<br />
zur betrieblichen Altersvorsorge<br />
bei völliger Haftungsfreistellung<br />
abgeben,<br />
£ die Verpflichtung der Arbeitgeber,<br />
die durch Entgeltumwandlung ersparten<br />
Sozialversicherungsbeiträge<br />
in bestimmtem Umfang an die Beschäftigten<br />
weiterzugeben,<br />
£ die Einführung eines neuen steuerlichen<br />
Fördermodells für Geringverdiener,<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
236<br />
Sozialpolitik<br />
£ die Schaffung von Anreizen zur privaten<br />
Vorsorge für Geringverdiener<br />
im Bereich der Grundsicherung sowie<br />
£ den Ausbau von Informationen über<br />
die Möglichkeiten der freiwilligen<br />
Altersvorsorge über die erweiterten<br />
Renteninformationen der Deutschen<br />
Rentenversicherung.<br />
Bewertung des VdK<br />
Trotz aller Mahnungen und erheblicher<br />
finanzieller Anreize zu einer zusätzlichen<br />
Absicherung durch betriebliche<br />
Altersvorsorge und private Vorsorge<br />
haben zehn Jahre Erfahrungen<br />
mit Riester-Vorsorge gezeigt, dass die<br />
gesamte Bevölkerung hierfür nicht zu<br />
gewinnen ist.<br />
Gerade die armutsgefährdeten Zielgruppen<br />
wie Geringverdiener, Langzeitarbeitslose,<br />
Solo-Selbstständige<br />
und Erwerbsgeminderte werden nicht<br />
im erforderlichen Umfang erreicht.<br />
Zudem lässt sich Altersarmut am<br />
effektivsten im umlagefinanzierten<br />
Pflichtversicherungssystem der gesetzlichen<br />
Rentenversicherung (GRV) bekämpfen.<br />
Das Erwerbsminderungsrisiko<br />
lässt sich nach allen bisherigen<br />
Erfahrungen überhaupt nicht in der<br />
zweiten und dritten Säule zu einheitlichen<br />
Konditionen für alle Versicherten<br />
sowie einer ausreichenden Renditeerwartung<br />
absichern.<br />
Aus Sicht des Sozialverbands VdK<br />
kann für die breite Bevölkerung die<br />
kontinuierliche Absenkung des Sicherungsniveaus<br />
durch zusätzliche betriebliche<br />
und öffentlich geförderte private<br />
Vorsorge nicht ausgeglichen werden.<br />
Sie ist nicht geeignet, die GRV, die für<br />
die Mehrzahl der Versicherten die alleinige<br />
beziehungsweise tragende Säule<br />
der Altersversorgung darstellt, ganz<br />
oder teilweise zu ersetzen. Aus Sicht des<br />
VdK lässt sich deshalb das gesetzgeberische<br />
Ziel eines höheren Versorgungsniveaus<br />
aller Beschäftigten nicht durch<br />
einen freiwilligen Ausbau der Betriebsrenten<br />
erreichen.<br />
Zur Lebensstandardsicherung sind betriebliche<br />
und private Altersvorsorge<br />
aber eine sinnvolle und notwendige<br />
Ergänzung.<br />
2. Wesentliche Inhalte<br />
des Entwurfs<br />
2.1. Sozialpartnermodell<br />
In § 1 Abs. 2 Betriebsrentenstärkungsgesetz<br />
wird den Tarifparteien die<br />
Möglichkeit eröffnet, reine Beitragszusagen<br />
zu vereinbaren. Wesentliche<br />
Regelungsinhalte sollen dem Tarifvertrag<br />
vorbehalten bleiben. Hauptunterschied<br />
zu den bisherigen Modellen der<br />
Betriebsrenten ist, dass die Arbeitgeber<br />
von den Zusageformen „Leistungszusage“,<br />
„beitragsorientierte<br />
Leistungszusage“ und „Beitragszusage<br />
mit Mindestleistung“ entbunden werden<br />
und sich somit nicht mehr zur<br />
Zahlung von Mindestbetriebsrenten<br />
verpflichten. Damit sind die teilnehmenden<br />
Arbeitnehmer nur noch verpflichtet,<br />
die Finanzierungsbeiträge an<br />
die durchführende Einrichtung zu<br />
zahlen. Es wird durch die Entwurfsformulierung<br />
klargestellt, dass die Arbeitgeber<br />
für die Leistungen aus diesen<br />
Beiträgen auch nicht subsidiär einste-<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
Sozialpolitik<br />
237<br />
hen und dass sie durch diese Art der<br />
Zusage auch keine weiteren Verpflichtungen<br />
nach dem Betriebsrentengesetz<br />
treffen. Nicht einmal eine Insolvenzsicherung<br />
über den Pensions-Sicherungs-Verein<br />
ist vorgesehen.<br />
Der Entwurf betrachtet die bisherigen<br />
Formen der Leistungszusagen als<br />
„Verbreitungshemmnis“ und lobt die<br />
vorgesehenen Beitragszusagen als Beseitigung<br />
der angenommenen Verbreitungshemmnisse<br />
und als Basis der<br />
„vollständigen Kosten- und Planungssicherheit“<br />
aufseiten der Arbeitgeber.<br />
Bewertung des VdK<br />
Aus Sicht des VdK überwiegen bei dem<br />
Sozialpartnermodell die Negativa:<br />
£ Es besteht keine obligatorische Arbeitgeberbeteiligung.<br />
£ Das Risiko für den Erfolg der Kapitalanlage<br />
trägt allein der Arbeitnehmer.<br />
£ Es gibt kein festes Vorsorgeziel und<br />
keine Garantie für die Auszahlungsphase.<br />
£ Es bestehen keine Vorgaben für die<br />
Absicherung des Invaliditätsrisikos.<br />
£ Durch die tarifvertragliche Grundlage<br />
kann es nur zu branchenspezifischen<br />
Lösungen kommen und keine<br />
Absicherung für breite Bevölkerungsgruppen<br />
erreicht werden.<br />
Dieses Modell bietet für den Arbeitnehmer<br />
keinerlei Sicherheiten dafür,<br />
dass seine Alterssicherung spürbar verbessert<br />
wird. Daher ist zu bezweifeln,<br />
dass hiermit ein freiwilliger Ausbau<br />
der betrieblichen Altersvorsorge erreicht<br />
wird.<br />
2.2. Zusatzbeiträge<br />
des Arbeitgebers<br />
Nach § 23 Abs. 2 Betriebsrentenstärkungsgesetz<br />
sollen Arbeitgeber künftig<br />
nicht mehr vom Sparverhalten ihrer<br />
Arbeitnehmer profitieren können und<br />
bei einer Entgeltumwandlung den Arbeitgeberanteil<br />
an den eingesparten<br />
Sozialversicherungsbeiträgen nicht<br />
mehr behalten können, sondern zugunsten<br />
des Beschäftigten an die Versorgungseinrichtung<br />
zahlen.<br />
Bewertung des VdK<br />
Die Regelung ist grundsätzlich sachgerecht<br />
und läuft auf eine faire Behandlung<br />
der Beschäftigten hinaus. Es ist<br />
aber nicht nachzuvollziehen, warum<br />
der Anteil der zu zahlenden Beiträge<br />
auf 15 Prozent begrenzt werden kann.<br />
Ergänzend weist der Sozialverband<br />
VdK auf seine Vorbehalte gegenüber<br />
dem Modell der Entgeltumwandlung<br />
hin, da dieses gegenüber der Sozialversicherung<br />
zu Mindereinnahmen führt<br />
und zur Verkürzung von Rentenanwartschaften<br />
der Betroffenen beiträgt.<br />
2.3. Freibeträge in der<br />
Grundsicherung für Ältere<br />
Um die Akzeptanz der freiwilligen Altersvorsorge<br />
gerade auch gegenüber<br />
dem Kreis der Niedrigverdiener zu stärken,<br />
die in besonderem Maße auf zusätzliche<br />
Altersvorsorge angewiesen<br />
sind, soll in § 82 Abs. 4 und 5 SGB XII<br />
ein Freibetrag eingeführt werden. Der<br />
Freibetrag soll ganz oder teilweise verhindern,<br />
dass frühere Niedrigverdiener,<br />
die wegen ihrer oft sehr niedrigen Renten<br />
zusätzlich Leistungen der Grundsi-<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
238<br />
Sozialpolitik<br />
cherung im Alter oder bei Erwerbsminderung<br />
beantragen müssen, nicht in<br />
den Genuss ihrer freiwilligen Altersvorsorge<br />
kommen, weil diese im Rahmen<br />
des SGB XII angerechnet wird.<br />
Bewertung des VdK<br />
Die Einführung von Anrechnungsfreibeträgen<br />
in der Grundsicherung ist<br />
sinnvoll. Freibeträge müssen aber auch<br />
für Leistungen der GRV gelten. So<br />
kann durch Freibeträge sichergestellt<br />
werden, dass zum Beispiel Menschen,<br />
die langfristig in die GRV einbezahlt<br />
und/oder zusätzlich betrieblich oder<br />
privat für das Alter vorgesorgt haben,<br />
bessergestellt werden als Menschen,<br />
die überhaupt nicht vorgesorgt haben.<br />
2.4. Auskunftserteilung zur<br />
zusätzlichen Altersvorsorge<br />
Die Auskunftserteilung der GRV, die<br />
Renteninformationen, sollen dahingehend<br />
erweitert werden, dass mit ihnen<br />
künftig über die gesamte staatlich geförderte<br />
zusätzliche Altersvorsorge<br />
(§ 15 Abs. 4 SGB I) Auskünfte erteilt<br />
werden. Dazu gehören die Riester-<br />
Rente, die Basis-Rente und die betriebliche<br />
Altersversorgung.<br />
Bewertung des VdK<br />
Der Sozialverband VdK hält das Anliegen<br />
für sinnvoll und notwendig,<br />
weil viele Menschen wegen der komplizierten<br />
Materie davor zurückschrecken,<br />
die Initiative für eigene freiwillige<br />
Vorsorge zu ergreifen. Mit der<br />
Deutschen Rentenversicherung wird<br />
auch eine vertrauenswürdige Institution<br />
ausgewählt. Allerdings kann das<br />
Verfahren im Hinblick auf das Ziel<br />
der Verbreiterung der betrieblichen<br />
Altersvorsorge nur so wirksam sein,<br />
wie die Vorsorgemöglichkeiten überhaupt<br />
Anreize setzen. In diesem Zusammenhang<br />
verweist der Sozialverband<br />
VdK auf seine oben unter Ziffer<br />
2.1. dargestellten tiefen Bedenken.<br />
2.5. Neue steuerliche<br />
Fördermittel<br />
Ab 2018 erhalten Arbeitgeber, die einen<br />
Beitrag zur betrieblichen Altersversorgung<br />
von Arbeitnehmern mit geringem<br />
Einkommen leisten, einen staatlichen<br />
Zuschuss in Form eines<br />
BAV-Förderbetrages (§ 100 EStG). Die<br />
geförderten Altersvorsorgebeiträge liegen<br />
kalenderjährlich zwischen mindestens<br />
240 Euro und höchstens 480 Euro.<br />
Als geringes Einkommen definiert der<br />
Entwurf einen monatlichen Bruttoarbeitslohn<br />
von maximal 2000 Euro.<br />
Bewertung des VdK<br />
Der Sozialverband VdK bewertet den<br />
BAV-Förderbetrag im Hinblick auf<br />
das Ziel, die betriebliche Altersvorsorge<br />
gerade für Niedrigverdiener attraktiver<br />
zu machen, als Schritt in die richtige<br />
Richtung. Allerdings ist die Begrenzung<br />
niedriger Einkommen auf<br />
einen Betrag von monatlich 2000 Euro<br />
brutto deutlich zu gering.<br />
Ebenso ist die gewählte Obergrenze<br />
der geförderten Altersvorsorgebeiträge<br />
(480 Euro im Jahr oder 40 Euro monatlich)<br />
unzureichend. Da die Gruppe<br />
der Niedrigverdiener zur Zahlung eigener<br />
Beiträge finanziell in der Regel<br />
nicht in der Lage ist, lässt sich allein<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
Sozialpolitik<br />
239<br />
mit Arbeitgeberbeiträgen in dieser<br />
Höhe keine wesentliche Verbesserung<br />
der Altersvorsorge erreichen. ¦<br />
Stellungnahme des Sozialverbands VdK<br />
Deutschland e. V. zum Entwurf eines<br />
Gesetzes zur Stärkung der betrieblichen<br />
Altersversorgung und zur Änderung anderer<br />
Gesetze (Betriebsrentenstärkungsgesetz)<br />
vom 23. März <strong>2017</strong>.<br />
Krankenversicherung<br />
Rechtslücke bei der Rente<br />
für Frauen geschlossen<br />
Für viele Frauen war es wie ein böses<br />
Erwachen: Weil sie wegen längerer<br />
Kindererziehungszeiten über ihren<br />
Ehemann privat krankenversichert waren,<br />
wurden sie als Rentnerinnen nicht<br />
in die Krankenversicherung für Rentner<br />
aufgenommen. Der Sozialverband<br />
VdK hatte sich dafür stark gemacht,<br />
dies zu ändern. Mit Erfolg, denn jetzt<br />
hat der Gesetzgeber endlich reagiert.<br />
Ab sofort werden pauschal drei Jahre<br />
für jedes Kind den Mitgliedszeiten in<br />
der gesetzlichen Krankenversicherung,<br />
die zum Zugang in der Krankenversicherung<br />
der Rentner notwendig sind,<br />
gleichgestellt. Hintergrund: Wer in<br />
der zweiten Hälfte seines Berufslebens<br />
nicht zu 90 Prozent gesetzlich versichert<br />
ist, muss sich als Rentner freiwillig<br />
krankenversichern (9/10-Regelung).<br />
Das heißt, es muss der volle<br />
Beitragssatz auf das Einkommen gezahlt<br />
werden und nicht, wie in der<br />
Krankenversicherung für Rentner, nur<br />
der halbe Beitragssatz ausschließlich<br />
auf die Rente.<br />
Ein Beispiel: Wer mit 15 Jahren eine<br />
Berufsausbildung begonnen hat und<br />
mit 63 Jahren in Rente geht, für den<br />
ist ein Zeitraum von 48 Jahren zu prüfen.<br />
Davon muss er in der zweiten<br />
Hälfte (24 Jahre) zu 9/10 (21,6 Jahre)<br />
Mitglied in der gesetzlichen Krankenversicherung<br />
gewesen sein. Die Frist<br />
beginnt mit der erstmaligen Aufnahme<br />
einer Beschäftigung und endet mit<br />
dem Tag der Rentenantragstellung.<br />
Manchen Frauen fehlten nur wenige<br />
Monate oder gar Wochen an der vorgeschriebenen<br />
Zeit.<br />
Wer die 9/10-Regelung nicht erfüllte,<br />
hatte schnell einen Krankenkassenbeitrag<br />
von 60 Prozent der Rente und<br />
mehr zu berappen. „Das hat viele, die<br />
ihr Leben lang fleißig gearbeitet haben,<br />
stark benachteiligt. Für sie war<br />
Altersarmut vorprogrammiert“, so<br />
VdK-Präsidentin Ulrike Mascher.<br />
Deshalb sei es längst überfällig gewesen,<br />
dass die Politik für Abhilfe sorgt.<br />
Die Neuregelung ist im Rahmen des<br />
Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetzes<br />
im März dieses Jahres erfolgt.<br />
Der entsprechende Paragraph im Sozialgesetzbuch<br />
V wurde so abgeändert,<br />
dass die betroffenen Frauen die<br />
9/10-Regelung erfüllen können. ikl<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
240<br />
Recht<br />
Aus der<br />
Rechtsprechung des<br />
Bundessozialgerichts<br />
Mitgeteilt von Jörg Ungerer<br />
EINGLIEDERUNGSHILFE<br />
Sozialhilfe – Eingliederungshilfe –<br />
Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung<br />
– Kostenübernahme für eine<br />
Schulbegleitung – Inklusionsklasse<br />
einer Regelschule – wesentliche geistige<br />
Behinderung – Nachrang der Sozialhilfe<br />
– Hilfe außerhalb des Kernbereichs<br />
der pädagogischen Arbeit<br />
§§ 19 Abs. 3, 53 Abs. 1 Satz 1, 54<br />
Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 92 Abs. 2 Sätze<br />
1 und 2 SGB XII<br />
Kurzbericht<br />
Im Streit ist die Übernahme von Kosten<br />
für einen Schulbegleiter (Schuljahr<br />
2012/2013) in Höhe von 18236,30<br />
Euro.<br />
Die 2002 geborene Klägerin, die aufgrund<br />
ihrer Behinderung an einer<br />
Sprach-, einer motorischen Entwicklungs-<br />
und einer Kommunikationsstörung<br />
sowie einer Schwäche der Feinmotorik<br />
leidet, besuchte im Schuljahr<br />
2012/2013 mit Billigung des zuständigen<br />
Schulamtes die erste Grundschulklasse<br />
einer Regelschule. Dort<br />
wurde sie gemeinsam mit nichtbehinderten<br />
Kindern unter Einschaltung<br />
einer Kooperationslehrerin sowie eines<br />
Schulbegleiters unterrichtet. Den zuvor<br />
gestellten Antrag auf Übernahme<br />
der Kosten für den Schulbegleiter hat<br />
