soziologie heute Februar 2017
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Kritik<br />
Handlungseunuchen<br />
Über Grenzen von Rhetorik und Kommunikation<br />
von Richard Albrecht<br />
In diesem Kurzbeitrag geht es um<br />
vor fünfzehn Jahren, Anfang der<br />
Nullerjahre, im Zusammenhang des<br />
Überlebens von gefährdeten Sicherheitskräften,<br />
besonders bei Polizeien,<br />
entwickeltes praxisrelevantes Überlebenskonzept<br />
von Handlungsfähigkeiten<br />
(survivability). Ob das sozialpsychologische<br />
Konzept des deutschen<br />
Psychologen Dr. Uwe Füllgrabe, einem<br />
ehemaligen Polizeioberrat, Dozenten<br />
und Fachbuch- und Zeitschriftenautor,<br />
handlungswissenschaftlich<br />
verallgemeinerungsfähig ist oder sich<br />
als sozio-analytische Leitvorstellung<br />
soziologischer „Zeitdiagnostik“ (Karl<br />
Mannheim) und „Ortsbestimmung“<br />
(Helmut Schelsky) anbietet und wirksam<br />
werden kann, mögen andere diskutieren<br />
und beurteilen.<br />
Als Eunuchen, Kastraten, kastrierte<br />
Männer galten im alten Orient entmannte,<br />
zeugungsunfähig gemachte<br />
Haremswächter; seit dem 17. Jahrhundert<br />
auch verallgemeinert als<br />
die, die etwas festhalten oder tragen<br />
wie Betthüter oder Kammerdiener<br />
(Etymologisches Wörterbuch des<br />
Deutschen, 3. Aufl age, München:<br />
dtv, 1995: 305). Eunuchen sind Menschen<br />
männlichen Geschlechts (Kinder,<br />
Jugendliche oder Erwachsene),<br />
die einer Kastration unterzogen wurden.<br />
Das gab es weltgeschichtlich in<br />
vielen Kulturen; teilweise wird / wurde<br />
Eunuchen auch der Schwanz (Penis)<br />
entfernt (https://de.wikipedia.<br />
org/wiki/Eunuch).<br />
Wenn generell in Bedrohungslagen<br />
und Gefahrensituationen im allgemeinen<br />
und speziell im polizeilichen<br />
Sicherheitshandeln Überleben kein<br />
Zufall sein soll, dann geht es besonders<br />
zur Bewältigung von Gefahrens-<br />
und Gewaltsituationen um (durch<br />
Ausbildung und Üben) grundsätzlich<br />
erlernbare, Psychologie der Eigensicherung<br />
genannte, Handlungen. Und<br />
damit um die aktive und zielgerichtete<br />
Überwindung des Status von Handlungseunuchen,<br />
die (so Schmalzl)<br />
„vor lauter Kommunikationsmodellen<br />
nicht mehr zur notwendigen Tat<br />
schreiten können.“ Das war und ist<br />
der Ansatz in Füllgrabes Buch (in der<br />
aktuellen Aufl age um einige Kapitel,<br />
etwa zur Gefahrenerkennung als<br />
„Gefahrenrenradar“, erweitert). Der<br />
Autor will und kann so kundig und leidenschaftlich<br />
wie überzeugend und<br />
streitbar als Sozialpsychologe zu Gesundheit<br />
und Überleben grundsätzlich<br />
gefährdeter Sicherheitskräfte aller<br />
Polizeien beitragen helfen. Der Autor<br />
hat seine kritisch-konstruktiven Hinweise<br />
methodisch zusammengefasst<br />
(Füllgrabe 2003: 396): „Wer sich nur<br />
in sprachlichen Kategorien bewegt,<br />
gewinnt zwar Kompetenzillusion, wird<br />
aber leicht zum Handlungseunuchen,<br />
einem Menschen, der zwar fl ott reden,<br />
