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3<br />
Helga Pfoertner<br />
Mahnmale, Gedenkstätten, Erinnerungsorte<br />
für die Opfer des Nationalsozialismus in München<br />
1933-1945<br />
Mit der Geschichte leben<br />
Band 2, I bis P<br />
Literareon im Herbert Utz Verlag<br />
München
Titelbild: Denkmal am Platz der Opfer des Nationalsozialismus<br />
Foto: Hubert Engelbrecht<br />
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek<br />
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der<br />
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische<br />
Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.<br />
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch<br />
begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des<br />
Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Wiedergabe<br />
auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung<br />
in Datenverarbeitungsanlagen bleiben – auch bei nur<br />
auszugsweiser Verwendung – vorbehalten.<br />
Lektorat: Stefanie Siebers-Gfaller<br />
Satz und Layout: Herbert Utz<br />
ISBN 3-8316-1025-8<br />
© 2003 · Helga Pfoertner<br />
Herstellung: Books on Demand GmbH<br />
Literareon im Herbert Utz Verlag GmbH · München<br />
Tel. 089-307796-93 · www.literareon.de<br />
4
Mahnmale, Gedenkstätten, Erinnerungsorte für die<br />
Opfer des Nationalsozialismus in München<br />
1933–1945<br />
Mit der Geschichte leben<br />
Vorbemerkung<br />
Zur Trauerkultur der alten Römer gehörte, dass sie ihre Gräber am Rande großer Straßen<br />
anlegten, die die Reisenden zu verweilen gemahnten.<br />
Geschichte ist nicht nur vergangene Wirklichkeit, sondern auch das Bild, das wir uns von<br />
ihr machen. Dieses Bild entsteht in Auseinandersetzungen und Deutungsangeboten, die<br />
durch die Medien verbreitet werden. Gedenken ist öffentlich gestaltete Erinnerung. Um<br />
das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft aktiv zu halten und ihre Geschichte zu vermitteln,<br />
sind öffentliche Orte der Erinnerung wie Museen, Gedenkstätten, Denkmäler und<br />
Mahnmale notwendig. Denkmale regen beim Betrachter Fragen an, halten die Erinnerung<br />
wach und fördern die mentale Auseinandersetzung mit der Geschichte.<br />
Öffentliche Erinnerung ist Bestandteil der politischen Kultur. Dazu bedarf es neben Gedenkstätten<br />
am authentischen Ort ebenso Mahnmale und Denkmäler, die uns inmitten unseres<br />
Alltages begleiten und dazu auffordern: aus der Geschichte zu lernen und an die Fehler<br />
der Vergangenheit zu denken, die uns immer wieder einholen können, wenn wir uns<br />
ihnen nicht stellen und sie leugnen.<br />
Avi Primor, Vizepräsident der Universität von Tel Aviv, schloss „Die Weiße-Rose-Gedächtnisvorlesung“<br />
am 6. Februar in der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität mit<br />
den Worten: „Heute sollte die Lehre aus dem Widerstand der ,Weißen Rose‘ lauten: Erinnerung<br />
ist das Geheimnis der Erlösung.“ 1<br />
Diese Dokumentation gibt einen Überblick über die bisher geschaffenen Mahnmale, Gedenkstätten<br />
und Erinnerungsorte für der Opfer des Nationalsozialismus in München. Zugleich<br />
dient sie als Nachschlagewerk. Das in drei Bände aufgeteilte Informationsmaterial<br />
ist alphabetisch geordnet: Band 1: Buchstaben A bis H; Band 2: Buchstaben I bis P; Band<br />
3: Buchstaben Q bis Z.<br />
1 SZ Nr. 31 vom 7. 2. 2001: 17<br />
5
Den Anstoß zur Errichtung einer Gedenktafel oder eines Denkmales gaben meistens Bürgerinitiativen;<br />