der Beklagte abgelehnt; er wurde jedoch<br />
im Rahmen eines einstweiligen<br />
Anordnungsverfahrens verpflichtet,<br />
vorläufig die angefallenen Kosten zu<br />
übernehmen. Die Klage hatte im<br />
Hauptverfahren in beiden Instanzen<br />
Erfolg. Zur Begründung seiner Entscheidung<br />
hat das Landessozialgericht<br />
(LSG) Baden-Württemberg ausgeführt,<br />
außerhalb des Kernbereichs der<br />
pädagogischen Tätigkeit, der vorliegend<br />
nicht tangiert sei, soweit es die<br />
Arbeit des Schulbegleiters betreffe,<br />
müsse der Beklagte die Kosten für unterstützende<br />
Hilfen übernehmen.<br />
Urteil des 8. Senats des Bundessozialgerichts<br />
vom 09.12.2016 – B 8<br />
SO 8/15 R<br />
Hiergegen wendet sich der Beklagte<br />
mit der Revision.<br />
Die Sache ist mangels ausreichender<br />
tatsächlicher Feststellungen zum Umfang<br />
des Anspruchs im Sinne eines<br />
Grundlagenbescheids für einen (späteren)<br />
Schuldbeitritt, wie er von der Klägerin<br />
bislang noch beantragt ist, an das<br />
LSG zurückverwiesen worden.<br />
Das LSG hat zu Unrecht ohne Anschlussberufung<br />
der Klägerin den als<br />
Verpflichtung zum Erlass eines<br />
Grundlagenbescheids formulierten<br />
Tenor des Sozialgerichts (SG) Reutlingen<br />
dahin geändert, dass der Beklagte<br />
„die Kosten für den Integrationshelfer<br />
für das Schuljahr 2012/2013<br />
zu tragen habe“. Nach der Zurückverweisung<br />
der Sache kann dies durch<br />
Erhebung einer Anschlussberufung<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
Recht<br />
241<br />
durch die Klägerin und entsprechenden<br />
Antrag noch korrigiert werden<br />
(§ 99 Abs. 3 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz,<br />
SGG) – Antrag auf Beitritt zur<br />
gegenüber der Beigeladenen zu 2 bestehenden<br />
Schuld.<br />
Es fehlen für eine endgültige Beurteilung<br />
auch ohne eine solche Anschlussberufung<br />
notwendige tatsächliche<br />
Feststellungen zum erforderlichen<br />
Umfang der Hilfen und zur richtigen<br />
Höhe der Kosten des Schulbegleiters.<br />
Entgegen anderer, falscher Pressemeldungen<br />
nach der mündlichen Verhandlung<br />
zum Ergebnis dieses Rechtsstreits<br />
hat das LSG jedoch zu Recht<br />
angenommen, dass der Beklagte im<br />
Rahmen der Eingliederungshilfe<br />
(§§ 53 ff. SGB XII) die Kosten für einen<br />
Schulbegleiter (hier in der „Inklusionsklasse“<br />
einer Regelschule) durch<br />
Schuldbeitritt und Zahlung an die<br />
Beigeladene zu 2 zu übernehmen hat,<br />
weil die Klägerin als wesentlich geistig<br />
behindertes Kind aufgrund der Behinderung<br />
ohne zusätzliche Unterstützung<br />
durch einen solchen Begleiter die<br />
individuell auf seine Fähigkeit und<br />
Fertigkeiten abgestimmten Lerninhalte<br />
nach den bindenden Feststellungen<br />
des LSG nicht verarbeiten und umsetzen<br />
konnte; dies hat unterstützende<br />
Leistungen einer Schulbegleitung erforderlich<br />
gemacht.<br />
Bei diesen Unterstützungsmaßnahmen<br />
handelte es sich nicht um den<br />
Kernbereich allgemeiner Schulbildung,<br />
für den allein die Schulbehörden<br />
die Leistungszuständigkeit besitzen.<br />
Im Rahmen des Nachrangs der<br />
Sozialhilfe außerhalb des Kernbereichs<br />
ist lediglich Voraussetzung,<br />
dass eine notwendige Schulbegleitung<br />
tatsächlich von anderen nicht übernommen<br />
oder getragen wird. Gegen<br />
wen im schulischen Kernbereich ein<br />
Anspruch des behinderten Menschen<br />
bestehen würde, ist nicht Gegenstand<br />
des sozial hilferechtlichen Verfahrens<br />
gegen den Beklagten. Gleiches gilt für<br />
die Frage nach einer vorrangigen Verpflichtung<br />
einer anderen juristischen<br />
Person außerhalb des Kernbereichs;<br />
diese wäre Gegenstand eines eventuellen<br />
Verfahrens des Beklagten gegen<br />
einen denkbaren Schuldner nach<br />
Überleitung des aus dem Schulrecht<br />
resultierenden Anspruchs auf sich<br />
(§ 93 SGB XII).<br />
Aus den Entscheidungsgründen<br />
1. Tatbestand<br />
Im Streit ist die Übernahme von Kosten<br />
für einen Schulbegleiter im Wege<br />
des Schuldbeitritts für das Schuljahr<br />
2012/2013 in Höhe von 18 236,30<br />
Euro.<br />
Die Klägerin ist 2002 mit einem<br />
Down-Syndrom geboren, aus dem eine<br />
Sprach- und motorische Entwicklungsverzögerung,<br />
eine Störung der<br />
Kommunikation sowie eine Schwäche<br />
der Feinmotorik resultieren. Ein Grad<br />
der Behinderung von 100 und die<br />
Merkzeichen „G“ und „H“ sind festgestellt;<br />
sie ist der Pflegestufe I nach<br />
dem Sozialgesetzbuch-Elftes Buch/Soziale<br />
Pflegeversicherung (SGB XI) zugeordnet.<br />
Zunächst absolvierte die Klägerin zwei<br />
Grundschuljahre in der L.-Schule<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
242<br />
Recht<br />
(Sonderpädagogisches Bildungs- und<br />
Beratungszentrum, SBBZ, mit Förderschwerpunkt<br />
geistige Entwicklung).<br />
Nachdem das Staatliche Schulamt<br />
festgestellt hatte, dass bei ihr zwar<br />
ein sonderpädagogischer Förderbedarf<br />
im Sinne der Schule für geistig Behinderte<br />
bestehe, die Förderung aber gemeinsam<br />
von der K.-Schule R. (Regelschule)<br />
und dem SBBZ an der K.-<br />
Schule übernommen werden könne<br />
(Bescheid vom 2. August 2010), besuchte<br />
die Klägerin ab dem Schuljahr<br />
2010/2011, nochmals beginnend mit<br />
der ersten Grundschulklasse, die Regelschule.<br />
Dort wurde sie gemeinsam<br />
mit nichtbehinderten Schülern, zieldifferent<br />
mit dem Bildungsangebot<br />
nach dem Bildungsgang der Schule<br />
für geistig Behinderte, unterrichtet.<br />
Durch eine Kooperationslehrerin des<br />
SBBZ erfolgte eine sonderpädagogische<br />
Betreuung.<br />
Den Antrag auf Übernahme der Kosten<br />
eines (zusätzlichen) Schulbegleiters<br />
für das Schuljahr 2011/2012 lehnte<br />
der Beklagte ebenso ab (Bescheid<br />
vom 18. Januar 2012; Widerspruchsbescheid<br />
vom 23. Juli 2012) wie den<br />
Antrag auf Übernahme der Kosten eines<br />
Schulbegleiters für das Schuljahr<br />
2012/2013 (Bescheid vom 27. November<br />
2012; Widerspruchsbescheid<br />
vom 22. <strong>April</strong> 2013), „übernahm“<br />
aber „vorläufig“ die Kosten für die ab<br />
12. November 2012 tätigen, bei der<br />
Beigeladenen zu 2 beschäftigten<br />
Schulbegleiter im Umfang von 17<br />
Stunden und 15 Minuten wöchentlich<br />
zum Preis von 43 Euro je Stunde<br />
aufgrund einer Verpflichtung im Rahmen<br />
des einstweiligen Rechtsschutzes<br />
(Beschluss des LSG Baden-Württemberg<br />
vom 7. November 2012). Es fielen<br />
Kosten in Höhe von insgesamt<br />
18 236,30 Euro an.<br />
Die zur gemeinsamen Verhandlung<br />
und Entscheidung verbundenen Klagen<br />
hatten insoweit Erfolg, als das SG<br />
festgestellt hat, dass der Bescheid vom<br />
18. Januar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids<br />
vom 23. Juli<br />
2012 rechtswidrig gewesen sei, und<br />
den Beklagten unter Abweisung der<br />
Klage im Übrigen (betreffend das<br />
Schuljahr 2013/2014; insoweit war<br />
noch keine Entscheidung des Beklagten<br />
über die Kostenübernahme für eine<br />
Schulbegleitung erfolgt) und Aufhebung<br />
des Bescheids vom 27. November<br />
2012 in der Gestalt des<br />
Widerspruchsbescheids vom 22. <strong>April</strong><br />
2013 verurteilt hat, die Kosten einer<br />
qualifizierten Hilfskraft im Umfang<br />
von 17 Stunden und 15 Minuten wöchentlich<br />
zu einem Betrag von 43 Euro<br />
pro Stunde für das Schuljahr<br />
2012/2013 „zu bewilligen“ (Urteil<br />
vom 18. Juni 2013).<br />
Das LSG hat die Berufung des Beklagten<br />
„mit der Maßgabe“ zurückgewiesen,<br />
dass dieser „die Kosten für den<br />
Integrationshelfer/Schulbegleiter für<br />
das Schuljahr 2012/2013 in Höhe von<br />
18 236,30 Euro zu tragen“ habe (Urteil<br />
vom 18. Februar 2015). Zur Begründung<br />
seiner Entscheidung hat das<br />
LSG ausgeführt, die Schulbegleitung<br />
für die Klägerin sei eine Maßnahme<br />
der Eingliederungshilfe, die den der<br />
Sozialhilfe nicht zugänglichen Kernbereich<br />
der pädagogischen schulischen<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
Recht<br />
243<br />
Tätigkeit nicht tangiere; es handle sich<br />
lediglich um unterstützende Hilfen im<br />
Zusammenhang mit der Ermöglichung<br />
einer angemessenen Schulbildung,<br />
für die eine nachrangige Zuständigkeit<br />
des Beklagten bestehe. Der<br />
Kernbereich sei, anders als dieser meine,<br />
nicht nach Maßgabe des Schulrechts<br />
für das Land Baden-Württemberg,<br />
sondern bundeseinheitlich nach<br />
sozialhilferechtlichen Kriterien zu bestimmen.<br />
Ungedeckter Hilfebedarf habe bei der<br />
Klägerin in der Unterstützung bei der<br />
Fokussierung der Aufmerksamkeit auf<br />
das Unterrichtsgeschehen, im Verdeutlichen<br />
und Wiederholen von<br />
Aufgabenstellungen, bei der Unterstützung<br />
in Arbeitsphasen sowie der<br />
Auswahl der richtigen Bücher und<br />
Hefte, bei der Selbstorganisation,<br />
beim Aufbau von Ordnungsprinzipien<br />
und in der Interaktion mit anderen<br />
Schülern sowie den Lehrern im Sinne<br />
einer Kommunikationshilfe bestanden.<br />
Dabei sei es um Impulse, zum<br />
Beispiel Fingerzeige auf die jeweilige<br />
Aufgabe, gegangen, um die Klägerin<br />
auf das Unterrichtsgeschehen hinzuweisen.<br />
Bestehender sonderpädagogischer<br />
Bedarf werde hingegen durch<br />
die Kooperationslehrkraft des SBBZ<br />
abgedeckt.<br />
Mit seiner Revision rügt der Beklagte<br />
eine Verletzung der §§ 53, 54 Sozialgesetzbuch-Zwölftes<br />
Buch/Sozialhilfe<br />
(SGB XII). Der Kernbereich pädagogischer<br />
Arbeit sei nach Maßgabe des<br />
jeweiligen Landesschulrechts zu bestimmen.<br />
Eine Bestimmung nach<br />
Maßgabe des SGB XII verstoße gegen<br />
Art. 70 Grundgesetz (GG) und führe<br />
im Ergebnis zu einer Bedarfsdeckungslücke,<br />
wenn bundesrechtlich<br />
der Kernbereich weit, landesrechtlich<br />
aber eng verstanden werde. Die rechtliche<br />
Verpflichtung, behinderte Kinder<br />
zu fördern, bestehe im Übrigen<br />
nach dem Landesschulrecht Baden-<br />
Württemberg auch in Regelschulen.<br />
Deren Förderung in Regelschulen stehe<br />
unter dem Vorbehalt, dass sie dem<br />
Unterricht folgen könnten. Sei dies<br />
nicht der Fall, habe ihre Beschulung<br />
in sogenannten Sonderschulen zu erfolgen.<br />
2. Entscheidungsgründe<br />
Die Revision des Beklagten ist im Sinne<br />
der Aufhebung des Urteils des LSG<br />
und der Zurückverweisung der Sache<br />
an dieses Gericht begründet (§ 170<br />
Abs. 2 Satz 2 SGG).<br />
2.1. Gegenstand des Verfahrens<br />
Gegenstand des Verfahrens ist nur<br />
noch der Bescheid vom 27. November<br />
2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids<br />
vom 22. <strong>April</strong> 2013 (§ 95<br />
SGG), soweit der sachlich und örtlich<br />
zuständige Beklagte (§ 97 Abs. 1, § 98<br />
Abs. 1 SGB XII in Verbindung mit<br />
§ 3 Abs. 2 Satz 1 SGB XII und §§ 1, 2<br />
des baden-württembergischen Ausführungsgesetzes<br />
zum SGB XII, AG-<br />
SGB XII, vom 1. Juli 2004, Gesetzblatt<br />
534; eine Heranziehung kreisangehöriger<br />
Gemeinden nach § 3<br />
AG-SGB XII ist im Landkreis Tübingen<br />
nicht erfolgt) den Antrag der Klägerin<br />
auf Übernahme von Kosten für<br />
einen Schulbegleiter für das Schuljahr<br />
2012/2013 abgelehnt hat.<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
244<br />
Recht<br />
Der durch das LSG getroffenen Sachentscheidung<br />
über einen konkreten<br />
Betrag stand allerdings das Verbot der<br />
„reformatio in peius“ entgegen. Zwar<br />
hätte die Klägerin im Berufungsverfahren<br />
in verfahrensrechtlich zulässiger<br />
Weise (BSG SozR 1750 § 521<br />
ZPO Nr. 11) im Wege einer Anschlussberufung<br />
(§ 202 SGG in<br />
Verbindung mit § 524 Zivilprozessordnung,<br />
ZPO) noch den Beitritt<br />
des Beklagten zu einer mittlerweile<br />
bestimmbaren Schuld, nämlich<br />
18 236,30 Euro, geltend machen können<br />
(nicht die Leistung selbst – dazu<br />
gleich), ohne dass darin eine Klageänderung<br />
zu sehen gewesen wäre (§ 99<br />
Abs. 3 Nr. 3 SGG); jedoch fehlte es an<br />
einem dafür erforderlichen Antrag der<br />
Klägerin.<br />
2.2. Berufungsverfahren<br />
Gegen die Entscheidung des SG hat<br />
nur der Beklagte, nicht die Klägerin<br />
Berufung eingelegt; diese hat vor dem<br />
LSG ausschließlich beantragt, die Berufung<br />
des Beklagten zurückzuweisen,<br />
sodass es sich bei der im Tenor der<br />
LSG-Entscheidung ausgesprochenen<br />
„Änderung“ des SG-Tenors, anders als<br />
das LSG meinte, nicht nur um eine<br />
bloße „Korrektur“ gehandelt hat. Die<br />
erforderliche Anschlussberufung kann<br />
jedoch nach der Zurückverweisung<br />
der Sache an das LSG, die ohnedies<br />
erforderlich ist, nachgeholt werden.<br />
Demgegenüber hat das SG seine Entscheidung<br />
noch zulässigerweise, dem<br />
klägerischen Antrag entsprechend, auf<br />
die streitbefangenen „Grundlagen“<br />
des geltend gemachten Anspruchs beschränkt<br />
(Verurteilung zum Erlass eines<br />
sogenannten Grundlagenbescheids),<br />
indem es den Beklagten verurteilt<br />
hat, die Kosten „einer<br />
qualifizierten Hilfskraft“ im Umfang<br />
von 17 Stunden und 15 Minuten wöchentlich<br />
zu einem Betrag von 43 Euro<br />
pro Stunde für das Schuljahr<br />
2012/2013 „zu bewilligen“. Damit<br />
hat es den Beklagten noch nicht zum<br />
Schuldbeitritt verurteilt. Diese zulässige<br />
Form der Entscheidung ist von einem<br />
Grundurteil zu unterscheiden,<br />
das hier nicht hätte ergehen dürfen,<br />
weil keine Leistung in Geld begehrt<br />
worden ist (§ 130 Abs. 1 Satz 1 SGG).<br />
Der Antrag der Klägerin war insoweit<br />
zu Recht auf den Erlass eines Grundlagenbescheids,<br />
nicht bereits auf Erlass<br />
eines konkreten Bewilligungsbescheids<br />
in Form eines Schuldbeitritts gerichtet.<br />
Für den Erlass eines Grundlagenbescheids<br />
bedarf es keiner ausdrücklichen<br />
gesetzlichen Ermächtigung; es<br />
genügt, dass sich dessen Zulässigkeit<br />
aus dem normativen Kontext ergibt<br />
(BSG SozR 3-4100 § 128 Nr. 4 S. 35).<br />
