Band 19 - Ich habe gedacht, wir sind die Einzigen auf der ganzen Welt
Lesbisch/trans*/schwul nach 1945 - Zeitzeug_innen erinnern sich
Lesbisch/trans*/schwul nach 1945 - Zeitzeug_innen erinnern sich
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Alltagswelten - Expert_innenwelten | <strong>Band</strong> <strong>19</strong><br />
ICH HABE GEDACHT,<br />
WIR SIND DIE EINZIGEN<br />
AUF DER GANZEN WELT<br />
Lesbisch/trans*/schwul nach <strong>19</strong>45<br />
Zeitzeug_innen erinnern sich<br />
33
INHALT<br />
Vorwort<br />
Ausgangslage und Projektverl<strong>auf</strong><br />
Verfolgte und kriminalisierte Lebensformen – biographisch forschen<br />
Lesbische Geschichte in <strong>der</strong> frühen Bundesrepublik<br />
Die Paragraphen 175 und 175a StGB im Deutschland <strong>der</strong> Nachkriegszeit<br />
Trans*-Geschichte in Deutschland – eine Annäherung<br />
„Uneindeutiges Geschlecht?“ Zur Geschichte intersexueller Menschen<br />
Portrait: Gerlinde Korn<br />
Portrait: Juan Allende-Blin<br />
Portrait: Barbara Degen<br />
Portrait: Rolf Dackweiler<br />
Portrait: Mandy Walczak<br />
Portrait: Gisela Winand<br />
Der Kurzfilm – Entstehung und Themen<br />
Auswahlbibliographie<br />
Impressum<br />
3<br />
4<br />
6<br />
8<br />
10<br />
12<br />
14<br />
16<br />
18<br />
20<br />
22<br />
24<br />
26<br />
28<br />
30<br />
31<br />
Wir <strong>sind</strong> <strong>auf</strong> eine breite politische und zivilgesellschaftliche<br />
Öffentlichkeit angewiesen, <strong>die</strong> Vielfalt<br />
zu schätzen weiß und für <strong>die</strong>se einsteht. Dafür<br />
will <strong>die</strong> ARCUS-Stiftung streiten und braucht dazu<br />
Ihre persönliche und finanzielle Unterstützung.<br />
Bitte sprechen Sie mit Ihren Freund_innen, warum<br />
es sich lohnt, sich für <strong>die</strong> ARCUS-Stiftung stark<br />
zu machen. Ihr Beitrag hilft uns, lesbische und<br />
schwule Selbsthilfeprojekte zu realisieren. Spenden<br />
können steuerlich geltend gemacht werden.<br />
Wir freuen uns auch über Ihren Einsatz!<br />
Bank für Sozial<strong>wir</strong>tschaft<br />
IBAN: DE80370205000001201201<br />
BIC: BFSWDE33XXX<br />
2
Vorwort<br />
Die ARCUS-Stiftung hat sich mit <strong>der</strong> Unterstützung <strong>der</strong><br />
Landesverbände LAG Lesben in NRW und Schwules Netzwerk<br />
NRW zum Ziel gesetzt, <strong>die</strong> Aufarbeitung <strong>der</strong> Verfolgung,<br />
Diskriminierung und Tabuisierung von homosexuellen<br />
Frauen und Männern, Bisexuellen und Trans*-Personen<br />
in Nordrhein-Westfalen zur Zeit <strong>der</strong> frühen Bundesrepublik<br />
<strong>auf</strong> den Weg zu bringen.<br />
Das von <strong>der</strong> ARCUS-Stiftung initiierte und hier dokumentierte<br />
Zeitzeug_innen-Projekt konnte als ersten<br />
Schritt exemplarisch <strong>die</strong> Lebenserfahrungen von Menschen<br />
erfassen, denen ein selbstbestimmtes und freies<br />
Leben <strong>auf</strong>grund einer heteronormativen Moral und<br />
gesellschaftlichen Situation kaum bzw. unmöglich war.<br />
Am 22. Juli 2017 trat das Gesetz zur strafrechtlichen<br />
Rehabilitierung <strong>der</strong> nach dem 8. Mai <strong>19</strong>45 wegen einvernehmlicher<br />
homosexueller Handlungen verurteilten<br />
Personen nach den §§ 175/175a StGB und 151 StGB-DDR<br />
in Kraft. Das strafrechtliche Verbot einvernehmlicher<br />
homosexueller Handlungen und <strong>die</strong> daraus resultierende<br />
Strafverfolgung <strong>sind</strong> nach heutigem Verständnis in<br />
beson<strong>der</strong>em Maße grundrechts- und menschenrechtswidrig.<br />
Ziel des Gesetzes ist es, den Betroffenen den<br />
Strafmakel zu nehmen, mit dem sie bisher wegen einer<br />
solchen Verurteilung leben mussten.<br />
Diese Rehabilitierung homosexueller Männer ist ein<br />
wichtiges Zeichen für all <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> über Jahrzehnte<br />
ihre geschlechtliche und/o<strong>der</strong> ihre sexuelle<br />
Identität nicht leben und zeigen konnten. Nach <strong>die</strong>ser<br />
juristischen Rehabilitierung ist es deshalb notwendig,<br />
Aufarbeitung anzustoßen und dabei den Blick <strong>auf</strong> all<br />
<strong>die</strong>jenigen zu weiten, <strong>die</strong> unter dem Klima <strong>die</strong>ser Zeit<br />
Ablehnung, Ausgrenzung und Stigmatisierung erfahren<br />
<strong>habe</strong>n, ohne juristisch verfolgt und belangt worden zu<br />
sein.<br />
Dafür braucht es ambitionierte und langfristige Projekte,<br />
ausreichend Mittel und den nötigen politischen und<br />
gesellschaftlichen Willen, damit erfahrenes Leid und<br />
Unrecht nicht vergessen <strong>wir</strong>d. Es bedarf Methoden und<br />
Formate zur Erinnerung, um <strong>der</strong> drohenden Unwissenheit<br />
und Bagatellisierung entgegenzu<strong>wir</strong>ken. Neben <strong>der</strong><br />
wichtigen Erfassung von individuellen Erinnerungen ist<br />
deshalb eine kontinuierliche und systematische Erforschung<br />
<strong>der</strong> Lebenssituation von Lesben, Schwulen, Bisexuellen<br />
und Trans* in NRW unumgänglich.<br />
Lasst uns deshalb gemeinsam ein breites Bündnis schaffen,<br />
um Wissen zu generieren, Erinnerungskultur zu<br />
etablieren und Bildung anzustoßen!<br />
Gabriele Bischoff<br />
Vorstandsvorsitzende ARCUS-Stiftung<br />
Geschäftsführerin LAG Lesben in NRW<br />
Markus Johannes<br />
stellv. Vorstandsvorsitzen<strong>der</strong> ARCUS-Stiftung<br />
Landesgeschäftsführer Schwules Netzwerk NRW<br />
3
Ausgangslage und Projektverl<strong>auf</strong><br />
Etliche historische Aspekte <strong>der</strong> Verfolgung und Diskriminierung<br />
von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans*- und<br />
intersexuellen Menschen <strong>sind</strong> nach wie vor unbekannt.<br />
Wir wissen mittlerweile sehr viel über <strong>die</strong> Diskriminierung,<br />
Verfolgung und Vernichtung von homo- und bisexuellen<br />
Männern von <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> Gründung des Deutschen<br />
Reiches 1871 bis zum Ende des Zweiten <strong>Welt</strong>krieges in<br />
Europa.<br />
Die Geschichte lesbischer und bisexueller Frauen im gleichen<br />
Zeitraum ist ebenfalls gut erforscht. Forschungslücken<br />
bestehen hier aber immer noch. Dann ist noch<br />
einiges – wenn auch nicht allzu vieles – über Trans*-Menschen<br />
aus <strong>die</strong>sem Zeitraum bekannt. Intersexuelle Menschen<br />
scheinen von <strong>der</strong> Geschichtswissenschaft bislang<br />
weitgehend vergessen worden zu sein.<br />
Ungleicher Wissensstand<br />
Sehr gut bekannt dagegen ist aus heutiger Sicht <strong>der</strong><br />
schwule Aufbruch ab <strong>19</strong>69, als <strong>die</strong> Paragraphen 175/175a<br />
StGB liberalisiert wurden, o<strong>der</strong> auch <strong>die</strong> Geschichte von<br />
Lesben innerhalb und außerhalb <strong>der</strong> Frauenbewegung.<br />
Für Trans*-Geschichte gilt <strong>die</strong>ser Befund wie<strong>der</strong>um<br />
nicht, und Intersexualität in Deutschland <strong>wir</strong>d von <strong>der</strong><br />
historischen Forschung nach wie vor wenig bis gar nicht<br />
beachtet.<br />
Die Zeit vom Kriegsende <strong>19</strong>45 bis <strong>19</strong>69 ist erst seit etwa<br />
einem Jahrzehnt in den Fokus <strong>der</strong> Aufmerksamkeit gerückt.<br />
Und auch hier wie<strong>der</strong>holt sich das gleiche Muster,<br />
das sich bei <strong>der</strong> Erforschung <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Homosexualitäten<br />
an<strong>der</strong>er Epochen beobachten lässt: Die<br />
Männer <strong>sind</strong> sehr gut erforscht, <strong>die</strong> Frauen nicht ganz<br />
so gut, Trans*- und Intersexuelle dagegen wenig bis gar<br />
nicht.<br />
Und ein weiteres Muster zeigt sich bezüglich <strong>der</strong> Geschichte<br />
homo- und bisexueller Männer: Im Vor<strong>der</strong>grund<br />
stehen <strong>die</strong>, <strong>die</strong> mit dem § 175 in Konflikt geraten <strong>sind</strong>,<br />
vor Gericht standen, im Gefängnis und/o<strong>der</strong> im Konzentrationslager<br />
o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Psychiatrie waren und als Folge<br />
ihrer Verurteilung alles verloren <strong>habe</strong>n – Beruf, Vermögen,<br />
Ansehen o<strong>der</strong> auch das Leben. Alle an<strong>der</strong>en dagegen,<br />
denen es mehr o<strong>der</strong> weniger gelungen ist, trotz <strong>der</strong><br />
Strafdrohung <strong>der</strong> Paragraphen 175/175a ihr Leben zu leben,<br />
werden marginalisiert. Ihre Erfahrungen scheinen<br />
weniger <strong>der</strong> Erinnerung wert zu sein o<strong>der</strong> sich als Instrument<br />
nutzen zu lassen im Emanzipationskampf.<br />
Überspitzt gesagt findet <strong>die</strong> Geschichte <strong>der</strong> Homosexualitäten<br />
nach <strong>19</strong>45 in den staatlichen Archiven entwe<strong>der</strong><br />
gar nicht statt (Lesben, Trans*-, Intersexuelle, bisexuelle<br />
Frauen) o<strong>der</strong> nur als Panoptikum des Schreckens in<br />
Gestalt von strafrechtlicher Überlieferung im Zusammenhang<br />
mit § 175 StGB (homo- und bisexuelle Männer).<br />
Umso dringlicher ist daher <strong>die</strong> Aufzeichnung und<br />
Bewahrung <strong>der</strong> Lebenserinnerungen von LSBT*I-Menschen<br />
aus <strong>der</strong> Nachkriegszeit, mit denen nicht nur das<br />
Ausmaß <strong>der</strong> Verfolgung und Diskriminierung <strong>auf</strong>gezeigt<br />
werden kann, son<strong>der</strong>n auch Strategien des Überlebens<br />
und Möglichkeiten einer zufriedenstellenden Lebensführung<br />
dokumentiert werden können.<br />
Das Archiv <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Erinnerungen <strong>der</strong> Bundesstiftung<br />
Magnus Hirschfeld ist eine Institution, <strong>die</strong> sich <strong>die</strong>ser<br />
Aufgabe verschrieben hat. In Nordrhein-Westfalen hat<br />
<strong>die</strong> ARCUS-Stiftung in Zusammenarbeit mit <strong>der</strong> Landeszentrale<br />
für politische Bildung ein Zeitzeug*innenprojekt<br />
gestartet, dessen erste Ergebnisse mit <strong>die</strong>ser Broschüre<br />
vorgestellt werden.<br />
4
Der Facharbeitskreis Zeitzeug*innen<br />
Im Oktober 2013 erging ein Aufruf <strong>der</strong> ARCUS-Stiftung<br />
Köln zur Einrichtung eines Facharbeitskreises, um ein<br />
Zeitzeug*innenprojekt zur Aufarbeitung <strong>der</strong> Verfolgung,<br />
Diskriminierung und Tabuisierung von homo- und bisexuellen<br />
Frauen und Männern, Trans*-Personen und Intersexuellen<br />
<strong>auf</strong> dem Gebiet des heutigen Nordrhein-Westfalen<br />
nach dem 8. Mai <strong>19</strong>45 <strong>auf</strong> den Weg zu bringen.<br />
Vor dem Projektstart 2015 kam eine große Runde aus Historiker*innen,<br />
Sozialarbeiter*innen, Soziolog*innen und<br />
Menschen mit intensiver Erfahrung aus <strong>der</strong> Projektarbeit<br />
in LSBT*I-Zusammenhängen zusammen, um <strong>die</strong> Rahmenbedingungen<br />
eines solchen Projekts zu konzipieren. Die<br />
unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen und<br />
Arbeitsstile, aber auch Altersstufen trafen <strong>auf</strong>einan<strong>der</strong><br />
und mussten sich zunächst in intensiven Diskussionen<br />
über Inhalte, Zielsetzung und politische Ausrichtung des<br />
geplanten Projektes verständigen. Die Runde traf sich in<br />
immer wie<strong>der</strong> wechseln<strong>der</strong> Zusammensetzung; manche<br />
verließen den Facharbeitskreis dauerhaft, weil sie sich<br />
mit dessen langsam sich abzeichnen<strong>der</strong> Handlungslinie<br />
und Arbeitsweise nicht identifizieren konnten.<br />
Neben Diskussionen über Inhalt und Form eines Interviewleitfadens<br />
mussten eine ausgewogene Repräsentation<br />
<strong>der</strong> einzelnen Buchstaben des Kürzels „LSBT*I“ ausgehandelt<br />
und Konflikte, <strong>die</strong> sich aus <strong>der</strong> vermeintlichen<br />
o<strong>der</strong> tatsächlichen mangelnden Sichtbarkeit einzelner<br />
sexueller Min<strong>der</strong>heiten im Gegensatz zur dominierenden<br />
Sichtbarkeit homosexueller Männer ergaben, bearbeitet<br />
werden.<br />
Die Frage, wie einer möglichen Retraumatisierung von<br />
Interviewpartner*innen entgegenge<strong>wir</strong>kt werden könnte,<br />
nahm breiten Raum in den Debatten ein, ebenso<br />
<strong>die</strong> Frage, ob und wie mit <strong>der</strong> Bundesstiftung Magnus<br />
Hirschfeld und <strong>der</strong>en „Archiv <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Erinnerung“<br />
zusammengearbeitet werden könne.<br />
Es hat sich gelohnt!<br />
Nach und nach kristallisierte sich ein Kern von etwa 10-<br />