dazu kamen Anträge von den Fraktionen der Münchner Stadtverwaltung<br />
und der Bayerischen Staatsregierung. Die Landeshauptstadt München leistete dazu im<br />
Hinblick auf Planung und Errichtung einen großen Beitrag.<br />
Das Buch kann als thematischer Stadtführer genutzt werden, da die Erreichbarkeit jedes<br />
Erinnerungsortes mit öffentlichen Verkehrsmitteln erklärt ist. Anlass und Entstehung der<br />
Erinnerungsorte, von der Initiative bis zur offiziellen Übergabe, kommen zur Sprache. Informationen<br />
über den Künstler werden gegeben, ebenso Äußerungen zu seinen Intentionen,<br />
die dem Betrachter einen Zugang zur Mahnmal-Kunst weisen. Spezielle Literaturhinweise<br />
folgen jedem Abschnitt. Der Biografie des Opfers misst diese Dokumentation einen<br />
besonderen Stellenwert bei. Politische, religiöse und weltanschauliche Motive von Widerstandskämpfern<br />
werden dargestellt und zeigen, dass der Mensch nicht unbegrenzt beeinflußbar<br />
ist. Das Ziel war, zu der betreffenden Einrichtung ein Textlesebuch zu schaffen,<br />
das sich in den Kontext der ortsgebundenen wie der allgemeinen Zeitgeschichte einfügt.<br />
Es gilt, diese Denkmäler in einen kollektiven Erinnerungsprozess einzubinden, in dem sie<br />
heute und in Zukunft als zusätzliches Medium der Geschichte genutzt werden können.<br />
Dank<br />
Am Anfang soll die Hilfe und das Entgegenkommen des Münchner Städtischen Baureferates,<br />
Hochbau I, von Herrn Baudirektor Hans Senninger gewürdigt werden. Seit kurzem<br />
wird diese Abteilung von Herrn Diplomingenieur Walter Sesemann betreut, auch ihm sei<br />
für die Hilfe gedankt.<br />
Weiterer Dank geht an die Mitarbeiter des Städtischen Bestattungsamtes, des Stadtarchivs<br />
München, der Bayerischen Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen, des<br />
Bayerischen Hauptstaatsarchivs, des Instituts für Zeitgeschichte München, der Bayerischen<br />
Staatskanzlei, der Max-Planck-Gesellschaft München und der KZ-Gedenkstätte<br />
Dachau. Dankbar erwähnen möchte ich noch Herrn Forstdirektor Gerhard Stinglwagner,<br />
Frau Dr. Marie-Luise Schultze-Jahn und Herrn Rechtsanwalt Dr. Otto Gritschneder, die<br />
für diese Dokumentation ihre privaten Photoarchive öffneten. Besonders zu würdigen ist<br />
die fotografische Leistung von Herrn Andreas Olsen, München. Mit Dank erwähnt werden<br />
müssen die Zitate der Mahnmal-Künstler, in denen sie ihre Werke erklären.<br />
Dem Herbert Utz Verlag danke ich für die Bereitschaft, diese Dokumentation zu verlegen.<br />
Ein ganz besonderes Dankeschön richte ich an meinen Mann, Herrn Dr. Hubert Engelbrecht,<br />
der mit grosser Hilfsbereitschaft, Gelassenheit und Geduld meine Arbeit während<br />
der ganzen Zeit begleitet hat.<br />
6
Dieses Werk ist Herrn Andreas Olsen (*1955 †2001) gewidmet, der durch seine fotografische<br />
Arbeit sehr zum Gelingen dieses Werkes beigetragen hat.<br />
München, im Februar 2003 Helga Pfoertner<br />
Archiv-Verzeichnis<br />
Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin-Dahlem (Bildnachweis)<br />
Archivum Monacense Societatis Jesu, München (Bildnachweis)<br />
argum / C. Lehsten, München (Bildnachweis)<br />
Baureferat Hochbau I, Landeshauptstadt München<br />
Baureferat Hochbau, Gestaltung öffentlicher Raum, Landeshauptstadt München<br />
Bayerisches Hauptstaatsarchiv München<br />
Bayerische Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen, München<br />
Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte, Phillips Universität Marburg,<br />
Bildarchiv Marburg (Bildnachweis)<br />
Deutsches Theatermuseum München (Bildnachweis)<br />
Dokumentations- und Informationszentrum München, Süddeutscher Verlag, Bilderdienst,<br />
München (Bildnachweis)<br />
Dr. Otto Gritschneder, München (Bildnachweis)<br />
Ida Seele Archiv Dillingen (Bildnachweis)<br />
Institut für Zeitgeschichte München (Bildnachweis)<br />
Israelitische Kultusgemeinde München<br />
Käthe-Kollwitz-Archiv der Berliner Akademie der Künste (Bildnachweis)<br />
Wolfram Kastner, München (Bildnachweis)<br />
Kriegsarchiv München<br />
KZ-Gedenkstätte Dachau (Bildnachweis)<br />
Marktarchiv Murnau<br />
Monacensia-Abteilung der Stadtbücherei München<br />
Dr. Marie-Luise Schultze-Jahn, Bad-Tölz (Bildnachweis)<br />
Staatsarchiv München<br />
Stadtarchiv München (Bildnachweis)<br />
Städtisches Bestattungsamt München<br />
Stadtmuseum München (Bildnachweis)<br />
Gerhard K. Stinglwagner, München (Bildnachweis)<br />
7
Abkürzungen<br />
AMSJ Archivum Monacense Societatis Jesu<br />
BayHStA Bayerisches Hauptstaatsarchiv<br />
BayStA Bayerisches Staatsarchiv<br />
BPP Bayerische Politische Polizei<br />
BZA Bezirksausschuss<br />
BDM Bund Deutscher Mädchen<br />
DAW Deutsche Ausrüstungswerke<br />
DGB Deutscher Gewerkschaftsbund<br />
DP Displaced Persons<br />
FAB Freiheitsaktion Bayern<br />
FB Freistaat Bayern (Bayerische Staatsregierung)<br />
Gestapo Geheime Staatspolizei<br />
GSI Geschwister-Scholl-Institut<br />
HJ Hitlerjugend<br />
HStAM Bayerisches Hauptstaatsarchiv München<br />
IfZ Institut für Zeitgeschichte<br />
IfZ-Archiv Archiv des Instituts für Zeitgeschichte<br />
IKG Israelitische Kultusgemeinde<br />
Kapo Arbeitskommandoführer im KZ, der selbst Häftling war<br />
KKV Vereinigung der Katholiken in Wirtschaft und Verwaltung<br />
KL Konzentrationslager<br />
KM Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus<br />
KPD Kommunistische Partei Deutschlands<br />
KWG Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft<br />
KZ Konzentrationslager<br />
LMU Ludwig-Maximilians-Universität München<br />
MBM Miscellanea Bavarica Monacensia<br />
M Landeshauptstadt München<br />
MM Münchner Merkur<br />
MNN Münchner Neueste Nachrichten<br />
MPG Max-Planck-Gesellschaft<br />
MPG-Archiv Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft<br />
MPZ Museums-Pädagogisches Zentrum<br />
MSPD Mehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands<br />
NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei<br />
OKW Oberkommando der Wehrmacht<br />
OT Organisation Todt<br />
8
RSHA Reichsicherheitshauptamt<br />
SA Sturmabteilung (der NSDAP)<br />
SD Sicherheitsdienst<br />
Sipo Sicherheitspolizei<br />
SJ Societas Jesu<br />
SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands<br />
SS Schutzstaffel (der NSDAP; auch polizeiliches Kfz-Kennzeichen der SS)<br />
StadtA Mü Stadtarchiv München<br />
SV Bayerische Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen<br />
TU Technische Universität München<br />
USPD Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands<br />
VfZ Vierteljahresheft für Zeitgeschichte<br />
VGH Volksgerichtshof<br />
VVN Vereinigung Verfolgter des Naziregimes e. V.<br />
ZA Zeitungsartikel<br />
9
Inhaltsverzeichnis<br />
Israelitischer Friedhof – Alt 12<br />
Israelitischer Friedhof – Neu 18<br />
Israelitisches Kranken- und Schwesternheim 25<br />
Judendeportation 29<br />
Judenpogrom von 1938 42<br />