Dies ist bei der vorliegenden Leistung<br />
der Eingliederungshilfe der Fall. Eine<br />
Vorabentscheidung über die Übernahme<br />
von Kosten für eine Schulbegleitung<br />
je Schuljahr hinsichtlich ihrer<br />
Geeignetheit, Erforderlichkeit und der<br />
Höhe der Vergütung ist nach der gesetzlichen<br />
Systematik sinnvoll und<br />
entspricht sowohl den Interessen des<br />
Hilfebedürftigen als auch denen der<br />
Behörde. Die hilfebedürftige Person<br />
benötigt und erhält durch eine bindende<br />
„Vorabentscheidung“, an die<br />
die Behörde bei der Entscheidung<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
Recht<br />
245<br />
über den Schuldbeitritt und die Zahlung<br />
an den Dritten gebunden ist<br />
(BSG SozR 4-3200 § 82 Nr. 1 Rd. Nr.<br />
29), Planungssicherheit. Es ist der<br />
hilfe bedürftigen Person nicht zuzumuten,<br />
ohne Rechtssicherheit bezüglich<br />
der Kostentragung das Risiko eingehen<br />
zu müssen, einen Vertrag mit<br />
dem Leistungserbringer zu schließen,<br />
gegebenenfalls zu verauslagende Kosten<br />
aber nicht erstattet zu erhalten<br />
(BSG SozR 4-3250 § 14 Nr. 24 Rd.<br />
Nr. 16). Die Behörde hat durch eine<br />
solche Grundlagenentscheidung andererseits<br />
insbesondere die Möglichkeit,<br />
im Hinblick auf gegebenenfalls bestehende<br />
Verträge mit Leistungserbringern<br />
nach den §§ 75 ff. SGB XII künftigen<br />
Streit um die Höhe der zu übernehmenden<br />
Vergütung zu vermeiden.<br />
2.3. Klageart<br />
Richtige Klageart ist – auch nach Erhebung<br />
der Anschlussberufung – die<br />
kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage<br />
(§ 54 Abs. 1, 4 SGG).<br />
Die Klägerin kann neben dem Schuldbeitritt<br />
vom Beklagten nicht verlangen,<br />
erneut 18 236,30 Euro an die Beigeladene<br />
zu 2 zu zahlen. Es bedarf<br />
vielmehr (nur) noch der Verpflichtung<br />
des Beklagten zum Erlass eines<br />
Verwaltungsaktes mit Drittwirkung<br />
(Schuldbeitritt), der im Verhältnis aller<br />
an der Leistungsverschaffung Beteiligten<br />
einen Rechtsgrund für die Zahlung<br />
schafft (vgl. auch Bundesgerichtshof,<br />
BGH, Urteil vom 31. März 2016,<br />
III ZR 267/15). Denn die einstweilige<br />
Anordnung verliert mit der endgültigen<br />
Entscheidung ihre Rechtswirkungen<br />
(vgl. BSG SozR 4-3500 § 90 Nr.<br />
1 Rd. Nr. 12 mit weiteren Nachweisen)<br />
und kann damit nicht den Rechtsgrund<br />
für das Behaltendürfen der Leistung<br />
bilden.<br />
2.4. Hilfe zur angemessenen<br />
Schulbildung<br />
(Eingliederungshilfe)<br />
Inhaltlich geht es um die vom Vermögenseinsatz<br />
gänzlich und hier vom<br />
Einkommenseinsatz freigestellte Hilfe<br />
(§ 92 Abs. 2 Sätze 1 und 2 SGB XII)<br />
zu einer angemessenen Schulbildung<br />
nach § 19 Abs. 3 (in der Normfassung<br />
des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen<br />
und zur Änderung des<br />
Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch<br />
vom 24. März 2011, BGBl I<br />
453) in Verbindung mit § 53 Abs. 1<br />
Satz 1 (in der Normfassung des Gesetzes<br />
zur Einordnung des Sozialhilferechts<br />
in das Sozialgesetzbuch vom<br />
27. Dezember 2003, BGBl. I 3022<br />
erhalten hat), § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1<br />
SGB XII (in der Normfassung des<br />
Gesetzes zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs<br />
im Krankenhaus vom<br />
30. Juli 2009, BGBl. I 2495) und<br />
§ 12 Nr. 1 Eingliederungshilfe-Verordnung<br />
(Eingliederungshilfe-VO, in<br />
der Normfassung des Gesetzes vom<br />
27. Dezember 2003) in Verbindung<br />
mit § 92 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB XII<br />
(in der Normfassung des Gesetzes vom<br />
24. März 2011).<br />
Ob die Klägerin einen Anspruch auf<br />
Schuldbeitritt hat, konnte der Senat<br />
jedoch – auch soweit es die Grundlagenentscheidung<br />
des SG betrifft –<br />
nicht abschließend beurteilen. Es feh-<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
246<br />
Recht<br />
len zum einen tatsächliche Feststellungen<br />
des LSG (§ 163 SGG) zum<br />
erforderlichen quantitativen Umfang<br />
der für die Klägerin notwendigen und<br />
geeigneten Hilfen durch eine Schulbegleitung<br />
und zum anderen zur maßgeblichen<br />
Höhe der Vergütung, zu<br />
Existenz und Inhalt von Vereinbarungen,<br />
insbesondere zu einer Vergütungsvereinbarung,<br />
zwischen dem Beklagten<br />
und der Beigeladenen zu 2<br />
nach den §§ 75 ff. SGB XII. Besteht<br />
eine solche Vereinbarung nicht, wäre<br />
die zu übernehmende Höhe der Vergütung<br />
nach § 75 Abs. 4 SGB XII<br />
zu bestimmen, wofür dann weitere<br />
(hier nicht getroffene) Feststellungen<br />
zu Vereinbarungen mit anderen<br />
Leistungserbringern am Ort der Leistungserbringung<br />
oder in seiner nächsten<br />
Umgebung für vergleichbare<br />
Leistungen erforderlich wären.<br />
Bei den von der Beigeladenen zu 2 erbrachten<br />
Leistungen handelt es sich<br />
allerdings der Sache nach um Hilfen<br />
zur angemessenen Schulbildung als<br />
Leistung der Eingliederungshilfe. Die<br />
Klägerin erfüllt die personenbezogenen<br />
Voraussetzungen des § 53 Abs. 1<br />
Satz 1 SGB XII. Danach werden Leistungen<br />
der Eingliederungshilfe – als<br />
gebundene Leistung – an Personen<br />
erbracht, die durch eine Behinderung<br />
im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch-Neuntes<br />
Buch/Rehabilitation<br />
und Teilhabe behinderter Menschen<br />
(SGB IX) wesentlich in ihrer<br />
Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben,<br />
eingeschränkt oder von einer<br />
solchen wesentlichen Behinderung<br />
bedroht sind, wenn und solange nach<br />
den Besonderheiten des Einzelfalls,<br />
insbesondere nach Art und Schwere<br />
der Behinderung, Aussicht besteht,<br />
dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe<br />
erfüllt werden kann. Diese Voraussetzungen<br />
liegen nach den bindenden<br />
tatsächlichen Feststellungen des<br />
LSG (§ 163 SGG) vor; bei der Klägerin<br />
besteht eine geistige Behinderung,<br />
die sich in einer Sprach- und motorischen<br />
Entwicklungsverzögerung, einer<br />
Störung der Kommunikation sowie<br />
einer Schwäche der Feinmotorik zeigt.<br />
a) Teilhabe<br />
Diese geistige Behinderung ist auch<br />
wesentlich (§ 2 Eingliederungshilfe-<br />
VO). Voraussetzung für die Annahme<br />
der Wesentlichkeit der Behinderung<br />
ist danach, dass der geistig behinderte<br />
Mensch in erheblichem Umfang in<br />
seiner Fähigkeit zur Teilhabe am Leben<br />
in der Gesellschaft eingeschränkt<br />
ist. Dies ist bei der Klägerin der Fall.<br />
Die durch ihre Behinderung hervorgerufenen<br />
Beeinträchtigungen lassen<br />
den erfolgreichen Besuch des Unterrichts<br />
an der Grundschule als Regelschule<br />
ohne Unterstützung nicht zu.<br />
Auch die für sie individuell und auf<br />
ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten abgestimmten<br />
Lerninhalte im Rahmen<br />
eines zieldifferenten Unterrichts konnte<br />
sie ohne zusätzliche Unterstützung<br />
nicht verarbeiten und umsetzen (zur<br />
Bedeutung der Grundschulausbildung<br />
vgl. bereits BSGE 110, 301 ff. Rd. Nr.<br />
19 mit weiteren Nachweisen = SozR<br />
4-3500 § 54 Nr. 8).<br />
Die Schulbegleitung ist im vorliegenden<br />
Fall eine Hilfe zur angemessenen<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
Recht<br />
247<br />
Schulbildung im Sinne des Sozialhilferechts,<br />
die nicht den Kernbereich<br />
pädagogischer Tätigkeit berührt, für<br />
den eine Zuständigkeit des Beklagten<br />
ausgeschlossen wäre. Nach § 54<br />
Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII in Verbindung<br />
mit § 12 Eingliederungshilfe-VO<br />
umfasst die Hilfe zu einer<br />
angemessenen Schulbildung auch<br />
heilpädagogische sowie sonstige Maßnahmen<br />
zugunsten körperlich und<br />
geistig behinderter Kinder und Jugendlicher,<br />
wenn die Maßnahme erforderlich<br />
und geeignet ist, dem behinderten<br />
Menschen den Schulbesuch<br />
im Rahmen der allgemeinen<br />
Schulpflicht zu ermöglichen und zu<br />
erleichtern, also insoweit die Behinderungsfolgen<br />
zu beseitigen oder zu mildern<br />
(vgl. dazu BSGE 101, 79 ff. Rd.<br />
Nr. 27 mit weiteren Nachweisen =<br />
SozR 4-3500 § 54 Nr. 1).<br />
Eine allgemeingültige Definition dessen,<br />
was unter einer „angemessenen<br />
Schulbildung“ zu verstehen ist, gibt es<br />
weder im SGB IX noch im SGB XII;<br />
auch § 12 Eingliederungshilfe-VO<br />
benennt nur beispielhaft Maßnahmen,<br />
die Gegenstand einer möglichen<br />
Hilfe zur angemessenen Schulbildung<br />
sein können (vgl. BSG SozR 4-1500<br />
§ 130 Nr. 4). Gleiches gilt für Art. 24<br />
Abs. 2 des Übereinkommens der Vereinten<br />
Nationen über die Rechte von<br />
Menschen mit Behinderungen vom<br />
13. Dezember 2006 (UN-Behindertenrechtskonvention,<br />
UN-BRK, Gesetz<br />
vom 21. Dezember 2008, BGBl.<br />
II 1419, in der Bundesrepublik in<br />
Kraft seit 26. März 2009, BGBl. II<br />
812), das als ranggleiches Bundesrecht<br />
im Rahmen der Auslegung zu beachten<br />
und anzuwenden ist (hierzu<br />
BSGE 110, 194 ff. Rd. Nr. 19 = SozR<br />
4-1100 Art. 3 Nr. 69). Art. 24 Abs. 2<br />
UN-BRK setzt ebenfalls ein „allgemeines<br />
Bildungssystem“ voraus, zu<br />
dem Menschen mit Behinderung<br />
gleichberechtigter Zugang zu ermöglichen<br />
und die notwendige Unterstützung<br />
zu leisten ist; die UN-BRK<br />
schreibt selbst aber keine Anforderungen<br />
an ein „allgemeines Bildungssystem“<br />
fest. Die Entscheidung darüber,<br />
was für das einzelne Kind die „angemessene<br />
Schulbildung“ darstellt, obliegt<br />
deshalb, wie § 54 Abs. 1 Satz 1<br />
Nr. 1 zweiter Halbsatz SGB XII deutlich<br />
macht, der Schulverwaltung<br />
(BSG SozR 4-1500 § 130 Nr. 4 Rd.<br />
Nr. 21). Diese hat im Fall der Klägerin<br />
einen sonderpädagogischen Förderbedarf<br />
im Sinne der Schule für<br />
geistig Behinderte festgestellt, zugleich<br />
aber erlaubt, dass die Förderung<br />
in der K.-Schule (als Regelgrundschule)<br />
in Kooperation mit dem<br />
SBBZ zieldifferent durchgeführt werden<br />
kann.<br />
Der Kernbereich pädagogischer Tätigkeit<br />
ist vorliegend nicht berührt.<br />
Der Senat hat hierzu bereits unter<br />
Verweis auf § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1<br />
zweiter Halbsatz SGB XII, wonach<br />
die Bestimmungen über die Ermöglichung<br />
der Schulbildung im Rahmen<br />
der allgemeinen Schulpflicht von den<br />
Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung<br />
nach Maßgabe des Sozialhilferechts<br />
unberührt bleiben, ausgeführt,<br />
dass sich dieser Kernbereich<br />
schon aus systematischen Gründen<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
248<br />
Recht<br />
nach Maßgabe des Sozialhilferechts<br />
bestimmt (vgl. zuletzt BSG SozR<br />
4-1500 § 130 Nr. 4 mit weiteren<br />
Nachweisen); dem hat sich das Bundesverwaltungsgericht<br />
(BVerwG) für<br />
den Bereich der Jugendhilfe angeschlossen<br />
(BVerwGE 145, 1 ff.).<br />
Schulrechtliche Verpflichtungen bestehen<br />
demnach grundsätzlich neben<br />
den sozialhilferechtlichen. Dies hat<br />
zur Folge, dass im Kernbereich pädagogischer<br />
Tätigkeit keine, auch keine<br />
nachrangige Leistungspflicht des<br />
Sozial hilfeträgers besteht (BSGE 110,<br />
301 ff. Rd. Nr. 21 mit weiteren Nachweisen<br />
= SozR 4-3500 § 54 Nr. 8),<br />
weil es sich um originär und ausschließlich<br />
schulrechtliche Verpflichtungen<br />
handelt.<br />
Anders als der Beklagte meint, ist die<br />
Regelung über die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen<br />
zwischen<br />
Bund und Ländern nach Art. 70 GG,<br />
wonach den Ländern im Bereich des<br />
Schulwesens die alleinige Gesetzgebungskompetenz<br />
zugewiesen ist, für<br />
die vom Senat gefundene Auslegung<br />
ohne Bedeutung. Denn der Senat legt<br />
gerade kein (landesrechtlich geregeltes)<br />
Schulrecht aus, sondern bundesrechtlich<br />
normiertes Leistungsrecht<br />
(Eingliederungshilfe). Dies bedeutet<br />
umgekehrt, dass mit der Entscheidung<br />
der Schulverwaltung über die Form<br />
der Erfüllung der allgemeinen Schulpflicht<br />
keine Aussage darüber getroffen<br />
wird, ob und inwieweit zur Erfüllung<br />
dieser Pflicht Leistungen der Sozialhilfe<br />
zu gewähren sind. Dem<br />
Beklagten ist insoweit zwar zuzugestehen,<br />
dass durch die Entscheidung der<br />
Schulverwaltung, der Klägerin eine<br />
inklusive Beschulung zu ermöglichen,<br />
Bedarfe entstehen können, die bei einer<br />
Beschulung in einer sogenannten<br />
Sonder- oder Förderschule gegebenenfalls<br />
nicht durch den Sozialhilfeträger<br />
getragen werden müssten, weil<br />
die Sonder- oder Förderschulen über<br />
mehr Personal zur Unterstützung der<br />
behinderten Kinder verfügen. Dies<br />
ändert aber nichts an der nachrangigen<br />
Leistungspflicht des Sozialhilfeträgers.<br />
Der Terminus „Kernbereich“ ist<br />
im Übrigen kein schulrechtlicher Begriff<br />
(dazu später).<br />
Der Kernbereich pädagogischer Tätigkeit<br />
ist nicht betroffen, wenn die<br />
Schulbegleitung die eigentliche pädagogische<br />
Arbeit der Lehrkraft nur absichert<br />
(„begleitet“). Den Kernbereich<br />
berühren deshalb alle integrierenden,<br />
beaufsichtigenden und fördernden Assistenzdienste<br />
nicht, die flankierend<br />
zum Unterricht erforderlich sind, damit<br />
der behinderte Mensch das pädagogische<br />
Angebot der Schule überhaupt<br />
wahrnehmen kann (so auch<br />
DIJuF-Rechtsgutachten vom 6. August<br />
2014 zur vergleichbaren Abgrenzungsproblematik<br />
in der Jugendhilfe<br />
unter Verweis auf LSG Nordrhein-<br />
Westfalen, Beschluss vom 5. Februar<br />
2014, L 9 SO 413/13 B ER). Die Vorgabe<br />
und Vermittlung der Lerninhalte,<br />
somit der Unterricht selbst, seine<br />
Inhalte, das pädagogische Konzept der<br />
Wissensvermittlung wie auch die Bewertung<br />
der Schülerleistungen bleibt<br />
den Lehrkräften vorbehalten, ist damit<br />
dem Kernbereich der pädagogischen<br />
Arbeit zuzuordnen.<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