12 Personen heraus, <strong>die</strong> sich 2016 daranmachten, <strong>die</strong><br />
im Projekt bewilligten sechs Interviews umzusetzen.<br />
Es konnten sechs Menschen ausfindig gemacht werden,<br />
<strong>die</strong> bereit waren, sich filmen zu lassen und ihre Erinnerungen<br />
<strong>der</strong> Öffentlichkeit zu präsentieren. Mit Ausnahme<br />
von Intersexualität konnten alle Buchstaben des<br />
„LSBT*I“-Kürzels abgedeckt werden. Weibliche bzw.<br />
sich selbst als weiblich definierende Personen stellten<br />
<strong>die</strong> Mehrheit <strong>der</strong> Interviewpartner*innen.<br />
Das harte Ringen aller Beteiligten hat sich gelohnt. Die<br />
Zeitzeug*innen dokumentieren eindrucksvoll (und vielleicht<br />
sogar auch besser als jede wissenschaftliche Stu<strong>die</strong>),<br />
wie schwierig <strong>auf</strong> <strong>der</strong> einen Seite das Leben für<br />
LSBT*I-Menschen im heutigen NRW nach <strong>19</strong>45 war. Auf<br />
<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite enthalten <strong>die</strong> hier vorgestellten Biographien<br />
aber auch viel Ermutigendes. Es war möglich,<br />
ein erfüllendes Leben zu leben, auch in einer homophoben<br />
Gesellschaft wie <strong>der</strong> Adenauer-Zeit.<br />
Wir danken ganz herzlich für ihre großartige Arbeit<br />
für das Zeitzeug_innenprojekt (alp<strong>habe</strong>tisch):<br />
Sabine Dael | Barbara Degen | Sigmar Fischer | Muriel González Athenas<br />
Magdalena Hutter | Michael Jähme | Markus Johannes | Karolin Kalmbach<br />
Christian Kinkel | Georg Roth | Jan Rothstein | Anne Simon | Marcus Velke<br />
5
Verfolgte und kriminalisierte<br />
Lebensformen – biographisch forschen<br />
Die Frage, <strong>die</strong> sich immer wie<strong>der</strong> im L<strong>auf</strong>e des Projektes<br />
stellte, war: Wie kann <strong>die</strong> Aufarbeitung <strong>der</strong> Lebenserfahrungen<br />
von Menschen angegangen werden, denen<br />
eine freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit <strong>auf</strong>grund des<br />
heteronormativen gesellschaftlichen Dogmas unmöglich<br />
war? Beson<strong>der</strong>s <strong>die</strong> Aufarbeitung <strong>der</strong> Verfolgung,<br />
Diskriminierung und Tabuisierung von homosexuellen<br />
Frauen und Männern, Trans*, Intersexuellen und Bisexuellen<br />
zur Zeit <strong>der</strong> frühen Bundesrepublik stand dabei<br />
im Fokus.<br />
Welche möglichen Quellen und Materialien stehen für<br />
solche Art sensibler Fragestellungen zur Verfügung? In<br />
<strong>der</strong> sozial-historischen Forschung, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Verfolgung<br />
bis <strong>19</strong>45 erfasst, <strong>sind</strong> bereits erste Schritte <strong>der</strong> Aufarbeitung<br />
gemacht worden. Die Fortsetzung <strong>der</strong> heterosexistischen<br />
rechtlichen wie sozialen Ausgrenzung<br />
an<strong>der</strong>er Lebens- und Ausdrucksformen in den <strong>19</strong>50ern<br />
und <strong>19</strong>60ern ist jedoch ein weitgehend verschwiegenes<br />
Thema <strong>der</strong> Mainstreamforschung (Ausnahmen <strong>sind</strong> viele<br />
Forschungen, <strong>die</strong> im feministischen und schwul-lesbischen<br />
Zusammenhang entstanden <strong>sind</strong>). Wie können<br />
nun <strong>die</strong> Kontinuitäten <strong>die</strong>ser Ausgrenzungslogiken von<br />
<strong>der</strong> NS-Zeit bis heute wissenschaftlich <strong>auf</strong>gearbeitet<br />
werden? An <strong>die</strong>sem Punkt wurde <strong>auf</strong> <strong>die</strong> bereits entstandenen<br />
oben genannten Forschungen zurückgegriffen<br />
und entschieden, dass anhand von Berichten von<br />
Zeitzeug*innen unsere Frage beleuchtet werden sollte.<br />
Zugleich sollte auch diskutiert und Strategien entwickelt<br />
werden, wie <strong>die</strong> dabei gewonnenen Erfahrungen<br />
und Erinnerungen <strong>der</strong> Betroffenen historisiert und einer<br />
größeren Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden<br />
können. So entschieden <strong>wir</strong> uns nach reiflicher Überlegung<br />
für Interviews mit Zeitzeug*innen <strong>auf</strong> Grundlage<br />
<strong>der</strong> breiten methodologischen Forschungen <strong>der</strong> Oral<br />
History, also <strong>der</strong> mündlichen Überlieferung. Hier sei<br />
auch nochmal <strong>auf</strong> <strong>die</strong> von <strong>der</strong> zweiten Frauenbewegung<br />
verfeinerte Methode <strong>der</strong> Interviewführung im Kontext<br />
von lesbischem wi<strong>der</strong>ständigem Leben hingewiesen.<br />
Biografische Erzählungen/Oral History spielen als Erfahrungswissen<br />
in allen Bereichen – beispielsweise in <strong>der</strong><br />
Sozialen Arbeit, aber auch in <strong>der</strong> Zeitgeschichte – eine<br />
tragende Rolle und waren zu Beginn <strong>der</strong> Frauen- und<br />
Geschlechterforschung von konstituieren<strong>der</strong> Bedeutung<br />
für <strong>die</strong> Erforschung von Lebenswelten. Die Historisierung<br />
von nicht normierten und gesellschaftlich marginalisierten<br />
Lebensentwürfen sollte schließlich auch<br />
<strong>der</strong> De-Konstruktion von binären Geschlechterentwürfen<br />
<strong>die</strong>nen.<br />
Theoretische und methodische Einbettung<br />
Unser Anspruch war, uns aus wissenschaftlicher Perspektive<br />
zugleich kritisch <strong>auf</strong> <strong>die</strong> Gesellschaft und solidarisch<br />
<strong>auf</strong> <strong>die</strong> Subjektivität <strong>der</strong> Interviewten zu beziehen.<br />
Interviews zu führen bedeutet dabei aber nicht nur<br />
eine „an<strong>der</strong>e“ Geschichte zu erzählen, also alternativ<br />
zu den offiziellen Geschichtserzählungen, son<strong>der</strong>n auch<br />
unsere eigenen Quellen zu schaffen, um in <strong>der</strong> Zukunft<br />
neue historische Erkenntnisse zu gewinnen.<br />
Folglich entwickelten <strong>wir</strong> in unserer Arbeitsgruppe einen<br />
Interviewleitfaden, <strong>der</strong> aus unserer Perspektive zentrale<br />
Fragen beinhaltete. Diese Fragen setzten unterschiedliche,<br />
von an<strong>der</strong>en Forschungen bereits erprobte,<br />
Zugriffsweisen voraus. Doch sollten unsere erarbeiteten<br />
Fragen nicht einfach schematisch abgefragt werden,<br />
son<strong>der</strong>n es sollte auch immer <strong>der</strong> Raum da sein, persönliche<br />
Geschichten zu erzählen. Die Interviews wurden<br />
daher eine Mischung aus direkter Befragung <strong>auf</strong> <strong>der</strong><br />
Grundlage unseres Leitfadens und dem sog. Narrativen<br />
Interview, also Erzählweisen, <strong>die</strong> kognitiv-assoziativ<br />
funktionierten. Die Interviewten sollten <strong>die</strong> Möglichkeit<br />
erhalten, ihre Lebensgeschichten zu erzählen und Fragen<br />
<strong>der</strong> biographischen und politischen Vorerfahrungen<br />
zu dem von uns fokussierten historischen Ereignis bzw.<br />
Zeitfenster – <strong>die</strong> Zeit nach dem Zweiten <strong>Welt</strong>krieg – in<br />
persönliche Erlebnisse einzubetten. So konnte auch <strong>die</strong><br />
Zeit während und nach dem Krieg erzählerisch verbunden<br />
werden.<br />
6
Die Erzählungen über den Alltag ermöglichten eine Einsicht<br />
in individuelle Bewältigungsstrategien <strong>der</strong> Zeitzeug*innen<br />
in Bezug <strong>auf</strong> Lebens- und Arbeitsbedingungen,<br />
sowie in <strong>die</strong> Erfahrungen im näheren Umfeld und<br />
<strong>die</strong> Erfahrungen mit möglichen Handlungsspielräumen.<br />
Beson<strong>der</strong>s wichtig waren sowohl den Interviewten wie<br />
auch dem Arbeitskreis <strong>der</strong> Umgang mit und <strong>die</strong> Handlungsspielräume<br />
im Zusammenhang mit Kriminalisierung<br />
und Vorurteilen. Diese Erfahrungen kontrastieren<br />
immer <strong>die</strong> großen Erzählweisen <strong>der</strong> Geschichte, <strong>die</strong> oft<br />
eine zu große Verallgemeinerung für marginalisiertes<br />
und diskriminiertes Leben darstellen. Erfahrungen können<br />
so geteilt und vervielfältigt werden und bereichern<br />
den Horizont Geschichte, aber sie ermöglichen auch,<br />
sich selbst in <strong>der</strong> Geschichte wie<strong>der</strong> zu finden und zu<br />
verorten.<br />
Forschung und Erinnerung<br />
Erinnerungen an vergangene Erlebnisse werden immer<br />
anhand aktueller verfügbarer Information, dominanten<br />
Deutungen und Institutionen vorgestellt. Oft<br />
werden frühere Erlebnisse mit <strong>der</strong> heutigen Situation<br />
verglichen. Genau <strong>die</strong>se Art des Gedächtnisses ist das,<br />
was uns interessierte und was das Interview von beispielsweise<br />
<strong>der</strong> gerichtlichen Befragung, <strong>der</strong> Beichte<br />
o<strong>der</strong> <strong>der</strong> therapeutischen Befragung unterscheidet. Es<br />
werden vorerarbeitete Fragen gestellt, <strong>die</strong> interviewte<br />
Person kann, muss aber nicht antworten, und es gibt<br />
<strong>die</strong> Zeit und den Raum, Fragen auszuweiten und eigene<br />
Standpunkte einzubringen.<br />
Das Gedächtnis funktioniert an<strong>der</strong>s als beispielsweise<br />
<strong>die</strong> Textproduktion. Es erinnert oft nicht chronologisch<br />
und hat nicht den Anspruch <strong>der</strong> Authentizität o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Verallgemeinerbarkeit. So werden Erlebnisse von den<br />
Erzählenden so dargestellt, wie sie emotional und subjektiv<br />
von <strong>die</strong>sen erlebt wurden. Nicht selten wi<strong>der</strong>sprechen<br />
Erzählungen von Zeitzeug*innen dem, was<br />
in Geschichtsbüchern steht. Handlungsmotive, soziale<br />
Praktiken <strong>der</strong> Zeitzeug*innen, aber auch Zufall und<br />
Glück finden so Eingang in <strong>die</strong> Erzählung und können<br />
damit historisiert werden.<br />
Interviewfragen aus dem Leitfaden:<br />
• Stellen Sie sich vor, <strong>wir</strong> lernen uns<br />
gerade kennen und ich frage Sie,<br />
wer Sie <strong>sind</strong>. Was würden Sie dann<br />
über sich erzählen?<br />
• Woran erinnern Sie sich gerne?<br />
• Gab es Momente, wo Sie sich als<br />
„an<strong>der</strong>s“ bzw. „beson<strong>der</strong>s“ gefühlt<br />
<strong>habe</strong>n?<br />
• Welche Erfahrungen <strong>habe</strong>n Sie mit<br />
Behörden und an<strong>der</strong>en Institutionen<br />
gemacht?<br />
• Die Zeiten än<strong>der</strong>n sich, manches<br />
<strong>wir</strong>d überwunden. Über welche<br />
Verän<strong>der</strong>ungen freuen Sie sich?<br />
Eine Ebene, <strong>die</strong> beispielsweise literarisches Schreiben<br />
o<strong>der</strong> wissenschaftliche Geschichtsschreibung nicht besitzt,<br />
ist <strong>die</strong> <strong>der</strong> Mimik, Gestik, Stimme, Rhetorik, also<br />
<strong>die</strong> Körpersprache einer Person. Diese weitere Ebene<br />
kommentiert das Erzählte und kann weitere Aufschlüsse<br />
über <strong>die</strong> Geschichten und beson<strong>der</strong>s über den Fortl<strong>auf</strong><br />
<strong>der</strong> Aufarbeitung geben. Immer vorausgesetzt, <strong>die</strong> Interviewten<br />
geben ihr Einverständnis.<br />
Der Erkenntnisgewinn einer solchen Methode ist, dass<br />
Zeitzeug*innen überhaupt <strong>der</strong> Raum, und zwar ein öffentlicher<br />
Raum, gegeben <strong>wir</strong>d, ihre Geschichte zu erzählen<br />
– Geschichten <strong>die</strong> noch nicht erzählt wurden und<br />
Geschichte sowie <strong>die</strong> offizielle Geschichtsschreibung<br />
konterkarieren. Behauptungen wie „<strong>wir</strong> <strong>habe</strong>n von<br />
nichts gewusst“ o<strong>der</strong> „Lesben wurden nicht verfolgt“<br />
können somit kontrastiert werden. Zeitzeug*innen wi<strong>der</strong>legen<br />
durch ihre Erfahrungen und Beobachtungen<br />
solche verallgemeinernden Aussagen und <strong>sind</strong> damit<br />
eine unabdingbare Quelle für <strong>die</strong> Verfolgungsgeschichte<br />
von LGBT*Is.<br />
Da uns <strong>die</strong>se erarbeitete Zeitzeugenschaft (Quellen) als<br />
von tragen<strong>der</strong> allgemeiner Bedeutung für <strong>die</strong> Aufarbeitung<br />
<strong>der</strong> deutschen NS-Geschichte erschien, <strong>habe</strong>n <strong>wir</strong><br />
zusätzlich dafür gesorgt, dass das Landesarchiv Nordrhein-Westfalen<br />
<strong>die</strong>ses Material zur Archivierung als<br />
eigenen Bestand <strong>auf</strong>nimmt. Um auch ein jüngeres Publikum<br />
zu erreichen, das bereit ist, sich methodologisch<br />
und inhaltlich mit <strong>die</strong>sem auseinan<strong>der</strong> zu setzen, <strong>habe</strong>n<br />
<strong>wir</strong> im Sommersemester 2015 erstmalig ein Kooperationsseminar<br />
