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Handlung statt Verhandlung – Kunst als gemeinsame Stadtgestaltung

ISBN 978-3-86859-503-1 https://www.jovis.de/de/buecher/tendenzen/product/handlung-statt-verhandlung.html

ISBN 978-3-86859-503-1
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HILKE MARIT BERGER<br />

HANDLUNG STATT VERHANDLUNG<br />

KUNST ALS GEMEINSAME STADTGESTALTUNG


GLIEDERUNG<br />

8<br />

PROLOG<br />

10<br />

13<br />

15<br />

17<br />

18<br />

21<br />

DIE KUNST GEMEINSAMER STADTGESTALTUNG <strong>–</strong> EINE EINLEITUNG<br />

Sehnsucht nach künstlerischer Relevanz <strong>–</strong> Zur Ausgangslage<br />

<strong>Stadtgestaltung</strong> <strong>als</strong> <strong>gemeinsame</strong>r Prozess<br />

Autonomie und Instrumentalisierung<br />

Social Turn<br />

Methodisches Vorgehen<br />

25<br />

27<br />

34<br />

46<br />

47<br />

48<br />

50<br />

51<br />

DIE KUNST DES IN-BEZIEHUNG-TRETENS<br />

Vom öffentlichen zum urbanen Raum?<br />

Urbane <strong>Kunst</strong><br />

Der Imperativ der Partizipation<br />

Über die lange Geschichte der Partizipationskritik<br />

Zur kunsthistorischen Entwicklung seit den 1960er Jahren<br />

Relational Aesthetics oder die <strong>Kunst</strong> des geselligen Miteinanders<br />

Teilhabe an gesellschaftlicher Gestaltung<br />

54<br />

56<br />

58<br />

62<br />

65<br />

67<br />

68<br />

70<br />

72<br />

DIE KUNST DER ZUSCHREIBUNGEN<br />

Zuschreibungen und Verweigerungen <strong>–</strong> Rollenbilder<br />

Zu Entstehung und Wandlung des Künstlermythos<br />

Kalter-<strong>Kunst</strong>-Krieg: Stadttheater versus Freie Szene<br />

Theater der Teilhabe<br />

Plattform oder Player <strong>–</strong> Wie kann Theater politisch sein?<br />

<strong>Kunst</strong> <strong>als</strong> kollektives Handeln <strong>–</strong> zur <strong>Kunst</strong>soziologie von Howard S. Becker<br />

Die <strong>Kunst</strong> zukunftsfähiger Arbeitsorganisation<br />

Labeling und disziplinäre Konsequenzen


76<br />

77<br />

80<br />

85<br />

92<br />

102<br />

108<br />

114<br />

116<br />

124<br />

132<br />

133<br />

136<br />

149<br />

DIE KUNST DER SCHNITTSTELLEN<br />

Hybride Rollen<br />

„Creative Creatives creating creative Creative“ <strong>–</strong><br />

<strong>Stadtgestaltung</strong> jenseits der Creative City<br />

<strong>Kunst</strong> und Aktivismus<br />

Was ist politische <strong>Kunst</strong>?<br />

<strong>Kunst</strong> <strong>als</strong> Überschreibung des städtischen Raums<br />

Reale Fiktionen <strong>–</strong> <strong>Kunst</strong> <strong>als</strong> Wirklichkeitsbehauptung<br />

<strong>Kunst</strong> und Soziale Arbeit<br />

<strong>Kunst</strong> <strong>als</strong> pragmatische Problemlösung?<br />

Soziale Plastik oder soziale Praxis?<br />

<strong>Kunst</strong> und Stadtplanung<br />

Urbane Intervention<br />

Urbane Praxis und direkter Urbanismus<br />

Situativer Urbanismus <strong>als</strong> pluralistisch anti-hegemoniale Praxis<br />

152<br />

154<br />

161<br />

170<br />

DIE KUNST DER VERANTWORTUNG<br />

Urban Governance oder Wie macht man Stadt?<br />

Kollaborative Planung oder Wer macht die Stadt?<br />

Reinventing Institutions oder Was braucht die Stadt?<br />

178<br />

181<br />

182<br />

185<br />

188<br />

194<br />

KUNST MACHT GESELLSCHAFT MACHT KUNST <strong>–</strong> EIN FAZIT<br />

<strong>Handlung</strong>sfreiheit<br />

<strong>Handlung</strong>smacht<br />

<strong>Handlung</strong>sfeld<br />

Produktive Schnittstellenarbeit oder Was kann die <strong>Kunst</strong>? <strong>–</strong> Ergebnisse<br />

Vom Planungsraum zum Lebensraum <strong>–</strong> Ausblick<br />

196<br />

LITERATUR


PROLOG ZUR FORSCHUNGSGENESE<br />

Es geht nicht um <strong>Kunst</strong> <strong>–</strong> es geht um Politik!<br />

Im Verlauf der Entstehung hatte dieses Buch eine Vielzahl unterschiedlicher Arbeitstitel.<br />

Mehrere Jahre stand auf der ersten Seite der Datei der Titel: Social Urban<br />

Art. Dieser Obertitel schien mir lange passend, führt er doch die zentralen Aspekte<br />

in einem sehr kompakten Begriff zusammen: Es geht in dieser Arbeit um künstlerisch<br />

initiierte Projekte im urbanen Raum, die auf Teilhabe an <strong>Stadtgestaltung</strong> ausgerichtet<br />

sind und damit an der Schnittstelle zu politischem Aktivismus, sozialer<br />

Arbeit und städtischer Planung operieren. Eine neue Definition urbaner <strong>Kunst</strong> <strong>als</strong><br />

einer <strong>gemeinsame</strong>n urbanen Praxis war dabei das Ziel der Forschung. Social Urban<br />

Art schien <strong>als</strong> Vorschlag einer neuen Begrifflichkeit genau diese Definition leisten<br />

zu können. Für die englische Variante des Titels sprach vor allem, dass es im Rahmen<br />

des Social Turn (Bishop 2006) eine immer größere Unschärfe bei immer häufigerem<br />

Gebrauch des Wortes sozial zur Beschreibung von Schnittstellenprojekten<br />

gibt. Sozial ist längst ein gern genutztes Label, das in unterschiedlichsten Kontexten<br />

(von Planung über Architektur zu Design und <strong>Kunst</strong>) immer dann verwendet wird,<br />

wenn etwas <strong>als</strong> ganz besonders positiv gelten soll. Das Wort suggeriert, es ginge<br />

um eine verbessernde Veränderung gesellschaftlichen Miteinanders. Sehr häufig<br />

geht es in entsprechenden Projekten aber gar nicht um das Gemeinwohl, nicht um<br />

Altruismus oder gar um Gesellschaft, sondern es geht schlicht um das Miteinander-<br />

Sein, um Geselligkeit und Kontaktaufnahme, bestenfalls um das Herstellen von Beziehungen.<br />

Diese rein relationale Konnotation des Begriffs sozial, die es auch im<br />

Deutschen gibt, trifft die englische Übersetzung sehr viel zielgerichteter, wie sich<br />

beispielsweise am social networking ebenso wie am social drinking sehr gut zeigen<br />

lässt. In der Intensivierung der Forschung wurde mir klar, dass der inflationäre<br />

Gebrauch des Begriffs ‚sozial’ zur Beschreibung künstlerischer Praxis auch einem<br />

Legitimationszwang der Verwendung staatlicher Mittel geschuldet ist und es damit<br />

viel weniger um <strong>Kunst</strong> <strong>als</strong> um Politik geht. Diese Gemengelage schien mir der erste<br />

Arbeitstitel, unter dem ich diese Dissertation auch angemeldet habe <strong>–</strong> <strong>Kunst</strong> macht<br />

Gesellschaft macht <strong>Kunst</strong> <strong>–</strong> sehr viel besser auszudrücken.<br />

Zentraler Gedanke dabei war es zum einen, damit die gegenseitige Einflussnahme<br />

und Abhängigkeit zu betonen. Zum anderen war mir aber das Wort Gesellschaft <strong>als</strong><br />

Dreh- und Angelpunkt für die Projekte sehr wichtig. Die Zunahme künstlerischer<br />

Praktiken, die auf ‚Community Building‘ zielen, zeigt, dass sich eine fragwürdige<br />

Entwicklung einer Konzentration auf gemeinschaftsbildende Projekte auf Kosten<br />

tatsächlicher gesellschaftlich wirksamer Arbeiten abzeichnet (Ranciére 2008). Immer<br />

öfter wird im Rahmen einer positiven Lesart die Wirkungsmacht lokalen Handelns<br />

im Sinne eines Hands-On-Urbanism (Krasny 2012) betont. Das Lokale wird<br />

zu einem Ideal des Möglichkeitsraums (Van Heeswijk 2016). Tatsächliche gesellschaftliche<br />

Wirkungsmacht wird dabei in den seltensten Fällen avisiert. Es geht um<br />

8


konkrete, umsetzbare Veränderungen beispielsweise der eigenen Nachbarschaft<br />

vor Ort, nicht um gesamtgesellschaftliche Abstraktion. In der Masse sehen<br />

Kritiker*innen darin die Gefahr einer gesellschaftlichen Appeasement-Wirkung:<br />

Eine Beruhigung der zugrunde liegenden Konflikte ohne tatsächliche gesellschaftliche<br />

Veränderung herbeizuführen, da die Motivation einer generellen (im Sinne<br />

einer systemischen) Veränderung durch die Feel-Good-Wirkung der Arbeiten im<br />

Lokalen bereits verbraucht und die Notwendigkeit politischen Handelns nicht mehr<br />

spürbar ist. (Zu nennen wären hier z.B. Urban Gardening ebenso wie Nachbarschaftsprojekte<br />

und viele Formen der Community Art.) Das Resultat ist die Konzentration<br />

auf die jeweilige (und zumeist dann doch homogene) Community auf Kosten<br />

einer (diversen) Society.<br />

Meines Erachtens verkennt diese kritische Perspektive aber die Wirkungsmacht der<br />

Initiativen in summa. Die Zunahme der lokalen Initiativen drückt die Notwendigkeit<br />

einer globalen Umorientierung aus. Politisches und soziales Handeln diffundieren<br />

ebenso wie künstlerische und aktivistische Praktiken. Für bürgerschaftliches Engagement<br />

ist der Machbarkeitshorizont wesentlich, da nur durch das eigene Handeln<br />

und Erleben auch eine Motivation für größere Veränderungen entstehen kann. Die<br />

zentrale Forderung zukunftsfähiger Stadtentwicklung müsste es sein, dieses lokale<br />

Engagement <strong>als</strong> Folie für eine Skalierung in größere Zusammenhänge zu nutzen<br />

und hierauf aufbauend Strategien zu entwickeln, die nicht in der Resignation durch<br />

erschlagende Kritik münden, sondern das lokale Community Engagement ernst<br />

nehmen. Entsprechende Projekte sollten ein Anfang und kein Ende sein.<br />

Dass dies keine naive luftleere Hoffnung ist, sondern es zunehmend Versuche einer<br />

solchen Sichtbarmachung von Möglichkeitsräumen und den Mut zu größeren<br />

Veränderungen gibt, zeigt sich auch in den Verschiebungen der <strong>Handlung</strong>sfelder<br />

etlicher Professionen wie Architekt*innen, Planer*innen und Künstler*innen. Sie<br />

werden zu Moderator*innen und Organisator*innen in urbanen Entwicklungsprozessen<br />

jenseits interdisziplinärer Zuschreibungen und Selbstverständnisse. Das<br />

Umdenken, das Neudenken von Professionen und Arbeitsfeldern hat Konjunktur,<br />

wie sich an diversen Beispielen zeigen lässt. Die Frage nach der Skalierbarkeit lokal<br />

erfolgreicher Projekte auf einen größeren und damit gesellschaftlich wirksamen<br />