Recht<br />
249<br />
b) Erforderlichkeit und Eignung<br />
der Hilfe<br />
Die gegenüber der Klägerin erbrachte<br />
Hilfe ist auch geeignet zur Erreichung<br />
der Eingliederungsziele (§ 53 Abs. 1<br />
Satz 1 SGB XII) und der Sache nach<br />
erforderlich (zur quantitativen Erforderlichkeit<br />
später). Die Erforderlichkeit<br />
und Eignung der Hilfe verlangt<br />
eine am Einzelfall orientierte, individuelle<br />
Beurteilung, ein individualisiertes<br />
Förderverständnis (vgl. BSGE 110,<br />
301 ff. Rd. Nr. 21 = SozR 4-3500 § 54<br />
Nr. 8; SozR 4-3500 § 54 Nr. 6 Rd.<br />
Nr. 22), das einer Kategorisierung der<br />
in Betracht kommenden Hilfen oder<br />
Maßnahmen nach abstrakt-generellen<br />
Kriterien entgegensteht. Damit verbietet<br />
sich eine Differenzierung danach,<br />
ob eine Hilfe (ganz oder teilweise)<br />
pädagogischen Charakter hat.<br />
Nach den bindenden Feststellungen<br />
des LSG (§ 163 SGG) konnte die<br />
Klägerin dem Unterricht, insbesondere<br />
in den lernintensiven Fächern<br />
Deutsch und Mathematik, nicht folgen.<br />
Sie beschäftigte sich mit sich<br />
selbst, sobald sie den Anschluss verpasst<br />
hatte, oder störte Mitschüler.<br />
Durch die bewusste Fokussierung ihrer<br />
Aufmerksamkeit auf das zu bearbeitende<br />
Thema mithilfe einer<br />
„1:1-Unterstützung“ durch die Schulbegleitung<br />
konnte hingegen ein Lernfortschritt<br />
erzielt werden. Die Schulbegleitung<br />
hat insbesondere die Aufmerksamkeit<br />
der Klägerin auf die<br />
gerade zu erledigende Aufgabe gelenkt,<br />
sie im Vorfeld dabei unterstützt,<br />
die erforderlichen Arbeitsunterlagen<br />
bereitzulegen und diese entsprechend<br />
dem auf sie angepassten<br />
Lernziel zu benutzen. Dass zur Erfüllung<br />
dieser Aufgabe gegebenenfalls<br />
pädagogische Kenntnisse und Fertigkeiten<br />
notwendig waren und zur Anwendung<br />
kamen, zum Beispiel indem<br />
der Klägerin eine von der Lehrerin<br />
gestellte Aufgabe durch die Schulbegleitung<br />
nochmals in einer für sie besser<br />
verständlichen Art und Weise erklärt<br />
worden ist, ist qualitativ für die<br />
Beurteilung der Erforderlichkeit und<br />
Eignung der Hilfe ohne Bedeutung.<br />
Das Ergebnis wird geradezu gestützt<br />
durch die Ausführungen des Beklagten,<br />
der eine Bestimmung des Kernbereichs<br />
pädagogischer Tätigkeit für<br />
die jeweilige Schulform nach landesrechtlichen<br />
Schulvorschriften und die<br />
Schulziele nach Maßgabe der für die<br />
Schulform geltenden allgemeinen Bildungspläne<br />
fordert. Lässt man unberücksichtigt,<br />
dass, wie ausgeführt, ein<br />
solches Verständnis bereits dem<br />
Wortlaut und der Systematik der für<br />
die Beurteilung des Hilfebedarfs der<br />
Klägerin allein maßgeblichen sozialhilferechtlichen<br />
Vorschriften widerspricht,<br />
bleibt bei einer derartigen Argumentation<br />
außer Acht, dass die Klägerin<br />
gerade nicht nach dem<br />
allgemeinen Bildungsplan der Regelgrundschule,<br />
sondern zieldifferent,<br />
das heißt nach einem auf sie individuell<br />
abgestimmten Bildungs- und<br />
Kompetenzplan, wenn auch im Klassenverbund<br />
mit nichtbehinderten<br />
Kindern, unterrichtet wird. Ob nach<br />
dem Landesrecht Baden-Württemberg<br />
die Förderung und Unterrichtung<br />
behinderter Kinder an einer Re-<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
250<br />
Recht<br />
gelschule, wie der Beklagte meint,<br />
unter dem (ungeschriebenen) Vorbehalt<br />
steht, dass diese dem Unterricht<br />
der Regelschule folgen können, kann<br />
offenbleiben.<br />
Dieses Argument könnte allenfalls von<br />
Bedeutung sein für die Entscheidung<br />
der Schulverwaltung über die Erfüllung<br />
der Schulbesuchspflicht behinderter<br />
Kinder an Regelschulen; steht<br />
die Zulässigkeit der Beschulung an einer<br />
Regelschule allerdings fest, kann<br />
dieses Argument nicht (auch) dem<br />
Anspruch auf Deckung des sozialhilferechtlichen<br />
Hilfebedarfs entgegengehalten<br />
werden. Folglich ist der Einwand<br />
des Beklagten, die Schulverwaltung<br />
sei verpflichtet, sehe sie nicht von<br />
der Feststellung der Sonderschulpflicht<br />
ab, die Verhältnisse an den<br />
Schulen so auszugestalten, dass ein<br />
gemeinsames Verfolgen „des Bildungsgangs“<br />
möglich sei, bei fehlender<br />
Pflichterfüllung ohne Bedeutung.<br />
Denn dieses Vorbringen zielt nur darauf<br />
ab, gegebenenfalls aus dem Landesrecht<br />
resultierende Verpflichtungen<br />
der Schulverwaltung im Hinblick<br />
auf die Ausstattung der Schulen<br />
durchzusetzen, mindert aber nicht den<br />
sozialhilferechtlichen Hilfebedarf der<br />
Klägerin.<br />
c) Bedarfsdeckung<br />
Zudem ist der Einwand des Beklagten<br />
nicht zutreffend, die Bestimmung des<br />
Kernbereichs pädagogischer Tätigkeit<br />
nach Maßgabe des Sozialhilferechts<br />
könne zu „Bedarfsunterdeckungen“<br />
führen, wenn ein Bundesland im Rahmen<br />
seiner schulrechtlichen Gesetzgebungskompetenz<br />
den Kernbereich der<br />
Aufgaben der Schule sehr eng ziehen<br />
sollte, aus Sicht des Sozialhilferechts<br />
der Kernbereich aber weiter gehend als<br />
das landesrechtliche Schulrecht zu ziehen<br />
sei. Normativ ist, wie ausgeführt,<br />
bei systematisch zutreffender Auslegung<br />
der §§ 53, 54 SGB XII in Verbindung<br />
mit § 12 Eingliederungshilfe-<br />
VO bereits keine Bedarfsdeckungslücke<br />
denkbar. Es ist zudem kaum<br />
vorstellbar, dass der Kernbereich pädagogischer<br />
Arbeit, den der Senat wie<br />
aufgezeigt (eng) auf die Unterrichtsgestaltung<br />
selbst begrenzt sieht (BSGE<br />
112, 196 ff. Rd. Nr. 17 = SozR 4-3500<br />
§ 54 Nr. 10), landesschulrechtlich enger<br />
geregelt werden kann.<br />
Landesschulrecht kann keinen sozialhilferechtlich<br />
bestimmten Kernbereich<br />
regeln. Die Argumentation des<br />
Beklagten setzt bei der unzutreffenden<br />
Annahme an, der Begriff des „Kernbereichs<br />
pädagogischer Tätigkeit“ sei<br />
schulrechtlicher Natur; jedoch handelt<br />
es sich um einen rein für das Sozialhilferecht<br />
entwickelten Begriff, der<br />
für das Schulrecht ohne rechtliche Bedeutung<br />
ist. Die Wissensvermittlung<br />
durch Unterricht, gleichgültig in welcher<br />
Form, stellt jedenfalls den elementaren<br />
Auftrag der Schule dar.<br />
Faktische „Bedarfsdeckungslücken“<br />
wären insoweit in einer unzureichenden<br />
Versorgung der Schulen mit<br />
Lehrkräften denkbar, für die der<br />
Sozial hilfeträger Leistungen allerdings<br />
auch nicht nachrangig zu erbringen<br />
hat (BSGE 110, 301 ff. Rd. Nr. 21<br />
mit weiteren Nachweisen = SozR<br />
4-3500 § 54 Nr. 8).<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
Recht<br />
251<br />
2.5. Leistungspflicht<br />
Der außerhalb des Kernbereichs bestehende<br />
Hilfebedarf der Klägerin wurde<br />
tatsächlich von dritter Seite nicht gedeckt,<br />
sodass eine (nur nachrangige)<br />
Leistungspflicht des Beklagten (§ 2<br />
Abs. 1 SGB XII) besteht. Selbst wenn<br />
ein Anspruch auf Hilfe durch eine<br />
Schulbegleitung gegen den Schulträger<br />
bestünde, könnte dies die Ablehnung<br />
der Leistung gegenüber der Klägerin<br />
nicht rechtfertigen (BSGE 103,<br />
171 ff. Rd. Nr. 20 = SozR 4-3500 § 54<br />
Nr. 5; BSG-Urteil vom 30. Juni 2016,<br />
B 8 SO 7/15 R, Rd. Nr. 22).<br />
Gegen welchen Träger im Kernbereich<br />
ein Leistungsanspruch des behinderten<br />
Menschen bestehen würde,<br />
ist für das vorliegende Verfahren ebenso<br />
wenig von Bedeutung wie die Frage,<br />
welche andere juristische Person<br />
für Leistungen außerhalb des Kernbereichs<br />
gegebenenfalls (vorrangig) zuständig<br />
wäre und auf welche Rechtsgrundlage<br />
ein derartiger Anspruch gestützt<br />
werden könnte. Diese Frage<br />
wäre Gegenstand eines möglichen<br />
Verfahrens des Beklagten gegen einen<br />
denkbaren Schuldner nach Überleitung<br />
eines sich gegebenenfalls aus dem<br />
Schulrecht ergebenden Anspruchs auf<br />
sich (§ 93 SGB XII).<br />
Allerdings fehlt es an Feststellungen<br />
des LSG (§ 163 SGG) zur Beurteilung<br />
des erforderlichen quantitativen Umfangs<br />
der Hilfen. Allein der Umstand,<br />
dass Hilfen nur im Umfang der vom<br />
SG zugesprochenen Stundenzahl in<br />
Anspruch genommen worden sind,<br />
macht Feststellungen zur quantitativen<br />
Erforderlichkeit nicht entbehrlich.<br />
Außerdem wird das LSG die schuldrechtliche<br />
Verpflichtung der Klägerin<br />
gegenüber der Beigeladenen zu 2 (zur<br />
Maßgeblichkeit der vertraglichen Verpflichtung<br />
für den Umfang des<br />
Schuldbeitritts vgl. nur BSGE 110,<br />
301 ff. Rd. Nr. 24 = SozR 4-3500 § 54<br />
Nr. 8; für Leistungen in Einrichtungen<br />
BSG SozR 4-3500 § 53 Nr. 4 Rd.<br />
Nr. 13 ff.) sowie die Existenz und den<br />
Inhalt von Verträgen (§§ 75 ff.<br />
SGB XII) zwischen dem Beklagten<br />
und der Beigeladenen zu 2 festzustellen<br />
und gegebenenfalls auch über die<br />
Kosten des Revisionsverfahrens zu<br />
entscheiden haben. Darüber hinaus<br />
wird es auf eine Vollstreckbarkeit des<br />
Urteilstenors zu achten haben. ¦<br />
BEM<br />
Kündigung im Krankheitsfall<br />
muss begründet sein<br />
Hält ein Arbeitgeber bei einem erkrankten<br />
Arbeitnehmer ein eigentlich<br />
vorgeschriebenes betriebliches Eingliederungsmanagement<br />
(BEM) für<br />
nutzlos, muss er dies beim Ausspruch<br />
einer krankheitsbedingten Kündigung<br />
genau begründen können. Wird der<br />
Arbeitgeber dieser Darlegungspflicht<br />
nicht gerecht, ist die krankheitsbedingte<br />
Kündigung unverhältnismäßig<br />
und damit unwirksam, entschied das<br />
Landesarbeitsgericht (LAG) Rheinland-Pfalz<br />
in Mainz in einem am<br />
27. Februar <strong>2017</strong> schriftlich veröffentlichten<br />
Urteil (Az.: 8 Sa 359/16). Die<br />
Nutzlosigkeit des BEM werde nicht<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
252<br />
Recht<br />
schon dadurch belegt, dass der Beschäftigte<br />
in einem früheren Gespräch<br />
zu vorherigen „schicksalhaften“ Erkrankungen<br />
erklärt hatte, dass der Arbeitgeber<br />
da nicht helfen könne.<br />
Im konkreten Fall ging es um einen<br />
Maschinenarbeiter, der seit dem<br />
21. November 1988 in einem Betrieb<br />
für Wellpappenprodukte beschäftigt<br />
ist. Seit 2011 war der Mann immer<br />
wieder kurzfristig erkrankt. So war er<br />
2011 insgesamt 47 Tage, 2012 42 Tage,<br />
2013 73 Tage und 2014 164 Tage<br />
krank.<br />
Anfang 2015 führte der Arbeitgeber<br />
mit dem Arbeiter ein Gespräch vor<br />
dem BEM-Ausschuss durch, um die<br />
Möglichkeiten eines BEM auszuloten.<br />
Dabei hatte der Arbeitnehmer geäußert,<br />
dass es sich bei ihm um „schicksalhafte<br />
Erkrankungen“ gehandelt habe,<br />
bei dem der Arbeitgeber eh nichts<br />
machen könne.<br />
Als der Beschäftigte danach wieder arbeitsunfähig,<br />
diesmal an der Hand, erkrankte,<br />
kündigte der Arbeitgeber das<br />
Arbeitsverhältnis zum 30. September<br />
2016 wegen der zahlreichen Kurzerkrankungen.<br />
Die Durchführung eines<br />
BEM sah er als „nutzlos“ an, da der<br />
Beschäftigte dies in dem früheren Gespräch<br />
ebenfalls so eingeschätzt habe.<br />
Auch gebe es für den Arbeiter im Betrieb<br />
keinen freien Arbeitsplatz mit geringeren<br />
körperlichen Belastungen.<br />
Der Arbeitnehmer erhob Kündigungsschutzklage<br />
und meinte, dass der Arbeitgeber<br />
ein BEM als milderes Mittel<br />
zur Kündigung hätte durchführen<br />
müssen.<br />
BEM anbieten und prüfen<br />
Das LAG erklärte in seinem Urteil vom<br />
10. Januar <strong>2017</strong> die Kündigung für unwirksam.<br />
Bei einer krankheitsbedingten<br />
Kündigung müsse geprüft werden, ob<br />
die Kündigung sozial gerechtfertigt ist,<br />
ob die Arbeitsunfähigkeit betriebliche<br />
Interessen „erheblich beeinträchtigt“<br />
haben und ob diese zu einer nicht mehr<br />
hinzunehmenden Belastung des Arbeitgebers<br />
führen. Hier habe der Arbeitgeber<br />
aber nicht nachgewiesen, dass es zur<br />
Kündigung keine Alternative mehr gibt.<br />
Sie sei daher unverhältnismäßig. Das<br />
Gesetz sehe vor, dass, sobald ein Arbeitnehmer<br />
länger als sechs Wochen in einem<br />
Jahr erkrankt ist, der Arbeitgeber<br />
ein BEM anbieten und prüfen muss.<br />
Gehe der Arbeitgeber von der „objektiven<br />
Nutzlosigkeit“ eines BEM aus,<br />
müsse er detailliert vortragen, warum<br />
dieses nicht neuerliche Krankheitszeiten<br />
vermeiden könne. Allein der Hinweis<br />
auf ein früheres Gespräch mit dem<br />
Beschäftigten und dessen Aussage zu<br />
seinen „schicksalhaften Erkrankungen“<br />
reichen als Nachweis für die Nutzlosigkeit<br />
eines BEM nicht aus. Es fehlten<br />
Angaben des Arbeitgebers, warum eine<br />
technische Umgestaltung des Arbeitsplatzes<br />
nicht möglich gewesen sei.<br />
Auch hätte bei einem BEM Reha-Bedarf<br />
beim Beschäftigten erkannt werden<br />
können. Entsprechende Reha-<br />
Maßnahmen hätten künftige Fehlzeiten<br />
möglicherweise reduzieren können.<br />
Da der Arbeitgeber die objektive Nutzlosigkeit<br />
des BEM nicht ausreichend<br />
dargelegt hat, könne der Kläger seinen<br />
Job behalten, urteilte das LAG. jur<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
Recht<br />
253<br />
VdK-Erfolg<br />
Krankentagegeld-Bezug<br />
lückenlos anrechnen<br />
Die Bundesrechtsabteilung des Sozialverbands<br />
VdK hat für ein VdK-Mitglied<br />
vor dem Bundessozialgericht<br />
(BSG) in Kassel einen Erfolg erstritten.<br />
Danach dürfen Zeiten des Krankentagegeld-Bezuges<br />
auf das Arbeitslosengeld<br />
(ALG) I bei privat und gesetzlich<br />
Krankenversicherten nicht<br />
unterschiedlich angerechnet werden<br />
(Az.: B 11 AL 4/16 R).<br />
Das arbeitslose Mitglied bekam laut<br />
Vertrag seiner privaten Krankenversicherung<br />
das Krankentagegeld nicht sofort,<br />
sondern erst ab dem 43. Tag der<br />
Krankmeldung gezahlt. Die Richter<br />
urteilten, dass die Bundesagentur für<br />
Arbeit (BA) die Zeiten des Krankentagegeld-Bezuges<br />
trotz der Zahlungslücke<br />
auf den ALG-I-Anspruch anrechnen<br />