an <strong>der</strong> Fachhochschule Köln zusammen mit<br />
dem Historischen Institut <strong>der</strong> Universität zu Köln veranstaltet.<br />
7
Lesbische Geschichte<br />
in <strong>der</strong> frühen Bundesrepublik<br />
In <strong>der</strong> frühen Bundesrepublik gab es etliche Hin<strong>der</strong>nisse<br />
für lesbische Beziehungen – auch ohne einen Paragrafen,<br />
<strong>der</strong> sie ausdrücklich verbot. Frauen, <strong>die</strong> Frauen<br />
begehrten, hatten gesellschaftlich schlechtere Möglichkeiten<br />
als Männer, <strong>die</strong> Männer begehrten. Das allgemeine<br />
Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern engte<br />
<strong>die</strong> Möglichkeiten von Frauen stark ein, unabhängig von<br />
einem Ehemann ein würdiges Leben zu führen.<br />
Es waren in <strong>der</strong> frühen Bundesrepublik ungewöhnlich<br />
viele Frauen verheiratet und damit rechtlich und sozial<br />
abhängig. Von allen Frauen wurde erwartet, eine<br />
Ehe als Lebensziel zu verfolgen. Die Republik gründete<br />
sich <strong>auf</strong> das katholische „Sittengesetz“, das – nahezu<br />
alternativlos – lebenslange, monogame Ehen vorschrieb<br />
und Sexualität nur zur Kin<strong>der</strong>zeugung erlaubte. Junge<br />
Frauen heirateten damals in einem Ausmaß, das bis dahin<br />
unbekannt war. Selbst wenn sie insgeheim in Frauen<br />
verliebt waren.<br />
An<strong>der</strong>s als für Männer schuf das Ehe- und Familienrecht<br />
für Frauen erhebliche Einschränkungen<br />
Innerhalb einer Ehe hatten sich Ehefrauen ihren Gatten<br />
zu beugen. Diese hatten bis <strong>19</strong>58 das Letztentscheidungsrecht,<br />
bis <strong>19</strong>77 ein Recht <strong>auf</strong> sexuelle Verfügbarkeit<br />
– „eheliche Pflichten“ – ihrer Gattinnen und wurden<br />
als „Ernährer“ beruflich besser ausgebildet, besser bezahlt<br />
und beför<strong>der</strong>t. Ob sie ihre Ehe beenden, war für<br />
viele Frauen eine existenzielle Frage. Mit ihrer Freundin<br />
zusammenzuleben, war für manche Frau nicht möglich.<br />
Blieb sie in ihrer Ehe, war sie von ihrem Ehemann<br />
in hohem Maße persönlich abhängig. Die Rentenreform<br />
<strong>19</strong>57 verstärkte <strong>die</strong>se Abhängigkeit; sie verlängerte <strong>die</strong><br />
Ungleichheit in <strong>der</strong> Erwerbsarbeit in <strong>die</strong> Alterssicherung<br />
hinein.<br />
Gesteigert wurde <strong>die</strong>s <strong>19</strong>60. In <strong>die</strong>sem Jahr verabschiedete<br />
<strong>der</strong> Bundestag ein Gesetz, das eine Ehescheidung<br />
gegen den Willen <strong>der</strong> „schuldlosen“ Partei fast unmöglich<br />
machte. Verliebte sich eine Ehefrau nun in eine<br />
Frau und wollte sich scheiden lassen, konnte sie ihren<br />
Gatten gegen dessen Willen kaum verlassen. Durchgesetzt<br />
hatte <strong>die</strong>se Verschärfung <strong>der</strong> Bundesfamilienminister<br />
Dr. Franz-Josef Wuermeling (CDU). Er war mit<br />
dem „Volkswartbund“, dem offiziellen Sittlichkeitsverein<br />
<strong>der</strong> katholischen Deutschen Bischofskonferenz mit<br />
Sitz in Köln, eng verbunden.<br />
Lesbische Frauen gelten nicht als Gefahr für den Staat<br />
Der „Volkswartbund“ hatte <strong>19</strong>51 auch gefor<strong>der</strong>t, dass<br />
<strong>die</strong> Bestrafung gleichgeschlechtlicher Sexualität nicht<br />
nur Männern, son<strong>der</strong>n auch Frauen drohen sollte. <strong>19</strong>54<br />
zog <strong>der</strong> „Volkswartbund“ <strong>die</strong>se For<strong>der</strong>ung zurück. Inzwischen<br />
vertrat <strong>der</strong> „Volkswartbund“ <strong>die</strong> Meinung,<br />
dass lesbische Liebe für <strong>die</strong> Öffentlichkeit viel verborgener<br />
sei als homosexuelle Betätigung unter Männern,<br />
mehr <strong>auf</strong> das Paar gerichtet und insgesamt unbedeutend.<br />
An sich hätten Frauen kaum wichtige Positionen<br />
inne; deswegen würden Beziehungen unter Frauen den<br />
Staat nicht gefährden. Eine ähnliche Haltung vertraten<br />
<strong>19</strong>57 das Bundesverfassungsgericht sowie schon seit<br />
dem Kaiserreich alle Gremien, <strong>die</strong> über eine Ausweitung<br />
des § 175 StGB <strong>auf</strong> Frauen zu befinden hatten und<br />
sich stets dagegen entschieden hatten.<br />
Mehr Einschränkungen für das lesbische Leben als das<br />
Strafrecht brachte <strong>die</strong> Rechtsprechung von Gerichten,<br />
<strong>die</strong> über den Aufenthalt von Kin<strong>der</strong>n entschieden. Diese<br />
Gerichte entzogen geschiedenen Müttern ihre Kin<strong>der</strong>,<br />
wenn den Gerichten bekannt war, dass <strong>die</strong> Mütter lesbisch<br />
lebten. Prinzipiell galt, dass ein Kind zur Mutter<br />
gehöre – es sei denn, <strong>die</strong> Mutter gefährde das Kindeswohl,<br />
u.a. durch eine Partnerin. Bis in <strong>die</strong> <strong>19</strong>80er Jahre<br />
hinein nahmen Gerichte mit <strong>die</strong>sem Argument offen<br />
lesbisch lebenden Müttern <strong>der</strong>en Kin<strong>der</strong>.<br />
8
<strong>19</strong>84 entschied endlich ein Gericht in Mettmann, dass<br />
das Kindeswohl nicht allein durch eine lesbische Lebensweise<br />
<strong>der</strong> Mutter gefährdet ist. Doch bis weit in<br />
<strong>die</strong> <strong>19</strong>90er Jahre entzogen an<strong>der</strong>e Gerichte lesbischen<br />
Müttern <strong>der</strong>en Kin<strong>der</strong>. Aus Sicht <strong>die</strong>ser Gerichte war<br />
ein heterosexuelles Umfeld für das Kindeswohl weitaus<br />
wichtiger als <strong>der</strong> Schutz <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> vor einer Atmosphäre<br />
häuslicher Gewalt Bisher ist nicht erforscht, welches<br />
Ausmaß <strong>die</strong>se Praxis hatte, wann sie begann bzw. endete<br />
und wie sie sich <strong>auf</strong> <strong>die</strong> Betroffenen aus<strong>wir</strong>kte.<br />
Vermutlich wurde damit das übliche öffentliche Schweigen<br />
über lesbische Liebe noch verstärkt – etliche Mütter<br />
verbargen ihre Liebe aus Angst, ihre Kin<strong>der</strong> zu verlieren.<br />
Heute ist uns <strong>der</strong> Entzug <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> als Ausdruck<br />
staatlicher Repression kaum noch bewusst.<br />
Forschung und Me<strong>die</strong>n beschäftigten sich bis in <strong>die</strong><br />
<strong>19</strong>70er Jahre hinein sehr selten mit lesbischer Liebe<br />
Auch im privaten Umfeld galt ein Schweigegebot. Frauenpaare<br />
konnten durchaus in <strong>der</strong> Nachbarschaft o<strong>der</strong><br />
<strong>der</strong> Familie zusammen <strong>auf</strong>treten, so lange sie nicht<br />
darüber sprachen, dass sie mehr als eine platonische<br />
Freundschaft verband. Das öffentliche Schweigen über<br />
lesbische Liebe wurde nicht zuletzt durch <strong>die</strong> Zensur<br />
verstärkt. Als Maßnahme des Jugendschutzes wurden<br />
z.B. Romane, in denen lesbische Frauen als normal und<br />
gesellschaftlich nützlich beschrieben wurden, <strong>auf</strong> den<br />
Index gesetzt. Vor solchen Schriften musste <strong>die</strong> Jugend<br />
aus Sicht <strong>der</strong> Jugendschützer unbedingt bewahrt werden.<br />
Der „Volkswartbund“ engagierte sich leidenschaftlich<br />
und erfolgreich für eine sittenstrenge Zensur.<br />
Frauen zu lieben und mit ihnen zu leben war für Frauen<br />
jahrzehntelang keine öffentlich zugängliche Option.<br />
Wenn sich Mädchen o<strong>der</strong> Frauen ins gleiche Geschlecht<br />
verliebten, hatten sie oft keine Vorstellung davon, dass<br />
sie damit nicht <strong>die</strong> <strong>Einzigen</strong> waren. Zeitzeuginnen erinnern<br />
sich, dass sie heirateten, weil sie keine an<strong>der</strong>e<br />
Möglichkeit kannten. Sie wurden, wie eine von ihnen<br />
meint, „Lesbe <strong>auf</strong> dem zweiten Bildungsweg“.<br />
Manche Zeitzeugin, <strong>die</strong> eine Beziehung mit einer Frau<br />
wagte, erinnert sich an eine diffuse Angst. Zwar bedrohte<br />
das Strafrecht nur Männer. Aber manche Frau<br />
war unsicher, ob sie nicht doch zu <strong>der</strong> Gruppe <strong>der</strong> Homosexuellen<br />
gerechnet wurde, <strong>die</strong> sich strafbar machten.<br />
Auch <strong>die</strong> Angst, als lesbisch Liebende erkannt zu<br />
werden, blieb oft vage – aber <strong>wir</strong>ksam. Und waren <strong>die</strong><br />
erlebten Ausgrenzungen ausdrücklich antilesbisch? Waren<br />
sie denn überhaupt „richtige“ Diskriminierungen?<br />
Das öffentliche Schweigen und <strong>die</strong> daraus resultierenden<br />
Unsicherheiten erschweren es bis heute, Diskriminierungen<br />
zu benennen.<br />
9
Die Paragraphen 175 und 175a StGB<br />
im Deutschland <strong>der</strong> Nachkriegszeit<br />
„Für <strong>die</strong> Homosexuellen ist das Dritte Reich noch nicht<br />
zu Ende.“ – so <strong>der</strong> berühmt gewordene Satz des nationalkonservativen<br />
deutschjüdischen Religionshistorikers<br />
und –philosophen Hans Joachim Schoeps von <strong>19</strong>62, eine<br />
zwiespältige Persönlichkeit, <strong>die</strong> trotz ihres Jüdischseins<br />
<strong>der</strong> nationalsozialistischen Ideologie nahegestanden<br />
hatte, wenigstens bisexuell war und sich in <strong>der</strong> Nachkriegszeit<br />
für <strong>die</strong> Liberalisierung <strong>der</strong> §§ 175/175a StGB<br />
einsetzte.<br />
Rein äußerlich betrachtet scheint <strong>die</strong>ser Satz nicht zu<br />
stimmen: Die junge Bundesrepublik Deutschland war<br />
eine freiheitlich-rechtsstaatliche Demokratie, wenn<br />
auch immer noch viele alte Nazis <strong>auf</strong> wichtigen Posten<br />
in Staat und Gesellschaft saßen. Gleichwohl wurden<br />
homo- und bisexuelle Männer noch bis <strong>19</strong>69 nach den<br />
Vorschriften des von den Nationalsozialisten deutlich<br />
verschärften § 175 StGB verfolgt. Die Nazi-Fassung von<br />
<strong>19</strong>35, <strong>die</strong> es unverän<strong>der</strong>t ins Strafgesetzbuch <strong>der</strong> jungen<br />
BRD geschafft hatte, war nie als „typisches NS-Unrecht“<br />
anerkannt worden. Homosexuelle galten somit<br />
lange auch nicht als Opfer <strong>der</strong> NS-Verfolgung; ein Status,<br />
<strong>der</strong> heute – auch von schwuler Seite – Lesben häufig<br />
noch vorenthalten <strong>wir</strong>d, weil <strong>der</strong> § 175 ja nicht für sie<br />
gegolten hatte.<br />
Homosexuelle als Gefahr für das Bevölkerungswachstum<br />
In <strong>der</strong> Nazi-Zeit galten homosexuelle Männer als Gefahr<br />
für <strong>die</strong> Zeugung „arischen“ Nachwuchses, mit dem <strong>der</strong><br />
„Endsieg“ für den Führer erkämpft werden sollte. Die<br />
Propaganda zeichnete sie als verweichlichte üble Ver<strong>der</strong>ber<br />
<strong>der</strong> Jugend und als Seuche im „Volkskörper“, <strong>die</strong><br />
es „auszumerzen“ galt. Mit den gleichen Argumenten<br />
ging <strong>die</strong> Verfolgung gleichgeschlechtlich lieben<strong>der</strong> Männer<br />
in <strong>der</strong> Adenauer-Zeit weiter.<br />
Jetzt war es das Wachstum <strong>der</strong> kriegsbedingt geschrumpften<br />
deutschen Bevölkerung, das durch Homosexuelle<br />
in Gefahr geriet. Die Jugend galt es weiterhin<br />
zu schützen. Ließe man Homosexuelle gewähren, so<br />
<strong>die</strong> Vorstellung, würden sie einen Staat im Staate bilden<br />
und nur ihresgleichen <strong>auf</strong> wichtige Posten hieven.<br />
In Zeiten des Kalten Krieges waren sie eine zusätzliche<br />
Gefahr, da sie anfällig seien für Anwerbeversuche <strong>der</strong><br />
Geheim<strong>die</strong>nste des Ostblocks.<br />
Die Gesellschaft <strong>der</strong> Adenauer-Zeit, in <strong>der</strong> <strong>die</strong> christlichen<br />
Kirchen eine heute unvorstellbar starke gesellschaftliche<br />
Position hatten, war von einem homophoben<br />
Grundkonsens geprägt. Die Ablehnung<br />
gleichgeschlechtlichen Liebens und Lebens wurde nicht<br />
zuletzt mit christlichen Moralvorstellungen begründet.<br />
<strong>19</strong>57 argumentierte sogar das Bundesverfassungsgericht<br />
mit Hinweis <strong>auf</strong> <strong>die</strong>se Vorstellungen, als es in einem<br />
Grundsatzurteil feststellte, <strong>die</strong> §§ 175/175a StGB seien<br />
mit dem Grundgesetz vereinbar. Geklagt hatten homosexuelle<br />
Männer, <strong>die</strong> in <strong>der</strong> Tatsache, dass lesbische<br />
Frauen nicht verfolgt wurden, eine Ungleichbehandlung<br />
<strong>der</strong> Geschlechter erblickt hatten.<br />
Wie sah homosexuelles Leben in <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />
nach Ende des Zweiten <strong>Welt</strong>krieges aus?<br />
Es spielte sich vielfach im Verborgenen ab. Zwar gab<br />
