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DIE ZUKUNFT<br />
HAT SCHON<br />
BEGONNEN<br />
I<br />
PHILIPP SONNTAG
II
DIE ZUKUNFT<br />
HAT SCHON<br />
BEGONNEN<br />
PHILIPP SONNTAG sinniert über die<br />
Erfindung des Fernsehens. Er macht<br />
sich Gedanken über den Wunsch des<br />
Menschen, die Dinge bis zu ihrem Ende<br />
zu erforschen, besingt den Kreislauf<br />
des Werdens und spricht über das<br />
unausrottbar Böse in uns und in der<br />
Welt. Er malt Zukunftsvisionen über<br />
die Macht der Maschinen. Er spekuliert<br />
über den Fortschritt der Medizin und<br />
macht sich am Ende selbst auf den<br />
Weg, um das Geheimnis des Bermuda-<br />
Dreiecks zu ergründen.
4<br />
Der Fernwehturm<br />
13<br />
Ruthlands Rakete<br />
16<br />
Columbus<br />
18<br />
Das Böse<br />
28<br />
Robauto<br />
35<br />
Die Maschine<br />
36<br />
Die Bahn vor Gericht<br />
40<br />
Der kleine Arzt<br />
47<br />
Bermuda-Dreieck<br />
50<br />
Abschied
Der Fernwehturm<br />
Seit jeher gibt es in der Seele des Menschen das Heimweh und das<br />
Fernweh. Unvereinbar scheinen diese Sehnsüchte den Menschen in<br />
seinem Inneren zu verzehren.<br />
Am schrecklichsten hatte es das kleine Hänschen erwischt. Hänschen<br />
litt so unsäglich an Fernweh, dass es eines Tages sein Bündel<br />
schnürte und ganz allein in die Welt hinein ging. Stock und Hut standen<br />
ihm gut. Es war gar wohlgemut. Aber Mutter weinete sehr, hatte<br />
ja nun kein Hänschen mehr. Da besann sich das Kind, kehrte nach<br />
Haus geschwind.<br />
Doch kaum war es wieder bei der Mutter, erfüllte es die Unruhe von<br />
neuem, und Hänschen bekam von neuem schreckliches Fernweh. Und<br />
so quälte und quälte es sich, bis es endlich groß und ein Hans geworden<br />
war. Die Qual in seiner Brust hatte jedoch nicht nachgelassen. Im<br />
Gegenteil. Sie war größer geworden und fraß an seinem Herzen.<br />
Da das Hänschen aber nun ein Hans geworden war und Hammer und<br />
Nagel zu nutzen verstand, kam es, bzw. er auf die Idee, etwas gegen<br />
seine schreckliche Zerrissenheit zu unternehmen. Hans baute einen<br />
hohen, hölzernen Turm, auf welchem sich oben eine große Aussichtsterrasse<br />
befand. Von dieser aus konnte er weit in die Ferne sehen,<br />
ohne selbst in die Ferne gehen zu müssen.<br />
Jeden Sonntag stieg Hans mit seiner Mutter auf den Turm und schaute<br />
in die ferne Welt. So war er sowohl bei seiner Mutter als auch mit<br />
den Augen in der Ferne. Er taufte seinen Turm alsbald liebevoll ‚Fernwehturm‘.<br />
Soweit die Legende.<br />
4
5
Anfang des achtzehnten Jahrhunderts ging der Fernwehturm in den<br />
Besitz der Musikerfamilie Telemann über, die mit ihren Kompositionen<br />
reichlich Geld gescheffelt hatte und nunmehr mit dem Fernwehturm<br />
ein weiteres lukratives Geschäft witterte.<br />
Die Besuche des Fernwehturms gehörten ab jetzt zum sonntäglichen<br />
Pflichtprogramm der Bürger wie Frühschoppen, Kirchgang und Sonntagsbraten,<br />
wobei Mitglieder der Telemann-Familie mit Streichquartetten<br />
für die musikalische Untermalung des Fernwehvergnügens<br />
sorgten und begannen, Eintritt zu verlangen.<br />
Mitte des achtzehnten Jahrhunderts wanderte Anton Telemann, ein<br />
Sohn der Familie Telemann nach Amerika aus und gründete im heutigen<br />
Staate Visconsin die Siedlung Telemann-City.<br />