muss. Eine Monatsfrist, wie vom Landessozialgericht<br />
angenommen, gelte<br />
hier nicht. Der Kläger müsse mit gesetzlich<br />
Krankenversicherten gleichgestellt<br />
werden. Diese erhielten unmittelbar<br />
nach Ende des Beschäftigungsverhältnisses<br />
Krankengeld, sodass keine<br />
Leistungslücke wie bei privat Krankenversicherten<br />
entstehen könne, argumentierten<br />
die Richter. Der Leiter der<br />
VdK-Bundesrechtsabteilung, Jörg Ungerer,<br />
begrüßte die Vereinheitlichung<br />
des Anrechnungszeitpunktes von Krankentagegeld<br />
auf das ALG I bei privat<br />
und gesetzlich Krankenversicherten.<br />
Hier habe das BSG Rechtsklarheit für<br />
künftige Fälle geschaffen. sko<br />
Verfahrensfehler<br />
NRW-Heimverträge für<br />
Unterbringung nichtig<br />
Die überörtlichen Sozialhilfeträger in<br />
Nordrhein-Westfalen haben nach<br />
Auffassung des Bundessozialgerichts<br />
(BSG) seit Jahren unwirksame und damit<br />
nichtige Verträge über die Heimvergütung<br />
für die Unterbringung behinderter<br />
Menschen abgeschlossen.<br />
Denn grundsätzlich ist nach Bundesrecht<br />
der örtliche und nicht der überörtliche<br />
Sozialhilfeträger ermächtigt,<br />
entsprechende Vergütungsvereinbarungen<br />
mit den Heimträgern zu vereinbaren,<br />
betonten die Kasseler Richter<br />
am 8. März <strong>2017</strong> (Az.: B 8 SO<br />
20/15 R). jur<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
254<br />
Recht<br />
Ansprüche nach<br />
dem Tod des<br />
Leistungsberechtigten<br />
Sonderrechtsnachfolge und<br />
Vererbung von Geldleistungen<br />
Von Dirk Dahm<br />
1. Einleitung<br />
Stirbt der Leistungsberechtigte nach<br />
dem Beginn des Leistungsverfahrens,<br />
geht der materiellrechtliche Leistungsanspruch<br />
gemäß § 56 SGB I auf den<br />
oder die Sonderrechtsnachfolger oder<br />
gemäß § 58 SGB I auf den oder die<br />
Erben über. Die Rechtsnachfolge,<br />
gleich welcher Art, umfasst nur Ansprüche<br />
auf Geldleistungen. Ansprüche<br />
auf Dienst- und Sachleistungen<br />
sind wegen ihres höchstpersönlichen<br />
Charakters vom Rechtsübergang ausgeschlossen<br />
1 ; sie erlöschen mit dem<br />
Tod des Berechtigten (§ 59 Satz 1<br />
SGB I). Ansprüche auf Geldleistungen<br />
erlöschen mit dem Tod des Berechtigten<br />
(Versicherten) nur, wenn sie zu<br />
diesem Zeitpunkt weder festgestellt<br />
sind noch ein Verwaltungsverfahren<br />
über sie anhängig ist.<br />
Die einem Berechtigten von einem<br />
Sozialleistungsträger erbrachten Leistungen<br />
dienen oftmals dem Unterhalt<br />
aller in einem Familienhaushalt zusammenlebenden<br />
Personen. Daher sehen<br />
die §§ 56 bis 59 SGB I eine Sonderrechtsnachfolge<br />
für laufende Geldleistungen<br />
dieser Art vor, unabhängig<br />
vom zivilrechtlichen Erbrecht der<br />
§§ 1922 ff. BGB. Verstirbt daher ein<br />
Leistungsberechtigter, sollen die in<br />
§ 56 SGB I aufgeführten Familienmitglieder,<br />
die mit ihm bis zu seinem Tod<br />
in einem Haushalt zusammengelebt<br />
haben, als Sonderrechtsnachfolger die<br />
fälligen Ansprüche geltend machen<br />
können. 2<br />
2. Sonderrechtsnachfolge<br />
gemäß § 56 SGB I<br />
Gemäß § 56 Abs. 1 SGB I stehen fällige<br />
Ansprüche auf laufende Geldleistungen<br />
beim Tod des Berechtigten<br />
nacheinander dem Ehegatten, dem<br />
Lebenspartner, den Kindern, den Eltern<br />
oder dem Haushaltsführer zu,<br />
wenn diese mit dem Berechtigten zur<br />
Zeit seines Todes in einem gemeinsamen<br />
Haushalt gelebt haben oder von<br />
ihm wesentlich unterhalten worden<br />
sind. Mehreren Personen einer Gruppe<br />
stehen die Ansprüche zu gleichen<br />
Teilen zu (§ 56 Abs. 1 Satz 2 SGB I).<br />
Die Sonderrechtsnachfolge gemäß<br />
§ 56 SGB I tritt nur ein, wenn es<br />
sich um fällige Ansprüche auf lau -<br />
fende Geldleistungen handelt; laufende<br />
Geldleistungen sind regelmäßig<br />
wiederkehrende Leistungen für bestimmte<br />
Zeitabschnitte 3 . Bei einmaligen<br />
Geldleistungen findet die Vererbung<br />
nach § 58 SGB I statt 4 .<br />
Anders als im Erbrecht bestimmt sich<br />
die Rechtsnachfolge nach der häuslichen<br />
Gemeinschaft 5 und der wesentlichen<br />
Unterhaltsleistung durch den<br />
Berechtigten. Diese Regelung geht davon<br />
aus, dass nicht rechtzeitig erfüllte<br />
Ansprüche auf laufende Geldleistungen<br />
auch die Lebensführung der mit<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
Recht<br />
255<br />
dem Leistungsberechtigten in einem<br />
gemeinsamen Haushalt lebenden Familienangehörigen<br />
beschränkt; sie will<br />
die so entstandene Benachteiligung<br />
ausgleichen 6 .<br />
Als Sonderrechtsnachfolger kommen<br />
nur die in § 56 Abs. 1 SGB I genannten<br />
Personen in Betracht; § 56 SGB I<br />
trifft insoweit eine abschließende Regelung.<br />
Die Zugehörigkeit zu dem in<br />
§ 56 SGB I genannten Personenkreis<br />
muss im Zeitpunkt des Todes des Berechtigten<br />
vorliegen 7 . Die fälligen Ansprüche<br />
auf laufende Geldleistungen<br />
stehen dem Sonderrechtsnachfolger<br />
beim Tod des Berechtigten ohne besondere<br />
rechtsgeschäftliche Übertragung<br />
und unabhängig vom Willen des<br />
Berechtigten zu.<br />
Der nach § 56 SGB I Berechtigte kann<br />
gemäß § 57 Abs. 1 SGB I auf die Sonderrechtsnachfolge<br />
innerhalb von<br />
sechs Wochen nach ihrer Kenntnis<br />
durch schriftliche Erklärung gegenüber<br />
dem Leistungsträger verzichten.<br />
Bei einem Verzicht innerhalb dieser<br />
Frist gelten die Ansprüche als nicht auf<br />
ihn übergegangen; sie stehen gemäß<br />
§ 57 Abs. 1 SGB I den Personen zu, die<br />
ohne den Verzichtenden berechtigt<br />
wären. Es handelt sich um eine Regelung<br />
vergleichbar der Ausschlagung<br />
einer Erbschaft nach §§ 1942 ff. BGB 8 .<br />
Gibt es keine weiteren Sonderrechtsnachfolger<br />
oder verzichten alle, tritt<br />
die Vererbung nach § 58 SGB I ein 9 .<br />
3. Vererbung nach dem<br />
Bürgerlichen Gesetzbuch<br />
Soweit fällige Ansprüche auf Geldleistungen<br />
nicht einem Sonderrechtsnachfolger<br />
zustehen, werden sie nach<br />
den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs<br />
(BGB) vererbt. Bereits der<br />
Wortlaut des § 58 SGB I bringt zum<br />
Ausdruck, dass die Vererbung nach<br />
den Vorschriften des BGB gegenüber<br />
der Sonderrechtsnachfolge subsidiär<br />
ist. Obwohl vom Gesetzgeber lediglich<br />
als subsidiäre Regelung gewollt,<br />
sind die Fälle der Vererbung im Sinne<br />
des § 58 SGB I häufiger als die der<br />
Sonderrechtsnachfolge gemäß § 56<br />
SGB I.<br />
Oft wird von dem Anspruchssteller<br />
zunächst eine letztwillige Verfügung<br />
vorgelegt. Dies ist entweder ein eigenhändiges<br />
oder ein öffentliches Testament<br />
(§§ 2247, 2232 BGB). Die Vorlage<br />
eines Erbvertrages (§§ 2274 ff.<br />
BGB) ist höchst unwahrscheinlich,<br />
weil diese Form der Erbeinsetzung in<br />
Versichertenkreisen weitgehend unüblich<br />
ist. Eine Verpflichtung des Versicherungsträgers<br />
zur Feststellung des<br />
materiellen Erbrechts besteht nicht;<br />
sie wäre ihm auch nicht zuzumuten 10 .<br />
Von einer Befriedigung von Ansprüchen<br />
des oder der Erben nur auf die<br />
Vorlage eines eigenhändigen Testamentes<br />
hin ist allerdings wegen der<br />
Möglichkeit des jederzeitigen Widerrufs<br />
eines eigenhändigen Testamentes<br />
(§ 2253 BGB) Abstand zu nehmen.<br />
Um der Gefahr zu entgehen, nicht mit<br />
befreiender Wirkung geleistet zu haben<br />
– bei Vorlage eines späteren Testamentes<br />
mit anderer Erbeinsetzung<br />
– ist darauf zu drängen, dass vom Anspruchssteller<br />
(Erben) ein Erbschein<br />
vorgelegt wird. Häufig wird daraufhin<br />
vorgebracht, die Kosten für die Aus-<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
256<br />
Recht<br />
stellung eines Erbscheins stünden in<br />
einem unangemessenen Verhältnis zu<br />
dem noch auszuzahlenden Gelbetrag.<br />
Diesem Vorbringen kann damit begegnet<br />
werden, dass die Ausstellung<br />
eines Erbscheins in Angelegenheiten<br />
der Sozialversicherung gebührenfrei<br />
geschieht: Gemäß § 64 Abs. 2 Satz 2<br />
SGB X entfallen Gerichtskosten, die<br />
in Angelegenheiten der freiwilligen<br />
Gerichtsbarkeit nach der Kostenordnung<br />
vorgesehen sind; hierzu zählt<br />
auch die Erwirkung eines Erbscheins 11 .<br />
Der ausgestellte und vorgelegte Erbschein<br />
bezeugt das Erbrecht zur Zeit<br />
des Erbfalls und enthält den Namen<br />
des Erben oder der Miterben, ob der<br />
verstorbene Versicherte allein oder<br />
von mehreren Personen und zu welchen<br />
Anteilen beerbt worden ist. Der<br />
Versicherungsträger wird daher genau<br />
in Kenntnis gesetzt, an wen eine aufgelaufene<br />
Leistung auszuzahlen ist.<br />
4. Das Erlöschen von Ansprüchen<br />
auf Geldleistungen gemäß<br />
§ 59 SGB I<br />
Gemäß § 59 SGB I erlöschen Ansprüche<br />
auf Dienst- oder Sachleistungen<br />
mit dem Tod des Berechtigten, Ansprüche<br />
auf Geldleistungen nur, wenn<br />
sie im Zeitpunkt des Todes des Berechtigten<br />
weder festgestellt sind noch<br />
ein Verwaltungsverfahren über sie anhängig<br />
ist 12 .<br />
§ 59 SGB I stellt klar, dass Ansprüche<br />
auf Dienst- und Sachleistungen im<br />
Sinne des § 11 SGB I grundsätzlich<br />
mit dem Tod des Berechtigten untergehen;<br />
es wird mit dieser Aussage eine<br />
dem Wesen dieser Sozialleistungsansprüche<br />
entsprechende Selbstverständlichkeit<br />
normiert (z. B. bestimmte<br />
Maßnahmen der Krankenbehandlung<br />
machen für Rechtsnachfolger keinen<br />
Sinn) 13 . Das Landessozialgericht für<br />
das Land Nordrhein-Westfalen musste<br />
jedoch in einer Entscheidung vom<br />
3. November 2015 14 herausstellen,<br />
dass ein Anspruch auf Sozialhilfeleistungen<br />
wegen seines höchstpersönlichen<br />
Charakters grundsätzlich nicht<br />
im Wege der Sonderrechtsnachfolge<br />
und auch nicht im Wege der Vererbung<br />
auf einen Dritten übergehen,<br />
wenn nach dem Tod des Hilfesuchenden<br />
die Leistung nicht mehr der Erfüllung<br />
des mit ihr verfolgten Zweckes<br />
dienen würde; denn eine (etwa vorhandengewesene)<br />
Notlage in der Person<br />
des Hilfebedürftigen lässt sich<br />
nach dessen Tod nicht mehr beheben.<br />
Der Anspruch geht deshalb mit dem<br />
Tod unter, und zwar unabhängig von<br />
einer etwaigen Rechtshängigkeit 15 . ¦<br />
Anmerkungen:<br />
1<br />
Dahm, Die BG 2007, S. 254.<br />
2<br />
Eichenhofer/Wenner, § 56 SGB I,<br />
Anm. 1.<br />
3<br />
KassKomm § 56 SGB I, Anm. 6c.<br />
4<br />
Dahm, Kompass 1992, S. 427.<br />
5<br />
Zu der die häusliche Gemeinschaft oder<br />
den gemeinsamen Haushalt kennzeichnende<br />
Wohn- und Lebensgemeinschaft<br />
vgl. BSG vom 3. Juni 1981, Breithaupt<br />
1982, S. 11.<br />
6<br />
BT-Drucks. 7/868, S. 33.<br />
7<br />
KassKomm § 56 SGBI, Anm. 9.<br />
8<br />
Eichenhofer/Wenner, § 57 SGB I<br />
Anm. 1.<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
Recht<br />
257<br />
9<br />
Dahm, Kompass 1992, S. 428.<br />
10<br />
Dahm, Die BG 2007, S. 254.<br />
11<br />
Pickel, §§ 64 SGB X, Anm. 19.<br />
12<br />
Zum Erlöschen vgl. auch Dahm, Die<br />
Rentenversicherung 2010, S. 32.<br />
13<br />
Wagner, juris <strong>Praxis</strong>Komm. SGB I,<br />
§ 59 Anm. 7.<br />
14<br />
L 20 SO 388/15 B ER.<br />
15<br />
BSG vom 23. Juli 2014, B 8 SO<br />
14/13 R.<br />
Pflegekasse<br />
Auch Reparaturkosten<br />
können zuschussfähig sein<br />
Bezuschusst die Pflegekasse den behindertengerechten<br />
Umbau einer<br />
Wohnung, können auch später angefallene<br />
Reparaturkosten zuschussfähig<br />
sein. Insgesamt dürfen aber die Umbaumaßnahme<br />
und die geltend gemachten<br />
Reparaturkosten den gesetzlichen<br />
Zuschuss-Höchstbetrag von<br />
derzeit 4000 Euro nicht überschreiten,<br />
urteilte am 25. Januar <strong>2017</strong> das Bundessozialgericht<br />
(BSG) in Kassel (Az.:<br />
B 3 P 4/16 R und B 3 P 2/15 R).<br />
Nach den gesetzlichen Bestimmungen<br />
übernimmt die Pflegekasse grundsätzlich<br />
die Reparaturkosten von Hilfsmitteln,<br />
wie beispielsweise einen Rollstuhl.<br />
Soll eine Wohnung behindertengerecht<br />
umgebaut und das<br />
Wohnumfeld nach den individuellen<br />
Bedürfnissen verbessert werden, gewährt<br />
die Pflegekasse einen Zuschuss.<br />
Fielen in diesem Zusammenhang Reparaturen<br />
an, blieben bislang die Betroffenen<br />
oder gegebenenfalls die Sozialhilfe<br />
auf den Kosten sitzen.<br />
Im ersten jetzt entschiedenen Fall hatte<br />
ein behinderter Rollstuhlfahrer aus<br />
Coburg geklagt. Der Mann lebt im<br />
Rahmen des betreuten Wohnens in<br />
einer eigenen Wohnung. 2010 hatte er<br />
bei der Pflegekasse der AOK Bayern<br />
einen Zuschuss für die individuelle<br />
Verbesserung seines Wohnumfeldes<br />
beantragt.<br />
Die Pflegekasse gewährte den damals<br />
geltenden Höchstsatz von 2557 Euro.<br />
Das Bad wurde daraufhin behindertengerecht<br />
umgebaut. Auch ein elektrisches<br />
Türöffnungssystem wurde<br />
eingebaut, sodass der Rollstuhlfahrer<br />
eigenständig und ohne fremde Hilfe<br />
seine Wohnung verlassen kann. Doch<br />
als 2013 der Motor des Systems kaputt<br />
ging, fielen weitere 547 Euro für Reparaturen<br />
an. Ohne Erfolg machte er<br />
das Geld bei der Pflegekasse geltend.<br />
Reparaturkosten müssten nur bei<br />
Hilfsmitteln übernommen werden,<br />
nicht aber bei Reparaturen für Maßnahmen<br />
einer Wohnumfeld-Verbesserung.<br />
Diese unterschiedliche Behandlung<br />
habe der Gesetzgeber bewusst in<br />
Kauf genommen.<br />
Auch im zweiten Verfahren ging es<br />
um entsprechende Reparaturkosten,<br />
diesmal für einen gebrauchten Treppenlift.<br />
Die Pflegekasse der AOK<br />
Rheinland/Hamburg hatte diesen bei<br />
einem an Muskelschwund leidenden<br />
Mann bezuschusst, den Restbetrag<br />
zahlte das Kölner Sozialamt. Als mehrere<br />
Reparaturen anfielen, verlangte<br />
das Sozialamt, dass die Pflegekasse<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
258<br />
Recht<br />
auch diese Kosten, insgesamt 1526<br />
Euro, übernimmt.<br />
Das BSG wies den Rollstuhlfahrer<br />
und auch die Stadt Köln ab. Nach den<br />