es überall einschlägige Lokale, doch waren <strong>die</strong>se stets<br />
in ihrer Existenz gefährdet. Kontakthöfe waren öffentliche<br />
Toiletten, Bahnhöfe und Parks. Immer und überall<br />
musste mit Razzien gerechnet werden, nicht selten<br />
auch durch <strong>die</strong> Militärpolizei <strong>der</strong> Besatzungsmächte. Es<br />
war gefährlich, sich beim Kennenlernen mit vollem Namen<br />
und Anschrift vorzustellen – das Gegenüber konnte<br />
doch auch ein Spitzel <strong>der</strong> Polizei sein ...<br />
Wer von den Alliierten aus Gefängnissen und Lagern befreit<br />
worden war, musste damit rechnen, von den deutschen<br />
Behörden wie<strong>der</strong> inhaftiert zu werden. Haftbefehle,<br />
<strong>die</strong> noch in <strong>der</strong> NS-Zeit ausgestellt worden waren<br />
und wegen des „Zusammenbruchs“ nicht hatten vollstreckt<br />
werden können, wurden wie<strong>der</strong> hervorgeholt.<br />
10
Sexualität spielte sich vor allem schnell und anonym ab<br />
Langzeitbeziehungen o<strong>der</strong> gar Zusammenleben mit dem<br />
geliebten Partner waren zumeist unmöglich. Zahllose<br />
Biographien schwuler und bisexueller Männer wurden<br />
dauerhaft durch <strong>die</strong> Umstände beschädigt. Unbekannt<br />
ist <strong>die</strong> Zahl <strong>der</strong> Männer, <strong>die</strong> im Gefolge <strong>der</strong> homophoben<br />
Grundstimmung <strong>der</strong> Zeit im Freitod den einzigen<br />
Ausweg sahen.<br />
Erst <strong>19</strong>69 wurden <strong>die</strong> §§ 175/175a StGB erstmals liberalisiert.<br />
Bis dahin waren ca. 50.000 Männer verurteilt<br />
und gegen Hun<strong>der</strong>ttausende ermittelt worden. Gleichgeschlechtlicher<br />
Sex unter erwachsenen Männern blieb<br />
ab <strong>19</strong>69 straffrei, wenn auch mit an<strong>der</strong>en Schutzaltersgrenzen<br />
als bei heterosexuellen Kontakten. Die DDR<br />
hatte schon <strong>19</strong>68 <strong>die</strong> §§ 175/175a StGB-DDR zugunsten<br />
eines neuen § 151 abgeschafft, <strong>der</strong> gleichgeschlechtliche<br />
Kontakte mit Min<strong>der</strong>jährigen unter 18 Jahren unter<br />
Strafe stellte, unabhängig vom Geschlecht <strong>der</strong> Beteiligten.<br />
Lesbische Kontakte waren damit in <strong>der</strong> DDR strafbewehrt.<br />
Nach <strong>19</strong>69 entstand in <strong>der</strong> BRD <strong>die</strong> heutige mo<strong>der</strong>ne<br />
Schwulenbewegung mit allem, was <strong>wir</strong> heute an mehr<br />
o<strong>der</strong> weniger erfüllendem schwulen Leben kennen. Die<br />
AIDS-Krise <strong>der</strong> <strong>19</strong>80er Jahre schien vorübergehend <strong>die</strong><br />
mühsam errungenen Emanzipationsschritte in Frage zu<br />
stellen. Der deutschen Wie<strong>der</strong>vereinigung <strong>19</strong>90 ist es<br />
dann zu verdanken, dass <strong>der</strong> § 175 <strong>19</strong>94 endgültig fiel.<br />
Die DDR hatte kurz vor <strong>der</strong> „Wende“ <strong>19</strong>89 ihren antihomosexuellen<br />
§ 151 abgeschafft, und DDR-Bürger*innen<br />
sollten durch <strong>die</strong> Wie<strong>der</strong>vereinigung juristisch nicht<br />
schlechter gestellt werden. Ein historischer Zufall be<strong>wir</strong>kte<br />
somit, dass im heutigen Deutschland männliche<br />
gleichgeschlechtliche Sexualität unter Erwachsenen<br />
nicht mehr bestraft <strong>wir</strong>d. Bis 2017 sollte es dann noch<br />
dauern, bis endlich <strong>die</strong> Urteile <strong>auf</strong>gehoben wurden, <strong>die</strong><br />
nach dem 8. Mai <strong>19</strong>45 <strong>auf</strong> dem Gebiet <strong>der</strong> heutigen Bundesrepublik<br />
gegen gleichgeschlechtlich liebende Menschen<br />
ergangen <strong>sind</strong>.<br />
„Ehe für alle“ – „Regenbogenfamilien“ – Rehabilitierung<br />
und Entschädigung <strong>der</strong> „175er“ und „151er“ – ein<br />
Kampf für <strong>die</strong>se Ziele wäre in <strong>der</strong> Nachkriegszeit nahezu<br />
unvorstellbar gewesen. Wir scheinen als LSBT*I-Menschen<br />
im heutigen Deutschland in einer <strong>der</strong> besten aller<br />
vorstellbaren <strong>Welt</strong>en zu leben, und das trotz aller<br />
Versuche von konservativer und rechtspopulistischer<br />
Seite, <strong>die</strong> errungenen Erfolge wie<strong>der</strong> zurückzudrehen.<br />
Unsere heutige Freiheit ist aber nicht selbstverständlich<br />
und muss immer wie<strong>der</strong> verteidigt werden. Wer<br />
Zeitzeug*innen aus <strong>der</strong> Nachkriegszeit zuhört, versteht,<br />
welche Errungenschaften <strong>auf</strong> dem Spiel stehen, wenn<br />
<strong>wir</strong> nicht wachsam bleiben.<br />
11
Trans*-Geschichte in Deutschland<br />
– eine Annäherung<br />
Lange Zeit wurden Menschen, <strong>der</strong>en Wissen um das eigene<br />
Geschlecht nicht mit dem Körper übereinstimmte,<br />
in dem sie geboren worden waren, nicht als eigene<br />
Gruppe wahrgenommen, son<strong>der</strong>n mit gleichgeschlechtlich<br />
begehrenden Menschen als eine „Abart“ <strong>der</strong> „conträren<br />
Sexualempfindung“, wie Homo- und Bisexualität<br />
im späten <strong>19</strong>. Jahrhun<strong>der</strong>t im medizinischen Diskurs<br />
genannt wurden, konstruiert. Trans- und Homosexualität<br />
wurden kurzerhand gleichgesetzt und schienen ohne<br />
einan<strong>der</strong> nicht denkbar zu sein. Darüber hinaus galten<br />
beide Normvarianten geschlechtlichen Daseins als behandlungsbedürftige<br />
Krankheiten – bei Transsexualität<br />
ist <strong>die</strong>s bis heute <strong>der</strong> Fall.<br />
Kaiserzeit und Weimarer Republik<br />
<strong>19</strong>10 beschrieb Magnus Hirschfeld wohl zum ersten Mal<br />
in <strong>der</strong> „westlichen“ Sexualwissenschaft „Transvestiten“,<br />
wie er sie nannte, als eigene Kategorie. Bis in<br />
<strong>die</strong> <strong>19</strong>50er Jahre blieb <strong>der</strong> von Hirschfeld geprägte Begriff<br />
für <strong>die</strong> Phänomene und Identitäten in Gebrauch,<br />
<strong>die</strong> <strong>wir</strong> heute unter Bezeichnungen wie Transsexualität,<br />
Transidentität o<strong>der</strong> Transgen<strong>der</strong> mit und ohne * zusammenfassen.<br />
Damals wie heute hatten <strong>die</strong>se Begrifflichkeiten<br />
wenig bis nichts mit sexueller Orientierung zu<br />
tun: Unter den Transvestiten <strong>der</strong> Kaiserzeit – Männer<br />
wie Frauen – fanden sich heterosexuelle Menschen, <strong>die</strong><br />
gerne <strong>die</strong> Kleidung des jeweils an<strong>der</strong>en Geschlechts<br />
trugen, genauso wie solche, <strong>die</strong> homo- o<strong>der</strong> bisexuell<br />
begehrten, <strong>die</strong> Geschlechterrolle des jeweils an<strong>der</strong>en<br />
Geschlechts dauerhaft ausleben wollten und nach einer<br />
Geschlechtsangleichung strebten.<br />
Ab Ende <strong>der</strong> <strong>19</strong>20er Jahre gehörten solche operativen<br />
Eingriffe in Deutschland durchaus zum Repertoire <strong>der</strong><br />
Chirurgie, <strong>die</strong> <strong>auf</strong> den Schlachtfel<strong>der</strong>n des Ersten <strong>Welt</strong>kriegs<br />
viele neue Erfahrungen hatte sammeln können<br />
im Bereich von Genitalverletzungen. Auch <strong>die</strong> Hormontherapie<br />
machte in <strong>der</strong> Zwischenkriegszeit wichtige<br />
Fortschritte.<br />
We<strong>der</strong> Frauen noch Männern war es im wilhelminischen<br />
Kaiserreich gesetzlich verboten, <strong>die</strong> Kleidung<br />
des jeweils an<strong>der</strong>en Geschlechts in <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />
zu tragen. Da es jedoch regelmäßig zu Menschen<strong>auf</strong>läufen<br />
führte, wenn sich „Cross-Dresser“ <strong>auf</strong> <strong>der</strong> Straße<br />
zeigten, rückte <strong>die</strong> Polizei ihnen mit den Bestimmungen<br />
<strong>der</strong> Paragraphen über „groben Unfug“ und <strong>die</strong><br />
„Erregung öffentlichen Ärgernisses“ zu Leibe. Magnus<br />
Hirschfeld setzte für Berlin <strong>19</strong>08/<strong>19</strong>09 <strong>die</strong> Ausstellung<br />
von sog. „Transvestitenscheinen“ durch, in denen den<br />
In<strong>habe</strong>r*innen bescheinigt wurde, dass sie bei <strong>der</strong> Polizei<br />
als Transvestit*innen bekannt und daher nicht wegen<br />
Erregung öffentlichen Ärgernisses zu belangen seien,<br />
wenn <strong>die</strong> Polizei sie <strong>auf</strong>griff. Zumindest in Preußen,<br />
dem größten Einzelstaat des Deutschen Reiches, waren<br />
Transvestitenscheine weit verbreitet.<br />
Im L<strong>auf</strong>e <strong>der</strong> Weimarer Republik verbesserten sich nach<br />
und nach sowohl <strong>die</strong> rechtliche Situation als auch <strong>die</strong><br />
medizinische Versorgung und Betreuung von Trans*-Menschen.<br />
So wurde es z.B. möglich, <strong>auf</strong> Antrag einen geschlechtsneutralen<br />
Vornamen zu bekommen, wenn<br />
nachgewiesen wurde, dass <strong>die</strong>s dem <strong>wir</strong>tschaftlichen<br />
und sozialen Fortkommen <strong>der</strong> Antragstellenden <strong>die</strong>nlich<br />
war. Vor allem Frauen, <strong>die</strong> als Mann leben wollten,<br />
machten von <strong>die</strong>ser Möglichkeit Gebrauch, aber auch<br />
Transfrauen nach erfolgter Geschlechtsangleichung.<br />
Trans* – hinter <strong>die</strong>sem Wörtchen mit einem<br />
hochgestellten Stern verbirgt sich ein ganzer<br />
Kosmos an (Geschlechts)Identitäten, <strong>die</strong> nicht<br />
nur das althergebrachte binäre System „Mann-<br />
Frau“ in Frage stellen, son<strong>der</strong>n auch scheinbar<br />
in Stein gemeißelte religiöse Vorstellungen, dass<br />
Gott <strong>die</strong> Menschen ausschließlich als Mann und<br />
Frau geschaffen <strong>habe</strong> und dass ein Wechsel<br />
zwischen den Geschlechtern nicht möglich sei.<br />
12
Insbeson<strong>der</strong>e in Berlin entwickelte sich in Weimarer<br />
Zeit eine deutlich sichtbare Trans*-Subkultur mit einschlägigen<br />
Lokalen, Zeitschriften, Bekleidungs- und<br />
Kosmetikgeschäften, <strong>der</strong>en Grundlagen schon in <strong>der</strong><br />
Kaiserzeit gelegt worden waren. Es zeigten sich massive<br />
Gegensätze zwischen heterosexuellen männlichen Damenimitatoren,<br />
<strong>die</strong> keinesfalls in den Verdacht <strong>der</strong> Homosexualität<br />
geraten wollten, und <strong>der</strong> „virilen“ Fraktion<br />
<strong>der</strong> homosexuellen Emanzipationsbewegung, <strong>die</strong><br />
jede Manifestation von Weiblichkeit bei Männern strikt<br />
ablehnte. „Weibliche“ Transvestiten und Lesben <strong>habe</strong>n<br />
solche Konflikte offenbar nicht ausgetragen.<br />
Transsexualität im Nationalsozialismus<br />
Transvestitismus scheint kein beson<strong>der</strong>er Verfolgungsschwerpunkt<br />
während <strong>der</strong> NS-Herrschaft in Deutschland<br />
gewesen zu sein. Sofern Damenimitatoren wegen<br />
sexueller Handlungen mit Männern in <strong>die</strong> Fänge<br />
<strong>der</strong> Verfolgungsinstanzen gerieten, wurden <strong>auf</strong> sie <strong>die</strong><br />
Bestimmungen <strong>der</strong> §§ 175/175a RStGB angewandt; Lebenswege<br />
konnten vor <strong>die</strong>sem Hintergrund auch im<br />
Konzentrationslager enden.<br />
Da Transvestiten neben dem Homosexualitätsverdacht<br />
immer mit Prostitution in Verbindung gebracht wurden,<br />
standen sie vielfach unter beson<strong>der</strong>er polizeilicher<br />
Überwachung und Strafverfolgung. Ansonsten ist kaum<br />
etwas bekannt über das Schicksal von Trans*-Menschen<br />
während <strong>der</strong> NS-Zeit.<br />
Transsexuelle wurden an den Rand <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
verbannt<br />
Für <strong>die</strong> Nachkriegszeit des Zweiten <strong>Welt</strong>kriegs ist <strong>die</strong>s<br />
nicht viel an<strong>der</strong>s. Festhalten lässt sich, dass Transsexuelle<br />
jahrzehntelang am Rande <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
leben mussten. Wer sich entschloss, als Angehörige*r<br />
des jeweils an<strong>der</strong>en Geschlechts zu leben, wurde aus<br />
<strong>der</strong> bürgerlichen <strong>Welt</strong> vielfach ausgeschlossen und von<br />
<strong>der</strong> Familie verstoßen. Geld ver<strong>die</strong>nen konnten viele<br />
Betroffene nur noch in <strong>der</strong> Prostitution o<strong>der</strong> im Showbusiness<br />
<strong>der</strong> Subkultur.<br />
Behandlungskosten für Hormontherapie und/o<strong>der</strong> geschlechtsangleichende<br />
Operationen wurden von den<br />
Krankenkassen nicht übernommen; medizinische Leistungen<br />
<strong>die</strong>ser Art waren nur für viel Geld o<strong>der</strong> <strong>auf</strong> dem<br />
