soziologie heute Dezember 2011
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44 <strong>soziologie</strong> <strong>heute</strong> <strong>Dezember</strong> <strong>2011</strong><br />
Buchbesprechung<br />
Demokratie, Demokratie, wer sollte sie nicht nehmen ...<br />
von Richard Albrecht<br />
„Nur in der Demokratie kann sich die Massenkraft<br />
der organisierten Arbeiterschaft<br />
wirtschaftlich und politisch frei entfalten<br />
und dadurch den Kapitalismus…überwinden.<br />
Die Arbeiterklasse hat daher ein Lebensinteresse…am<br />
planmäßigen Ausbau<br />
des deutschen Staates zu einer sozialen, demokratischen<br />
Republik.“ (Carlo Mierendorff<br />
[1897-1943]; Arisches Kaisertum oder Juden-<br />
Republik: 1922)<br />
Das Buch WENIGER DEMOKRATIE<br />
WAGEN ist hyperliquide. Genauer: es<br />
ist so überflüssig wie´n Kropf.<br />
Der Titel kontrapunktet die Willy-<br />
Brandt-Ankündigung in der ersten<br />
Regierungserklärung der ersten<br />
sozialliberale Bundesregierung<br />
in Deutschland vom 28. Oktober<br />
1969[1]. Er ist ebenso Parole wie die<br />
scheinbar eingängigen Schlagworte,<br />
die als „Plädoyer für die repräsentative<br />
Demokratie und effiziente<br />
Führung“ ausgegeben werden. Was<br />
dann kapitelweise folgt sind meist<br />
nur schlagwortartige Auflistungen<br />
bekannter Demokratiedefizite. Sie<br />
werden, rechts gewendet, als Folgen<br />
von zu viel praktizierter Demokratie<br />
ausgegeben. Entsprechend werden<br />
die „Eliten“ angemahnt, sich öffentlich<br />
stärker zum kapitalistischen<br />
Profitmotiv als gesellschaftlichem<br />
Leitbild zu bekennen. Das Schlußkapitel<br />
plädiert in Form des dort vorangestellten<br />
Zitats (eines polnischen<br />
Multimilliardärs) für angeblich „Echte<br />
Demokratie“. Diese „besteht nicht<br />
darin, dass wir alle vier Jahre zur<br />
Wahl gehen dürfen, so bedeutend<br />
das ist. Wichtiger ist, dass wir selbst<br />
bestimmen dürfen, was wir mit unserer<br />
Freiheit und unserem Geld machen.“<br />
Die antidemokratische Kernaussage<br />
des (im mir unerträglichen Krottenwir-Jargon<br />
geschriebenen) Buchs ist<br />
weder neu noch originell. Sondern<br />
nur aktualisiert-griffige frühe Anti-<br />
68er-Polemik: „Wer Demokratie missversteht<br />
als ein System, in dem immer<br />
alle überall mitbestimmen und<br />
partizipieren können…bedroht das<br />
Funktionieren und die Effizienz in<br />
Gesellschaft, Staat und Wirtschaft.“<br />
Trankovits <strong>2011</strong> weiter: „Wir sind<br />
angesichts vieler Krisensymptome<br />
unserer Demokratien gut beraten,<br />
etwas weniger Demokratie zu wagen.“<br />
So schon Scheuch 1968: „Für<br />
das Funktionieren eines politischen<br />
Systems als Demokratie ist…eine<br />
umfangreiche Beteiligung aller Menschen<br />
eines Landes nicht notwendig.<br />
Für Demokratie reicht es schon aus,<br />
wenn für Entscheidungen ein solches<br />
Maß an Öffentlichkeit besteht,<br />
dass Personengruppen zusätzlich zu<br />
denjenigen, die per Amt oder Position<br />
an Entscheidungen teilnehmen,<br />
informiert sind.“[2]<br />