Faktor wäre dabei das zentrale Thema, um das es zukünftig gehen muss.<br />

Eine Begründung der Zunahme dieser Arbeiten allein durch staatliche Förderpolitik<br />

verkennt, dass es auch ein starkes Bedürfnis der Akteure selbst gibt, in anderen<br />

Rahmungen und mit einer anderen Wirkungsmacht tätig zu werden. Immer mehr<br />

geht es damit auch um die Intention der Projekte. Es geht um eine Entwicklung<br />

von künstlerischer Praxis, die über das Stellen von Fragen hinausgeht und ganz<br />

konkrete Antworten vorschlägt: Vermeintliche Utopien werden kollektiv imaginiert<br />

und im Realversuch getestet. In diesem Sinne geht es nicht mehr um die reine <strong>Verhandlung</strong><br />

von Themen.<br />

Es geht um eine Praxis, die nicht mehr auf Sichtbarmachung allein zielt, sondern<br />

selbst zur konkreten <strong>Handlung</strong> von Vielen wird und Stadt aktiv mitgestaltet. Es geht<br />

um <strong>Handlung</strong> <strong>statt</strong> <strong>Verhandlung</strong> <strong>–</strong> <strong>Kunst</strong> <strong>als</strong> <strong>gemeinsame</strong> <strong>Stadtgestaltung</strong>.<br />

9


1 http://www.<br />

sueddeutsche.<br />

de/kultur/britischer-kunstpreisassemble-gelingtworan-staedteplaner-scheitern-1.2766027<br />

(Letzter Zugriff<br />

06.12.16).<br />

2 https://www.<br />

theguardian.<br />

com/artanddesign/2015/<br />

dec/07/urbanassemble-winturner-prizetoxteth<br />

(Letzter<br />

Zugriff 06.12.16).<br />

3 http://www.<br />

zeit.de/kultur/<br />

kunst/2015-12/<br />

kunst-turnerprize-assemblenicole-wermers<br />

(Letzter Zugriff<br />

06.12.16).<br />

4 http://assemblestudio.<br />

co.uk/?page_<br />

id=48 (Letzter<br />

Zugriff 06.12.16).<br />

5 https://www.<br />

theguardian.<br />

com/artanddesign/2015/<br />

dec/07/urbanassemble-winturner-prizetoxteth<br />

(Letzter<br />

Zugriff 06.12.16).<br />

DIE KUNST GEMEINSAMER STADT-<br />

GESTALTUNG <strong>–</strong> EINE EINLEITUNG<br />

„I went from being an artist who makes things, to being an artist who<br />

makes things happen“ (Jeremy Deller, zitiert nach Thompson 2012: 17).<br />

I.Liverpool: Gemeinsam mit langjährig engagierten Anwohner*innen renoviert<br />

das Londoner Kollektiv Assemble marode Backsteinhäuser, die durch<br />

den steten Einsatz der lokalen Initiativen vor dem Abriss geschützt worden waren,<br />

und gewinnt 2015 unter anderem für dieses Projekt „Granby Four Streets“ den renommierten<br />

britischen Turner-Preis für zeitgenössische <strong>Kunst</strong>. „Assemble gelingt,<br />

woran Städteplaner scheitern“ 1 titelte die Süddeutsche Zeitung. „Urban regenerators<br />

Assemble become first ‚non-artists‘ to win Turner prize“ 2 überschrieb der britische<br />

Guardian seinen Bericht und charakterisierte die Gruppe <strong>als</strong> „direct action<br />

collective“. In der ZEIT war zu lesen, ein Künstlerkollektiv habe den Preis gewonnen. 3<br />

Eine der wichtigsten Trophäen der internationalen <strong>Kunst</strong>szene war an ein Kollektiv<br />

aus Architekt*innen, Designer*innen, Ethnolog*innen, Philosoph*innen und<br />

Künstler*innen verliehen worden, deren <strong>gemeinsame</strong> Praxis der <strong>Stadtgestaltung</strong><br />

sich offensichtlich mit den üblichen Kategorien nicht mehr zielsicher beschreiben<br />

lässt. Die alten Schubladen wollen nicht mehr so recht passen: Ist das Aktivismus?<br />

<strong>Kunst</strong>? Stadtplanung? Soziale Arbeit? Laut Selbstbeschreibung ist das Ziel ihrer Arbeitsweise:<br />

„To address the typical disconnection between the public and the process<br />

by which places are made.“ 4 Adressiert werden damit sowohl die gebaute wie<br />

die be- und gelebte Umwelt, der Prozess der Arbeit und dessen Ergebnis gleichermaßen.<br />

Die Juroren waren sich bei ihrer Begründung einig, dass dieses Vorgehen<br />

die bisherigen Ansätze der Stadtentwicklung auf den Kopf stelle und sich dabei der<br />

Logik klassischer Aufwertungsprozesse durch die gleichberechtigte Teilhabe (und<br />

eben nicht nur Beteiligung) der Anwohner*innen entziehe. 5<br />

Sie verliehen mit dem Preis mehr <strong>als</strong> eine Auszeichnung, sie setzten ein Statement:<br />

Diese Arbeit sei große <strong>Kunst</strong> und wegweisendes Beispiel konkreter <strong>Handlung</strong>smöglichkeiten<br />

<strong>gemeinsame</strong>r <strong>Stadtgestaltung</strong> gleichermaßen.<br />

Was unterscheidet dieses Projekt so sehr von anderen, ähnlichen Projekten? Warum<br />

war es so erfolgreich? Irgendwo zwischen Künstler*innen und Nichtkünstler*innen,<br />

zwischen Stadtplanung und Aktivismus, an der Schnittstelle von <strong>Kunst</strong>, Architektur<br />

und Sozialarbeit scheint sich etwas zu manifestieren, das zumindest für die Wiederbelebung<br />

eines verwahrlosten Stadtteils in Liverpool sehr wirksam war. Wie genau<br />

dieses ‚Etwas’ der Schnittstellen gestaltet ist und welche Konsequenzen die zumeist<br />

explorative und experimentelle urbane Praxis gerade auch für das Entstehen von<br />

10


neuen Arbeitsfeldern diverser Akteure und deren Selbstverständnis hat, sind zentrale<br />

Fragen dieser Forschung.<br />

2. Oberhausen: Das Kollektiv geheimagentur nahm den finanziellen Bankrott<br />

der Stadt zum Anlass, eine eigene Währung zu etablieren. Finanziert aus Mitteln<br />

der Kulturstiftung des Bundes über die Doppelpass Förderung, 6 gründeten die<br />

Performer*innen in Zusammenarbeit mit dem städtischen Theater Oberhausen<br />

und einem Netzwerk aus Partner*innen 2012 eine eigene Bank mit einer eigenen<br />

Währung <strong>–</strong> ‚Kohle‘, die über mehrere Wochen in 80 teilnehmenden Geschäften zirkulierte.<br />

Interessierte konnten jederzeit einen Kredit aufnehmen, einzige Verpflichtung<br />

war die Übernahme einer Tätigkeit, für die man immer schon einmal bezahlt<br />

werden wollte. Vor dem in der Innenstadt platzierten Bankcontainer offerierten die<br />

Oberhausener*innen während der Projektlaufzeit mit viel Leidenschaft diverse Angebote<br />

von Sprachunterricht über Flamenco-Kurse bis hin zum Kartenlesen und<br />

erhielten dafür jederzeit ‚Kohle‘, für die man im Händlernetzwerk wiederum diverse<br />

Dinge erwerben konnte. Die Bewohner*innen Oberhausens nahmen das Konzept<br />

an und setzten es selbst um: Noch Monate nach der Performance war die ‚Kohle‘<br />

ein etabliertes Zahlungsmittel in der Stadt.<br />

Das Projekt schuf eine Versuchsanordnung, in deren Verlauf die Grenzziehungen<br />

zwischen Fiktion und Realität brüchig wurden und sich künstlerische Arbeiten mit<br />

Alltagswelten überlagerten. Die gefestigten hegemonialen Strukturen wurden unterlaufen,<br />

einer scheinbaren Alternativlosigkeit mit einem konkreten <strong>Handlung</strong>sangebot<br />

begegnet.<br />

Auch hier fällt eine Einordung mit etablierten Begriffen schwer: Ist das <strong>Kunst</strong> im<br />

öffentlichen Raum? Urbane Performance? Soziale Skulptur? Urbane Intervention?<br />

Und wer hatte hierbei welche Rolle? Kann man überhaupt noch in klassischen Rollenmustern<br />

(Zuschauer*in, Teilnehmer*in, Akteur*in?) denken, wenn es jenseits<br />

von hierarchisierender Partizipation offensichtlich vor allem eine offerierte Struktur<br />

gibt, bei der jeder seine Rolle selbst definiert? Auch die disziplinäre Zuordnung und<br />

das Selbstverständnis der Initiator*innen steht zur Diskussion: Handelt es sich um<br />

Sozialarbeiter*innen? Um Aktivist*innen? Um Künstler*innen? Wie definieren sie<br />

ihre eigenen Rollen jenseits von Genregrenzen und Disziplinen? Welche Ziele (ästhetisch?<br />

politisch? pädagogisch?) verfolgen ihre Arbeit? Und ist eine solche Trennung<br />

überhaupt erkenntnisfördernd? In welcher künstlerischen Tradition stehen<br />

solche Projekte diverser Grenzüberschreitungen?<br />

6 Mit der Doppelpass<br />

Förderung<br />

lässt sich die<br />

Kulturstiftung<br />

des Bundes seit<br />

2012 auf eine<br />

für die deutsche<br />

Förderlandschaft<br />

experimentelle<br />

und umstrittene<br />

Verbindung ein.<br />

In zweijährigen<br />

Residenzprogrammen<br />

werden gezielt<br />

Kooperationen<br />

von festen<br />

Tanz- und Theaterhäusern<br />

mit<br />

freien Gruppen<br />

gefördert: „Mit<br />

diesem Programm<br />

möchte<br />

die Kulturstiftung<br />

des Bundes die<br />

freien Szenen<br />

und Theaterinstitutionen<br />

in<br />

Deutschland zum<br />

Erproben neuer<br />

Formen der<br />

Zusammenarbeit<br />

und künstlerischer<br />

Produktion<br />

anregen. Die<br />

Förderung will<br />

Künstlerinnen<br />

und Künstlern<br />

beider Seiten den<br />

nötigen Freiraum<br />

eröffnen, um<br />

ihre Strukturen<br />

und Arbeitsweisen<br />

produktiv<br />

zu verbinden.“<br />

http://www.kulturstiftung-desbundes.de/cms/<br />

de/programme/<br />

doppelpass/index.html<br />

(Letzter<br />

Zugriff 06.12.16).<br />

3. Köln: Das Magazin stadt:pilot zu den Pilotprojekten der Nationalen Stadtentwicklungspolitik,<br />

herausgegeben vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung<br />

(BBSR), konzentriert sich in seiner 11. Ausgabe 2016 auf <strong>gemeinsame</strong><br />

<strong>Stadtgestaltung</strong> und das Engagement von diversen Akteuren. Die Projekte gelten<br />