Schwarzmarkt zu bekommen. Bewegungsstrukturen von<br />
Trans*-Menschen wurden erstmals unter großen Mühen<br />
in den <strong>19</strong>80er Jahren <strong>auf</strong>gebaut, wobei es in den wenigen<br />
Emanzipationsgruppen oftmals zu Streit kam über<br />
<strong>die</strong> „richtige“ Art des Frau- o<strong>der</strong> Mannseins o<strong>der</strong> den<br />
Stellenwert <strong>der</strong> geschlechtsangleichenden OP. Von <strong>der</strong><br />
Frauen- und Lesbenbewegung <strong>der</strong> <strong>19</strong>80er Jahre, aber<br />
auch von schwuler Seite, erfuhren Trans*-Menschen<br />
massive Ausgrenzung und Diskriminierung – teilweise<br />
bis heute.<br />
<strong>19</strong>81 schuf das Transsexuellengesetz (TSG) einen<br />
rechtlichen Rahmen für Namens- und Personenstandsän<strong>der</strong>ungen<br />
– <strong>die</strong>s jedoch verbunden mit zahlreichen<br />
Vorschriften, <strong>die</strong> aus heutiger Sicht massive Menschenrechtsverletzungen<br />
darstellen und <strong>die</strong> in den letzten 37<br />
Jahren größtenteils vom Bundesverfassungsgericht in<br />
sieben Urteilen außer Kraft gesetzt wurden. Dazu gehörten<br />
z.B. eine Altersgrenze von 25 Jahren, <strong>der</strong> Zwang<br />
zur geschlechtsangleichenden OP und Bestimmungen,<br />
<strong>die</strong> den Nachweis dauerhafter Unfruchtbarkeit (nötigenfalls<br />
herbeigeführt durch Kastration o<strong>der</strong> Sterilisation)<br />
vor <strong>der</strong> Personenstandsän<strong>der</strong>ung vorsahen o<strong>der</strong> <strong>die</strong><br />
Auflösung bestehen<strong>der</strong> Ehen.<br />
Nachdem nun <strong>die</strong> „Ehe für alle“ Wirklichkeit geworden<br />
ist sowie <strong>die</strong> Rehabilitierung und Entschädigung <strong>der</strong><br />
Menschen durchgesetzt wurde, <strong>die</strong> <strong>auf</strong> dem Gebiet <strong>der</strong><br />
heutigen Bundesrepublik Deutschland wegen einvernehmlicher<br />
homosexueller Handlungen verurteilt wurden<br />
(davon waren übrigens auch Transfrauen betroffen,<br />
sofern sie während ihrer Transition – noch als Männer –<br />
mit den §§ 175/175a StGB o<strong>der</strong> 151 StGB-DDR in Konflikt<br />
gerieten) und höchstrichterlich angeordnet wurde, dass<br />
es möglich sein muss, neben „männlich“ und „weiblich“<br />
ein drittes Geschlecht ins Geburtsregister einzutragen,<br />
ist <strong>die</strong> Reform <strong>der</strong> noch bestehenden Vorschriften des<br />
TSG <strong>die</strong> nächste große Baustelle im LSBT*I-Emanzipationskampf<br />
unserer Zeit.<br />
13
„Uneindeutiges Geschlecht?“<br />
Zur Geschichte intersexueller Menschen<br />
in Deutschland<br />
Das Vorhandensein „uneindeutiger Geschlechtsmerkmale“,<br />
<strong>die</strong> es erschweren o<strong>der</strong> gar unmöglich machen, ein<br />
Neugeborenes „eindeutig“ als männlich o<strong>der</strong> weiblich<br />
einzustufen, wurde und <strong>wir</strong>d als behandlungsbedürftige<br />
Krankheit eingestuft. Über Jahrhun<strong>der</strong>te hinweg galten<br />
„Hermaphroditen“, wie Intersexuelle früher auch genannt<br />
wurden, als „Missgeburten“.<br />
Die Medizin riss nach und nach <strong>die</strong> Deutungshoheit darüber<br />
an sich, welchem Geschlecht Hermaphroditen nach<br />
Geburt zuzuweisen seien. Die rechtliche Situation in<br />
Deutschland scheint für Intersexuelle dabei uneinheitlich<br />
gewesen zu sein. Im 18. Jahrhun<strong>der</strong>t war es in Bayern<br />
z.B. Hermaphroditen nach Beurteilung durch medizinische<br />
Sachverständige gestattet, das Geschlecht zu<br />
wählen, dem sie angehören wollten. Nach getroffener<br />
Wahl hatten sie dann dabei zu bleiben. Preußen kannte<br />
ebenfalls ein Wahlrecht. Ärzte mussten hier nicht hinzugezogen<br />
werden.<br />
Intersexuelle im Kaiserreich<br />
Nach <strong>der</strong> Gründung des Deutschen Reiches 1871 wurde<br />
das Personenstandsgesetz eingeführt und damit <strong>die</strong><br />
standesamtliche Registrierung von Ehen, Geburten und<br />
Todesfällen. Auch das Geschlecht von Neugeborenen<br />
musste von nun an eindeutig benannt und angegeben<br />
werden. Die bis dahin bestehenden Wahlmöglichkeiten<br />
für Hermaphroditen entfielen. Nach Auffassung<br />
des Gesetzgebers waren „Zwitter“ nichts an<strong>der</strong>es als<br />
Männer o<strong>der</strong> Frauen, <strong>der</strong>en Geschlechtsorgane missgebildet<br />
seien. Zeitgenössische Stimmen aus <strong>der</strong> Medizin,<br />
<strong>die</strong> <strong>die</strong>ser Auffassung nicht folgten und empfahlen, das<br />
Geschlechtswahlrecht wie<strong>der</strong> einzuführen o<strong>der</strong> Maßnahmen<br />
wie Genitaloperationen davon abhängig zu machen,<br />
welchem Geschlecht sich <strong>die</strong> Betroffenen angehörig<br />
fühlten, wurden verworfen.<br />
Gefahr für den „gesunden Volkskörper“<br />
Aus Sicht <strong>der</strong> „Rassenhygiene“ waren Intersexuelle<br />
eine biologische Gefahr, <strong>der</strong>en Entstehung auch <strong>auf</strong><br />
<strong>die</strong> abzulehnende „Vermischung“ angeblich verschiedenwertiger<br />
Rassen zurückzuführen sei. Dabei wurde<br />
unterschieden zwischen Menschen mit sogenannter<br />
„intersexueller Konstitution“ (Menschen, <strong>der</strong>en geschlechtliche<br />
„Uneindeutigkeit“ nur schwach ausgeprägt<br />
zu sein schien) und „echten Hermaphroditen“.<br />
Wenig überraschend äußerten Mediziner im Dritten<br />
Reich <strong>die</strong> Ansicht, dass Intersexualität bei Jüdinnen und<br />
Juden gehäuft <strong>auf</strong>trete.<br />
Von Seiten <strong>der</strong> Eugeniker wurde empfohlen, Menschen<br />
mit „intersexueller Konstitution“ <strong>die</strong> Heirat zu verbieten,<br />
da <strong>der</strong>en Nachwuchs „min<strong>der</strong>wertig“ sein würde.<br />
„Echte Hermaphroditen“ dagegen galten als unfruchtbar.<br />
Dennoch wurde in medizinischer Literatur <strong>der</strong> NS-<br />
Zeit erwogen, generell alle Menschen mit „Missbildungen“<br />
<strong>der</strong> Geschlechtsorgane zu sterilisieren, um <strong>die</strong><br />
Betroffenen an <strong>der</strong> Weitergabe ihres Erbguts zu hin<strong>der</strong>n.<br />
14
Leerstelle <strong>der</strong> Geschichtswissenschaft: Intersexualität<br />
Es ist <strong>der</strong>zeit nicht nachweisbar, dass <strong>der</strong> Verfolgungsapparat<br />
<strong>der</strong> Nationalsozialisten Intersexuellen in beson<strong>der</strong>er<br />
Weise seine Aufmerksamkeit zugewandt hätte.<br />
Gelegentlich <strong>wir</strong>d behauptet, dass <strong>die</strong> Nazis <strong>die</strong> Praxis<br />
<strong>der</strong> Genitalkorrektur perfektioniert hätten o<strong>der</strong> auch,<br />
dass Intersexuelle Opfer <strong>der</strong> NS-Rassenhygiene geworden<br />
seien. Dies scheint sich ebenfalls nicht sicher belegen<br />
zu lassen. Daneben finden sich Hinweise, dass<br />
Hermaphroditen in Konzentrationslagern Menschenversuchen<br />
unterzogen wurden.<br />
Denkbar ist auch, dass Intersexuelle als Transvestiten<br />
o<strong>der</strong> wegen gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen<br />
in <strong>die</strong> Fänge <strong>der</strong> NS-Verfolgungsmaschinerie gerieten<br />
o<strong>der</strong> als Insassen von Psychiatrien o<strong>der</strong> Heil- und<br />
Fürsorgeanstalten im Rahmen von Euthanasie-Mordaktionen<br />
ums Leben kamen. Systematische geschichtswissenschaftliche<br />
Stu<strong>die</strong>n dazu fehlen jedoch bislang – ein<br />
Befund, <strong>der</strong> sich <strong>auf</strong> <strong>die</strong> Zeit nach dem Zweiten <strong>Welt</strong>krieg<br />
in Deutschland weitgehend übertragen lässt.<br />
Erst zu Beginn des 21. Jahrhun<strong>der</strong>ts erfolgte hier ein<br />
zögerliches Umdenken. Die Folgen <strong>der</strong> Zwangsbehandlungen<br />
reichen von Störungen <strong>der</strong> sexuellen Empfindungsfähigkeit<br />
über Verlust <strong>der</strong> Fortpflanzungsfähigkeit<br />
bis hin zu körperlichen Beschwerden als Folge <strong>der</strong> Neben<strong>wir</strong>kungen<br />
von Medikamenten. Auch <strong>die</strong> Psyche <strong>der</strong><br />
Betroffenen leidet massiv unter den Spätfolgen. Hinzu<br />
kommen dann noch Diskriminierungen und Ausgrenzungen,<br />
<strong>die</strong> Intersexuelle in <strong>der</strong> Gesellschaft erleben.<br />
Kontinuität <strong>der</strong> Menschenrechtsverletzung<br />
Auf <strong>der</strong> individuellen Ebene mussten und müssen intersexuelle<br />
Menschen entsetzliche Dinge über sich ergehen<br />
lassen, <strong>die</strong> als fortgesetzte Menschenrechtsverletzungen<br />
einzustufen <strong>sind</strong>. Hier ist an erster Stelle<br />
<strong>die</strong> medizinische Praxis zu nennen, Intersexuelle noch<br />
im Kindesalter durch Operationen und an<strong>der</strong>e Behandlungsmethoden<br />
einem Geschlecht zuzuweisen. Dabei<br />
wurde zumeist solchen Operationen <strong>der</strong> Vorzug gegeben,<br />
<strong>die</strong> aus intersexuell geborenen Säuglingen Mädchen<br />
machen sollten, <strong>die</strong>s nicht zuletzt deshalb, weil<br />
sie einfacher durchzuführen waren als solche Eingriffe,<br />
<strong>die</strong> ein Kind zu einem Jungen machen. Die Kin<strong>der</strong> wurden<br />
dabei nie über Sinn und Zweck <strong>der</strong> OP <strong>auf</strong>geklärt,<br />
und auch später wurde Aufklärung verweigert, mit dem<br />
Argument, nur so könne sich <strong>die</strong> Geschlechtsidentität<br />
des Kindes „ungestört“ entwickeln.<br />
15
16<br />
„<strong>Ich</strong> empfinde schon einiges an mir<br />
feministisch, aber ich bin jetzt<br />
keine aktive Feministin ...<br />
Nein, das kann ich nicht sagen.<br />
Aber na ja, lesbisch und ein bisschen<br />
frauenbewegt im größeren Sinne<br />
bin ich schon.“
Gerlinde Korn („Amsel“)<br />
Geboren <strong>wir</strong>d Gerlinde Korn <strong>19</strong>41 in Berlin, als jüngste<br />
von drei Schwestern. Der Vater ist im Osten im Krieg.<br />
Sie besucht ein Mädchengymnasium in Kassel und macht<br />
dann in Bonn ihren Abschluss. Danach arbeitet sie bei<br />
verschiedenen Fluggesellschaften. Sie stu<strong>die</strong>rt Englisch<br />
und Geschichte <strong>auf</strong> Lehramt. Im Referendariat stellt<br />
sie fest, dass sie nicht in den Schul<strong>die</strong>nst will und <strong>wir</strong>d<br />
Künstlerin unter dem Namen „Amsel“.<br />
Mit 21 verliebt sie sich das erste Mal in eine Frau und<br />
denkt lange, dass sie <strong>die</strong> einzigen Frauen <strong>sind</strong>, <strong>die</strong> so<br />
leben bzw. empfinden. 10 Jahre lang führen sie ein Doppelleben,<br />
wohnen abwechselnd bei Gerlinde o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Freundin. Der Fernseher <strong>wir</strong>d dann jeweils hin und her<br />
getragen und in den Urlaub ein „Alibi“-Mann mitgenommen.<br />
Sie <strong>sind</strong> immer in Angst und Sorge, als Lesben enttarnt<br />
zu werden. Amsels Freundin fühlt sich beständig<br />
verfolgt.<br />
Mittlerweile <strong>wir</strong>d öffentlich über Schwule und Lesben<br />
gesprochen. „Es gab ungefähr Mitte <strong>der</strong> 70er Jahre inzwischen<br />
<strong>die</strong> EMMA. Und ich wusste, dass <strong>wir</strong> nicht <strong>die</strong><br />
einzigen <strong>auf</strong> <strong>die</strong>ser <strong>Welt</strong> <strong>sind</strong>, denen so etwas passiert.“<br />
Lesbisches Leben wurde sichtbarer, es gab eindeutige<br />
Kontaktanzeigen in Zeitschriften, Frauenkneipen,- zentren<br />
etc. enststehen.<br />
„Meine Güte, da fing ein neues Leben an. Das war schon<br />
toll. Ja, ich bin dann auch ein kleines bisschen – sagen<br />
<strong>wir</strong> mal – in <strong>die</strong> Frauenbewegung reingerutscht. Wir<br />
hatten in Bonn eine Gruppe gegründet, <strong>die</strong> sich „Fraueninitiative<br />
06. Oktober“ nannte.[...] <strong>wir</strong> <strong>habe</strong>n einige<br />
politische Aktionen gemacht. Wahlplakate nachts überklebt<br />
und <strong>habe</strong>n Kongresse gemacht und uns gegenseitig<br />
informiert, was alles so passierte.“<br />
Als Künstlerin porträtiert Amsel Frauen und Freundinnen<br />
und bearbeitet überhaupt Frauenthemen. Seit<br />
mehreren Jahren stellt sie Wächterinnen her, zwei Meter<br />
große, 30cm breite Figuren „... <strong>die</strong> man eben, wie<br />
<strong>der</strong> Name schon sagt, an <strong>die</strong> Tür stellen kann o<strong>der</strong> sonst<br />
irgendwo hin, <strong>die</strong> dann <strong>auf</strong>passen.“<br />
Als <strong>die</strong> Eltern <strong>der</strong> Freundin von <strong>der</strong> Beziehung erfahren,<br />
