LGBB_012018_web
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Leroi, Armand Marie: Die Lagune oder<br />
wie Aristoteles die Naturwissenschaften<br />
erfand, Aus dem Engl. von Sabine<br />
Schmidt-Wussow und Manfred Roth, WBG<br />
Darmstadt, Theiss Verlag 2017,<br />
528 Seiten, 67 sw Abbildungen,<br />
ISBN 978-3-8062-3584-5, 38,00 €,<br />
Mitglieder 29,95€<br />
„Aristoteles war ein intellektueller Allesfresser,<br />
ein Nimmersatt, wenn es um Informationen und<br />
Konzepte ging. Aber das Thema, das ihm am<br />
meisten am Herzen lag, war die Biologie. In seinen<br />
Arbeiten wird das Studium der Natur lebendig,<br />
wenn er die Pfl anzen und Tiere beschreibt,<br />
die in all ihrer Vielfalt unsere Welt bevölkern”(17).<br />
„Die Bücher, die wir (sc. von Aristoteles) haben,<br />
sind für Naturforscher ein reines Vergnügen. Viele<br />
der Lebewesen, über die er schreibt, leben im<br />
oder am Meer. Er beschreibt die Anatomie von<br />
Seeigeln, Seescheiden und Schnecken. Er betrachtet<br />
Sumpfvögel und beschreibt ihre Schnäbel,<br />
Beine und Füße. Delfi ne faszinieren ihn, weil<br />
sie Luft atmen und ihre Jungen säugen, aber dennoch<br />
aussehen wie Fische. Er erwähnt mehr als<br />
hundert verschiedene Fischarten und zählt auf,<br />
wie sie aussehen, was sie fressen, wie sie sich<br />
fortpfl anzen, welche Geräusche sie von sich geben<br />
und welche Wege sie auf ihren Wanderungen<br />
zurücklegen. Sein Lieblingstier war ein merkwürdig<br />
intelligenter Wirbelloser: der Tintenfi sch. Der<br />
Dandy muss also Fischmärkte geplündert und an<br />
Anlegeplätzen mit Fischern geplaudert haben.<br />
Doch der größte Teil von Aristoteles’ Wissenschaft<br />
ist ganz und gar nicht beschreibend, sondern<br />
besteht auf Antworten auf Hunderte von<br />
Fragen. Warum haben Fische Kiemen und keine<br />
Lungen? Flossen, aber keine Beine? Warum haben<br />
Tauben einen Kropf und Elefanten einen Rüssel?<br />
Warum legen Adler so wenige Eier, Fische so<br />
viele, und warum sind Sperlinge so lüstern? Wie<br />
ist das überhaupt mit den Bienen? Und dem Kamel?<br />
Warum geht nur der Mensch aufrecht? Wie<br />
sehen, riechen, hören, fühlen wir? Wie beeinfl<br />
usst die Umgebung das Wachstum? Warum sehen<br />
Kinder manchmal so aus wie ihre Eltern und<br />
manchmal nicht? Was ist der Zweck von Hoden,<br />
Menstruation, Scheidenfl üssigkeit, Orgasmen?<br />
Was verursacht Missgeburten? Was ist der wahre<br />
Unterschied zwischen dem Männlichen und dem<br />
Weiblichen? Wie bleiben Lebewesen am Leben?<br />
Warum vermehren sie sich? Warum sterben sie?<br />
Das ist kein zaghafter Streifzug in ein neues Gebiet,<br />
es ist eine vollständige Wissenschaft. Vielleicht<br />
zu vollständig, denn manchmal scheint es,<br />
als hätte Aristoteles für alles eine Erklärung”(18f).<br />
Der Autor dieser Zeilen, Armand Marie Leroi, ist<br />
Professor für Evolutionäre Entwicklungsbiologie<br />
in London, und schreibt beneidenswert anschaulich<br />
und mitreißend. Nimmt man das schöne, in<br />
Leinen geschlagene Buch in die Hand, begibt man<br />
sich als Leser mit dem noch jugendlichen Autor in<br />
der Altstadt von Athen in einen Buchladen – „Es<br />
ist der reizendste, den ich kenne. Er liegt in einer<br />
Gasse nahe der Agora, neben einem Geschäft,<br />
das Kanarienvögel und Wachteln in Käfi gen verkauft”<br />
(13). Dort entdeckte Leroi – „im letzten<br />
Frühling der Drachme, als Griechenland noch arm<br />
und billig war” – eine komplette Ausgabe der<br />
Works of Aristotle Translated into English, wobei<br />
ihm besonders der Titel des vierten Bandes der<br />
Reihe ins Auge gefallen war: Historia animalium<br />
(Historiai peri ton zoon). „Ich öffnete ihn und las<br />
etwas über Muschelschalen”.<br />
Der Leser erfährt dann von der kindlichen Besessenheit<br />
des Autors für Schneckenhäuser und<br />
Muschelschalen, die erst Studienjahrzehnte später<br />
im Athener Buchladen wieder virulent wurde.<br />
Leroi verstand seinen Aristoteles jedenfalls sofort:<br />
„Er war offenbar zum Strand gegangen, hatte<br />
eine Schnecke aufgehoben, hatte sich gefragt:<br />
,Was steckt darin?’, hatte nachgesehen und hatte<br />
gefunden, was ich gefunden hatte, als ich 23<br />
Jahrhunderte später dasselbe tat”(16).<br />
Die zweite Titelhälfte gibt die Richtung des Buches<br />
an: „... wie Aristoteles die Naturwissenschaften<br />
erfand”. Elegant lässt Leroi in wenigen Sätzen<br />
Jahrhunderte von Wissenschaftsgeschichte vorüberziehen:<br />
„Die Wissenschaft, die Aristoteles<br />
begann, ist groß geworden, aber seine Nachkommen<br />
haben ihn so gut wie vergessen. In einigen<br />
Bezirken von London, Paris, New York oder San<br />
Francisco kann man keinen Stein werfen, ohne<br />
einen Molekularbiologen zu treffen. Aber fragt<br />
man ihn dann, nachdem man ihn niedergestreckt<br />
hat, was Aristoteles getan hat, erntet man bestenfalls<br />
ein verwirrtes Stirnrunzeln. Doch Gesner,<br />
Aldrovandi, Vesalius, Fabricius, Redi, Leeuwenhoek,<br />
Harvey, Rey, Linné, Geoffroy Saint-Hilaire<br />
père et fils und Cuvier – um nur einige von vielen<br />
zu nennen – haben ihn gelesen. Sie nahmen<br />
die Struktur seiner Gedanken in sich auf. Und so<br />
wurden seine Gedanken zu unseren Gedanken,<br />
selbst wenn wir nichts davon wissen. Seine Konzepte<br />
fl ießen wie ein unterirdischer Fluss durch<br />
die Geschichte unserer Wissenschaft und treten<br />
hier und da als Quelle zutage als scheinbar neue<br />
Ideen, die jedoch tatsächlich schon sehr alt sind”<br />
(19).<br />
Aristoteles begann erst im Alter von 37 Jahren<br />
seine biologische Forschung. Nach dem Tod<br />
Platons 347 v. Chr. hatte er Athen verlassen<br />
und verbrachte die folgenden dreizehn Jahre im<br />
nordöstlichen Ägäis-Raum. Auf Lesbos freundete<br />
er sich mit Theophrast an. Bald teilten sie<br />
sich die Arbeit: Aristoteles beackerte das Feld<br />
der Zoologie, Theophrast wurde zum Vater der<br />
Botanik. Schon der schottische Gelehrte D’Arcy<br />
Wentworth Thompson, der 1910 die Historia ani-<br />
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