Urteilen kann aber dennoch ein Anspruch<br />
auf Geld für die Reparaturen<br />
bestehen. Grundsätzlich müsse die<br />
Pflegekasse nur Reparaturen für Hilfsmittel<br />
übernehmen, erklärten die Kasseler<br />
Richter. Sowohl bei dem Türöffnungssystem<br />
als auch bei dem Treppenlift<br />
handele es sich aber nicht um<br />
Hilfsmittel, sondern um eine individuelle<br />
Verbesserung des Wohnumfeldes.<br />
Von einer solchen Wohnumfeldverbesserung<br />
sei auszugehen, wenn die<br />
Verbesserungen bei einem Umzug<br />
nicht ohne weiteres mitgenommen<br />
werden können.<br />
Differenzbetrag<br />
Doch die Kasseler Richter eröffneten<br />
behinderten und pflegebedürftigen<br />
Menschen einen Weg, wie diese zumindest<br />
den gesetzlichen Höchstbetrag<br />
für den Pflegekassen-Zuschuss<br />
ausreizen können. Denn wurde der<br />
gesetzliche Höchstzuschuss von derzeit<br />
4000 Euro für die Wohnumfeldverbesserung<br />
noch nicht ausgeschöpft,<br />
könnten Betroffene den Differenzbetrag<br />
für spätere Reparaturkosten verwenden.<br />
Bagatellbeträge könnten davon aber<br />
ausgeschlossen werden. Lohne sich eine<br />
Reparatur wegen eines wirtschaftlichen<br />
Totalschadens gar nicht mehr,<br />
könne bei der Pflegekasse ein ganz<br />
neuer Zuschuss für eine Wohnumfeldverbesserung<br />
beantragt werden.<br />
In den beiden verhandelten Fällen<br />
hätten die Kläger jedoch den gesetzlichen<br />
Zuschuss bereits ausgeschöpft<br />
gehabt, sodass kein Spielraum zur<br />
Übernahme der später angefallenen<br />
Reparaturkosten bleibe.<br />
Der in Coburg lebende Rollstuhlfahrer<br />
hatte das Geld aber letztlich auf<br />
anderem Wege bekommen. Da das<br />
Verfahren vor dem Landessozialgericht<br />
(LSG) München zu lange gedauert<br />
hatte, hatte er 1500 Euro Entschädigung<br />
wegen überlanger Verfahrensdauer<br />
erhalten. <br />
jur<br />
Heimkinder<br />
Keine höhere Rente nach<br />
„Zwangsarbeit“<br />
Ehemalige Heimkinder können ihre<br />
im Kinderheim zwangsweise geleistete<br />
Arbeit nicht auf ihre Renten anrechnen<br />
lassen. Eine versicherungspflichtige<br />
Beschäftigung hat nach damaligem<br />
Recht nicht vorgelegen, sodass die<br />
Rentenversicherung diese Zeiten nicht<br />
als Beitragszeiten für die Rente anerkennen<br />
muss, entschied das Landessozialgericht<br />
(LSG) Baden-Württemberg<br />
in Stuttgart in einem am 13. März<br />
<strong>2017</strong> bekanntgegebenen Urteil (Az.:<br />
L 8 R 1262/16). <br />
jur<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
Recht<br />
259<br />
Vor dem<br />
Bundesverfassungsgericht<br />
Mitgeteilt von Jörg Ungerer<br />
RENTENVERSICHERUNG<br />
Bewertung rentenrechtlicher Zeiten<br />
in der DDR<br />
Art. 14 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 GG;<br />
§ 259a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI<br />
Orientierungssätze<br />
£ Rentenrechtliche Anwartschaften unterfallen<br />
nur insoweit dem Schutz der<br />
Eigentumsgarantie (Art. 14 Abs. 1<br />
GG), als sie ein Äquivalent zu einer<br />
nicht unerheblichen Eigenleistung<br />
darstellen (vgl. Bundesverfassungsgericht,<br />
BVerfG, 28. Februar 1980,<br />
1 BvL 17/77, BVerfGE 53, 257, 291<br />
f.; BVerfG, 28. <strong>April</strong> 1999, 1 BvL<br />
32/95, BVerfGE 100, 1, 33). (Rn. 8)<br />
£ Rentenanwartschaften, die in der<br />
Deutschen Demokratischen Republik<br />
(DDR) begründet wurden und<br />
im Zeitpunkt ihres Beitritts zur<br />
Bundesrepublik bestanden, nehmen<br />
am Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG<br />
teil. Dieser Schutz kommt den Rentenanwartschaften<br />
aber nur in der<br />
Form zu, die sie aufgrund des Einigungsvertrags<br />
(EinigVtr) erhalten<br />
haben (vgl. BVerfGE 100, 1, 37).<br />
Die konkrete Reichweite der Eigentumsgarantie<br />
ergibt sich erst aus der<br />
gesetzgeberischen Bestimmung von<br />
Inhalt und Schranken des Eigentums<br />
(vgl. BVerfGE 53, 257, 292).<br />
(Rn. 10)<br />
£ Soweit eine Verletzung des Art. 14<br />
Abs. 1 GG durch die nachträgliche<br />
Beschränkung der rentenrechtlichen<br />
Vertrauensschutzvorschrift des § 259a<br />
SGB 6 auf rentennahe Jahrgänge gerügt<br />
wird, setzt sich der Beschwerdeführer<br />
nicht hinreichend damit auseinander,<br />
dass sich weder aus dem in<br />
Art. 30 Abs. 5 Satz 1 EinigVtr vorgesehenen<br />
Recht zur Herstellung der<br />
Rechtseinheit in der Renten- und<br />
Unfallversicherung, kurz Rentenüberleitungsgesetz<br />
(RÜG), noch<br />
aus dem Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetz<br />
(Rü-ErgG) eine über<br />
§ 259a SGB 6 hinausgehende Pflicht<br />
zur Bewertung rentenrechtlicher Zeiten<br />
ergibt. (Rn. 12)<br />
£ Zudem geht der Beschwerdeführer<br />
nicht auf die Ansicht des Landessozialgerichts<br />
(LSG) ein, wonach eine<br />
rentenrechtliche Gesamtposition<br />
aus einer nach dem Fremdrentengesetz<br />
(FRG) erworbenen Rentenanwartschaft<br />
und einer später bei einem<br />
Rentenversicherungsträger der<br />
Bundesrepublik erworbenen Rentenanwartschaft<br />
auch zu einem späteren<br />
Zeitpunkt noch teilbar sei.<br />
(Rn. 13)<br />
£ Hinsichtlich der Rüge einer Verletzung<br />
des Rückwirkungsverbots legt<br />
der Beschwerdeführer die Schutzwürdigkeit<br />
seines Vertrauens nicht<br />
hinreichend dar. (Rn. 16)<br />
£ Was den allgemeinen Gleichheitssatz<br />
betrifft, ist zum einen keine<br />
nachvollziehbare Vergleichsgrup-<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
260<br />
Recht<br />
penbildung zu erkennen; zum anderen<br />
fehlt es an einer Auseinandersetzung<br />
mit einer Rechtfertigung der<br />
fortwährenden Anwendung des<br />
FRG auf die vor dem 1. Januar 1937<br />
geborenen Versicherten. (Rn. 19)<br />
(Rn. 20)<br />
Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts<br />
vom 13.12.16 – 1<br />
BvR 713/13.<br />
Tenor<br />
Die Verfassungsbeschwerde wird<br />
nicht zur Entscheidung angenommen.<br />
Aus den Urteilsgründen<br />
Die Verfassungsbeschwerde betrifft<br />
die Bewertung von in der DDR zurückgelegten<br />
rentenversicherungsrechtlichen<br />
Zeiten von Personen, die<br />
aus der DDR vor dem 18. Mai 1990<br />
in die damalige Bundesrepublik übergesiedelt<br />
sind.<br />
1. Tatbestand<br />
Übersiedler aus der DDR wurden zunächst,<br />
weil sie infolge ihrer Flucht<br />
den für sie zuständigen Rentenversicherungsträger<br />
der DDR nicht mehr<br />
in Anspruch nehmen konnten, durch<br />
das Fremdrentengesetz (FRG) nach<br />
dem sogenannten Eingliederungsprinzip<br />
so gestellt, als hätten sie ihre rentenrechtlichen<br />
Beitragszeiten in der<br />
Bundesrepublik erbracht. Zu diesem<br />
Zweck wurde diesen Personen pauschal<br />
und ohne Bezug auf die in der<br />
DDR tatsächlich erzielten Einkommen<br />
oder gezahlten Beiträge ein bestimmtes<br />
versicherungspflichtiges Einkommen<br />
in Abhängigkeit von der jeweils<br />
ausgeübten beruflichen Tätigkeit<br />
zugeordnet. Die Anwendbarkeit des<br />
FRG auf in der DDR zurückgelegte<br />
Beitragszeiten wurde ab dem Fall der<br />
Mauer schrittweise immer weiter eingeschränkt.<br />
Nach der Schaffung der Währungs-,<br />
Wirtschafts- und Sozialunion zum<br />
1. Juli 1990 galt das FRG nur noch für<br />
in der DDR zurückgelegte Beschäftigungszeiten<br />
von Übersiedlern, die vor<br />
dem 18. Mai 1990 ihren gewöhnlichen<br />
Aufenthalt in der Bundesrepublik<br />
genommen hatten („Bestandsübersiedler“).<br />
Nach der Wiedervereinigung sah das<br />
im EinigVtr vorgesehene RÜG eine<br />
Anwendbarkeit des FRG nur noch<br />
übergangsweise für Versicherte mit einem<br />
Rentenbeginn vor dem 1. Januar<br />
1996 vor. Zur Verwaltungsvereinfachung<br />
wurde diese Regelung durch<br />
das Rü-ErgG vom 24. Juni 1993 rückwirkend<br />
zum 1. Januar 1992 dahingehend<br />
geändert, dass die Vertrauensschutzregelung<br />
(§ 259a Sozialgesetzbuch-Sechstes<br />
Buch, SGB VI) nicht<br />
mehr auf den sich eher nach Zufall<br />
ergebenden Zeitpunkt des tatsächlichen<br />
Rentenbeginns bezogen ist, sondern<br />
für alle Versicherten gilt, die vor<br />
dem 1. Januar 1937 geboren sind und<br />
damit bei Inkrafttreten des einheitlichen<br />
Rentenrechts nach dem SGB VI<br />
bereits das 55. Lebensjahr vollendet<br />
hatten.<br />
Im Ergebnis wird bei der Rentenberechnung<br />
nach der seit dem Jahr 1993<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
Recht<br />
261<br />
geltenden Fassung des § 259a SGB VI<br />
nur auf diejenigen Übersiedler, die vor<br />
dem 1. Januar 1937 geboren sind, ausgründen<br />
des Vertrauensschutzes noch<br />
das FRG angewandt. Damit erfasste<br />
die rückwirkende Umstellung der<br />
Rentenberechnung auch Übersiedler,<br />
die seit den 1970er Jahren in der Bundesrepublik<br />
lebten. Diese Rentenberechnung<br />
kann zu einer geringeren<br />
Rente als bei Anwendung des FRG<br />
führen, weil mit dem FRG Übersiedlern<br />
für ihre in der DDR zurückgelegte<br />
Erwerbsbiographie Rentenansprüche<br />
entsprechend dem westdeutschen<br />
Rentensystem gutgeschrieben wurden,<br />
nunmehr dagegen auf die in der<br />
DDR tatsächlich in die Rentenversicherung<br />
eingezahlten Beiträge abgestellt<br />
wird.<br />
2. Verfassungsbeschwerde<br />
Die Voraussetzungen für die Annahme<br />
der Verfassungsbeschwerde zur<br />
Entscheidung (§ 93a Abs. 2 BVerfGG)<br />
liegen nicht vor. Der Verfassungsbeschwerde<br />
kommt keine grundsätzliche<br />
verfassungsrechtliche Bedeutung zu<br />
(§ 93 Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG).<br />
Ihre Annahme ist auch nicht zur<br />
Durchsetzung des als verletzt bezeichneten<br />
Grundrechts angezeigt (§ 93a<br />
Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).<br />
2.1. Begründung nicht<br />
ausreichend<br />
Art. 14 Abs. 1 Grundgesetz (GG)<br />
schützt Rentenansprüche und auch<br />
Rentenanwartschaften (vgl. BVerfGE<br />
53, 257, 289 f.; 55, 114, 131; 58, 81,<br />
109; 69, 272, 298), soweit diese im<br />
Geltungsbereich des GG erworben<br />
worden sind (vgl. BVerfGE 100, 1, 32).<br />
Nach der Rechtsprechung des BVerfG<br />
unterliegen hingegen durch das FRG<br />
begründete Rentenanwartschaften<br />
nicht dem Schutz des Art. 14 Abs. 1<br />
GG, wenn ihnen ausschließlich Beitrags-<br />
und Beschäftigungszeiten zugrunde<br />
liegen, die in den Herkunftsgebieten<br />
erbracht oder zurückgelegt<br />
wurden. Im Falle der durch das FRG<br />
begründeten Rechte fehlt es am Erfordernis<br />
der an einen Versicherungsträger<br />
in der Bundesrepublik erbrachten<br />
Eigenleistung, die für die Anerkennung<br />
einer sozialversicherungsrechtlichen<br />
Rechtsposition als Eigentum im<br />
Sinne von Art. 14 Abs. 1 GG unverzichtbar<br />
ist. Nur als Äquivalent einer<br />
nicht unerheblichen eigenen Leistung,<br />
die der besondere Grund für die Anerkennung<br />
als Eigentumsposition ist,<br />
erfahren rentenversicherungsrechtliche<br />
Anwartschaften den Schutz des<br />
Art. 14 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 53,<br />
257, 291 f.; 100, 1, 33).<br />
Wenn der Gesetzgeber sich entschließt,<br />
die in den Herkunftsländern<br />
zurückgelegten Beitrags- und Beschäftigungszeiten<br />
wie Zeiten zu behandeln,<br />
welche die Berechtigten im System<br />
der gesetzlichen Rentenversicherung<br />
(GRV) der Bundesrepublik<br />
zurückgelegt haben, so ist dies ein Akt<br />
besonderer staatlicher Fürsorge. Der<br />
Gesetzgeber verfolgt damit das legitime<br />
Ziel, insbesondere Vertriebene,<br />
Aussiedler und Spätaussiedler, die in<br />
die Bundesrepublik übersiedeln, soweit<br />
als möglich mithilfe auch der Sozialversicherung<br />
zu integrieren, ohne<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
262<br />
Recht<br />
zu dieser Lösung durch Art. 116 GG<br />
und das Sozialstaatsprinzip verfassungsrechtlich<br />
verpflichtet zu sein. Eigentumsgeschützte<br />
Rechtspositionen<br />
im Sinne des Art. 14 Abs. 1 GG werden<br />
aber hierdurch mangels Eigenleistung<br />
der Berechtigten durch das FRG<br />
nicht begründet. Soweit die nach dem<br />
FRG Berechtigten Beiträge zur Rentenversicherung<br />
in den Herkunftsländern<br />
gezahlt haben, sind diese Beiträge<br />
nicht den Versicherungsträgern der<br />
Bundesrepublik zugeflossen, deren gesetzliche<br />
Aufgabe es ist, die Rentenleistungen<br />
an die nicht mehr erwerbstätige<br />
Generation zu finanzieren. Die<br />
für den Eigentumsschutz erforderliche<br />
Eigenleistung kann auch nicht in der<br />
von den Berechtigten in deren Herkunftsländern<br />
persönlich geleisteten<br />
Arbeit bestehen, da diese Arbeitsleistung<br />
in einem anderen Rechts-, Wirtschafts-<br />
und Sozialsystem als dem der<br />
Bundesrepublik erbracht wurde. Sie<br />
ist Wertschöpfung, die nicht innerhalb<br />
der zur Leistung verpflichteten<br />
Solidargemeinschaft erfolgt und ihr<br />
auch nicht zugutegekommen ist.<br />
Es ist im Übrigen auch nichts dafür<br />
ersichtlich, dass der Gesetzgeber mit<br />
der Gewährung von Rechtsansprüchen<br />
auf der Grundlage seiner Entscheidung<br />
für das rentenversicherungsrechtliche<br />
Eingliederungsprinzip<br />
Eigentum im Sinne des Art. 14 Abs. 1<br />
GG begründen wollte (vgl. BVerfGE<br />
116, 96, 122 f.).<br />
In der DDR begründete und im Zeitpunkt<br />
ihres Beitritts zur Bundesrepublik<br />
bestehende Rentenanwartschaften<br />
nehmen als Rechtspositionen, die der<br />
EinigVtr grundsätzlich anerkannt hat,<br />
am Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG teil.<br />
Zwar entfaltet Art. 14 Abs. 1 GG seine<br />
Schutzwirkung nur im Geltungsbereich<br />
des GG. Dieser erstreckte sich<br />
vor der Vereinigung der beiden deutschen<br />
Staaten nicht auf das Gebiet der<br />
DDR. Das GG trat dort mit dem Beitritt<br />
auch nicht rückwirkend in Kraft.<br />
Bis zum Beitritt genossen daher die in<br />
der DDR erworbenen Rentenanwartschaften<br />
nicht den Schutz von Art. 14<br />
Abs. 1 GG. Mit dem Beitritt und der<br />
Anerkennung durch den EinigVtr gelangten<br />
sie jedoch wie andere vermögenswerte<br />
Rechtspositionen in den<br />