<strong>wir</strong>d sie von <strong>die</strong>sen belästigt und bedroht. Ihr eigener<br />
Vater setzt Amsel aus Angst um seine Stellung im Verteidigungsministerium<br />
stark unter Druck. Die Beziehung<br />
zerbricht u.a. an <strong>der</strong> Belastung und Heimlichtuerei.<br />
In einer späteren Beziehung lebt es sich schon freier:<br />
Küssen <strong>auf</strong> <strong>der</strong> Straße und Tätscheln im Restaurant <strong>sind</strong><br />
möglich, auch wenn es Blicke gibt. Weitere Beziehungen<br />
werden immer freier: „Ganz heftig [verliebt]. Und<br />
<strong>die</strong>se Beziehung hat dann 10 Jahre gedauert. Die war<br />
toll und schön. Es war insofern auch schön, weil <strong>die</strong>se<br />
Frau von meinen Eltern so sehr akzeptiert worden ist.“<br />
Die „Figurine“, <strong>der</strong> Preis für engagierte Lesben <strong>der</strong><br />
LAG Lesben in NRW, wurde 2009 von Amsel gestaltet.<br />
17
18<br />
„Und was ich gut ... finde ist, dass <strong>wir</strong><br />
versucht <strong>habe</strong>n – und ich glaube,<br />
das ist uns gelungen – selbstverständlich ...<br />
zu leben und sich nicht als Parias <strong>der</strong><br />
Gesellschaft zu empfinden, son<strong>der</strong>n eine<br />
Position zu <strong>habe</strong>n, <strong>die</strong> ganz offen war,<br />
aber nicht provokativ.“
Juan Allende-Blin<br />
Juan Allende-Blin kommt <strong>19</strong>28 in Santiago de Chile zur<br />
<strong>Welt</strong>. Sowohl <strong>die</strong> Mutter als auch <strong>der</strong> Vater <strong>sind</strong> je zur<br />
Hälfte französischer und spanischer Herkunft und professionelle<br />
Musiker_innen. Der Vater betätigt sich dazu<br />
auch noch als Musikkritiker. Die Familie hat vielfältige<br />
Kontakte in <strong>die</strong> Musikszene Santiagos, und so ist es kein<br />
Wun<strong>der</strong>, dass zahlreiche Künstler-Emigrant_innen aus<br />
den Staaten Europas, <strong>die</strong> mittlerweile unter faschistischer<br />
Herrschaft stehen und <strong>die</strong> es in das südamerikanische<br />
Land verschlagen hat, Kontakt zu den Allende-Blins<br />
suchen.<br />
Allende-Blin hat noch einen Bru<strong>der</strong>. Für <strong>die</strong> Kin<strong>der</strong> engagieren<br />
<strong>die</strong> Eltern eine Gouvernante aus Deutschland,<br />
<strong>die</strong> geflohen ist, weil sie ein Kind von einem jüdischen<br />
Mann erwartet. Die Gouvernante spricht nur Deutsch.<br />
Allende-Blin wächst somit dreisprachig <strong>auf</strong> und lernt im<br />
Salon <strong>der</strong> Familie durch <strong>die</strong> Emigrant_innen <strong>die</strong> Musikkultur<br />
kennen, <strong>die</strong> im nationalsozialistisch beherrschten<br />
Europa mittlerweile als „entartet“ gilt. Über <strong>die</strong><br />
Homosexuellenverfolgung im NS-Deutschland <strong>wir</strong>d dabei<br />
übrigens nur am Rande gesprochen.<br />
Familiär „vorbelastet“, entwickelt Allende-Blin musikalisches<br />
Talent und beginnt in Santiago mit dem Studium<br />
<strong>der</strong> Musik und <strong>der</strong> Komposition. Dort hat er auch seine<br />
ersten sexuellen Kontakte mit Männern.<br />
Ende <strong>19</strong>51 geht Allende-Blin dann nach Deutschland,<br />
an <strong>die</strong> Musikakademie Detmold, um seine musikalisch-kompositorischen<br />
Stu<strong>die</strong>n fortzusetzen. Vom § 175<br />
hat er gehört, verspürt aber keine Angst, mit <strong>die</strong>sem in<br />
Konflikt zu geraten.<br />
Anfang Januar <strong>19</strong>52 beginnt an <strong>der</strong> Musikakademie <strong>der</strong><br />
Unterricht. In <strong>der</strong> Kompositionsklasse, <strong>die</strong> Allende-Blin<br />
besucht, veranstaltet <strong>der</strong> Dozent einen Kennenlern-Tag<br />
für den neuen Kommilitonen aus Übersee, bei dem auch<br />
<strong>der</strong> Student Gerd Zacher anwesend ist und eine von ihm<br />
komponierte Kantate vorträgt. Allende-Blin und Zacher<br />
verlieben sich <strong>auf</strong> den ersten Blick ineinan<strong>der</strong> und bleiben<br />
bis zu Zachers Tod 2014 zusammen. Im Studentenwohnheim<br />
<strong>der</strong> Akademie leben sie als Paar weitgehend<br />
problemlos.<br />
Gerd Zacher ist ein Opfer <strong>der</strong> homophoben gesellschaftlichen<br />
Stimmung <strong>der</strong> frühen Bundesrepublik. Seine Eltern<br />
geben ihn <strong>19</strong>49 in <strong>die</strong> Heilanstalt Bethel, um seine<br />
Homosexualität heilen zu lassen. Im Zusammensein mit<br />
Allende-Blin kann Zacher nur langsam und unvollständig<br />
<strong>die</strong> dabei entstandenen seelischen Verletzungen überwinden.<br />
Allende-Blin und Zacher werden nach dem Studium zu<br />
wichtigen Akteuren im Bereich <strong>der</strong> „Neuen Musik“ und<br />
leben bis zuletzt ganz selbstverständlich als Paar zusammen,<br />
ohne dabei jedoch bewusst provokant zu sein.<br />
Zunächst leben sie in Hamburg, wo sie teil<strong>habe</strong>n am<br />
Emanzipationskampf <strong>der</strong> damaligen Homophilengruppen<br />
und gerne Travestie-Shows besuchen. Am schwulen<br />
Aufbruch nach <strong>19</strong>69 nehmen <strong>die</strong> beiden dann nur noch<br />
bedingt teil, sie <strong>sind</strong> zu sehr mit ihrer Arbeit als Musiker<br />
und Komponisten beschäftigt.<br />
Problemlos läuft ihr gemeinsames Leben dennoch nicht<br />
ab. So hat das Paar beispielsweise Anfang <strong>der</strong> <strong>19</strong>70er<br />
Jahre massive Schwierigkeiten, eine gemeinsame Wohnung<br />
zu finden, als Zacher <strong>auf</strong> eine Professur für Evangelische<br />
Kirchenmusik an <strong>der</strong> Essener Folkwang-Hochschule<br />
berufen <strong>wir</strong>d. Viel gravieren<strong>der</strong> jedoch: Zacher<br />
kann sich nie entschließen, mit Allende-Blin eine „eingetragene<br />
Lebenspartnerschaft“ einzugehen, als <strong>die</strong>s<br />
endlich möglich ist. Zu tief <strong>sind</strong> noch <strong>die</strong> seelischen<br />
Verletzungen aus <strong>der</strong> Zeit in <strong>der</strong> Psychiatrie, als dass<br />
er <strong>die</strong>sen Schritt gehen könnte. Bis zu seinem Tod 2014<br />
zögert Zacher den Gang zum Standesamt hinaus. Allende-Blin<br />
steht deswegen heute ohne Hinterbliebenenrente<br />
da, nach 62 Jahren ehegleicher Beziehung.<br />
<strong>19</strong>
20<br />
„<strong>Ich</strong> würde heute sagen, ich <strong>habe</strong> eine<br />
lesbische Seite, eine starke lesbische Seite.<br />
Aber ich würde mich eben heute nicht<br />
als Lesbe bezeichnen, nicht nur als Lesbe,<br />
son<strong>der</strong>n ich bezeichne mich eben als bisexuell,<br />
weil ich auch hinterher gemerkt <strong>habe</strong> –<br />
das merkst du ja an deinen Träumen, ...<br />
an deinen Interessen, an deinem Begehren,<br />
an deinen Bedürfnissen –<br />
dass ich es <strong>wir</strong>klich nicht sagen kann.<br />
<strong>Ich</strong> kann es nicht sagen.“
Barbara Degen<br />
Geboren <strong>wir</strong>d Barbara Degen <strong>19</strong>41 im von Deutschland<br />
besetzten Polen, in Posen (heute Poznań) als erstes von<br />
drei Kin<strong>der</strong>n. Der Vater fällt <strong>19</strong>43 in Russland. Ende <strong>19</strong>44<br />
flieht <strong>die</strong> Familie nach Göttingen. „´47 war ein Hungerjahr<br />
und meine Mutter hat nach dem Krieg – auch als<br />
Konsequenz aus <strong>der</strong> NS-Zeit – gesagt, ‚<strong>Ich</strong> muss jetzt<br />
selbstständig werden und will Medizin stu<strong>die</strong>ren.‛“<br />
Die Kin<strong>der</strong> kommen für <strong>die</strong> Dauer des Studiums <strong>der</strong> Mutter<br />
in ein Waisenhaus im Münsterland, da keine <strong>der</strong> Tanten<br />
sich um sie kümmern will. Degen <strong>wir</strong>d katholisch<br />
erzogen; sowohl das Waisenhaus als auch später das<br />
Gymnasium <strong>wir</strong>d von katholischen Nonnen geführt. Die<br />
Erinnerungen <strong>sind</strong> positiv, <strong>die</strong> Nonnen freundlich, es ist<br />
eine sehr freie Zeit, da es zu wenig Personal gibt, um<br />
<strong>die</strong> Kin<strong>der</strong> zu be<strong>auf</strong>sichtigen.<br />
Mit 18 <strong>wir</strong>d Barbara unehelich schwanger. Die Mutter<br />
arbeitet mittlerweile in einer katholischen Eheberatung.<br />
Sie schickt Barbara nach Oberfranken in einen<br />
Arzthaushalt, <strong>der</strong> gegen Geld sogenannte „gefallene“<br />
Mädchen <strong>auf</strong>nimmt.<br />
In Göttingen und Frankfurt stu<strong>die</strong>rt sie Jura und lernt<br />
dort ihren Mann Alfred Degen kennen, von dem sie sich<br />
eine Zeit später trennt. Sie <strong>wir</strong>d aktiv in <strong>der</strong> Frauenbewegung<br />
und gehört zu den Grün<strong>der</strong>innen <strong>der</strong> Anti-<br />
§218-Bewegung in Frankfurt, organisiert <strong>19</strong>70 <strong>die</strong> erste<br />
Frauendemo gegen das Abtreibungsverbot und <strong>wir</strong>d<br />
Sprecherin <strong>der</strong> Bewegung. <strong>19</strong>68 tritt sie in <strong>die</strong> DKP ein.<br />
Sie arbeitet als Leiterin <strong>der</strong> Volkshochschule in Friedberg,<br />
dann als Lektorin für Arbeits- und Sozialrecht im<br />
Luchterhand Verlag Neuwied und später im Bund-Verlag<br />
Zweimal ist sie als DKP-Mitglied vom „Radikalenerlass“<br />
betroffen und erhält Berufsverbot. Zunehmend setzt sie<br />
sich mit ihrer Bisexualität auseinan<strong>der</strong>, lebt <strong>die</strong>se aber<br />
nicht aus.<br />
Nach dem zweiten Berufsverbot arbeitet Barbara als<br />
Rechtsberaterin beim Mieterverein und macht sich<br />
selbstständig als Anwältin mit den Schwerpunkten Frauenrechte,<br />
Arbeitsrecht und Recht gegen sexuelle Belästigung<br />
am Arbeitsplatz. Ab Mitte <strong>der</strong> <strong>19</strong>80er ist sie vor<br />
allem in <strong>der</strong> feministischen Rechtsszene aktiv. Sie stellt<br />
das bestehende Rechtssystem zunehmend kritisch in<br />
Frage und initiiert das Kabarett „Justizia kotzt“.<br />
In <strong>die</strong>ser Zeit verliebt sie sich „ernsthaft“ in eine Frau,<br />
lebt <strong>die</strong>se Beziehung auch und trennt sich von ihrem<br />
damaligen Lebensgefährten Gerhardt. Die Liebesbeziehung<br />
scheitert jedoch daran, dass ihre Partnerin sich<br />
nicht outen will.<br />
<strong>19</strong>99 ist sie Mitgrün<strong>der</strong>in des Hauses <strong>der</strong> Frauengeschichte<br />
in Bonn und seitdem dort aktiv. Mit 60 geht sie<br />
in Rente und fängt an, vermehrt zu forschen und zu veröffentlichen,<br />
u.a. zu Themen <strong>der</strong> Frauenforschung, des<br />
Nationalsozialismus und zum Frauen-KZ Ravensbrück.<br />
„Sonnenkringel“, aus: Barbara Degen,<br />
„Die Brennesselzukunft. Nach Auschwitz –<br />
Krieg – „Euthanasie“ – Zauberfrauen-Gedichte“,<br />
Oldenburg 2003<br />
Als ich wie ein Kind war liebte ich,<br />
Was nicht sehr haltbar war<br />
Die Sonnenkringel, roten Mohn<br />
Und Schneemannfrauen und Schokolade<br />
Weil ich so oft dann tief enttäuscht<br />
Versuchte ich das Haltbare zu lieben<br />
Wie Ehemänner, Obstkonserven,<br />
Solide Arbeitsstellen und <strong>die</strong> Kirche<br />
<strong>Ich</strong> spürte keinen Schmerz, wenn ich so liebte<br />
Doch auch kein Glück und keine Lust<br />
Jetzt <strong>habe</strong> ich meinen Ehemann getauscht<br />
Für einen Sonnenkringel<br />
21
22<br />
„<strong>Ich</strong> hätte gerne einen Freund fürs Leben gehabt,<br />
das muss ich zugeben ... ich hatte da einen,<br />
aber das hat nicht geklappt. <strong>Ich</strong> war natürlich traurig.<br />
<strong>Ich</strong> vergleiche mich immer wie ein Bergsteiger,<br />
<strong>der</strong> kurz vorm Gipfel ... wie<strong>der</strong> runterrutscht, bis ins tiefe Tal,<br />
und du musst wie<strong>der</strong> deinen Weg von vorn an<strong>der</strong>s hochgehen<br />
und versuchen, <strong>auf</strong> den Gipfel zu kommen.<br />
Das ist mir nun einige Male im Leben passiert, aber ich bin, wie<br />
ihr seht, am Leben, und hab nicht dadurch den Mut verloren.“
Rolf Dackweiler<br />
Rolf Dackweiler (<strong>19</strong>40-2016) <strong>wir</strong>d im „Severinsklösterchen“<br />
geboren, einer Klinik im Kölner Severinsviertel<br />
– „kölscher“ geht es wohl kaum. Wegen des Bombenkriegs<br />
geht Dackweilers Familie zur Oma nach Kerpen,<br />
im Kölner Umland. Er wächst hier nur unter Frauen <strong>auf</strong>.<br />
Die Männer <strong>der</strong> Familie <strong>sind</strong> alle irgendwo an <strong>der</strong> Front<br />
und kommen – so wie Rolfs Vater – nicht mehr zurück.<br />
Bis zu seinem Lebensende <strong>wir</strong>d er im Haus <strong>der</strong> Oma<br />
bleiben.<br />
Als Jugendlicher will Dackweiler seine früh erwachte<br />
Homosexualität nicht wahr<strong>habe</strong>n. Er flüchtet sich vorübergehend<br />