Jüdisches Deportationslager Milbertshofen 48<br />
Jüdisches Kinderheim 56<br />
Jüdisches Museum München 62<br />
Jüdische Rechtsanwälte 68<br />
„Jüdisches Sammellager“ Berg am Laim 79<br />
Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim 84<br />
Dr. phil Erich Kästner 92<br />
Kalter Haus, Tal 19 103<br />
Paul Klee 107<br />
Walter Klingenbeck 115<br />
Waldemar von Knoeringen 120<br />
Prof. Dr. Lothar König SJ 131<br />
Annette Kolb 134<br />
Prof. Dr. Käthe Kollwitz 144<br />
Kriegsgefangene 154<br />
KZ Ehrenhain I 157<br />
KZ Ehrenhain II 160<br />
Hans Leipelt 166<br />
10
Karl Leisner Seliger Neupriester 173<br />
Freiherr Ludwig von Leonrod 181<br />
Prof. Dr. h. c. James Loeb 185<br />
Luftkriegsopfer – Neuhofener Schuttberg 192<br />
Luftkriegsopfer – Schwabinger Schuttberg 196<br />
Luftkriegsopfer – Ehrenhain 198<br />
Luftkriegsopfer – Olympiapark 200<br />
Heinrich Mann 202<br />
Thomas Mann 210<br />
Pater Rupert Mayer Seliger SJ 222<br />
Prof. Dr. Lise Meitner 234<br />
Albrecht Ritter Mertz von Quirnheim 242<br />
Helmuth James Graf von Moltke 251<br />
Dr. oec. publ. Emil Muhler 257<br />
Prof. Dr. jur. Karl Neumeyer 261<br />
Wilhelm Olschewski, Willy Olschewski jun., Otto Binder 268<br />
Wilhelm Freiherr von Pechmann 272<br />
Toni Pfülf 280<br />
Platz der Freiheit 287<br />
Platz der Opfer des Nationalsozialismus 290<br />
Politische Opfer 293<br />
Polnische Kriegsopfer 296<br />
Presse 298<br />
Hermann Christoph Armando Probst 303<br />
11
12<br />
Israelitischer Friedhof – Alt<br />
„Kurz war Dein Leben, zählt man es nach Stunden, doch hast Du Freud und Leid so<br />
tief empfunden, dass reichlich Dir Dein Dasein ward bemessen. Der Zauber Deiner<br />
Seele zog jeden hin, dass der Dich lieben mußt` und wer Dich kannte,<br />
wird Dich nie vergessen.“<br />
Grabinschrift für Blanche Heilbronner (1880–1906)<br />
auf dem Alten Israelitischen Friedhof. 2<br />
Grabmal von Dr. Gustav Böhm auf dem<br />
Alten Israelitischen Friedhof<br />
Foto: A. Olsen<br />
Grabmal von Dr. Gustav Böhm auf dem<br />
Alten Israelitischen Friedhof<br />
Foto: A. Olsen
Israelitischer Friedhof – Alt<br />
Thalkirchner Straße 240, Thalkirchen<br />
Brudermühlstraße U3<br />
Eintritt nur nach Vereinbarung mit der Volkshochschule (VHS) München.<br />
Grabmal von Max Luber auf dem<br />
Alten Israelitischen Friedhof<br />
Foto: A. Olsen<br />
Namensinschrift auf dem Grabmal von Erwin Kahn<br />
(Alter Israelitischer Friedhof)<br />
Foto: A. Olsen<br />
2 Schubsky, Karl W. (1988): Jüdische Friedhöfe. In: Selig, Wolfram (Hrsg.) (1988): Synagogen und jüdische<br />
Friedhöfe: 173<br />
13
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Der Friedhof wurde 1816 weit außerhalb der Stadt „eine Viertelstunde westwärts vom allgemeinen<br />
Gottesacker (Südfriedhof)“ 3 angelegt. Die Anlage umfasst 2,27 Hektar. Im Jahre<br />
1818 lebten in München 479 Juden und nach weiterem Zuwachs stieg die Zahl bis zum<br />
Jahre 1880 auf 4144 an. Aus diesem Grunde war ein Vergrößerung der Friedhofsanlage<br />
erforderlich. Nach Erweiterungen in den Jahren 1854, 1871 und 1881 diente sie bis heute<br />
als Begräbnisort, an dem sich circa 6000 Gräber befinden. Umgeben ist die Anlage von<br />
einer 2,5 Meter hohen, roten Ziegelsteinmauer.<br />
Der jüdische Friedhof ist eine „Stätte der Gräber“, „Stätte der Ewigkeit“, „Haus der Ewigkeit“<br />
(letzteres bedeutet im Hebräischen Friedhof). Hier findet die Beisetzung der Verstorbenen<br />