Anton Telemann hatte eine große Vision. Die Errichtung eines riesigen<br />
Fernwehturms in der Mitte der von ihm gegründeten Siedlung.<br />
Das Bauwerk erhielt den stolzen Namen Telemanns-Vision-Turm,<br />
bzw. Telemann-Vision-Tower.<br />
Jeden Sonntag stiegen die Farmer mit ihren Familien auf den Telemann-Vision-Tower<br />
und linderten ihr Fernweh bei Bacon Beans mit<br />
Coffee.<br />
Als Ende des achtzehnten Jahrhunderts die Fotografie erfunden wurde,<br />
erübrigte sich das mühsame Besteigen des Telemann-Vision-Tower,<br />
der inzwischen kurz und bündig Tele-Vision-Tower hieß. Musste<br />
man vorher die Ferne nicht unbedingt mehr bereisen, um etwas von<br />
ihr zu sehen, so sparte man sich jetzt auch den mühsamen Aufstieg.<br />
Man kaufte und begaffte Fotos, die der städtische Fotograf oben auf<br />
dem Tele-Vision-Tower bei jedem Wetter, zu jeder Jahreszeit und in<br />
jede Himmelsrichtung machte.<br />
Eine wahre Revolution im Fernwehwesen ereignete sich allerdings,<br />
als die Bilder laufen lernten. Der Fotograf oben auf dem Tele-Vision-<br />
Tower war Kameramann geworden. Die Bilder wurden, weil man sie in<br />
den Salons und Stuben der Bürger nicht betrachten konnte, in Licht-<br />
6
spielhäusern gezeigt – Häuser, in denen zuvor lediglich Lichtspiele<br />
veranstaltet worden waren, wo als Elfen verkleidete Bürgerstöchter<br />
mit Sturm- und Teelichtern über die ansonsten dunkle Bühne getanzt<br />
waren –. Jetzt stand dort ein riesiger Apparat, der die Bilder vom Tele-<br />
Vision-Tower abspielte und auf eine Leinwand projizierte.<br />
Nicht lange dauerte es, da wurde die Leinwand so groß gebaut, dass<br />
die Bürger sie durch die Fenster ihrer Salons sehen konnten. Aus dieser<br />
Zeit stammen die erstaunlichen Berichte von Siedlungen, in welchen<br />
die Häuser nicht um die Kirche, sondern um das Lichtspielhaus<br />
herum gruppiert waren, allesamt mit dem Wohnzimmerfenster zur<br />
großen Leinwand des Lichtspielhauses.<br />
Es dauerte nicht lange, bis die Techniker kamen und begannen, das<br />
Leid und Sehnen des Menschen mit Maschinen zu lindern. Die Bilder<br />
des Kameramannes auf dem Tele-Vision-Tower wurden nun mittels<br />
Bildschläuchen – erste frühe Glasfaser-Leitströme – in kleine Kisten<br />
gesendet, welche reich verziert und kunstvoll aus Mahagoni- oder<br />
Nussbaumholz gefertigt, in den Salons der Bürger standen. An der<br />
Vorderseite dieser Kisten waren feine Leintücher gespannt, welche<br />
die Bilder wiedergaben.<br />
Ab jetzt mussten die Bürger und ihre Familien ihre Nasen nicht mehr<br />
an ihren Wohnzimmerfenstern platt drücken, um auf die Leinwand<br />
des Lichtspielhauses zu schauen. Mit diesen primitiven Bildkisten<br />
hatten die Techniker es endlich geschafft, die beiden elementaren<br />
Sehnsüchte des Menschen – Heimweh und Fernweh – unter einen<br />
Hut, unter ein Dach, bzw. in eine Kiste zu bringen.<br />
7<br />
In ihren behaglichen Salons, im Schoß ihrer Familie konnten die Bürger<br />
mit den Augen in die Ferne schweifen, ohne die weichen Hände ihrer<br />
Ehefrauen zu lassen oder Entbehrungen anderer Art zu erdulden.<br />
Man sah staunend die aus der Ferne an den Tele-Vision-Tower heran<br />
galoppierenden Indianer und saß dabei im heimischen Ledersessel.<br />
Man beobachtete Blizzard, Taifun und Dürrezeiten um den Tower herum,<br />
aß dabei Gänsebraten und trank Portwein.