in den Glauben und meint, durch praktizierte<br />
Frömmigkeit von seinem „Laster“ loskommen zu<br />
können. Beim örtlichen Pastor und sogar im Kölner Dom<br />
versucht Dackweiler, geistlichen Beistand zu bekommen<br />
und probiert es dann auch immer wie<strong>der</strong> erfolglos, mit<br />
Mädchen intim zu werden, um seinen Hang zum eigenen<br />
Geschlecht zu überwinden.<br />
Auf dem Land stellt es keine Schwierigkeit dar, Männer<br />
kennenzulernen. Beliebte Kontakthöfe <strong>sind</strong> <strong>die</strong> Kirmes,<br />
das Schützenfest o<strong>der</strong> <strong>die</strong> Kneipe. Viele <strong>der</strong> Männer interessieren<br />
sich später nur noch für Frauen und heiraten.<br />
Mit nicht wenigen <strong>die</strong>ser Männer – und ihren Gattinen<br />
– bleibt Dackweiler ein Leben lang befreundet.<br />
Die Ehefrauen wissen Bescheid über <strong>die</strong> gemeinsame<br />
Vergangenheit ihrer Männer mit Dackweiler und <strong>habe</strong>n<br />
damit kein Problem.<br />
15 Jahre lang hat er in Kerpen einen Freund, seine große<br />
Liebe. Die Beziehung zerbricht dann jedoch daran,<br />
dass <strong>der</strong> Freund wegzieht und seine Heterosexualität<br />
entdeckt. Auch bei seinen diversen Arbeitsstellen in <strong>der</strong><br />
Industrie und später bei den Kreiswerken und bei <strong>der</strong><br />
Bundeswehr kommt Dackweiler männertechnisch <strong>auf</strong><br />
seine Kosten, macht seine Homosexualität aber nie öffentlich.<br />
<strong>19</strong>70 kommt es dann zur Katastrophe: Dackweiler hat<br />
seit zwei Jahren einen festen Freund, <strong>der</strong> ihn drängt,<br />
seine Mutter zu heiraten, damit sie immer zusammen<br />
sein können. Als er sich <strong>die</strong>sem Ansinnen verweigert,<br />
geht <strong>der</strong> Freund zur Polizei und zeigt Dackweiler an<br />
wegen Freiheitsberaubung und Vergewaltigung. Für das<br />
Gerichtsverfahren, das ihm bevorsteht, findet er zunächst<br />
noch nicht einmal einen Verteidiger. Doch er hat<br />
Glück im Unglück: Er bekommt „nur“ eine Bewährungsstrafe,<br />
wohl auch, weil <strong>der</strong> Freund einen Teil seiner<br />
Vorwürfe vor Gericht wie<strong>der</strong> zurückzieht.<br />
Dackweiler hat niemanden, auch nicht im mittlerweile<br />
<strong>auf</strong>gebauten schwulen Freundeskreis, mit dem er<br />
seine Situation besprechen und verarbeiten kann. Auf<br />
den Rat hin, in Köln gebe es da so eine Beratungsstelle,<br />
fährt Dackweiler zur Gay Liberation Front in <strong>die</strong> Kölner<br />
Roonstraße; dort bringt er es aber nicht fertig, über sein<br />
Problem zu sprechen. Auch gefällt ihm dort <strong>die</strong> Atmosphäre<br />
nicht. Umso besser gefällt es ihm dann im Kölner<br />
Schwulen- und Lesbenzentrum SchuLZ <strong>der</strong> <strong>19</strong>80er Jahre,<br />
wo er <strong>die</strong> Leitung <strong>der</strong> „Rosa Runde“ übernimmt, ein<br />
Treffpunkt für jüngere und ältere Schwule und Lesben.<br />
Mittlerweile lebt Dackweiler völlig offen als schwuler<br />
Mann in Kerpen. Ab 2002 leitet er bis zu seinem Tod <strong>die</strong><br />
Golden Gays in Köln und berät außerdem ältere Schwule,<br />
<strong>die</strong> sich erst nach dem Tod <strong>der</strong> Ehefrau zu ihrer sexuellen<br />
Orientierung bekennen können und nun alles<br />
nachholen wollen, was sie glauben, bislang verpasst zu<br />
<strong>habe</strong>n. Sein letzter Plan ist es, in Kerpen Flyer auszulegen<br />
und den Bürgermeister für schwule Seniorenarbeit<br />
zu gewinnen. Täglich sieht er ältere und – wie er<br />
glaubt – unglückliche schwule Männer im Bus und <strong>auf</strong><br />
<strong>der</strong> Straße, denen er Mut machen und Wege zu einem<br />
glücklicheren Leben <strong>auf</strong>zeigen will.<br />
Der Tod macht ihm hier jedoch 2016 einen Strich durch<br />
<strong>die</strong> Rechnung.<br />
23
24<br />
„[<strong>Ich</strong>] <strong>habe</strong> ... es dann mal versucht,<br />
mit meinen Eltern drüber zu reden.<br />
Da war ich so 15, 16, 17, und da kam<br />
von meinem Vater nur ...<br />
‚Wenn das so sein sollte,<br />
schlage ich dich tot ...<br />
was sollen <strong>die</strong> Nachbarn<br />
von uns denken!‘“
Mandy Walczak<br />
Mandy Walczak (*<strong>19</strong>53) ist ein Kind des Ruhrgebiets und<br />
stammt aus einer Dortmun<strong>der</strong> Bergarbeiterfamilie. Sie<br />
<strong>wir</strong>d als Junge geboren und merkt schon im zarten Alter<br />
von fünf o<strong>der</strong> sechs Jahren, dass sie „an<strong>der</strong>s“ ist, an<strong>der</strong>s<br />
als ihre Geschwister und nicht so, wie man es von<br />
einem Jungen erwartet. Richtig erklären kann sie sich<br />
<strong>die</strong>ses An<strong>der</strong>ssein zu dem Zeitpunkt aber noch nicht.<br />
Mandy weiß nur, dass sie sich zu Mädchen und hier<br />
nicht zuletzt zu <strong>der</strong>en Klei<strong>der</strong>n hingezogen fühlt. Die<br />
Großeltern mütterlicherseits <strong>habe</strong>n in einem Vorort im<br />
Dortmun<strong>der</strong> Süden einen Garten – dort versteckt Mandy<br />
Mädchenkleidung, <strong>die</strong> sie ihrer Schwester stibitzt o<strong>der</strong><br />
aus dem Müll herausfischt. Wenn sich <strong>die</strong> Gelegenheit<br />
bietet – und vor allem, wenn <strong>der</strong> Großvater nicht da ist<br />
– verschwindet sie in den Garten, zieht <strong>die</strong> Klei<strong>der</strong> an<br />
und übt das Mädchensein.<br />
Über ihre ver<strong>wir</strong>renden Gefühle und ihr An<strong>der</strong>ssein<br />
versucht Mandy immer wie<strong>der</strong> mit Ärzten zu sprechen,<br />
denen sie sich anvertraut. Hilfe erfährt sie aber nicht.<br />
Man speist sie damit ab, ihre Gefühle seien stressbedingt<br />
o<strong>der</strong> Ausdruck einer sexuellen Störung. Sie bekommt<br />
immer wie<strong>der</strong> Tabletten verschrieben, von denen<br />
sie gar nicht weiß, wofür <strong>die</strong> gut <strong>sind</strong> und <strong>die</strong> sie<br />
auch nie nimmt.<br />
Ende <strong>der</strong> <strong>19</strong>60er Jahren absolviert Mandy eine Lehre als<br />
Hüttenfacharbeiter im Bereich Walzwerke. Als sie zur<br />
Bundeswehr eingezogen werden soll, verweigert sie,<br />
wobei sich <strong>die</strong> Anerkennung als Kriegs<strong>die</strong>nstverweigerer<br />
fünf Jahre hinzieht. Das Verhältnis zur Familie ist unterkühlt.<br />
Mandy erinnert sich, dass sie zuhause weitgehend<br />
ignoriert <strong>wir</strong>d und ansonsten immer wie<strong>der</strong> Ärger<br />
wegen ihres damals noch unerklärlichen An<strong>der</strong>sseins<br />
hat. Nach <strong>der</strong> Lehre arbeitet sie zunächst in <strong>der</strong> Stahlindustrie<br />
und wohnt noch zuhause, bis sie 24 Jahre alt<br />
ist. Um mobil zu sein und <strong>der</strong> Atmosphäre zuhause entkommen<br />
zu können, k<strong>auf</strong>t sie sich ein Moped und später<br />
ein Motorrad. Auch das nimmt <strong>die</strong> Familie ihr übel: Mit<br />
einem Motorrad kann man ja nicht <strong>die</strong> ganze Familie<br />
herumkutschieren und auch keine Einkäufe erledigen...<br />
<strong>19</strong>76 heiratet Mandy; eine Tochter kommt <strong>19</strong>77 zur<br />
<strong>Welt</strong>. Die Ehe scheitert nur drei Jahre später; <strong>die</strong> gemeinsame<br />
Tochter wächst bei Mandys Großeltern <strong>auf</strong>.<br />
Nach Feierabend, in den eigenen vier Wänden, lebt<br />
Mandy als Frau.<br />
Den Begriff „Transsexualität“ lernt Mandy erst in den<br />
<strong>19</strong>90er Jahren kennen, als sie eine Reportage in <strong>der</strong> Sendung<br />
„Liebe Sünde“ <strong>auf</strong> Pro7 schaut. Im Videotext zur<br />
Sendung findet sie <strong>die</strong> Adressen von Beratungsstellen –<br />
aber nur aus Österreich. In Deutschland – im Ruhrgebiet<br />
gar – findet sie keine Hilfsangebote. Bis 2005 dauert<br />
es, bis sie eine Telefonnummer einer Beratungsstelle<br />
im Ruhrgebiet bekommt und sich austauschen kann.<br />
Zu <strong>die</strong>sem Zeitpunkt hat Mandy seit sechs Jahren eine<br />
Freundin, mit <strong>der</strong> sie – als Mann – seit einem halben Jahr<br />
zusammenlebt. Es entsteht bei Mandy massiver seelischer<br />
Druck, weil sie ihr Frausein nicht mehr einfach so<br />
ausleben kann – niemand in ihrem engsten Umfeld weiß<br />
ja, dass sie transsexuell ist. Dabei hat sie den Klei<strong>der</strong>schrank<br />
voller Damenwäsche und Röcke und lässt auch<br />
beim gemeinsamen Eink<strong>auf</strong>en mit <strong>der</strong> Freundin schon<br />
mal Andeutungen fallen, aus denen ihre Transsexualität<br />
durchaus herausgelesen werden könnte.<br />
Mandy outet sich bei ihrer Freundin; <strong>die</strong> Beziehung zerbricht.<br />
Sie beschließt nun, den Weg zur Geschlechtsangleichung<br />
einzuschlagen; 2008 <strong>wir</strong>d <strong>die</strong>se vollzogen.<br />
Sie outet sich auch bei <strong>der</strong> Firma, für <strong>die</strong> sie zu <strong>der</strong> Zeit<br />
arbeitet – <strong>die</strong>s ist zwangsläufig erfor<strong>der</strong>lich, da nach<br />
<strong>der</strong> OP eine Personenstandsän<strong>der</strong>ung erfolgen würde.<br />
In <strong>der</strong> Firma durchlebt Mandy nun schlimme Zeiten mit<br />
Mobbing und körperlicher Gewalt. Sie <strong>wir</strong>d darüber psychisch<br />
krank und vorübergehend arbeitsunfähig, kehrt<br />
aber wie<strong>der</strong> in <strong>die</strong> Firma zurück. 2013 geht Mandy in<br />
Rente.<br />
Schon seit 2005 engagiert sich Mandy in einer Transsexuellengruppe<br />
in Hagen, aus <strong>der</strong> dann 2007 „Trans-<br />
Bekannt e.V.“ in Dortmund <strong>wir</strong>d. Der Verein fungiert<br />
als Beratungsstelle und als Kontakthof für transidente<br />
Menschen. Bis heute ist Mandy bei TransBekannt in <strong>der</strong><br />
Beratung von Transfrauen aktiv.<br />
25
26<br />
„... es war so, dass ich auch mit<br />
meinem Geheimnis ganz gerne lebte.<br />
Ja, und es war auch irgendwie<br />
eine Auszeichnung, würde ich sagen.<br />
... ich war eigentlich sehr lange allein<br />
gewesen, weil ich mich auch nicht so traute.“
Gisela Winand<br />
Gisela Winand erblickt <strong>19</strong>29 in An<strong>der</strong>nach, im romantischen<br />
Mittelrheintal, das Licht <strong>der</strong> <strong>Welt</strong>, als jüngstes<br />
von insgesamt fünf Kin<strong>der</strong>n und als einziges Mädchen.<br />
Sie <strong>wir</strong>d zum einen katholisch sozialisiert. Zum an<strong>der</strong>en<br />
verbringt sie Kindheit und Jugend während <strong>der</strong> Zeit des<br />
Nationalsozialismus. Eindrücklich in Erinnerung geblieben<br />
ist ihr <strong>die</strong> „Reichskristallnacht“, als in <strong>der</strong> Nacht<br />
vom 9. <strong>auf</strong> den 10. November <strong>19</strong>38 überall im nationalsozialistischen<br />
Deutschland <strong>die</strong> Synagogen in Brand<br />
gesteckt werden. Vor Feuer hat Winand bis heute Angst.<br />
Als <strong>der</strong> Zweite <strong>Welt</strong>krieg mit dem deutschen Überfall<br />
<strong>auf</strong> Polen beginnt, ist Winand genau 10 Jahre alt. Ihr<br />
Vater <strong>wir</strong>d eingezogen; ein Ereignis, das sie bis heute<br />
als sehr schmerzlich in Erinnerung hat. Glücklicherweise<br />
überlebt <strong>der</strong> Vater den Krieg. Über ihre Mutter<br />
berichtet Gisela Winand im Interview nur wenig; <strong>der</strong><br />
Vater scheint <strong>die</strong> wichtigere Person gewesen zu sein.<br />
Das wenige, was sie über <strong>die</strong> Mutter zu sagen hat, ist<br />
nicht unbedingt positiv: „Meine Mutter hat immer gesagt,<br />
‚Du kannst das nicht!‛ o<strong>der</strong> ‚Du bist so dumm!‛“<br />
– ein starkes Selbstbewusstsein entwickelt <strong>die</strong> einzige<br />
Tochter dadurch erst einmal nicht.<br />
Die Kriegszeit hat Winand trotz aller Schrecken zumindest<br />
teilweise als Zeit <strong>der</strong> Befreiung in Erinnerung. Die<br />
üblichen Pflichten im Haushalt <strong>sind</strong> reduziert, <strong>die</strong> Schule<br />
findet nur eingeschränkt statt, und so kann sie mit<br />
ihren Freundinnen ab dem Vormittag durch <strong>die</strong> Gegend<br />
stromern.<br />
Wie jedes deutsche Mädchen ist Gisela Winand Mitglied<br />
im „Bund deutscher Mädel“ (BDM). Sie erinnert sich<br />
gerne an <strong>die</strong> prachtvolle Uniform, <strong>die</strong> sie tragen muss.<br />
Beim BDM spürt sie wohl zum ersten Mal, dass sie sich<br />
eher fürs eigene als für das an<strong>der</strong>e Geschlecht interessiert.<br />
Dieses Geheimnis behält sie für sich – sie ahnt,<br />
dass sie Probleme bekommen könnte, wenn ihre sexuelle<br />
Orientierung bekannt würde. Gleichwohl bekommt<br />
sie mit, dass Kameradinnen beim BDM Beziehungen und<br />