aber nicht wirkungsvoller handeln<br />
kann. Konstruktiv formuliert: Es<br />
gilt eher, Strukturwissen aufzubauen<br />
und dies ... in seine Entscheidungen<br />
einfl ießen zu lassen und diese in aufgabenorientiertes<br />
Handeln umzusetzen,<br />
als sprachlich zu brillieren.“<br />
Im Kapitel Wie man Handlungseunuchen<br />
erzeugen kann, dem bedenkenswerte<br />
Hinweise zu Rhetorik und<br />
Kommuniktion - weder „Allheilmittel“<br />
mit keineswegs nur „positiven Seiten“<br />
noch als solche notwendigerweise<br />
erfolgversprechend (Füllgrabe 2003:<br />
393-394; 394-395) - folgen, betont<br />
der Autor, der zahlreiche Studien der<br />
1980er und 1990er Jahre auswertet,<br />
jedoch darauf verzichtet, sich ausdrücklich<br />
mit dem Habermas´schen<br />
Leitkonzept Sprechhandeln auseinanderzusetzen:<br />
dass es weniger<br />
auf sprachliche Gewandtheit und<br />
Eloquenz als vielmehr auf Wirklichkeitsbeobachtungen<br />
ankommt und<br />
dass zum aktiv-strukturellen Wissen<br />
auch neue, aus genauer Realitätsobservanz<br />
gewonnene Kategorien gehören.<br />
Zustimmend wird in diesem<br />
Zusammenhang mit Blick aufs spezielle<br />
Anliegen wirksamer und erhöhter<br />
Fähigkeit zum Überleben gefährlicher<br />
Situationen (survivability: Füllgrabe<br />
1999) sowohl vor jeder „Zentrierung<br />
auf Rhetorik“ gewarnt als auch Ellen<br />
Langer zitiert (Langer 1991: 15)<br />
„Wenn wir blind nach Routine verfahren<br />
und ohne nachzudenken sinnlose<br />
Anweisungen ausführen, handeln wir<br />
wie Automaten ...“. Automatenverhalten<br />
stellt auch eine bisher sozialwissenschaftlich<br />
wenig beachtete und<br />
doch gerade in ihrer destruktiven<br />
Wirksamkeit wichtige Handlungsblockade<br />
dar (Albrecht 2013). Diesen besonderen<br />
Gesichtspunkt kommentiert<br />
der Autor (meinen Sozialerfahrungen<br />
nach zutreffend) so: Wer „sich zu sehr<br />
auf die Sprache konzentriert, läuft<br />
Gefahr, die Realität aus den Augen zu<br />
verlieren.“ (Füllgrabe 2003: 393)<br />
Literatur:<br />
Uwe Füllgrabe, Psychologie der Eigensicherung -<br />
Überleben ist kein Zufall. Stuttgart: R. Boorberg,<br />
2002, 265 p.; 6., aktualisierte und erweiterte<br />
Ausgabe 2016, 301 p.; ders., Survivability. Überlebensfaktoren<br />
in gefährlichen Situationen; in:<br />
Praxis der Rechtspsychologie, 1/1999: 28-52;<br />
ders., Ausbildungsprobleme, die zumeist übersehen<br />
werden - oder wie man Handlungseunuchen<br />
produziert; in: Kriminalistik, 6/2003: 391-396.<br />
- Richard Albrecht, Von der Theorie des falschen<br />
Bewußtseins zur Praxis von Handlungsblockaden;<br />
in: <strong>soziologie</strong> <strong>heute</strong>, 29/2013: 32-33; Ellen<br />
J. Langer, Aktives Denken. Wie wir geistig auf der<br />
Höhe bleiben. Reinbek: Rowohlt, 1991, 240 p. -<br />
Hans Peter Schmelzl, Psychologie der Eigensicherung<br />
[Rezension]; in: Deutsche Polizei, 6/2001<br />
22 <strong>soziologie</strong> <strong>heute</strong> <strong>Februar</strong> <strong>2017</strong>