<strong>als</strong> wegweisend und sollen Vorbildcharakter haben. Darunter das Projekt: Stadt<br />

von der anderen Seite sehen, ein Stadtprojekt des Schauspiels Köln gemeinsam mit<br />

Künstler*innen, Stadtplaner*innen und Bürger*innen, das in einem zweijährigen<br />

11


Abbildung 2<br />

Abbildung 3<br />

24


DIE KUNST DES<br />

IN-BEZIEHUNG-TRETENS<br />

„Normalerweise kommen die Leute, gucken sich etwas an, gehen<br />

wieder. Aber im 21. Jahrhundert haben sie keine Lust mehr, sich Sachen<br />

anzugucken, sie wollen Teil von etwas sein, eine Erfahrung machen.<br />

Eine Verbindung zu anderen Menschen spüren“ (Marina Abramović,<br />

zitiert nach Kippenberger 2016: 2).<br />

Künstlerisch angestiftete Prozesse der Veränderung von Stadtgesellschaft<br />

setzen eine neue Beziehung zu den Teilnehmer*innen voraus, die weniger<br />

Zuschauer*innen denn Kompliz*innen 19 einer geteilten künstlerischen Praxis<br />

werden. Die Involvierung von Zuschauer*innen in künstlerische Arbeiten ist keinesfalls<br />

ein neues Phänomen, sondern begann spätestens in den Avantgarden des<br />

19. Jahrhunderts und fand in der Entstehung der Performance Art in den 1960er<br />

Jahren einen ersten Höhepunkt. 20<br />

Dieses Kapitel bietet folgernd einen historischen Überblick über die Entwicklung<br />

partizipativer, performativer künstlerischer Projekte im urbanen Raum seit den<br />

1960er Jahren, da entsprechende Projekte und Diskurse <strong>als</strong> Basis für die Entwicklung<br />

neuer, zeitgenössischer Figurationen des Sozialen zu sehen sind.<br />

Hierbei wird <strong>–</strong> neben Theorien zu Gegenwartskunst aus der Perspektive unterschiedlicher<br />

Fachrichtungen <strong>–</strong> die Begriffsgeschichte des öffentlichen Raums relevant,<br />

da der Fokus dieser Untersuchung auf Projekten liegt, die in direkter Traditionslinie<br />

von <strong>Kunst</strong> im öffentlichen Raum zu verstehen sind, einem Sammelbegriff,<br />

der im englischsprachigen Raum meist unter (New Genre) Public Art firmiert.<br />

19 Der<br />

Begriff der<br />

Kompliz*innen<br />

wird hier in<br />

Bezug auf die<br />

von Gesa Ziemer<br />

entwickelte<br />

Theorie der<br />

Komplizenschaft<br />

verwendet. Ziemer<br />

beschreibt<br />

mit diesem<br />

Terminus eine<br />

Beziehung, die<br />

unterschiedliche<br />

Akteure handlungsorientiert<br />

verbindet (vgl.<br />

Ziemer 2013).<br />

20 Die Ausführungen<br />

beziehen<br />

sich hierbei<br />

hauptsächlich<br />

auf die Entwicklungen<br />

und<br />

entsprechenden<br />

Diskurse in<br />

Europa und<br />

Nordamerika.<br />

Vor allem in Südamerika<br />

gibt es<br />

eine ganz eigene<br />

Tradition partizipativer<br />

Praktiken<br />

in der <strong>Kunst</strong>.<br />

Als „neu“ galt für die <strong>Kunst</strong> im öffentlichen Raum in den 1990er Jahren im Vergleich<br />

zur skulptural manifestierten <strong>Kunst</strong> am Bau der 1960er und 1970er Jahre vor allem<br />

der soziale und interaktive Charakter der Arbeiten. So definiert Suzanne Lacy (in<br />

ihrem 1996 genreprägenden Buch Mapping the Terrain: New Genre Public Art) die<br />

künstlerischen Projekte des neuen Genres <strong>als</strong> sozial engagiert und interaktiv mit<br />

Bezügen zu sozialem Aktivismus und grenzt sie stark von der bis dato im öffentlichen<br />

Raum dominierenden bildlichen oder skulpturalen <strong>Kunst</strong> ab, da der Fokus<br />

nun auf Interaktion und Kontaktnahme lag (vgl.: Lacy 1996: 28).<br />

Die starke Zunahme dieser meist partizipativen Arbeiten im Bereich der <strong>Kunst</strong> im<br />

öffentlichen Raum in den 1990er Jahren führte analog auch zu einer intensiven<br />

wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem deutlichen Trend. Vor allem in<br />

25


Abbildung 10<br />

Abbildung 11<br />

Abbildung 12<br />

44


Abbildung<br />

13: Schlimmcity<br />

- Ein Stadtspiel<br />

in Realversion.<br />

Ringlokschuppen<br />

Ruhr. Foto:<br />

Stephan Glagla.<br />

Abbildung 13<br />

Künstlerische Praxis <strong>als</strong> Akupunktur, <strong>als</strong> minimal invasiver Eingriff, um Denkanstöße<br />

zu liefern dieses Bild urbaner <strong>Kunst</strong> war zumindest in Mühlheim beeindruckend<br />

erfolgreich, denn das Ergebnis war über den temporären Perspektivwechsel hinaus<br />

die Etablierung der Dezentrale, die nun <strong>als</strong> neuer innerstädtischer Ort für ganz unterschiedliche<br />

soziale und kulturelle Aktivitäten diverser Bevölkerungsgruppen von<br />

der Stadt weiterbetrieben wird.<br />

Dass sich in Bezug auf die hier untersuchten Arbeiten besser von urbaner denn<br />

von öffentlicher <strong>Kunst</strong> sprechen lässt, zeigt nicht nur die Diffusion des öffentlichen<br />

mit dem privatem Raum: Ein Kennzeichen für Urbanität ist die distanzierte Begegnung<br />

mit dem Fremden, eine Wahrnehmung von Differenz: „Urbanität beinhaltet,<br />

dass es im städtischen Raum zur Begegnung und Konfrontation von sozialen Gegensätzen,<br />

<strong>als</strong>o zur Wahrnehmung (und damit auch zur Sozialisierung im Umgang<br />

mit) gesellschaftlicher Heterogenität kommt“ (Neméth 2009: 2463; Klamt 2012:<br />

786). Die Begegnung mit Anderen eröffnet so einen neuen Raum: „Als Reflexionsund<br />

Gesprächsangebote eröffnen <strong>Kunst</strong>projekte einen anderen Blick auf die Stadt<br />

und bringen Ideen, Anregungen, Kommentare oder Entwürfe zu alternativen Stadtnutzungen<br />

und möglichen Entwicklungen des urbanen Gemeinwesens in zentrale<br />

städtische Räume ein“ (Hildebrandt 2012: 722). Für das Erkenntnisinteresse dieser<br />

Arbeit kommt dieser Tatsache elementare Bedeutung zu. Wenn ein Hauptmerkmal<br />

urbanen Lebens in eben jener distanzierten Begegnung mit dem Fremden, kultureller<br />

Dichte und der Wahrnehmung von Differenz liegt (Simmel 1984), dann ermöglicht<br />

urbane <strong>Kunst</strong> ein In-Beziehung-Treten mit diesem Fremden.<br />

Dass künstlerische Praxen, die über Gesprächsangebote auf das Herstellen von<br />

Begegnungen zielen, in einer langen Tradition zu sehen sind, wird im Folgenden<br />

gezeigt.<br />

45


57 www.disziplinaeregrenzgaenge.de<br />

(Letzter<br />

Zugriff: 22.02.17).<br />

DIE KUNST DER SCHNITTSTELLEN<br />

„Die Gestaltung von Lebensraum gehört seit jeher zum Aufgabengebiet<br />

der <strong>Kunst</strong> <strong>–</strong> heute werden nicht nur Oberflächen, sondern Lebens- und<br />

Überlebensbedingungen gestaltet“ (Voigt 2015a: 56).<br />

Wenn mit künstlerischer Praxis nicht mehr nur Fragen gestellt werden,<br />

sondern es auch darum geht, konkrete Lösungsansätze zu<br />

finden und zu testen, wenn <strong>Kunst</strong> zu einer handelnden und damit intervenierenden<br />

Praxis in ganz konkreten gesellschaftlichen Kontexten wird, dann interferiert<br />

sie automatisch mit anderen Bereichen. Im Zentrum dieses Kapitels stehen Herausforderungen<br />

und Chancen, die durch diese Interferenzen von künstlerischer<br />

Praxis an den Schnittstellen zu Aktivismus, sozialer Arbeit und <strong>Stadtgestaltung</strong> entstehen.<br />

Wie Schnittstellenarbeit wirklich produktiv funktionieren kann, ist dabei die<br />

forschungsleitende Frage. Aber was zeichnet eine Schnittstelle überhaupt aus?<br />

Die Bewegung an den Grenzen und Übergängen wird in dieser Forschung unter<br />

dem Begriff der Schnittstelle adressiert. Voraussetzung hierfür ist zunächst eine<br />

Unterteilung in verschiedene (beispielweise) fachliche, ästhetische oder auch gesellschaftspolitische<br />

Bereiche. Die unterteilten oder auch abgegrenzten Bereiche<br />

berühren sich dann wieder in den Schnittstellen geteilter Ambitionen. „Die Zwischenräume<br />

und Nischen können zu Schnittstellen werden und <strong>als</strong> Möglichkeit des<br />

Austauschs inter- und transdisziplinäre Plattformen bilden.“ 57<br />

Die teils sehr unterschiedlichen Definitionen von Schnittstellen <strong>–</strong> einem Terminus,<br />

der in diversen Professionen Verwendung findet (jüngst vor allem im IT Bereich<br />

<strong>als</strong> Interface) <strong>–</strong> haben einen für die Fragestellung dieser Arbeit wesentlichen Punkt<br />

gemeinsam: Eine Schnittstelle stellt immer Kontakt her, sie schafft dadurch eine<br />

Berührung von unterschiedlichen Ebenen oder Bereichen und steuert oder initiiert<br />

so innovative Prozesse und gestaltet andere Beziehungen. Wie genau diese anderen<br />

Beziehungen gestaltet sind, welche neue Professionen hier entstehen und<br />

welche Verschiebungen damit verbunden sind, ist für die forschungsleitende Frage<br />

nach der Rolle der <strong>Kunst</strong> in kollaborativen Prozessen der <strong>Stadtgestaltung</strong> elementar,<br />

denn hier werden zentrale Charakteristika für eine Definition von Schnittstellen<br />

offenbar, auf die diese Analyse unter anderem zielt.<br />

Im letzten Kapitel wurde gezeigt, dass die Veränderung des Selbstverständnisses<br />

sowie der Tätigkeitsfelder von Künstler*innen ein fortlaufender Prozess ist, der<br />

immer gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen korrespondiert. Dieses Selbstver-<br />

76


ständnis steht somit auch in direkter Verbindung zu Veränderungen in anderen<br />

Berufsgruppen und Disziplinen.<br />

Ein grundlegender Ausgangspunkt dieser Forschung ist dabei die Beobachtung,<br />

dass die Hinterfragung von individuellen wie repräsentativen Rollen nicht nur im<br />

<strong>Kunst</strong>feld zusehends an Fahrt aufnimmt. Dass das Umdenken, das Neudenken von<br />

Professionen und Arbeitsfeldern Konjunktur hat, lässt sich beispielsweise an diversen<br />