Affären miteinan<strong>der</strong> <strong>habe</strong>n und auch „erwischt“ werden.<br />
An Bestrafungen in solchen Fällen kann sie sich<br />
nicht erinnern.<br />
Nach dem Krieg macht Gisela Winand <strong>die</strong> mittlere Reife.<br />
Dass Mädchen <strong>auf</strong> höhere Schulen geschickt o<strong>der</strong> sogar<br />
zum Abitur geführt würden, ist in ländlichen Gegenden<br />
zu <strong>die</strong>ser Zeit äußerst selten. Nach <strong>der</strong> Schule folgt eine<br />
Ausbildung zur Fürsorgerin bei einem kirchlichen Träger.<br />
An einer von Nonnen geführten Schule für geistig behin<strong>der</strong>te<br />
Kin<strong>der</strong> an <strong>der</strong> Mosel macht Winand ein Praktikum.<br />
Hier werden ihr Wert als Person und ihre Talente erkannt<br />
und geför<strong>der</strong>t; sie entwickelt Selbstvertrauen. Das Berufsleben<br />
(bei <strong>der</strong> Caritas und bei städtischen Trägern<br />
<strong>der</strong> Fürsorgearbeit) führt sie im Anschluss in den <strong>19</strong>50er<br />
und <strong>19</strong>60er Jahren u.a. über Köln, Nürnberg, Friedland<br />
und Oberhausen nach Oldenburg und zum Schluss wie<strong>der</strong><br />
nach Köln. Häufig arbeitet sie dabei mit „gefallenen<br />
Mädchen“ – jungen Prostituierten zum Beispiel, <strong>die</strong><br />
wie<strong>der</strong> <strong>auf</strong> den „rechten Weg“ zurückgeführt werden<br />
sollen. Das Verhältnis zu männlichen Kollegen scheint<br />
schwierig gewesen zu sein.<br />
Winand berichtet von neidischen Männern, <strong>die</strong> selbstbewusste<br />
junge Frauen wie sie, <strong>die</strong> nach einem Beruf<br />
streben, als Emanzen beschimpfen. Bei solchen Erlebnissen<br />
scheint aber auch eine Rolle zu spielen, dass<br />
viele <strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Kriegsgefangenschaft heimkehrenden<br />
Männer Frauen <strong>auf</strong> ihren Stellen vorfinden und in Berufen,<br />
<strong>die</strong> vor dem Krieg eigentlich nur von Männern ausgeübt<br />
werden. Winand ist aber auch überzeugt davon,<br />
dass <strong>die</strong> heimkehrenden Männer <strong>auf</strong>grund ihrer eigenen<br />
Traumatisierungen an <strong>der</strong> Front so hart mit Frauen umgegangen<br />
<strong>sind</strong>.<br />
Eine Beziehung mit einer Frau hat sie erst einmal nicht<br />
in <strong>die</strong>ser Zeit: Sie traut sich nicht so recht. Ihr Geheimnis<br />
behält sie weiterhin für sich. Als sie in Köln bei einem<br />
kirchlichen Träger arbeitet, lernt Winand bei einem<br />
Fest für Mitarbeiter_innen eine Frau kennen und<br />
lieben. In <strong>der</strong> Folge scheint sie ein recht bewegtes Liebesleben<br />
geführt zu <strong>habe</strong>n; sie ist schnell verliebt und<br />
hat immer wie<strong>der</strong> neue Freundinnen.<br />
In Köln verkehrt sie in den späten <strong>19</strong>60er und <strong>19</strong>70er<br />
Jahren in <strong>der</strong> Lesbenszene, erinnert sich u.a. gerne<br />
an das legendäre „George Sand“ und dessen Wirtin,<br />
„<strong>die</strong> Ma“ alias Ma Braungart. Im Berufsleben outet sich<br />
Winand erst spät; zu Hause dagegen nie. Die Familie<br />
scheint aber zu ahnen, dass <strong>die</strong> Freundinnen, <strong>die</strong> sie<br />
schon mal ihrer Mutter vorstellt, nicht bloß platonische<br />
Partnerinnen <strong>sind</strong>.<br />
27
28
Der Kurzfilm – Entstehung und Themen<br />
Politik – so hat es <strong>der</strong> erste deutsche Reichskanzler Bismarck<br />
gesagt – ist <strong>die</strong> Kunst des Möglichen. Dieser Ausspruch<br />
lässt sich aber auch problemlos <strong>auf</strong> Projektarbeit<br />
im Allgemeinen und <strong>die</strong> Arbeit an <strong>der</strong> Realisierung des<br />
Interviewfilms „<strong>Ich</strong> <strong>habe</strong> <strong>gedacht</strong>, <strong>wir</strong> <strong>sind</strong> <strong>die</strong> <strong>Einzigen</strong><br />
<strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>ganzen</strong> <strong>Welt</strong>“ im Beson<strong>der</strong>en übertragen.<br />
Für einen ursprünglich anvisierten längeren Film reichten<br />
<strong>die</strong> am Projektende noch vorhandenen finanziellen<br />
Ressourcen nicht mehr aus; maximal 15 Minuten waren<br />
noch machbar. Es musste improvisiert werden. Die<br />
Aufgabe: Die wichtigsten Aussagen <strong>der</strong> Interviewpartner*innen<br />
so zusammenzuschneiden, dass ein ebenso<br />
aussagekräftiges wie berührendes Zeitdokument entsteht.<br />
Die vom Facharbeitskreis eingesetzte Redaktionsgruppe<br />
(Anne Simon, Christian Kinkel, Marcus Velke), <strong>die</strong> den<br />
Auftrag hatte, ein Drehbuch zu erstellen, einigte sich in<br />
Anlehnung an den Interviewleitfaden <strong>auf</strong> folgende Aspekte<br />
und Fragen, <strong>auf</strong> <strong>die</strong> <strong>der</strong> Film Antworten liefern<br />
sollte:<br />
• Wann <strong>habe</strong>n Sie gemerkt, dass Sie „an<strong>der</strong>s“ <strong>sind</strong>?<br />
• Wie verlief für Sie das Coming out?<br />
• Wie hat Ihr Umfeld dar<strong>auf</strong> reagiert?<br />
• Wie beeinflussten zeitgenössische Bil<strong>der</strong> von Weiblichkeit<br />
und Männlichkeit Ihre individuelle Entwicklung?<br />
• Was wussten Sie über <strong>die</strong> antihomosexuelle Gesetzgebung<br />
in Gestalt <strong>der</strong> §§ 175/175a StGB?<br />
• Wie sahen Ihre Lebensräume aus? Welche Schutzräume<br />
hatten Sie?<br />
• Wie <strong>habe</strong>n Sie Partner*innenschaft gelebt?<br />
• Welche Lebensbilanz ziehen Sie heute, und welche<br />
Wünsche <strong>habe</strong>n Sie für <strong>die</strong> Zukunft?<br />
Bei <strong>der</strong> Erstellung des Drehbuchs zeigte sich dann, dass<br />
trotz Vorliegens eines Gesprächsleitfadens sechs völlig<br />
verschiedene Interviews entstanden waren, mit unterschiedlichen<br />
Schwerpunktsetzungen. Dies ist nicht nur<br />
den individuellen Temperamenten und Persönlichkeiten<br />
<strong>der</strong> Befragten, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> Interviewteams geschuldet.<br />
Die Antworten <strong>auf</strong> <strong>die</strong> Fragen, <strong>die</strong> <strong>der</strong> Film<br />
idealerweise liefern sollte – so stellte es sich immer<br />
deutlicher heraus – ließen sich nicht aus allen Interviews<br />
im gleichen Umfang herauspräparieren. Aber auch <strong>die</strong>s<br />
wurde letzten Endes als Chance und Ressource begriffen,<br />
um <strong>die</strong> Individualität <strong>der</strong> Gesprächspartner*innen<br />
noch einmal beson<strong>der</strong>s herauszustellen.<br />
Insbeson<strong>der</strong>e ging es darum, <strong>die</strong>se als Menschen zu zeigen,<br />
<strong>die</strong> nicht in Bitterkeit <strong>auf</strong> ihren Lebensentwurf<br />
zurückblicken. Die Betrachter lernen vielmehr sechs<br />
beeindruckende Persönlichkeiten kennen, <strong>die</strong> trotz<br />
widriger homophob-heteronormativer Umstände das<br />
Beste aus ihrem jeweiligen Leben gemacht <strong>habe</strong>n. Dies<br />
kann auch und gerade heute jüngeren LSBT*I-Menschen<br />
helfen, <strong>die</strong> auch in unserer heutigen, vermeintlich so<br />
toleranten und weltoffenen Gesellschaft unter Ausgrenzung<br />
und Diskriminierung zu leiden <strong>habe</strong>n.<br />
Eine beson<strong>der</strong>e ästhetisch-künstlerische Qualität verdankt<br />
<strong>der</strong> Film dem Dokumentarfilmer Jan Rothstein,<br />
<strong>der</strong> schon als Kameramann und Fotograf <strong>die</strong> „Herren-Interviews“<br />
des Projekts begleitet hatte und für den<br />
Schnitt des Filmmaterials gewonnen werden konnte.<br />
Seine kreativen Ideen (inklusive <strong>der</strong> Be<strong>auf</strong>tragung des<br />
in Köln ansässigen Jazzmusikers Johannes Behr mit <strong>der</strong><br />
Entwicklung <strong>der</strong> Filmmusik) waren es, <strong>die</strong> trotz knapper<br />
Mittel aus dem Rohmaterial ein dichtes und berührendes<br />
Zeitdokument machen.<br />
29
Auswahlbibliographie<br />
Frank Ahland (Hg.): Zwischen Verfolgung und Selbstbehauptung.<br />
Schwul-lesbische Lebenswelten an Ruhr und<br />
Emscher im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t, Berlin 2016<br />
Aus Politik und Zeitgeschichte 20-21/2012: Themenheft<br />
Geschlechtsidentität<br />
Bundesstiftung Magnus Hirschfeld (Hg.): Forschung im<br />
Queerformat. Aktuelle Beiträge <strong>der</strong> LSBTI*-, Queerund<br />
Geschlechterforschung, Bielefeld 2014<br />
Deutscher Ethikrat (Hg.): Dokumentation „Intersexualität<br />
im Diskurs“, Berlin 2012<br />
Gabriele Dennert/Christiane Leidinger/Franzika Rauchut:<br />
In Bewegung bleiben. 100 Jahre Politik, Kultur und<br />
Geschichte von Lesben, Berlin 2007<br />
Günter Grau: Lexikon zur Homosexuellenverfolgung<br />
<strong>19</strong>33-<strong>19</strong>45. Institutionen – Kompetenzen – Betätigungsfel<strong>der</strong>,<br />
Berlin/Münster 2011<br />
Günter Grau/Kirsten Plötz: Bericht <strong>der</strong> Landesregierung<br />
zum Beschluss des Landtags vom 13. Dezember<br />
2012 zur Drucksache 16/1849. Aufarbeitung <strong>der</strong> strafrechtlichen<br />
Verfolgung und Rehabilitierung homosexueller<br />
Menschen in Rheinland-Pfalz, 2017, online<br />
abrufbar unter http://mh-stiftung.de/wp-content/<br />
uploads/Langfassung.pdf (13.1.2018)<br />
Ulrike Klöppel: XXoXY ungelöst. Hermaphroditismus,<br />
Sex und Gen<strong>der</strong> in <strong>der</strong> deutschen Medizin. Eine historische<br />
Stu<strong>die</strong> zur Intersexualität, Bielefeld 2010.<br />
Florian Mildenberger/Jennifer Evans/Rüdiger Lautmann/Jakob<br />
Pastötter (Hg.): Was ist Homosexualität?<br />
Forschungsgeschichte, gesellschaftliche Entwicklungen<br />
und Perspektiven, Hamburg 2014<br />
Kirsten Plötz: Als fehle <strong>die</strong> bessere Hälfte. „Alleinstehende“<br />
Frauen in <strong>der</strong> frühen BRD <strong>19</strong>49-<strong>19</strong>69,<br />
Königstein/Taunus 2005<br />
Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen-Anhalt/ Gunda-Werner-<br />
Institut für Feminismus und Geschlechterdemokratie<br />
(Hg.): „Das Übersehenwerden hat Geschichte.“ –<br />
Lesben in <strong>der</strong> DDR und in <strong>der</strong> friedlichen Revolution.<br />
Dokumentation des gleichnamigen Fachtags vom<br />
8.5.2015 in Halle (Saale), Halle/Berlin 2016<br />
Rainer Herrn: Schnittmuster des Geschlechts. Transvestitismus<br />
und Transsexualität in <strong>der</strong> frühen Sexualwissenschaft,<br />
Giessen 2005 (Beiträge zur Sexualforschung<br />
85).<br />
Christiane Leidinger: Lesbische Existenz <strong>19</strong>45-<strong>19</strong>69.<br />
Aspekte <strong>der</strong> Erforschung gesellschaftlicher Ausgrenzung<br />
und Diskriminierung lesbischer Frauen mit<br />
Schwerpunkt <strong>auf</strong> Lebenssituationen, Diskriminierungsund<br />
Emanzipationserfahrungen in <strong>der</strong> frühen Bundesrepublik,<br />
Berlin 2015<br />
Julia Obertreis (Hg.): Oral History, Stuttgart 2012<br />
Andreas Pretzel/Volker Weiss (Hg.): Ohnmacht und<br />
Aufbegehren. Homosexuelle Männer in <strong>der</strong> frühen<br />
Bundesrepublik, Hamburg 2010<br />
Andreas Pretzel/Volker Weiss (Hg.): Rosa Radikale.<br />
Die Schwulenbewegung <strong>der</strong> <strong>19</strong>70er Jahre, Hamburg<br />
2012<br />
Christian Schäfer: „Wi<strong>der</strong>natürliche Unzucht“<br />
(§§ 175, 175a, 175b, 182 a.F. StGB). Reformdiskussion<br />
und Gesetzgebung seit <strong>19</strong>45, Berlin 2006.<br />
Claudia Schoppmann: Nationalsozialistische Sexualpolitik<br />
und weibliche Homosexualität, Pfaffenweiler<br />
<strong>19</strong>91<br />
Michael Schwartz (Hg.): Homosexuelle im Nationalsozialismus.<br />
Neue Forschungsperspektiven zu Lebenssituationen<br />
von lesbischen, schwulen, bi-, trans- und<br />
intersexuellen Menschen <strong>19</strong>33 bis <strong>19</strong>45, München 2014<br />
30
Impressum<br />
Herausgeber_innen<br />
LAG Lesben in NRW e.V.<br />
Sonnenstraße 14<br />
40227 Düsseldorf<br />
www.lesben-nrw.de<br />
Schwules Netzwerk NRW e.V.<br />
Lindenstraße 20<br />
50674 Köln<br />
www.schwules-netzwerk.nrw<br />
in Kooperation mit <strong>der</strong> ARCUS-Stiftung<br />
www.arcus-stiftung.de<br />
V.i.S.d.P.<br />
Gabriele Bischoff<br />
Markus Johannes<br />
Texte<br />
Marcus Velke: S.4, 10, 12, 14, 18, 22, 24, 26, 28, 29<br />
Dr. Muriel González Athenas: S.6<br />
Dr. Kirsten Plötz: S.8<br />
Sabine Dael: S.16, 20<br />
Lektorat<br />
Marcus Velke<br />
1. Auflage 2018<br />
Fotos<br />
Jan Rothstein: Titelbild, S.16-26<br />
Depositphotos_belahoche: S.9<br />
Depositphotos_william87: S.11<br />
Depositphotos_yelo34: S.15
www.arcus-stiftung.de<br />
www.lesben-nrw.de<br />
www.schwules-netzwerk.nrw