8
Nicht sehr viel später kam man darauf, den Kameramann auf dem<br />
Tower von seinem harten Los zu befreien. Man speiste die Bilder frei<br />
herumreisender Kameramänner ganz einfach in einen Versender ein,<br />
der auf dem Tele-Vision-Tower installiert war, und pumpte diese von<br />
dort aus über die Bildschläuche in die Kisten der Bürger.<br />
Immer ausgefeilter wurde die Technik. Irgendwann wurden auch die<br />
Schläuche in die Salons überflüssig. Drahtlos morste man die Bilder<br />
in die Bildkisten, die – inzwischen mit Empfangsrohren, Vorläufer der<br />
späteren Röhren – ausgestattet jedes Bild hinter einer matten Glasscheibe<br />
wiedergaben.<br />
Die Menschen waren selig. Auf den Schößen ihrer Frauen sitzend<br />
nahmen die Männer gierig an den Abenteuern teil, die ihnen inzwischen<br />
von Schauspielern, die selbst nie in der Wildnis gewesen waren,<br />
vorgegaukelt wurden.<br />
Da spielten weiße Franzosen Indianer, dunkelhäutige Amerikaner<br />
hellhäutige Eskimos und weiße Klarinettisten schwarze Saxophonisten.<br />
Das abenteuerliche Gefühl in den Herzen der Betrachter wurde<br />
mit Musik erzeugt.<br />
Abend für Abend saß die ganze Familie – Großeltern, Eltern und Kinder<br />
– vor ihren Bildkisten und vergaß Zeit und Raum.<br />
Endlich, im Jahre Neunzehnhundert und Achtundvierzig kam der Tele-Vision-Tower<br />
als angeblich brandneue, amerikanische Erfindung<br />
zurück nach Deutschland.<br />
9<br />
Bei einer in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts vorgenommenen<br />
Eindeutschung erhielt der Tele-Vision-Tower gegen den Protest<br />
der intellektuellen, bereits damals amerikanisierten Elite wieder<br />
seinen ursprünglichen Namen ,Fernwehturm‘. Als bei einer frühen, in<br />
den sechziger Jahren durchgeführten Rechtschreibreform das bis dahin<br />
in altmodischen Wortkombinationen benutzte linguale ‚w‘ durch<br />
ein weiches ‚s‘ ersetzt wurde, erhielt der Fernwehturm seinen heutigen<br />
Namen und heißt ab jetzt ,Fernsehturm‘.
Und immer noch – wie bei den ersten Bildkisten – setzen die Eltern<br />
ihre Kinder vor der Kiste, die gebannt auf die Bilder von Krieg, Verwüstung<br />
und brennenden Ölfeldern starren.<br />
10
Philipp Sonntag wurde<br />
1941 in Bad Warmbrunn/<br />
Schlesien geboren, wo sein<br />
Vater Direktor der dortigen<br />
Holzbildhauer-Schule war.<br />
1945 floh die Familie nach<br />
Bayern.<br />
Er studierte an der Münchener<br />
Akademie der bildenden<br />
Künste Bühnenbild und<br />
Kostüm und stattete etliche<br />
Theaterproduktionen aus.<br />
Nach Lebensstationen in<br />
München, Köln, Hamburg,<br />
Düsseldorf und Elsass-<br />
Lothringen zog es ihn vor<br />
fast zwanzig Jahren nach<br />
Berlin, wo er seitdem lebt<br />
und arbeitet.<br />
Man kennt Philipp Sonntag<br />
als Schauspieler, Kabarettist<br />
und Autor. Seine Leidenschaft<br />
ist jedoch das Zeichnen<br />
und Malen. In seinen<br />
Zeichnungen, Karikaturen<br />
und Bildern verarbeitet er<br />
seit seinen frühen Kindertagen<br />
bis heute unablässig<br />
seine Zeit, seine Ängste,<br />
seine Visionen und seine<br />
Erlebnisse.<br />
Philipp Sonntag zeichnet<br />
sein Leben mit.
Herausgeber<br />
Kunsthaus am Roten Rathaus<br />
Jörg Schröder<br />
Rathhausstraße 21, 10178 Berlin<br />
www.kunsthaus-am-roten-rathaus.de<br />
Text + Zeichnungen<br />
Philipp Sonntag<br />
Layout + Satz<br />
Olaf von Sass<br />
Herstellung<br />
ruksaldruck, Berlin<br />
Auflage<br />
99 Exemplare, signiert<br />
Berlin 2017
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