Veranstaltungen (mit ganz unterschiedlichen Hintergründen) der jüngsten Vergangenheit<br />

zeigen. Sei dies bei dem von der Stadtplanung der HafenCity Universität<br />

im Sommer 2016 initiierten Symposium Disziplinäre Grenzgänge, das mit einem<br />

Perspektivwechsel nach neuen Arbeitsfeldern in Stadtplanung und Stadtforschung<br />

fragte, bei dem im Herbst 2016 <strong>statt</strong>gefundenen Urbanize Festival der Stadtforschungszeitschrift<br />

Dérive, dem diskursiven Festival Theater und Aktion, veranstaltet<br />

am Schauspiel Dortmund im Herbst 2015, dem österreichischen Festival Steirischer<br />

Herbst 2012 mit einem Marathon Camp zu künstlerischen Strategien in der Politik<br />

und politischen Strategien in der <strong>Kunst</strong> oder des im Rahmen des Darmstädter<br />

Architektursommers 2014 <strong>statt</strong>gefundenen Symposiums Stadt <strong>als</strong> <strong>Handlung</strong>sraum,<br />

bei dem ein neues Experimentierfeld urbaner Möglichkeiten vor allem auch hinsichtlich<br />

neuer Professionen ausgemacht wurde. 58 Allen diese Veranstaltungen ist<br />

gemeinsam, dass die Veränderung bzw. Verschiebung der sie kennzeichnenden<br />

<strong>Handlung</strong>sfelder hin zu anderen Bereichen so spürbar geworden schien, dass es<br />

einer entsprechenden öffentlichen und/oder akademischen Reflektion bedurfte.<br />

Sie alle eint damit die Diskussion einer deutlichen Bewegung an den Rändern und<br />

Übergängen und damit die Thematisierung von Schnittstellen.<br />

58 http://www.<br />

osthang-project.<br />

org/kalender/<br />

symposiumstadt-<strong>als</strong>-handlungsraum-12/<br />

(Letzter Zugriff<br />

03.04.17).<br />

HYBRIDE ROLLEN<br />

„Ist es nicht die Kreuzung der Felder zu einer neuen Disziplin, die wirkliche<br />

Innovation erwarten lässt?“ (Rajakovics 2015: 139).<br />

Diese Beispiele zeigen bereits eindrücklich, dass tradierte Rollenmuster in jüngster<br />

Vergangenheit offensichtlich in unterschiedlichen Fachbereichen in Frage<br />

gestellt werden. Es kommt zu <strong>Verhandlung</strong>en disziplinärer Zuständigkeiten:<br />

Architekt*innen, Künstler*innen, Stadtplaner*innen und Aktivist*innen werden<br />

zu Moderator*innen in städtischen Gestaltungsprozessen. Theater, Museen und<br />

andere kulturelle Institutionen führen Stadtprojekte durch, Künstler*innen agieren<br />

<strong>als</strong> Stadtentwickler*innen oder vice versa, Kurator*innen kuratieren Stadt und<br />

nicht mehr nur <strong>Kunst</strong>, Künstler*innen agieren <strong>als</strong> Sozialarbeiter*innen, politische<br />

Aktivisten*innen werden mit künstlerischen Auszeichnungen bedacht usw. Sehr<br />

unterschiedliche Akteure werden so zu Moderator*innen, Organisator*innen und<br />

Initiator*innen in urbanen Entwicklungsprozessen jenseits disziplinärer Zuschrei-<br />

77


FORGET FEAR 2012<br />

Aus der Perspektive der Aktivist*innen ist vor allem die im Grundgesetz festgeschriebene<br />

<strong>Kunst</strong>freiheit für ihre Arbeit interessant, denn sie bietet einen erweiterten<br />

<strong>Handlung</strong>srahmen für Aktivitäten an der Grenze zum Illegalen. Dieses<br />

Grundrecht der Freiheit der <strong>Kunst</strong> ist in den Verfassungen zahlreicher Länder fest<br />

verankert: „Wenn es darum geht, Risiken einzugehen, gibt es einen großen Unterschied<br />

zwischen der Welt der <strong>Kunst</strong> und der Welt draußen. Wenn man in der Welt<br />

der <strong>Kunst</strong> provoziert, Regeln missachtet, Grenzen überschreitet, den Kanon hinterfragt,<br />

wird man entdeckt, belohnt, bejubelt. Wenn man in der wirklichen Welt<br />

die sozialen Grenzen verletzt, wird man marginalisiert, bewacht, inhaftiert“ (Jordon<br />

2002: 348). Dies ein Zitat des britischen <strong>Kunst</strong>aktivisten John Jordon, der auf Grund<br />

seiner jahrzehntelangen artivistischen Praxis <strong>als</strong> ‚alter Hase’ des kreativen Widerstands<br />

gelten kann. Er ist langjähriges Mitglied des <strong>Kunst</strong>aktivisten-Kollektivs Laboratory<br />

of Insurrectionary Imagination (The Labofii i) und Mitgründer des globalen<br />

Mime Netzwerks Clandestine Insurgent Rebel Clown Army, auf deren Protestkultur<br />

in Clownkostümen sich das diesem Kapitel vorangestellte Zitat bezieht. In Hamburg<br />

gab er beispielsweise im Rahmen der Sommerakademie Performing Politics 2010<br />

Workshops, in denen Schwarmintelligenz <strong>als</strong> Tool zur Intervention im urbanen<br />

Raum entwickelt wurde. Diese nutzt Jordan vor allem im Rahmen von Fahrradinterventionen<br />

in Städten, so geschehen u. a. beim Klimagipfel in Kopenhagen.<br />

Bereits in den Namen dieser Gruppen finden sich Hinweise auf Methoden, die die<br />

Schnittstelle von <strong>Kunst</strong> und Aktivismus auszeichnen. Denn sowohl die ‚Aufständische<br />

Imagination’, im Sinne einer konträren Wirklichkeitsbehauptung, <strong>als</strong> auch die<br />

heimlichen (clandestinen) Rebellen verweisen auf eine kreative Vorstellungskraft<br />

des scheinbar Unmöglichen und den Entzug der Festschreibung durch eine Verunsicherung<br />

des vermeintlich Offensichtlichen, die uns in anderen explizit künstlerischen<br />

Arbeiten <strong>als</strong> reale Fiktionen wieder begegnen werden.<br />

In den letzten Jahren ist es <strong>–</strong> politisch flankiert von der weltweiten Ausbreitung der<br />

Occupy Bewegung und der Aufbruchsstimmung des so gennannten arabischen<br />

Frühlings <strong>–</strong> zu einer deutlichen Manifestation vordergründig aktivistischer Formate<br />

im <strong>Kunst</strong>feld gekommen (vgl. Kastner 2015). „Auf den internationalen Großausstellungen<br />

überbieten sich aufklärerisch-dokumentarische oder auch einnehmend<br />

attraktive <strong>Kunst</strong>werke geradezu darin, ‚Machtverhältnisse zu thematisieren’, ‚Verstrickungen<br />

zu enthüllen’, und ‚Ungerechtigkeiten zu kritisieren’. Zugleich ‚intervenieren’<br />

auf Publikumsbeteiligung abzielende künstlerische Aktionen direkt mikropolitisch,<br />

indem sie Orte für Auseinandersetzung, Engagement und Subversion<br />

‚realisieren’“ (Emmerling/Kleesattel 2016: 11). Zu nennen wären hier unter vielen<br />

anderen die Istanbul Biennale What Keeps Mankind Alive? von 2009, die Internationale<br />

Sommerakademie auf Kampnagel in Hamburg 2010 zum Thema Performing<br />

Politics, die Documenta 2012 unter dem Motto Zerstörung und Wiederaufbau, der<br />

bereits eingangs erwähnte Steirische Herbst 2012 mit dem Titel Truth is Concrete<br />

88


und die Berlin Biennale Forget Fear im selben Jahr. Letztere, kuratiert von Artur<br />

Zmijewski, äußerte den Anspruch einer direkten gesellschaftlichen Wirksamkeit von<br />

<strong>Kunst</strong> in dem bekannt klingenden Konzept, „die <strong>Kunst</strong> müsse in der Wirklichkeit<br />

aufgehen“, wohl am radik<strong>als</strong>ten. Zmijewski lud zu der Ausstellung unter anderen<br />

den Künstler Martin Zet ein, der in einer symbolischen Aktion das Sarrazin-Buch<br />

Deutschland schafft sich ab von seinen Leser*innen zurückforderte und plante, die<br />

Exemplare anschließend zu verbrennen. Occupy Aktivist*innen zelteten im Ausstellungshaus<br />

und verteilten Flugblätter, der Künstler Khaled Jarrar stempelte Interessierten<br />

den State of Palestine in den Pass, in der Installation New World Summit<br />

von Jonas Staal wurden Fahnen von Organisationen wie der FARC, von Al Qaida,<br />

der Real IRA und anderen Organisationen gesammelt, die laut Faltblatt „durch ein<br />

intransparentes Verfahren zu Terrororganisationen gestempelt würden“. In dem<br />

Projekt Berlin-Birkenau von Lukasz Surowiec wurden die Besucher zum Mitnehmen<br />

von eingetopften Birkensetzlingen aus Auschwitz-Birkenau aufgefordert.<br />

Schon im Vorfeld wurde befürchtet, dass die Direktheit der politischen Agitation im<br />

Biennale-Rummel nur noch <strong>als</strong> Banalität erscheinen würde (vgl. Gohlke 2012). Und<br />

auch in Bezug auf die Qualitäten der <strong>Kunst</strong> blieb zumindest in einem Schillerschen<br />

Verständnis in Berlin scheinbar nicht mehr viel übrig: „Die <strong>Kunst</strong> verordnet nicht,<br />

sie lädt ein, zum Ernst und zum Spiele, zur Ruhe und zur Bewegung, zur Nachgiebigkeit<br />

und zum Widerstand, zum abstrakten Denken und zur Anschauung“ (zitiert<br />

nach Rauterberg 2012: o. S). Viele Besucher*innen fühlten sich weniger eingeladen<br />

denn belehrt, und so zielte die Kritik der Presse in summa auch auf eben jene fehlende<br />

Freiheit der <strong>Kunst</strong> im Sinne einer produktiven Uneindeutigkeit ab, die auf<br />

Kosten klarer politischer Aussagen nicht mehr vorhanden schien: „Bisher hat die<br />

Bewusstseinswerk<strong>statt</strong> der Berlin Biennale vor allem den Widerspruch der Sachverständigen<br />

gegen die Einfachheit einer Künstlervision provoziert. Im schlimmsten<br />

Fall wäre Żmijewskis Trotz das wichtigste <strong>Kunst</strong>werk der Biennale“ (Gohlke 2012: o.<br />

S.). Bereits Walter Benjamin thematisiert in seinem Vortrag Der Autor <strong>als</strong> Produzent<br />

(1934) die Falle politischer Zweckmäßigkeit, die auf Kosten der Beurteilung eines<br />

<strong>Kunst</strong>werkes nach seiner künstlerischen Qualität ginge.<br />

Feinheiten schienen zumindest den Kritiker*innen in Berlin völlig in aktivistischen<br />

Forderungen und Belehrungen aufgegangen zu sein, Zwischentöne wären kaum<br />

zu finden und auch nicht erwünscht, so die Kritik. Dass dies bewusstes Programm<br />

und nicht Problem des kuratorischen Konzeptes sein sollte, ließ das Statement<br />

von Oleg Vorotnikov und Natalya Sokol, der <strong>als</strong> Ko-Kuratoren assoziierten <strong>Kunst</strong>-<br />