Schutzbereich dieses Grundrechts<br />
(vgl. dazu allgemein BVerfGE 91,<br />
294, 307 f.).<br />
Der verfassungsrechtliche Eigentumsschutz<br />
kommt den Rentenanwartschaften<br />
aber nur in der Form zu, die<br />
sie aufgrund des Vertrages zwischen<br />
der Bundesrepublik Deutschland<br />
(BRD) und der DDR über die Herstellung<br />
der Einheit Deutschlands erhalten<br />
haben (vgl. BVerfGE 100, 1,<br />
37). Auch für rentenversicherungsrechtliche<br />
Rechtspositionen gilt, dass<br />
sich die konkrete Reichweite der Eigentumsgarantie<br />
erst aus der Bestimmung<br />
von Inhalt und Schranken des<br />
Eigentums ergibt, die nach Art. 14<br />
Abs. 1 Satz 2 GG Sache des Gesetzgebers<br />
ist (vgl. BVerfGE 53, 257, 292).<br />
Aus Art. 30 Abs. 5 Satz 1 des EinigVtr<br />
ergibt sich, dass die Einzelheiten der<br />
Überleitung des Sozialgesetzbuches-<br />
Sechstes Buch auf das Beitrittsgebiet<br />
in einem Bundesgesetz geregelt werden.<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
Recht<br />
263<br />
Das Vorbringen des Beschwerdeführers<br />
setzt sich insofern nicht in einer<br />
den Anforderungen an die Begründung<br />
einer Verfassungsbeschwerde genügenden<br />
Art und Weise damit auseinander,<br />
dass sich weder aus dem in Art. 30<br />
Abs. 5 Satz 1 des EinigVtr genannten<br />
Bundesgesetz, dem RÜG, noch aus<br />
dem nachfolgenden Rü-ErG eine<br />
Pflicht zur Bewertung von im Beitrittsgebiet<br />
zurückgelegten rentenrechtlichen<br />
Zeiten nach dem FRG über den<br />
Anwendungsbereich des § 259a Abs. 1<br />
Satz 1 Nr. 1 SGB VI hinaus ergibt.<br />
Das BVerfG hat zwar bislang nicht<br />
über die Frage entschieden, ob die von<br />
den Berechtigten aus dem FRG abgeleiteten<br />
Anwartschaften dem Eigentumsschutz<br />
des Art. 14 Abs. 1 GG<br />
dann unterliegen, wenn sie sich zusammen<br />
mit den in der GRV der Bundesrepublik<br />
erworbenen Rentenanwartschaften<br />
zu einer rentenrechtlichen<br />
Gesamtrechtsposition verbinden<br />
(vgl. BVerfGE 116, 96, 124).<br />
Die Begründung der Verfassungsbeschwerde<br />
genügt hingegen auch insoweit<br />
nicht den sich aus § 23 Abs. 1<br />
Satz 2, § 92 BVerfGG ergebenden Anforderungen.<br />
Richtet sich demnach<br />
die Verfassungsbeschwerde gegen eine<br />
gerichtliche Entscheidung, bedarf es<br />
in der Regel einer ins Einzelne gehenden<br />
argumentativen Auseinandersetzung<br />
mit der angegriffenen Entscheidung<br />
und ihrer konkreten Begründung<br />
(vgl. BVerfGE 88, 40, 45; 101,<br />
331, 345 f.).<br />
Auf die Ausführungen des Berufungsgerichts<br />
geht der Beschwerdeführer<br />
hingegen nicht ein. Nach dessen Ansicht<br />
besteht ein grundgesetzlicher Eigentumsschutz<br />
für eine solche rentenrechtliche<br />
Gesamtposition nicht, weil<br />
eine nach dem FRG erworbene Rentenanwartschaft<br />
und eine später hinzukommende<br />
(bei einem Rentenversicherungsträger<br />
der Bundesrepublik<br />
erworbene) Rentenanwartschaft auch<br />
zu einem späteren Zeitpunkt teilbar<br />
sei und deshalb beide Anwartschaften<br />
unterschiedlichen rechtlichen Schicksalen<br />
zugänglich seien.<br />
2.2. Begründung nicht schlüssig<br />
Eine unzulässige unechte Rückwirkung<br />
wegen der Änderung der Bewertung<br />
der in der DDR zurückgelegten<br />
rentenrechtlichen Zeiten legt der Beschwerdeführer<br />
ebenso nicht substantiiert<br />
und schlüssig dar.<br />
Eine unechte Rückwirkung ist nach<br />
der Rechtsprechung des BVerfG verfassungsrechtlich<br />
grundsätzlich zulässig.<br />
Aus dem Grundsatz des Vertrauensschutzes<br />
und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip<br />
können sich jedoch<br />
Grenzen der Zulässigkeit ergeben.<br />
Diese sind allerdings erst überschritten,<br />
wenn die vom Gesetzgeber angeordnete<br />
unechte Rückwirkung zur Erreichung<br />
des Gesetzeszwecks nicht<br />
geeignet oder erforderlich ist oder<br />
wenn die Bestandsinteressen der Betroffenen<br />
die Veränderungsgründe des<br />
Gesetzgebers überwiegen (vgl.<br />
BVerfGE 95, 64, 86; 96, 330, 340;<br />
101, 239, 263). Dabei ist zu berücksichtigen,<br />
dass in Rentenanwartschaften<br />
von vornherein die Möglichkeit<br />
von Änderungen in gewissen Grenzen<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
264<br />
Recht<br />
angelegt sind. Eine Unabänderlichkeit<br />
der bei der Begründung bestehenden<br />
Bedingungen widerspräche dem Rentenversicherungsverhältnis,<br />
das im<br />
Unterschied zum Privatversicherungsverhältnis<br />
von Anfang an nicht auf<br />
dem reinen Versicherungsprinzip,<br />
sondern wesentlich auf dem Gedanken<br />
des sozialen Ausgleichs beruht<br />
(vgl. BVerfGE 11, 221, 226; 22, 241,<br />
253).<br />
Daher gebührt dem Gesetzgeber auch<br />
für Eingriffe in bestehende Rentenanwartschaften<br />
Gestaltungsfreiheit. Insoweit<br />
kommt es indessen darauf an,<br />
dass für diese Eingriffe legitimierende<br />
Gründe gegeben sind (vgl. BVerfGE<br />
31, 275, 290). Solche Gründe liegen<br />
bei Regelungen vor, die dazu dienen,<br />
die Funktions- und Leistungsfähigkeit<br />
des Systems der GRV im Interesse aller<br />
zu erhalten, zu verbessern oder veränderten<br />
wirtschaftlichen Bedingungen<br />
anzupassen (vgl. BVerfGE 53,<br />
257, 293).<br />
Der Beschwerdeführer setzt sich<br />
nicht hinreichend mit der Frage der<br />
Schutzwürdigkeit seines Vertrauens<br />
im Hinblick auf die fortwährende<br />
Bewertung seiner im Beitrittsgebiet<br />
zurückgelegten rentenrechtlichen<br />
Zeiten nach dem FRG auseinander.<br />
Allein das Vertrauen in den Fortbestand<br />
einer gesetzlichen Lage ist nicht<br />
schutzwürdig. Auch geht der Beschwerdeführer<br />
im Rahmen seines<br />
Vorbringens nicht auf die Argumentation<br />
des Fachgerichts in der Berufungsinstanz<br />
ein, wonach Vertrauensschutz<br />
– und damit weiterhin die<br />
Anwendung des FRG – nur deshalb<br />
den vor dem 1. Januar 1937 geborenen<br />
Versicherten zukommt, weil sie<br />
zum Zeitpunkt der Einführung des<br />
§ 259a SGB VI im Jahr 1992 relativ<br />
nah an der Grenze zur Regelaltersrente<br />
waren. Für den danach geborenen<br />
Personenkreis hat sich die Änderung<br />
der Bewertung der rentenrechtlichen<br />
Zeiten erst allmählich<br />
ausgewirkt und es ist ihnen die Möglichkeit<br />
verblieben, sich auf die geänderte<br />
Bewertung einzustellen. So ist<br />
auch der Beschwerdeführer noch bis<br />
2009 einer versicherungspflichtigen<br />
Beschäftigung nachgegangen, die<br />
ihm genügend Zeit gab, seine Alterssicherung<br />
entsprechend anzupassen.<br />
2.3. Ungleichbehandlung nicht<br />
ausreichend begründet<br />
Auch ein Verstoß gegen den allgemeinen<br />
Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG)<br />
ergibt sich aus dem Vorbringen des<br />
Beschwerdeführers nicht hinreichend.<br />
Der allgemeine Gleichheitssatz gebietet<br />
dem Gesetzgeber, wesentlich Gleiches<br />
gleich und wesentlich Ungleiches ungleich<br />
zu behandeln (vgl. BVerfGE<br />
116, 164, 180; 122, 210, 230). Aus<br />
ihm ergeben sich je nach Regelungsgegenstand<br />
und Differenzierungsmerkmalen<br />
unterschiedliche Grenzen für<br />
den Gesetzgeber, die von einem bloßen<br />
Willkürverbot bis zu einer strengen<br />
Bindung an die Verhältnismäßigkeitserfordernisse<br />
reichen (vgl. BVerfGE<br />
110, 274, 291; 122, 210, 230). Bei der<br />
Überprüfung eines Gesetzes auf seine<br />
Vereinbarkeit mit dem Gleichheitssatz<br />
ist vom BVerfG nicht zu untersuchen,<br />
ob der Gesetzgeber die zweckmäßigste<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
Recht<br />
265<br />
oder gerechteste Lösung gefunden hat,<br />
sondern nur, ob er die verfassungsrechtlichen<br />
Grenzen seiner Gestaltungsfreiheit<br />
überschritten hat (vgl.<br />
BVerfGE 84, 348, 359 mit weiteren<br />
Nachweisen; 110, 412, 436).<br />
Die Begründung der Verfassungsbeschwerde<br />
lässt eine nachvollziehbare<br />
Vergleichsgruppenbildung nicht erkennen.<br />
Sie lässt offen, ob der Beschwerdeführer<br />
eine Ungleichbehandlung<br />
gegenüber der Gruppe rügt, die<br />
vor dem 1. Januar 1937 geboren ist<br />
und auf deren rentenrechtliche Zeiten<br />
gemäß § 259a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1<br />
SGB VI das FRG weiterhin anwendbar<br />
ist, oder ob er eine nicht zulässige<br />
Gleichbehandlung mit der Gruppe<br />
der DDR-Übersiedler rügt, die nach<br />
dem 18. Mai 1990 in dem Gebiet der<br />
Bundesrepublik ohne dem Beitrittsgebiet<br />
ihren gewöhnlichen Aufenthalt<br />
begründet hat.<br />
Im Rahmen einer möglichen Rechtfertigung<br />
der Ungleichbehandlung<br />
lassen die Ausführungen des Beschwerdeführers<br />
ebenso wie bei der<br />
Rüge der Verletzung des Grundsatzes<br />
des Vertrauensschutzes eine Auseinandersetzung<br />
mit der Frage vermissen,<br />
ob die fortwährende Anwendung des<br />
FRG auf die vor dem 1. Januar 1937<br />
geborenen Versicherten gerechtfertigt<br />
ist, weil sie zum Zeitpunkt der Einführung<br />
des § 259a SGB VI im Jahr 1992<br />
relativ nah an der Grenze zur Regelaltersrente<br />
waren und dem danach geborenen<br />
Personenkreis die Möglichkeit<br />
verblieben ist, sich auf die geänderte<br />
Bewertung einzustellen. Der<br />
Beschwerdeführer setzt sich insofern<br />
auch nicht mit der bereits erwähnten<br />
Rechtsprechung des BVerfG auseinander,<br />
wonach in Rentenanwartschaften<br />
von vornherein die Möglichkeit<br />
von Änderungen in gewissen Grenzen<br />
angelegt ist (vgl. BVerfGE 11, 221,<br />
226; 22, 241, 253). Diese Entscheidung<br />
ist unanfechtbar. ¦<br />
Hartz-IV-Bezug<br />
Ehe „auf dem Papier“ kein<br />
Schutz vor Minderung<br />
Leben zwei mit anderen Partnern verheiratete<br />
Hartz-IV-Bezieher zusammen,<br />
bilden sie trotzdem eine Bedarfsgemeinschaft.<br />
Denn eine nur „auf dem<br />
Papier“ bestehende Ehe schließt eine<br />
anderweitige Partnerschaft in einer<br />
Bedarfsgemeinschaft nicht aus, entschied<br />
das Sozialgericht Düsseldorf in<br />
einem am 3. März <strong>2017</strong> bekanntgegebenen<br />
Urteil (Az.: S 12 AS 32/14).<br />
Damit müsse das Einkommen des einen<br />
Partners auch beim anderen Partner<br />
mindernd auf die Hartz-IV-Leistungen<br />
angerechnet werden. jur<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
266<br />
Literatur<br />
Sozialgesetzbuch<br />
Aktualisierte Gesamtausgabe<br />
von Walhalla<br />
Das gesamte Sozialgesetzbuch SGB I bis<br />
SGB XII. Mit Durchführungsverordnungen,<br />
dem Bundeskindergeldgesetz,<br />
dem Wohngeldgesetz und dem Sozialgerichtsgesetz.<br />
Walhalla Fachverlag,<br />
23. aktualisierte <strong>Ausgabe</strong> (Rechtsstand:<br />
15. Januar <strong>2017</strong>), 1568 Seiten. 19,95<br />
Euro, ISBN 978-3-8029-2047-9.<br />
Die vorliegende, auf den neuesten<br />
Stand gebrachte Textsammlung enthält<br />
in ungekürzter Fassung alle Teile<br />
des Sozialgesetzbuches (SGB), aber<br />
auch das Bundeskindergeldgesetz, das<br />
Wohngeldgesetz als besondere Teile<br />
des SGB sowie das Sozialgerichtsgesetz<br />
und darüber hinaus alle für die <strong>Praxis</strong><br />
relevanten Durchführungsverordnungen.<br />
Sie berücksichtigt auch die neu<br />
ermittelten Regelbedarfe ab 1. Januar<br />
<strong>2017</strong>, den Ausschluss von EU-Ausländern<br />
von regelmäßigen Existenzsicherungsleistungen,<br />
die Optimierung des<br />
Meldeverfahrens, den flexiblen Übergang<br />
in die Rente sowie die Neuerungen<br />
in der Pflegeversicherung (Pflegebedürftigkeitsbegriff,<br />
Pflegegrade, Begutachtungsinstrument).<br />
Das Kompendium ist auf die praktischen<br />
Anforderungen ausgerichtet. Es<br />
bietet allen, die mit dem SGB täglich<br />
oder regelmäßig arbeiten, einen umfassenden<br />
und aktuellen Überblick<br />
über die Gesetzes- und Verordnungslage<br />
und erleichtert so rechtssicheres<br />
Handeln, zumal im <strong>Sozialrecht</strong> heute<br />
Aufklärung, Beratung und Information<br />
gefragt sind.<br />
Der kompakte Band in handlicher<br />
Form mit seitlicher Markierung und<br />
einem ausführlichen Stichwortverzeichnis<br />
ermöglicht es, jederzeit auf<br />
sämtliche Rechtsgrundlagen zurückzugreifen<br />
– ob im Büro, in Sitzungen,<br />
bei Klienten, vor Gericht oder im Studium<br />
und kann zur Anschaffung empfohlen<br />
werden. <br />
dl<br />
Sozialwirtschaft<br />
Digitalisierung und<br />
technische Assistenz<br />
Hagemann, Tim (Hrsg.): Gestaltung des<br />
Sozial- und Gesundheitswesens im Zeitalter<br />
von Digitalisierung und technischer<br />
Assistenz (Forschung und Entwicklung<br />
in der Sozialwirtschaft, Band 11),<br />
Nomos Verlag <strong>2017</strong>, 542 S., 119 Euro,<br />
ISBN 978-3-8487-3656-0.<br />
Die Begriffe Digitalisierung und Arbeit<br />
4.0 sind in aller Munde. Auch im<br />
Sozial- und Gesundheitswesen lässt<br />
sich erahnen, wie allumfassend Arbeitsfelder<br />
und gesellschaftliche Verhältnisse<br />
sich ändern werden. Digitale<br />
Technologien und Roboter werden<br />
unseren Alltag prägen. Sie vernetzen<br />
Menschen, Geräte und Gegenstände<br />
miteinander und schaffen neue Formen<br />
der Interaktion und Kommunikation.<br />
Solche Systeme werden in<br />
atemberaubendem Tempo autonomer<br />
und können unabhängig von menschlicher<br />
Steuerung agieren. Und sie sind<br />
zunehmend in der Lage, komplexe<br />
Entscheidungen selbst zu treffen. Da-<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
Literatur<br />
267<br />
durch entstehen vielerlei Möglichkeiten<br />
- der Unterstützung, aber auch der<br />
Kontrolle und einer grundlegenden<br />
Reorganisation zahlreicher sozialer<br />
Dienstleistungen.<br />
In der Publikation wird in Beiträgen<br />
dargestellt und diskutiert, welche Auswirkungen<br />
dies für soziale Räume, die<br />
Gesundheitsversorgung, für Beratung<br />
und Therapie, für die berufliche Bildung<br />
und für die Leitung von Sozialunternehmen<br />
hat. <br />
pd<br />
<strong>Sozialrecht</strong><br />
Kompaktkommentar für<br />
die Arbeitnehmerberatung<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17<br />
Brall, Natalie/Kerschbaumer, Judith/<br />