Was als WENIGER DEMOKRATIE WA-<br />
GEN „repräsentative Demokratie“<br />
und „effiziente Führung“ profilieren<br />
soll, ist jedoch als rechtes politisches<br />
Manifest[3] untauglich. Nicht nur,<br />
weil das bereits vor zwanzig Jahren<br />
beschriebene „doppelte demokratische<br />
Defizit“[4] mit fehlender Repräsentation<br />
„unterer“ abhängiger Sozialschichten<br />
und unzureichenden<br />
Partizipationsmöglichkeiten sozial<br />
aktiver Mittelschichten unbegriffen<br />
bleibt. Sondern auch, weil was als<br />
„bessere Demokratie“ ausgegeben<br />
wird, inhaltlich im wesentlichen<br />
nichts als publizistischer Kotau vor<br />
den Wenigen ist: MEHR DIKTATUR<br />
WAGEN brächte dies im Bloch´schen<br />
Sinn zur Kenntlichkeit.<br />
Dieses Buch regt gleichwohl in einer<br />
Hinsicht zur wissenschaftlichen Hypothesenbildung<br />
im Bereich der politischen<br />
Kultur an: im gegenwärtigen<br />
Deutschland sind dumme politrechte<br />
noch platter als dumme politlinke<br />
Ideologen. Und: dieses Buch kommt<br />
mir schon während seines Erscheinens<br />
im Frühherbst <strong>2011</strong> höchstantiquiert<br />
vor.<br />
Hier ist als FAZ-Buch etwas rechts angezettelt,<br />
das sich im FAZ-Feuilleton<br />
als zunehmend überholt gibt: nach<br />
einem FAZ-Mitherausgeber bekannte<br />
sich auch FAZ-Feuilletonredakteur<br />
Dr. Lorenz Jäger nach jahrzehntelangem<br />
Rechtstechtelmechtel so öffentlich<br />
wie ironisch als neulinker „Gutmensch“[5].<br />
François Villon fragte weiland noch<br />
melancholisch: „Où sont les neiges<br />
d‘antan?“[6] Die ganzdeutsche Antwort<br />
<strong>heute</strong> lautet: Der ideologische<br />
Schnee von gestern lagert im F.A.Z.-<br />
Institut für Management-, Markt- und<br />
Medieninformation GmbH. in der<br />
Mainzer Landstraße 199 in Bankfurt<br />
am Main.<br />
Das FAZ-Buch WENIGER DEMOKRA-<br />
TIE WAGEN ist so überflüssig wie´n<br />
Kropf. Oder allgemeiner: es ist hyperliquide.<br />
Literatur:<br />
[1] http://www.fes-online-akademie.de/download.<br />
php?d=mehr_demokratie_wagen.pdf<br />
[2] Erwin K. Scheuch, Soziologische Aspekte der betrieblichen<br />
Mitbestimmung: http://ricalb.wordpress.<br />
com/2010/09/ganzdumm-war-gestern-1.pdf<br />
[3] Klatt, Johanna; Lorenz, Robert, Hg., Manifeste.<br />
Geschichte und Gegenwart des politischen<br />
Manifests. Biele-feld <strong>2011</strong> [= Studien des Göttinger<br />
Instituts für Demokratieforschung zur Geschichte<br />
politischer und gesellschaftlicher Kontroversen 1]<br />
[4] Richard Albrecht, Das doppelte demokratische<br />
Defi zit; in: Recht und Politik, 28 (1992) 1: 13-19; vgl.<br />
http://ricalb.fi les.wordpress.com/2009/07/politische<strong>soziologie</strong>.pdf<br />
(5) FAZ 13. Oktober <strong>2011</strong><br />
(6) Übersetzt: Wo ist der Schnee von gestern?<br />
Laszlo Trankovits<br />
Weniger Demokratie wagen!<br />
Wie Politik und Wirtschaft wieder handlungsfähig<br />
werden.<br />
Frankfurt/M., Frankfurter Allgemeine Buch<br />
<strong>2011</strong>, 288 p.<br />
Preis: Euro 24,90<br />
ISBN 13: 9783899812459