Aktivisten der russischen Gruppe Voina, bereits im Vorfeld der Ausstellung vermuten:<br />

„Alles was keine Politik ist, ist keine <strong>Kunst</strong>, sondern nur eine tote Vogelscheuche,<br />

gefüllt mit Scheiße und Reflexion“ (zitiert nach Rauterberg 2012: o. S.). 67 Viele<br />

Journalist*innen und Besucher*innen waren sich in ihrem Urteil erstaunlich einig,<br />

die Biennale galt den meisten <strong>als</strong> gescheitert.<br />

67 Die 2007<br />

gegründete russische<br />

Gruppe<br />

Voina (Krieg) verfolgte<br />

ein ganz<br />

klares politisches<br />

Ziel. Ihr Name ist<br />

dabei durchaus<br />

programmatisch<br />

zu sehen, denn<br />

sie wollten den<br />

Staat auflösen.<br />

Die Co-Kuratoren<br />

der Berlin<br />

Biennale werden<br />

in Russland<br />

mit Haftbefehl<br />

gesucht und<br />

nomadieren<br />

seither vor allem<br />

in Deutschland<br />

und der Schweiz.<br />

Aktiv sind sie<br />

seit mehreren<br />

Jahren nicht<br />

mehr. Während<br />

die Gruppe Voina<br />

sich inzwischen<br />

zerstritten und<br />

aufgelöst hat,<br />

gründeten zwei<br />

der Ex- Mitglieder<br />

2011 Pussy Riot.<br />

89


76 Die folgenden<br />

Überlegungen<br />

zur Arbeit des<br />

Performancekollektivs<br />

geheimagentur in<br />

Oberhausen basieren<br />

auf einer<br />

<strong>gemeinsame</strong>n<br />

Forschung mit<br />

Vanessa Weber.<br />

Unter dem Titel:<br />

„Zirkularität der<br />

<strong>Kunst</strong>. Künstlerische<br />

Praxis <strong>als</strong><br />

Überschreibung<br />

des städtischen<br />

Raums“ sind die<br />

hier vorgestellten<br />

Ergebnisse 2016<br />

bereits in dem<br />

Sammelband<br />

Ästhetische Praxis<br />

erschienen.<br />

(vgl. Kauppert<br />

2016; Berger/<br />

Weber 2016).<br />

KUNST ALS ÜBERSCHREIBUNG DES<br />

STÄDTISCHEN RAUMS 76<br />

Seit 2002 initiiert die geheimagentur temporäre Projekte in Oberhausen. Hierzu<br />

gehören u.a. Bank of Burning Money, die Wunder-Annahmestelle, die Alibi-Agentur<br />

oder das Tourismus-Art-Stipendienprogramm. Häufig lassen diese Arbeiten den<br />

Aufführungsrahmen des Theaters hinter sich und entziehen sich gezielt Genrezuschreibungen.<br />

Zentraler Hintergrund für die Arbeit des Kollektivs ist die Frage, wie<br />

weit im Spiel mit Realität gegangen werden kann. Das Changieren zwischen Realität<br />

und Fiktion zeichnet die Arbeiten aus, die auf einer Kreuzung aus artifiziellem und<br />

realem Setting basieren und mit Vorstellungen von Wirklichkeit spielen. 77<br />

77 Einen guten<br />

Überblick über<br />

den philosophischen<br />

Diskurs<br />

zum Wirklichkeitsbegriff<br />

aus<br />

theaterwissenschaftlicher<br />

Perspektive<br />

liefern Kathrin<br />

Tiedemann und<br />

Frank Raddatz in<br />

ihren Anthologien<br />

Reality Strikes<br />

Back I (2007)<br />

und II (2015).<br />

Abbildung 17:<br />

Schwarzbank:<br />

Kohle für alle!<br />

(2012). Foto:<br />

geheimagentur.<br />

78 Eine Dokumentation<br />

der<br />

Arbeiten findet<br />

sich auf dem<br />

Blog http://www.<br />

geheimagentur.<br />

net. (Letzter<br />

Zugriff 15.11.16).<br />

Abbildung 17<br />

Oberhausen war in den vergangenen Jahren immer wieder <strong>Handlung</strong>s- und Spielort<br />

für die Gruppe. Beginnend mit dem Projekt Get Away!, einer Auswanderungs-<br />

Beratungsstelle im Jahr 2010 in der Oberhausener Innenstadt, setzte sich die Auseinandersetzung<br />

mit der Stadt Oberhausen und ihren Bewohner*innen in einer<br />

Serie fort. Es folgten die Projekte: Schwarzbank: Kohle für alle! (2012), das Wettbüro:<br />

alles oder alles! (2013), die Factory (2014) sowie jüngst das Lecture Musical Sweat<br />

Shop u. a. mit dem Song Du bist der Leerstand in mir (2015), die <strong>als</strong> ortsspezifische<br />

Projekte in direktem Zusammenhang mit der Stadt Oberhausen stehen. 78 Einer<br />

Stadt, die mit diversen Problemen zu kämpfen hat: Sie liegt nicht nur in einer der<br />

strukturschwächsten Regionen Deutschlands, sondern gilt <strong>als</strong> Deutschlands am<br />

höchsten verschuldete Stadt.<br />

102


Der Ruf Oberhausens lässt sich auch durch die mediale Berichter<strong>statt</strong>ung <strong>als</strong> berüchtigt<br />

bezeichnen, wie unlängst ein großer Leitartikel in der Süddeutschen Zeitung<br />

belegte. „Letzter in der Städtetabelle ist regelmäßig Oberhausen, das schon<br />

verschiedene Titel für sich in Anspruch nehmen konnte: die am höchsten verschuldete<br />

Stadt Deutschlands; das deutsche Detroit; einzige Großstadt ohne Hochschule.<br />

Und erst vor wenigen Tagen hinzugekommen: ungesündeste Stadt Deutschlands.“<br />

79<br />

PERFORMATIVE ÜBERSCHREIBUNG ALS<br />

SICHTBARMACHUNG VON MÖGLICHKEITEN<br />

79 „2 Wochen<br />

in Oberhausen<br />

-Wat willste.“<br />

Über: http://<br />

www.sueddeutsche.de/politik/<br />

zwei-wochen-inoberhausen-watwillste-1.3127341<br />

(Letzter Zugriff<br />

15.11.16).<br />

80 Zur Doppelpass-Förderung<br />

Vergleiche<br />

Anmerkung 6.<br />

Die interventionistischen Arbeiten der „Oberhausen-Serie“ sind von der Kulturstiftung<br />

des Bundes geförderte Kooperationen des Stadttheaters Oberhausen mit<br />

der geheimagentur. 80 Prozesse wie Abwanderung und damit einhergehend eine<br />

Schrumpfung von Stadt und Steuereinnahmen sind auch für das städtische Theater<br />

ein existentielles Problem. Den schwindenden Besucherzahlen versucht das<br />

Theater mit diversen Strategien zu begegnen, aber auch der in türkischer Sprache<br />

inszenierte Faust mit dem „aus Film und Fernsehen bekannten türkischen Darsteller<br />

Haydar Zorlu und diverse Aktivitäten über Migrantenorganisationen und Kontakt<br />

zu den Communities“ (Carp 2011: 30) führen nicht zu dem gewünschten Zuschauer-Anstieg.<br />

Die Hoffnung richtet sich auf Hilfe von außen: „Wir müssen durch<br />

eine permanente Selbsterneuerung und Selbsterfindung das Theater [...] wieder in<br />

die Gegenwart holen [...]“ (ebd.). Die Suche nach neuen Verbindungen und Kooperationen<br />

ist Ausdruck für die Dringlichkeit einer Selbsterneuerung, um das eigene<br />

Fortbestehen zu garantieren: So können unabhängige Künstler*innen innovative<br />

Formate erproben, was Theatern, die von städtischen Subventionen abhängen, in<br />

weitaus geringerem Ausmaß möglich ist, zumal freie Gruppen insbesondere durch<br />

den Auszug aus der materiellen Rahmung des Theaters legitimiert sind. Dieses Potential<br />

wurde in Oberhausen vom Theater anvisiert, wenn Peter Carp (Carp 2011:<br />

30) formuliert: „Wir müssen uns öffnen. Wir müssen voneinander lernen. Wir müssen<br />

die Grenzen sowohl für die Künstler <strong>als</strong> auch für das Publikum sprengen.“ Die<br />

Kooperation eines Stadttheaters mit einer Gruppe der freien Szene steht vor allem<br />

für eine Öffnung des Theaters hin zu seinem Außen. „Und dieses Außen lässt sich<br />

einerseits <strong>als</strong> eine Öffnung zum Stadtraum verstehen, andererseits aber auch <strong>als</strong><br />

Öffnung zu neuen Ästhetiken und Spielarten sowie zur direkten Auseinandersetzung<br />

mit gesellschaftspolitisch relevanten Themen. Es beschreibt das Sich-Einlassen<br />

auf neue, ungewohnte Allianzen des Theaters mit der Stadtbevölkerung, welche<br />

umgekehrt erfährt, dass das Konzept Theater ihnen aufgrund der theatralen<br />

Interventionen der freien Szene in ihre Alltagswelt eine andere Lesart abverlangt“.<br />

(Berger/Weber 2016: 135f). Die erste Arbeit Get Away sollte <strong>als</strong> Auftragsarbeit des<br />

Theaters Migration und Zukunft thematisieren. Sehr geschickt entzog sich das Kollektiv<br />

dieser Dienstleistungsvorstellung, indem es die Problematik ironisch verkehr-<br />

103


Abbildung<br />

23: Christoph<br />

Schlingensief bei<br />

einer Ankündigung<br />

vor dem<br />

Container. Foto:<br />

David Baltzer/<br />

bildbuehne.de<br />

Abbildung 23<br />

Blick auf den zunehmenden Einfluss rechts-populistischer Parteien in ganz Europa<br />

und der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA auf extrem erschreckende<br />

Weise zeitgemäßer denn je.<br />

Im Jahr 2000 hatte der damalige österreichische Kanzler Wolfgang Schüssel gerade<br />

ein Bündnis mit dem rechtspopulistischen FPÖ Chef Jörg Haider geschlossen, und<br />

die Stimmung in Österreich tendierte zu einer radikalen Verschärfung der Einwanderungspolitik.<br />

Unter einem riesigen Banner mit der Aufschrift „Ausländer raus!“<br />

installierte Schlingensief während der Wiener Festwochen einen Wohncontainer im<br />

‚Herzen’ Wiens (direkt neben der Staatsoper) und ließ in einem dem Big Brother-<br />

TV-Format nachempfundenen Setting Immigrant*innen gegeneinander um ihr Bleiberecht<br />

antreten.<br />

Auf dem Dach des Containers wurden Fahnen der FPÖ gehisst, und Ausschnitte<br />

aus Reden von Jörg Haider beschallten den Platz. Ein Logo der Wiener Kronenzeitung<br />

wurde an dem Container angebracht. Die Zuschauer*innen konnten die Show<br />

über CCTV im Internet verfolgen und täglich online oder via Telefon eine weitere<br />

Person „rauswählen“ und damit abschieben lassen. Wer am Ende übrig blieb, sollte<br />

Geld gewinnen und, falls sich Freiwillige fänden, eine Einheirat in die österreichische<br />

Wahlheimat möglich werden. Mediale sowie Reaktionen von Zuschauer*innen<br />

waren teilweise erschreckend, da sie das Setting <strong>als</strong> positiv lobten. Schlingensiefs<br />