Scheer, Ulrich/Westermann, Bernd<br />
(Hrsg.): <strong>Sozialrecht</strong> – Kompaktkommentar<br />
für die Arbeitnehmerberatung –<br />
SGB I bis SGB XII und SGG, Bund-<br />
Verlag, 2. Auflage, Frankfurt <strong>2017</strong>,<br />
2275 Seiten, Subskriptionspreis bis<br />
31. Mai <strong>2017</strong> 98 Euro, danach 129<br />
Euro, ISBN 978-3-7663-6510-1.<br />
Das <strong>Sozialrecht</strong> ist ein komplexes<br />
Rechtsgebiet, mit dem sich auch Interessenvertreter<br />
befassen müssen. Viele<br />
arbeitsrechtliche Fragen sind ohne einen<br />
Blick auf die sozialrechtlichen<br />
Folgen nicht zu beantworten. Klar<br />
und verständlich erläutert der Kompaktkommentar<br />
das gesamte <strong>Sozialrecht</strong><br />
– konzentriert aufbereitet in einem<br />
Band. Die Kommentierungen<br />
beschränken sich dabei auf die wesentlichen<br />
Vorschriften, die für die<br />
Beratung von Arbeitnehmern notwendig<br />
sind. Kernpunkte sind Kranken-,<br />
Renten-, Unfall- und Pflegeversicherung,<br />
Arbeitsförderung, Grundsicherung<br />
und Sozialhilfe, Wohngeld,<br />
Kindergeld und Elterngeld, Schwerbehindertenrecht<br />
und Sozialdatenschutz.<br />
Alle wichtigen Neuerungen sind eingearbeitet<br />
und kommentiert, wie das<br />
achte Gesetz zur Änderung des Sozialgesetzbuches-Zweites<br />
Buch/Ergänzung<br />
personalrechtlicher Bestimmungen,<br />
das Gesetz zur Neuorganisation<br />
der bundesunmittelbaren Unfallkassen<br />
(BUK-Neuorganisationsgesetz),<br />
das Gesetz zur Anpassung steuerlicher<br />
Regelungen an die Rechtsprechung<br />
des Bundesverfassungsgerichts, das<br />
Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz<br />
der Gesetzlichen<br />
Krankenversicherung (GKV),<br />
das Präventionsgesetz, das GKV-Versorgungsstärkungsgesetz,<br />
das Kinder-<br />
und Jugendhilfeverwaltungsvereinfachungsgesetz,<br />
das Leistungsverbesserungsgesetz<br />
der Rentenversicherung<br />
und das Tarifautonomiestärkungsgesetz.<br />
<br />
pd<br />
Lexikon<br />
Arbeitsrecht von A bis Z<br />
leicht verständlich<br />
Schaub, Günter/Koch, Ulrich: Arbeitsrecht<br />
von A-Z. (Beck-Rechtsberater im<br />
dtv; 51211), 21. überarbeitete Auflage<br />
<strong>2017</strong>, 730 Seiten, 19,90 Euro, ISBN<br />
978-3-406-70511-3.<br />
Das Lexikon bietet leicht verständlich,<br />
was man vom Arbeitsrecht wissen sollte.<br />
Die Stichworte geben mehr als eine
268<br />
Literatur<br />
erste Orientierung. Dargestellt ist das<br />
gesamte Arbeitsrecht von der Begründung<br />
bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses.<br />
Zusätzlich werden viele<br />
Randgebiete behandelt, wie zum Beispiel<br />
Arbeitsvermittlung, Arbeitslosenversicherung,<br />
Ausbildungsförderung,<br />
Lohnpfändung und Lohnsteuerrecht.<br />
Einen weiteren Schwerpunkt<br />
bildet das Recht besonderer Gruppen<br />
von Arbeitnehmern, etwa von Jugendlichen,<br />
schwerbehinderten Menschen<br />
und Heimarbeitern.<br />
Für die Neuauflage haben die Autoren<br />
die rund 350 Stichworte zum aktuellen<br />
Recht um neue ergänzt und die bestehenden<br />
hinsichtlich Rechtsprechung<br />
und Gesetzgebung komplett überarbeitet.<br />
Berücksichtigt sind insbesondere<br />
die Neuregelungen im Pflegezeitund<br />
Familienpflegezeitgesetz sowie im<br />
Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz<br />
(BEEG) wie auch die Einführung<br />
des gesetzlichen Mindestlohns und das<br />
Gesetz zur Tarifeinheit. pd<br />
Psychotherapie<br />
<strong>Praxis</strong>handbuch Richtlinie<br />
und Vereinbarung<br />
Bender, Carmen/Berner, Barbara/Best,<br />
Dieter/Dilling, Julian/Schaff, Christa/<br />
Uhlemann, Thomas: <strong>Praxis</strong>handbuch<br />
Psychotherapie-Richtlinie und Psychotherapie-Vereinbarung<br />
(Gesundheitswesen<br />
in der <strong>Praxis</strong>), medhochzwei Verlag<br />
<strong>2017</strong>, 250 Seiten. 49,99 Euro, ISBN<br />
978-3-86216-354-0.<br />
Mit der neuen Psychotherapie-Richtlinie<br />
und der Psychotherapie-Vereinbarung<br />
ändern sich die Rahmenbedingungen<br />
für die ambulante psychotherapeutische<br />
Versorgung als Leistung<br />
der gesetzlichen Krankenkassen grundlegend.<br />
Das Versorgungsangebot wird<br />
um die psychotherapeutische Sprechstunde<br />
und die psychotherapeutische<br />
Akutbehandlung erweitert, die Behandlungsabfolge<br />
wird klarer strukturiert<br />
und die Begründung eines Psychotherapieantrags<br />
stark vereinfacht.<br />
Mit der persönlichen telefonischen<br />
Erreichbarkeit und dem verpflichtenden<br />
An gebot der psycho therapeutischen<br />
Sprechstunden wachsen aber auch die<br />
Anforderungen an psychotherapeutische<br />
Praxen.<br />
Das „<strong>Praxis</strong>handbuch Psychotherapie-<br />
Richtlinie und Psychotherapie-Vereinbarung“<br />
erläutert die neuen Regelwerke<br />
und die Veränderungen und<br />
bietet den Vertragspsychotherapeuten<br />
und Vertragsärzten, die psychotherapeutisch<br />
tätig sind, eine wichtige Hilfe<br />
für den <strong>Praxis</strong>alltag. Die Änderungen<br />
werden detailliert und anhand praktischer<br />
Beispiele beschrieben.<br />
Die Autoren waren als Vertreter des<br />
Spitzenverbandes der Gesetzlichen<br />
Krankenkassen und der Kassenärztlichen<br />
Bundesvereinigung maßgeblich<br />
an der Reform beteiligt. pd<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
Service<br />
269<br />
Wiedereingliederung<br />
Wirkung von BEM anonym<br />
und kostenlos checken<br />
Der Verein der zertifizierten Disability<br />
Manager Deutschlands e. V.<br />
(VDiMa e. V.) will eine qualitativ<br />
hochwertige berufliche Wiedereingliederung<br />
von Arbeitnehmerinnen<br />
und Arbeitnehmern am Arbeitsplatz<br />
erreichen. Der Verein ist die Interessenvertretung<br />
der in Deutschland tätigen<br />
zertifizierten Disability Manager,<br />
darunter Versicherer und leitende<br />
Angestellte, Gewerkschaftler und<br />
Berufs genossenschaftler, Soziologen<br />
und Arbeitsvermittler, Fachärzte und<br />
Reha-Experten.<br />
Die Disability Manager sind spezialisiert<br />
auf die Verbesserung der Leistungsfähigkeit<br />
von Mitarbeitern, die<br />
von Einschränkungen oder Behinderungen<br />
betroffen sind. Dieses noch<br />
verhältnismäßig junge Berufsbild ins<br />
Bewusstsein von Betroffenen, Arbeitnehmern<br />
und Arbeitgebern zu holen,<br />
dafür setzt sich der Verein der zertifizierten<br />
Disability Manager Deutschlands<br />
e. V. ein.<br />
„Jeder unserer Disability Manager begleitet<br />
Arbeitnehmer und Arbeitgeber<br />
fachlich versiert und erfahren, als<br />
Mittler und Motivator als Berater und<br />
Begleiter“, sagt VDiMa-Geschäftsführer<br />
Gustav Pruß. Durch die Unterstützung<br />
verkürze sich in der Regel die<br />
Dauer der Arbeitsunfähigkeit, Rückfälle<br />
würden vermieden und aus ursprünglichen<br />
Einschränkungen entstünden<br />
Chancen für alle Seiten.<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17<br />
Wer prüfen möchte, wie wirkungsvoll<br />
die Umsetzung des betrieblichen Eingliederungsmanagements<br />
(BEM) im<br />
Betrieb oder Unternehmen tatsächlich<br />
ist, kann das jetzt ganz einfach tun.<br />
Der VDiMa e. V. bietet ab sofort in<br />
Zusammenarbeit mit dem Institut für<br />
Qualitätssicherung in Prävention und<br />
Rehabilitation (IQPR) in Köln eine<br />
Möglichkeit der Online-Selbstbewertung<br />
des BEM an. Der anonyme und<br />
kostenfreie BEM-Selbstcheck ist auf<br />
www.vdima.de abrufbar.<br />
Mit dem Fragebogen lässt sich ohne<br />
großen Aufwand eine erste Bewertung<br />
des BEM vornehmen. Für den Fall,<br />
dass sich daraus ein Verbesserungsbedarf<br />
ergibt, werden Tipps und Kontaktadressen<br />
für das weitere Vorgehen<br />
gegeben. Da es sich um einen „Selbst-<br />
Check“ handelt, sollten die 19 Fragen<br />
ehrlich und ungeschönt beantwortet<br />
werden, um tragfähige Ergebnisse zu<br />
erhalten.<br />
Der VDiMA bietet unter anderem<br />
auch Fortbildungsseminare an und<br />
vermittelt qualifizierte Experten in einem<br />
fachübergreifenden Netzwerk zu<br />
unterschiedlichen Fragestellungen:<br />
£ zur Verkürzung der Arbeitsunfähigkeit<br />
und Vermeidung neuer Arbeitsunfähigkeitszeiten,<br />
£ zur professionellen Begleitung der<br />
Menschen mit Einschränkungen,<br />
£ zur persönlichen Beratung von Arbeitgeber,<br />
Betriebsrat und Gewerkschaft<br />
sowie<br />
£ zur Inanspruchnahme möglicher<br />
Fördermittel.
270<br />
Service<br />
Der VDiMa wurde im September<br />
2006 gegründet. Die Geschäftsstelle ist<br />
beim Landesverband Nordost der<br />
Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung<br />
in Berlin angesiedelt. Mitglied<br />
werden können Personen mit einer<br />
Zertifizierung als Disability Manager<br />
ebenso wie Personen, die sich aktiv für<br />
Belange und Interessen des Disability<br />
Managements einsetzen. sko<br />
Kontakt: VDiMa, Fregestraße 44,<br />
12161 Berlin, Telefon (030)<br />
85105 5221, Fax (0 30) 85105-52 25,<br />
E-Mail info@vdima.de und unter<br />
www.vdima.de im Internet.<br />
REHADAT<br />
Wissen zu Behinderungen<br />
und Arbeitsgestaltung<br />
Die REHADAT-Wissensreihe vermittelt<br />
Basiswissen zu Erkrankungen<br />
oder Behinderungen sowie Lösungen<br />
für individuelle Arbeitsgestaltungen –<br />
zum Beispiel mit Hilfsmitteln, technischen<br />
Arbeitshilfen, Baumaßnahmen,<br />
organisatorischen Maßnahmen oder<br />
personeller Unterstützung. Zielgruppe<br />
sind Arbeitgeber, Betriebsärzte, betroffene<br />
Arbeitnehmer sowie alle Fachleute,<br />
die an der beruflichen Teilhabe<br />
von Menschen mit Erkrankung oder<br />
Behinderung beteiligt sind.<br />
Die einzelnen <strong>Ausgabe</strong>n können unter<br />
www.rehadat.info/de/publikationen/<br />
index.html heruntergeladen werden.<br />
Zur Verfügung stehen bisher:<br />
£ Diabetes: Ich bin doch nicht aus Zucker!<br />
Wie sich die berufliche Teilhabe<br />
von Menschen mit Diabetes mellitus<br />
gestalten lässt,<br />
£ Rollstuhlnutzer: Nur den Tag absitzen?<br />
Nichts für mich! Wie sich die<br />
berufliche Teilhabe von Rollstuhlnutzern<br />
gestalten lässt,<br />
£ Inkontinenz: Über sowas kann man<br />
nicht sprechen? Wie sich die berufliche<br />
Teilhabe von Menschen mit<br />
Inkontinenz gestalten lässt,<br />
£ Multiple Sklerose: Und manchmal<br />
kribbeln meine Beine – Wie sich die<br />
berufliche Teilhabe von Menschen<br />
mit Multipler Sklerose gestalten<br />
lässt,<br />
£ Epilepsie: Wenn die Neuronen Sonderschicht<br />
machen – Wie sich die<br />
berufliche Teilhabe von Menschen<br />
mit Epilepsie gestalten lässt.<br />
Die <strong>Ausgabe</strong>n Rollstuhlnutzer, Inkontinenz<br />
und Multiple Sklerose<br />
enthalten zusätzlich jeweils eine<br />
REHADAT-Befragung zum Joballtag.<br />
REHADAT (www.rehadat.de) ist ein<br />
kostenfreies zentrales Informationsangebot<br />
zur beruflichen Teilhabe von<br />
Menschen mit Behinderung. Die<br />
Informationen sind in Portalen und<br />
Datenbanken öffentlich zugänglich.<br />
Rund 100000 Einträge werden laufend<br />
aktualisiert und sind mit externen<br />
Informationen im Internet verlinkt.<br />
Außerdem entwickelt REHADAT die<br />
Software REHADAT-Elan.<br />
REHADAT wird beim Institut der<br />
deutschen Wirtschaft Köln erstellt.<br />
Das Bundesministerium für Arbeit<br />
und Soziales fördert das Projekt aus<br />
dem Ausgleichsfonds.<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
Autoren/Impressum<br />
Online-Service für<br />
S+P-Abonnenten<br />
Als Leser von „<strong>Sozialrecht</strong> + <strong>Praxis</strong>“<br />
können Sie Änderungen zu Ihrem<br />
Abonnement auf der Website des VdK<br />
Deutschland selbst vornehmen.<br />
Das Formular gibt es unter<br />
www.vdk.de/permalink/8408<br />
Sammelordner<br />
für S+P<br />
Besser Ordnung halten Sie mit den<br />
praktischen Sammelordnern von S+P<br />
für 15,00 Euro pro Jahrgang.<br />
Kontakt: VdK-Service GmbH<br />
Linienstraße 131<br />
10115 Berlin<br />
Telefon (0 30) 9 210580-0<br />
Fax (030) 9210580-999<br />
E-Mail: service@vdk.de<br />
Dirk Dahm, Ass. iur., Verwaltungsdirektor<br />
a. D., Berufsgenossenschaft<br />
Rohstoffe und chemische Industrie<br />
Bochum.<br />
Ines Klut (ikl), Redakteurin, Sozialverband<br />
VdK Deutschland.<br />
Sabine Kohls (sko), Redakteurin, Sozialverband<br />
VdK Deutschland.<br />
Dieter Leopold (dl), Dr. iur., AOK-<br />
Geschäftsführer a. D., Autor von<br />
Fachkommentaren.<br />
Horst Marburger, Oberverwaltungsrat<br />
a. D., ehemaliger Abteilungsleiter<br />
AOK Baden-Württemberg.<br />
Ulrike Mascher, Präsidentin, Sozialverband<br />
VdK Deutschland.<br />
Bettina Schubarth (bsc), Dr. phil.,<br />
Pressesprecherin, Abteilungsleiterin<br />
Presse, PR, Neue Medien, Sozialverband<br />
VdK Bayern.<br />
Jörg Ungerer, Leiter der Bundesrechtsabteilung,<br />
Sozialverband VdK<br />
Deutschland.<br />
impressum<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong><br />
Herausgeber: Sozialverband VdK Deutschland e. V., www.vdk.de<br />
Abonnement: VdK Service GmbH<br />
Linienstraße 131, 10115 Berlin, Telefon (0 30) 9 21 05 80-0, Fax (0 30) 9 21 05 80-999, service@vdk.de<br />
Bezugspreis: 26,40 Euro zzgl. Versandkosten/Mehrwertsteuer<br />
<strong>Sozialrecht</strong> + <strong>Praxis</strong> erscheint zwölf Mal jährlich am 20. jeden Monats. Das Abonnement verlängert sich um ein<br />
Jahr, wenn es nicht spätestens drei Monate vor Ablauf des Kalenderjahres gekündigt wird.<br />
Redaktion: Sabine Kohls, Ruth Seyboth-Kurth, Kristin Enge, sup@vdk.de<br />
Agenturen: Deutsche Presse-Agentur (dpa), JurAgentur (jur)<br />
Druck: Dimetria-VdK gemeinnützige GmbH, Rennbahnstraße 48, 94315 Straubing, www.dimetria.de<br />
Namentlich gekennzeichnete Artikel geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.<br />
Für unverlangt eingesandte Manuskripte kann keine Gewähr übernommen werden.<br />
ISSN 0939-401X<br />
<strong>Sozialrecht</strong>+<strong>Praxis</strong> 4/17
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Linienstraße 131<br />
10115 Berlin<br />
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