Interesse galt vor allem dem Moment, in dem ein solches Setting glaubhaft und<br />

112


93 http://www.<br />

schlingensief.<br />

com/downloads/<br />

schlinge_sloterdijk_wien.pdf<br />

(Letzter Zugriff<br />

16.05.17).<br />

Abbildung 24:<br />

Herbert-von-Karajan-Platz,<br />

Wien<br />

mit Container<br />

im Hintergrund,<br />

Foto: David<br />

Baltzer/bildbuehne.de<br />

Abbildung 24<br />

damit zu einem politischen Thema wird. 93 Seine ‚Spiegeltechnik’ zielte vor allem auf<br />

die Verwischung der Eindeutigkeit und damit auf das Spiel mit der Frage, was in<br />

dieser Performance echt und was gespielt war. Der Status der Immigrant*innen<br />

blieb dabei genauso unklar wie die Frage, ob es sich überhaupt um echte<br />

Asylbewerber*innen oder aber um Schauspieler*innen handelte, und teilweise<br />

schien auf Grund sprachlicher Hürden auch noch unklar, ob die Menschen überhaupt<br />

verstanden, was dort verhandelt wurde.<br />

Diese Form der Überhöhung der Wirklichkeit <strong>als</strong> künstlerische Intervention, die<br />

nicht <strong>als</strong> solche erkennbar ist, ließe sich auch <strong>als</strong> Taktik der Ambivalenz beschreiben,<br />

denn das Spiel mit der Realität wurde für die Bevölkerung zu keinem Zeitpunkt<br />

offiziell aufgelöst. Christoph Schlingensief ging es vor allem darum, starke Bilder zu<br />

produzieren und die Menschen mit dem Spiegelbild einer Wirklichkeit zu konfrontieren,<br />

die fernab von den repräsentativen Bauten unter der Oberfläche rumort:<br />

„Also die Frage nach dem Was für ein Bild kann ich denn überhaupt hinsetzen, um<br />

jetzt zu sagen wir müssen diese Welt besser machen. Was ist da überhaupt besser<br />

zu machen? Was für ein Bild muss jetzt gebaut werden, damit man sieht, Österreich<br />

ist verloren. Oder solche Sachen. Und genau da war jetzt der Reflektionsgrad einer<br />

Oberfläche, eine Oberfläche der Schönheit, Wien, Kärntnerstraße, Stephansdom,<br />

es ist da, wo die Touris ankommen, es ist da, wo man einsteigt, und dann rumfährt,<br />

die Überreste der Vergangenheit anschaut. Genau an der Stelle wird das andere<br />

113


104 http://<br />

grandhotel-cosmopolis.org/de/<br />

konzept/ (Letzter<br />

Zugriff 22.02.17).<br />

105 Die Engagierten<br />

nennen<br />

sich Hoteliers,<br />

rote Concierge-<br />

Kostüme mit goldenen<br />

Knöpfen<br />

gehören bei offiziellen<br />

Anlässen<br />

zur Aus<strong>statt</strong>ung.<br />

SOZIALE PLASTIK ODER SOZIALE PRAXIS?<br />

„Eine soziale Plastik in Augsburgs Herzen“ <strong>–</strong> Grandhotel Cosmopolis. 104<br />

Mit einer ähnlich praktischen Orientierung arbeitet auch die Augsburger Initiative<br />

Grandhotel Cosmopolis. Mitten im Augsburger Zentrum gelang es einer Gruppe<br />

von überwiegend jungen Künstler*innen, ein leerstehendes ehemaliges Seniorenheim<br />

zu einem multifunktionalen, künstlerisch gestalteten Hotel für Menschen mit<br />

und ohne Asyl umzugestalten.<br />

Die Diakonie, der das Gebäude gehört, ließ sich auf das Experiment ein, finanzierte<br />

den Umbau vor und übernahm die Flüchtlingsberatung. Die Stadt Schwaben mietete<br />

die Räume für die Unterbringung der Geflüchteten dann im nächsten Schritt von<br />

der Diakonie. Über ein Jahr lang renovierten die Künstler*innen (unentgeltlich) das<br />

Haus und traten von vornherein, mehr <strong>als</strong> ein Jahr vor der Inbetriebnahme, in einen<br />

intensiven Dialog mit der Nachbarschaft und versuchten Vorurteile zu thematisieren.<br />

Die einladende, offene Haltung, die Gesprächssuche, die Veranstaltungen, das<br />

Performen und Verkleiden 105 zeigte Wirkung: Auch die Nachbarschaft begann sich<br />

zu engagieren, spendete Inventar, wurde Teil des Projektes: „Ein gesellschaftliches<br />

Gesamtkunstwerk“ nennen es die Initiator*innen und beziehen sich ganz explizit<br />

auf Joseph Beuys’ Begriff einer sozialen Plastik.<br />

JOSEPH BEUYS’ BEGRIFF SOZIALE PLASTIK<br />

Die Idee der sozialen Plastik äußerte Beuys erstm<strong>als</strong> 1967. Die soziale Plastik (auch<br />

soziale Skulptur) war für ihn Kernstück seines erweiterten <strong>Kunst</strong>begriffs. Die in diesem<br />

Kontext geäußerte Formel „Jeder Mensch ist ein Künstler“ wurde in der Rezeption<br />

häufig zusammenhanglos und damit missverständlich zitiert. Denn diese<br />

Aussage ist nicht trennbar von Beuys‘ Vorstellung, dass jeder Mensch einen sinnvollen<br />

Beitrag zur gesellschaftlichen Veränderung leisten könne. Es ging hier explizit<br />

nicht um das Schaffen von manifestierten Werken, sondern um die Möglichkeit der<br />

kreativen Gestaltung insbesondere von Wirtschaft und Politik und damit um die<br />

Einflussnahme auf gesellschaftliche Strukturen für jeden Einzelnen: „Alle Fragen<br />

der Menschen können nur Fragen der Gestaltung sein, und das ist der totalisierte<br />

<strong>Kunst</strong>begriff. Er bezieht sich auf jedermanns Möglichkeit, prinzipiell ein schöpferisches<br />

Wesen zu sein und auf die Fragen des sozialen Ganzen“ (Beuys, zitiert nach<br />

Seidel 2007: 268). Für Beuys war mit dieser Vorstellung auch die entsprechende<br />

Verantwortung verbunden, aktiver Teil dieser gesellschaftlichen Veränderung zu<br />

werden. Kurz vor seinem Tod machte er dies in seiner Münchner Rede ganz explizit<br />

<strong>als</strong> Aufruf zur „Umgestaltung des Sozial-Leibes, an dem nicht nur jeder Mensch<br />

teilnehmen kann, sondern sogar teilnehmen muss, damit wir möglichst schnell die<br />

Transformation vollziehen“ (Beuys, zitiert nach Seidel 2007: 268). Beuys selbst verfolgte<br />

dieses Gestaltungspotential z. B. mit seiner Kandidatur für die Grünen und<br />

124


das Europaparlament 1979. Bereits sieben Jahre zuvor hatte er auf der documenta<br />

5 die Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung vorgestellt, die<br />

Deutsche Studentenpartei gegründet und mit der Freien internationalen Universität<br />

(FIU) auch versucht, sich in ein verändertes Bildungswesen einzubringen, nachdem<br />

er 1971 im Bereich Bildung bereits ein deutliches Zeichen gesetzt und 142 abgewiesene<br />

Studierende in seine Klasse aufgenommen hatte.<br />

Die Stadt Hamburg verpasste die Chance, Joseph Beuys’ Gesamtkunstwerk Freie<br />

und Hansestadt Hamburg zu realisieren, nachdem die Projektidee <strong>–</strong> eine Renaturierung<br />

der stark mit Schwermetall verseuchten Spülfelder in Altenwerder durch das<br />

Pflanzen schnellwachsender Organismen <strong>–</strong> der Hamburger Bürgerschaft zu teuer<br />

erschien. Beuys hatte die Ausschreibung im Rahmen des Wettbewerbs „Stadt <strong>–</strong> Natur<br />

<strong>–</strong> Skulptur“ 1983 zunächst gewonnen, die Realisierung der Idee scheiterte dann<br />

aber an massiven Protesten. „Diese erste Aktivität sollte freilich den Keim für eine<br />

gesamtkünstlerische Auseinandersetzung mit Gestaltungsfragen, mit der Reorganisation<br />

des sozialen, urbanen Organismus bilden. Die praktische <strong>Handlung</strong> war<br />

insofern eine symbolische, <strong>als</strong> sie auf ein Sich-Auswachsen dieser Dekontaminierungs-<br />

und Gestaltungsanstrengungen drängte und den Keim zur Veränderung zu<br />

legen suchte“ (Voigt 2015a: 56).<br />

Diese Beuyssche Erweiterung des <strong>Kunst</strong>begriffs Richtung <strong>Handlung</strong>spotential<br />

schließt an die in vorangegangenen Kapiteln beschriebenen Ansätze wie z. B. die<br />

der russischen Konstruktivist*innen oder der französischen Situationist*innen an<br />

und fordert ganz klar eine Eigenverantwortung ein.<br />

KUNST ALS ALLTAGSPRAXIS <strong>–</strong> HABITER IM<br />

GRANDHOTEL COSMOPOLIS<br />

An diesen Gedanken schließt auch das Augsburger Hotelprojekt an, das Platz für<br />

65 Asylbewerber*innen und 16 Hotelgäste bietet und sich <strong>als</strong> ein Angebot zur Teilhabe<br />

an alle versteht: „Grandhotel Cosmopolis. Das ganze Versprechen der Stadt<br />

steckt in diesem Namen. [...] Überall steht die <strong>Kunst</strong> im Vordergrund, bestimmt<br />

Räume und Atmosphären. Und eine neu erfundene Alltagspraxis, die Produktion<br />

des Raums, nicht das Helfen oder die vordergründige Politik“ (Schäfer 2016: 11f.).<br />

Die Besucher*innen begrüßt schon in der Lobby das Konzept: „Welcome to your<br />

Lobby!“ steht dort und fordert damit direkt eine explizite Haltung ein.<br />

Den Aufenthalt bezahlt man entsprechend des eigenen Empfindens dessen, was<br />

angemessen scheint. Das Hotel bietet diverse Möglichkeitsräume: Küche und Café,<br />

Werkstätten und Ausstellungsräume. Christoph Schäfer beschreibt das Projekt<br />

im Vorwort zu der ersten deutschen Übersetzung von Henri Lefebvres „Recht auf<br />

Stadt“ so anschaulich, dass ich im Folgenden längere Passagen daraus zitiere: „In<br />

einem Nebenzimmer hat ein Mann aus dem Iran seine erste Installation aufgebaut,<br />

einen Teesalon mit selbstgebastelten, farbig-ornamentierten Fenstern. Einige<br />

Stockwerke darüber, unter dem Dach gibt es Ateliers. In einem kleinen Zimmer übt<br />

125


109 Vgl.: Holub/<br />

Hohenbüchler<br />

2015: 6.<br />

nity building’ im weitesten Sinne und soziale Problemlösung, „d. h. [sie werden] mit<br />

sozialen und gesellschaftspolitischen Aufgaben [betraut], die von anderen Bereichen<br />

politischer Verantwortung <strong>–</strong> und eben auch von der Stadtplanung der Stadtentwicklung<br />

<strong>–</strong> nicht behandelt werden“ (Holub 2015: 7).<br />

Diesen Schluss zieht Barbara Holub, die von 2010-2013 ein Forschungsprojekt am<br />

Institut für <strong>Kunst</strong> und Gestaltung der TU Wien zum Thema <strong>Kunst</strong> und Stadtplanung<br />

leitete. Planning Unplanned <strong>–</strong> Towards a New Positioning of Art in the Kontext of<br />

Urban Development hieß das Forschungsvorhaben, das zum Ziel hatte zu untersuchen,<br />

wie das „kritische und oft widerständige Potential künstlerischer Strategien<br />

<strong>als</strong> gesellschaftlich-soziales Engagement gegenüber den dominanten neoliberal<br />

geprägten Entscheidungen in der Stadtentwicklung wirksam werden kann“ (ebd.:<br />

9). Den in dieser Forschungsarbeit immer wieder einfließenden Diskurs zu einer<br />

entsprechenden Veränderung/Erweiterung des <strong>Kunst</strong>begriffs hebelte Holub dabei<br />

beeindruckend pragmatisch aus, indem sie eine neue transdisziplinäre Rolle<br />

erfand, die disziplinäre Verwerfungen scheinbar obsolet werden lässt: den Urban<br />

Practitioner.<br />

URBANE PRAXIS UND DIREKTER URBANISMUS<br />

„Man muss Unmögliches wollen, um die Grenzen des scheinbar<br />

Machbaren weiterzuschieben“ (Barbara Holub). 109<br />

Die Bezeichnung des Urban Practitioners trägt der Tatsache Rechnung, dass es<br />

eine Vielzahl professioneller Stadtakteure und Produzent*innen gibt, die eine neue<br />

Form zivilgesellschaftlichen Engagements an den Rändern der Disziplinen und im<br />

Kontext urbaner Alltagspraktiken ausüben. Das Ziel dieser urbanen Praktiker*innen<br />

sei es, Situationen zu schaffen, in denen lokale Akteure, Politiker*innen und<br />

Entscheidungsträger*innen wieder handlungsfähig würden. Die jeweilige Rolle der<br />

urbanen Praktiker könne sich hierbei von einer anleitenden zu einer teilnehmenden<br />

zu einer professionellen Position immer wieder verändern (vgl. Holub 2015:<br />

41). „It is important to note that the critical voice of the urban practitioner never<br />

waives, always defending the independence of artistic strategies and of art that<br />

questions societal conditions. The outstanding potential of the urban practitioner<br />

is to be both the ‘other’ and the ‘self’, to act from inside <strong>–</strong> yet pretend to operate<br />

from outside the system (as needed according to the circumstances), to switch roles,<br />

to be discrete and overt, to be unpredictable” (Holub 2015: 41). Dieses Switchen<br />

zwischen den verschiedenen Rollen im Sinne eines ‘sowohl <strong>als</strong> auch’ an<strong>statt</strong><br />

eines ‘entweder oder’ unterscheidet diese urbane Praxis fundamental von einer<br />

Festschreibung der Rolle des Künstlers in städtischen Gestaltungsprozessen und<br />

ist damit für die hier zu Grunde liegende Fragestellung zentral: “Im Grunde definiert<br />

sich der Urban Practitioner aus einem transdisziplinären Rollenbild, das <strong>als</strong> Missing<br />

136


Link zwischen <strong>Kunst</strong>, Design, ‘Urban Design’, ‘Urban Planning’ und Sozialarbeit angesiedelt<br />

ist” (Rajakovics 2015: 137).<br />

Barbara Holub, die gemeinsam mit Paul Rajakovics <strong>als</strong> Künstlerin die Gruppe transparadiso<br />

bildet, bezeichnet entsprechende Strategien <strong>als</strong> direkten Urbanismus.<br />

Hier würden <strong>–</strong> unabhängig von ursprünglichen Disziplinen <strong>–</strong> künstlerische Strategien<br />

in langfristig angelegte Prozesse der Stadtentwicklung und zur Behandlung<br />

von ‚urban issues’ unter Berücksichtigung sozialer und gesellschaftlicher Fragestellungen<br />

integriert (vgl. Holub 2015: 7). Die Bezeichnung „direkter Urbanismus“ wurde<br />

in Anlehnung an Emma Goldman und ihr Konzept der direct action entwickelt,<br />

„defining it as the implementation of artistic urbanism interventions in a processoriented,<br />

long-term urban planning practice on an equal level of importance with,<br />

and in addition to, conventional planning strategies. Direct urbanism overturns the<br />

dichotomy between critical urban intervention and urban planning, emphasizing<br />

the necessity to regain and reconsider public urban space as being space for appropriation<br />

by those who use it as a major element of socially engaged planning<br />

practices. Direct urbanism operates beyond the notions of ‚bottom up’ and ‚top<br />

down’, and differentiates between art and artistic strategies“ (Holub 2015: 32).<br />

110 Das<br />

interdisziplinäre<br />

Symposium fand<br />

im Sommer 2016<br />

an der HafenCity<br />

Universität in<br />

Hamburg <strong>statt</strong><br />

und wurde<br />

gefördert von<br />

der Volkswagen<br />

Stiftung. (Siehe<br />

auch: http://disziplinaeregrenzgaenge.de/).<br />

DER SCHWIERIGE WEG<br />

ZUM DIALOG AUF AUGENHÖHE ODER FACHLICHE<br />

EXPERTISE UND DIE FRAGE DER MACHT<br />

Während der Konferenz Disziplinäre Grenzgänge <strong>–</strong> Neue Arbeitsfelder in <strong>Stadtgestaltung</strong><br />

und Stadtforschung 110 pointierte Klaus Selle sehr anschlussfähig an Holubs<br />

Verständnis eines direkten Urbanismus, es gäbe eine professionelle Gemeinschaft<br />

jenseits von Disziplinen, wenn es entsprechende Schnittmengen der inhaltlichen<br />

Aufgaben gäbe. Es brauche dafür zwar normative Orientierung, diese laufe aber<br />

nicht mehr über die Disziplinen, sondern über die Professionen. „Was die Leute<br />

tun, ist das Relevante, nicht was sie gelernt haben“ (Selle 2016, eigene Aufzeichnungen<br />

während des Symposiums). Frauke Burgdorff zitierte im gleichen Kontext<br />

dazu Kurt Sontheimer: „Das Denken, das aus der Peripherie kommt, ist dynamisch“<br />

(Burgdorff 2016, eigene Aufzeichnungen während des Symposiums). Man solle mit<br />

Lust an die Ränder gehen, um mit starken Ideen wieder zurück ins Zentrum denken<br />

zu können. In ihrem Beitrag verwies sie vor allem darauf, die eigene <strong>Handlung</strong>smacht<br />

wieder ins Zentrum zu stellen. Fachliche Expertise sei dabei ein Element<br />

von Machtausübung, dessen müsse man sich bewusst sein (Burgdorff 2016, eigene<br />

Aufzeichnungen während des Symposiums). Diese Feststellung scheint auch zu<br />

begründen, dass die zu einem Symposium eingeladenen Künstler*innen in Holubs<br />

Forschungsprojekt die Notwendigkeit einer Figur wie die des Urban Practitioners <strong>als</strong><br />

neue Berufsgruppe für sich mehrheitlich ablehnten (vgl. Rajakovics 2015: 139). Hier<br />

ist zu fragen, ob durch die Neuschöpfung einer solchen Profession die Arbeit eines<br />

Künstlers in der Künstlerrolle obsolet wird, und die Ablehnung der Künstler*innen<br />

137


Abbildung<br />

40: Ausstellungsplakat.<br />

Abbildung: Van<br />

Abbemuseum.<br />

die GWA St. Pauli gewährleistet eine Teilhabe der Nachbarschaft auf einem ganz<br />

anderen Niveau, <strong>als</strong> es in einem gewöhnlichen Beteiligungsverfahren der Fall wäre,<br />

da die GWA über langjährig gewachsene Netzwerke in der Nachbarschaft verfügt<br />

und somit zur wichtigen Komplizin wurde. Dass das Verschränken von sozialer Arbeit<br />

mit künstlerischen Tools ein erfolgreiches Konzept bietet, zeigt die PlanBude in<br />

beeindruckender Weise. Die Kooperationsarbeit der GWA <strong>als</strong> einer soziokulturellen<br />

Institution könnte auch für andere kulturelle Institutionen wie Theater und Museen<br />

beispielhaft sein. Einen Versuch, die Institution Museum neu zu erfinden, startete<br />

die hier bereits mehrfach zitierte kubanische Künstlerin Tania Bruguera zum Jahreswechsel<br />

2013/2014 gemeinsam mit dem Van Abbe Museum in Eindhoven unter<br />

dem Motto: „Radically Yours“.<br />

THE MUSEUM AS A SOCIAL POWER PLANT<br />

Brugueras Konzept der Arte Útil übertrug sie dabei auf das Museum <strong>als</strong> Ganzes und<br />

eröffnete das Museum of Arte Útil.<br />

Abbildung 40<br />

172


Abbildung 41:<br />

Vorbau für das<br />

Museums of<br />

Arte Útil mit dem<br />

erhellten „Use“<br />

in Museum.<br />

Foto: Peter<br />

Cox für das Van<br />

Abbemuseum<br />

Abbildung 42:<br />

Innenausbau<br />

mit Settings zur<br />

Diskussion, für<br />

Workshops und<br />

zum Kopieren<br />

der Projektbeschreibungen.<br />

Fotos: Peter<br />

Cox für das Van<br />

Abbemuseum.<br />

Abbildung 41<br />

Abbildung 42<br />

173


KUNST MACHT GESELLSCHAFT<br />

MACHT KUNST <strong>–</strong> EIN FAZIT<br />

„To put art at the service of the urban does not mean to prettify urban<br />

space with works of art. This parody of the possible is a caricature.<br />

[...] Leaving aside representation, ornamentation and decoration, art<br />

becomes praxis and poiesis on a social scale: the art of living in the city<br />

as work of art. [...] In other words, the future of art is not artistic, but<br />

urban, because the future of ‚man’ is not discovered in the cosmos, or<br />

in the people, or in production, but in urban society“<br />

(Lefèbvre 1996: 173).<br />

Die Forderungen nach einer neuen Planungskultur haben in den letzten<br />

Jahren zu regen Diskursen in unterschiedlichen Fachbereichen geführt.<br />

Immer häufiger ist hierbei von einem Paradigmenwechsel die Rede, in dem sich<br />

der Fokus von einem Planungsraum, der von Planer*innen und Architekt*innen<br />

vorgegeben wird, zu einem Lebensraum verschiebt, der von Anwohner*innen auf<br />

Augenhöhe mit definiert wird (vgl. Bittner 2015: 218).<br />

Ein solcher situativer Urbanismus (vgl. Arch+ 183) ist aber auch durch den Rückzug<br />

sozi<strong>als</strong>taatlicher Verantwortung katalysiert worden und ist deshalb zwiespältig: Auf<br />

der einen Seite verändert der Perspektivwechsel auf die sozialräumliche Relevanz<br />

im Sinne Lefèbvres die Bedeutung alltäglicher Praktiken für die Herstellung von<br />

Stadt und birgt damit großes Potential für alternative Strukturen und eigenverantwortliche<br />

Lösungen. So wird Raum geschaffen für diverse Akteure, die selbstorganisiert<br />

agieren. Auf der anderen Seite entsteht hierdurch aber auch die Gefahr,<br />

dass diese alternativen Strukturen, wie am Beispiel der homogenen ‚Bottom-Up<br />

Baugruppen’ gezeigt wurde, die über entsprechend hohes soziales und kulturelles<br />

Kapital verfügen, Effekte wie Ausgrenzung und Marginalisierung durch Segregation<br />

eher vorantreiben. So sind Bottum-Up-Initiativen nur dann ein Ausdruck von ‚good<br />

governance‘, wenn sie nicht zu sozialem Ausschluss und einer neuen Form der Gated<br />

Communities führen, sondern von vornherein die lokale Bevölkerung in ihrer<br />

Diversität anerkennen und stärken.<br />

Mit Blick auf diese Konsequenzen bekommt der zu Beginn dieser Arbeit adressierte<br />

social turn eine völlig andere Konnotation: „If part of the political project of neoliberalisation<br />

lies in the shifting of responsibilities onto individu<strong>als</strong>, this undermines<br />

an understanding of the ‘social’ as the idea of the social contract. This is to argue<br />

178


that the attention to the ‘social’ on the part of the architecture and designing disciplines<br />

is not a result or symptom of a crisis of these disciplines, or perhaps not<br />

only. Rather, what the inflationary use of the notion points to is a crisis of current<br />

urbanism and of urbanised society, which can be described as anti-social. We are<br />

experiencing not merely the absence of a socially oriented urbanism, but current<br />

urbanism’s explicitly exclusive framing: it is precisely not for everybody and can<br />

therefore be described as anti-social” (Grubauer et. al.: forthcoming in CITY). Das<br />

Hinterfragen der sich verändernden Verantwortlichkeiten wird somit zu einer wichtigen,<br />

wenn nicht der wichtigsten Aufgabe für zukünftige <strong>Stadtgestaltung</strong>.<br />

158 Siehe dazu<br />

auch die einführende<br />

Definition<br />

des Begriffs<br />

<strong>Handlung</strong>.<br />

Der <strong>Kunst</strong> kommt hierbei eine elementare Rolle zu, denn über künstlerische Praktiken<br />

können Freiräume für einen experimentellen und explorativen Meta-Diskurs<br />

geschaffen werden. Eine solche künstlerisch initiierte Praxis zielt nicht auf eine<br />

Strategie des ruhigstellenden Appeasements, sondern „<strong>als</strong> Widerstandskräfte<br />

und Wachsamkeit stärkendes Verstörungs-, Empörungs- und Erkenntnismittel in<br />

einer fortschreitenden Entwicklung auf ein noch nicht erreichtes Maß an Selbstbestimmung<br />

hin, die bedroht wird durch offensichtliche und latent wirkende Kontroll-<br />

und Entmündigungsinstanzen verschiedenster Provenienz“ (Voigt 2015a: 56).<br />

Das Beispiel der amerikanischen Anwaltsplanung und der community design center<br />

hat gezeigt, dass Bottom-Up Projekte aber auch anders funktionieren können<br />

und es Formen urbaner Praxis gibt, die sich gerade durch ihre sozial-performativen<br />

Qualitäten positiv auszeichnen. Auch in diesem Sinne kann die im letzten Kapitel<br />

besprochene PlanBude <strong>als</strong> exemplarisch gesehen werden. Die Untersuchung hat<br />

aber auch verdeutlicht, dass es im Hamburger Stadtteil St. Pauli eine sehr spezielle<br />

Partizipationskultur der Nachbarschaft gibt, die durch den Park Fiction täglich an<br />

die positiven Effekte <strong>gemeinsame</strong>n Handelns erinnert wird und hierüber eine ganz<br />

andere Offenheit für kollaborativ zu gestaltende Prozesse besitzt. Hinzu kommt,<br />

dass sich in diesem Projekt ein sehr starkes Bewusstsein für die sich ändernden<br />

Verantwortungen und vor allem auch die eigene Rolle dabei zeigt. Dieses Bewusstsein<br />

ist ein wichtiger Faktor, der für Erfolg oder Misserfolg <strong>gemeinsame</strong>r <strong>Stadtgestaltung</strong><br />

maßgeblich ist.<br />

Ein solches Bewusstsein über die eigene Rolle wird am effektivsten durch eigene<br />

<strong>Handlung</strong>en und eine entsprechende Reflexion derselben hergestellt.<br />

Und so bringt mich das Ende dieser Forschungsarbeit wieder zurück an ihren Anfang<br />

und zu der Frage nach einem Titel, der die hier vorgenommenen Analysen von<br />

<strong>Kunst</strong> <strong>als</strong> einer urbanen Praxis der <strong>Stadtgestaltung</strong> von Vielen treffend zusammenfasst.<br />

<strong>Handlung</strong> <strong>statt</strong> <strong>Verhandlung</strong>, so habe ich diese Untersuchung genannt, da die vorgestellten<br />

Projekte eine Abkehr von des in der <strong>Kunst</strong> üblichen ‚Verhandelns’ von<br />

Themen vollziehen und diese in ‚<strong>Handlung</strong>’ <strong>–</strong> im Sinne eines kollektiven und auf<br />

Veränderung gerichteten ‚Tätig Werdens’ <strong>–</strong> übersetzen. 158 Ein solches Verständnis<br />

179


Die Kompetenzen künstlerischer Praxis für das <strong>Handlung</strong>sfeld <strong>gemeinsame</strong>r <strong>Stadtgestaltung</strong><br />

werden vor diesem Hintergrund im Folgenden zusammenfassend dargestellt:<br />

Was kann künstlerische urbane Praxis?<br />

• Wirklichkeitsbehauptungen aufstellen, testen und implementieren<br />

• Erfahrungsräume schaffen<br />

• Möglichkeitsräume öffnen<br />

• Versammlungsräume inszenieren<br />

• Kontexte verändern<br />

• Rollenwechsel trainieren<br />

• Perspektivwechsel inszenieren<br />

• Alternative Narrative erzeugen<br />

• Fluide Prozesse zulassen<br />

• Brüche und Diskontinuitäten aushalten<br />

• Flexible Strukturen ermöglichen<br />

• Identität stiften<br />

• Kommunikationsprozesse initiieren<br />

• Die Grenzen von <strong>Handlung</strong>sfeldern verändern<br />

• Auf Veränderungen schnell reagieren<br />

• Transformationen katalysieren<br />

• Neue Organisationsformen schaffen<br />

• Bereitschaft haben zu scheitern<br />

• Hegemoniale Mechanismen aufzeigen<br />

Dass eine solche künstlerische urbane Praxis der <strong>Stadtgestaltung</strong> längst keine Utopie<br />

mehr ist, zeigen viele Initiativen und Künstler*innen mit ihrer Arbeit weltweit.<br />

Sie fungieren <strong>als</strong> Impulsgeber und kritische Gegenöffentlichkeiten und schaffen<br />

alternative Modelle der Raumproduktion. Die Künstler*innen werden zu Gestalterinnen<br />

und Gestaltern eines Angebots, eines Settings oder zu bereits erwähnten<br />

„Erfahrungsgestalter*innen“ von Möglichkeitsräumen.Die Schaffung und Erhaltung<br />

dieser Möglichkeitsräume ist für Prozesse der kollektiven <strong>Stadtgestaltung</strong> unentbehrlich.<br />

Ohne diese Räume kann es keine Erneuerung, kein Umdenken, keine<br />

Innovation geben. Sie sind damit elementare Voraussetzungen für eine erfolgreiche<br />

<strong>gemeinsame</strong> <strong>Stadtgestaltung</strong>. Da das entsprechende Bewusstsein in vielen<br />

Planungsprozessen häufig fehlt, werden diese Bedingungen <strong>als</strong> ein Ergebnis der<br />

in dieser Forschungsarbeit vorgenommenen Analysen im Folgenden überblicksartig<br />

dargestellt. Dabei werden zunächst die grundlegenden Voraussetzungen summiert,<br />

die <strong>als</strong> eine Art Mindestanforderung benötigt werden, um handlungsfähig<br />

zu sein. Anschließend werden die idealen Voraussetzungen gelistet, die langfristig<br />

kulturpolitisch gefordert werden müssten, um mit einem anderen Selbstverständnis<br />

gemeinsam mit diversen Akteuren der <strong>Stadtgestaltung</strong> erfolgreich zu handeln.<br />

192


GRUNDLEGENDE VORAUSSETZUNGEN FÜR KUNST ALS<br />

GEMEINSAME STADTGESTALTUNG<br />

• Strukturelle Neuausrichtung in der Stadtentwicklung im Sinne einer gleichberechtigten<br />

Kooperation aller entscheidenden Akteure (Lebensraum <strong>statt</strong> Planungsraum)<br />

• Einbindung von lokalem Wissen über bereits bestehende Initiativen<br />

• Anerkennung künstlerischer Methoden <strong>als</strong> wesentliches Potential für stadtgestaltende<br />

Prozesse jenseits von Vereinnahmung und Instrumentalisierung<br />

(weg von der Creative City hin zur Imaginationskraft der Vielen, katalysiert<br />

durch <strong>Kunst</strong>)<br />

• Bewusstsein aller Akteure über die Auswirkungen der eigenen Rollen im Sinne<br />

einer <strong>Kunst</strong> der Verantwortung<br />

• Freiräume für Gegenpositionen <strong>statt</strong> erzwungener Konsensproduktion<br />

• Differenz und Differentes <strong>als</strong> Produktivkraft anerkennen<br />

• Ergebnisoffene Prozesse, die autonom durchgeführt werden können<br />

• Anerkennung einer unterschiedlichen Rhythmisierung von Zeit<br />

• Verständnis für unterschiedliche Fachkulturen und Übersetzungsleistungen<br />

• Akzeptanz von Ambivalenzen und Diskontinuitäten<br />

• Der Erfolg dieser Prozesse lässt sich nicht in Statistiken messen und darf darum<br />

auch nicht ausschlaggebend für die Finanzierung sein<br />

• Bewusstsein über die Grenzen der eigenen Möglichkeiten<br />

IDEALE VORAUSSETZUNGEN FÜR KUNST ALS<br />

GEMEINSAME STADTGESTALTUNG<br />

• Neue staatlich finanzierte (kulturelle) Institutionen, die offen und flexibel genug<br />

sind, um reaktiv bleiben und so auf die Verschiebung von Verantwortungen<br />

reagieren zu können<br />

• Faire Finanzierungsmodelle: Angemessene Bezahlung der professionell arbeitenden<br />

Stadtgestalter*innen <strong>statt</strong> freiwilliger Selbstprekarisierung<br />

• Weg von Pilotprojekten und Zwischennutzungen hin zu einer neuen Selbstverständlichkeit<br />

im Sinne einer systemischen Veränderung<br />

<strong>Kunst</strong> kann, das haben alle Beispiele gezeigt, ein Labor für die Zukunft städtischen<br />

Zusammenlebens sein. Künstler*innen schaffen damit auch Plattformen alternativer<br />

Wissensproduktion, die einer Krise der Vorstellungskraft eine Absage erteilen<br />

und neue <strong>Handlung</strong>smöglichkeiten aufzeigen. Das sich verändernde Verständnis<br />

von Stadt erfordert dabei dringend eine neue Perspektive auf künstlerische Praxis<br />

<strong>als</strong> Ausdruck des Situativen, Temporären und eben stets Ambivalenten. Die in dieser<br />

Forschungsarbeit immer wieder auftauchenden paradoxen Effekte einer handelnden,<br />

verantwortlichen <strong>Kunst</strong> lassen sich nicht einfach auflösen.<br />

193

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