in geweihter Erde statt, mit der Bedeutung, dass ihnen dieser Ort bis in alle „Ewigkeit“<br />
gehört, das Grab kann nicht aufgelassen werden. Der nach Osten gerichtete Grabstein<br />
wird am Jahrestag des Todes aufgestellt. Besucher legen dort Steine ab; ein Brauch,<br />
der auf die Wanderung des Volkes Israel durch die Wüste zurückgeht; man bedeckte die<br />
Gräber mit Steinen, um sie zu befestigen und vor wilden Tieren zu schützen. Der Verstorbene<br />
wird 24 Stunden nach seinem Tod begraben. Die Vorbereitungen dazu finden in einem<br />
Friedhofshaus (Tahara-Haus) statt. Bei der Bestattung sprechen zehn religionsmündige<br />
Männer das jüdische Totengebet, das Kaddisch. Aus der Pflege und Anlage der Gräber<br />
darf niemand verdienen, deshalb erscheinen die jüdischen Friedhöfe im Vergleich zu<br />
den christlichen schmucklos. 4<br />
Grabmäler prominenter Personen, errichtet und entworfen von bedeutenden Münchner<br />
Künstlern, wie von dem Architekten Friedrich von Thiersch und dem Bildhauer Wilhelm<br />
von Ruemann, belegen das friedliche Zusammenleben von Juden und Christen in München.<br />
I. Gedenkstätten<br />
Grabstätten, der im Konzentrationslager Dachau Ermordeten:<br />
Böhm, Gustav Dr. jur., Rechtsanwalt, 58 Jahre<br />
*6.11.1880 Mannheim †12.11.1938 KZ Dachau<br />
Grabmal: B 33/2/3<br />
Kanzlei am Promenadeplatz. Letzte Wohnung: Schubertstraße 2. 5<br />
3 Selig, Wolfram (Hrsg.) (1988): Synagogen und jüdische Friedhöfe in München: 161<br />
4 Schmid-Goetz, Irmtraud (1997): Der jüdische Friedhof Weissensee. In: Gedenkstättenpädagogik: 81f<br />
5 StadtAM Kennkartenantrag Dr. Gustav Böhm. KZ-Gedenkstätte Dachau, Archiv, Totenbuch. In: Heusler,<br />
A. / Weger, T. (1998): „Kristallnacht“: 130<br />
14
Nach der Pogromnacht am 9./10. November 1938 wurde Dr. Gustav Böhm in das KZ<br />
Dachau verschleppt, wo er Suizid beging.<br />
Feust, Karl Dr. jur., Rechtsanwalt, 51 Jahre, B 25/4/4<br />
*1.5.1887 München †25.11.1938 KZ Dachau<br />
Grabmal: B 25/4/4<br />
Verheiratet mit Fanny (geb. Sulzbacher) *1900; sie emigrierte mit ihren drei Kindern 1939<br />
nach Großbritannien.<br />
Letzte Wohnung: Widenmayerstraße 14. 6<br />
Dr. Julius Feust war Vorstandsmitglied der Religionsgemeinschaft Ohel Jakob und Mitglied<br />
der Gemeindevertretung der IKG. Nach dem Pogrom in der „Reichskristallnacht“<br />
verschleppte man Dr. Feust in das KZ Dachau. Wie der Mithäftling Werner J. Cahnmann<br />
berichtete, sei Dr. Feust dort nachts von den Kapos ins Freie geschleppt und „mit Eimern<br />
eiskalten Wassers begossen“ worden. Er starb an den Folgen der Misshandlung. 7<br />
Haas, Bernhard, Rechtsanwalt, 37 Jahre<br />
*25.11.1871 Thalmässing †28.11.1938 KZ Dachau<br />
Grabmal: B 30/1/10<br />
Verheiratet mit Viktoria (geb. Ziegler), seit 1902 in München ansässig. Letzte Wohnung:<br />
Sandstraße 1.<br />
Gutsbesitzer, Immobilienhändler und Inhaber eines Handels mit Autoölen und Fetten. 8<br />
Kahn, Erwin, Rechtsanwalt, 31 Jahre<br />
*? †16.4.1933 KZ Dachau<br />
Grabmal: B 35/12/15<br />
Erwin Kahn war einer der Dachauer KZ-Häftlinge, der einen Tag nach der Übernahme<br />
durch die SS ermordet werden sollte. 9 Zusammen mit vier Häftlingen brachte man ihn in<br />
einen nahegelegenen Wald. Das Wachpersonal schoss auf die Häftlinge mit Maschinenpistolen;<br />
Erwin Kahn, schwer verletzt von fünf Einschüssen überlebte wenige Tage in einer<br />
Münchner Klinik. Er hatte noch die Kraft, über die Geschehnisse vom 12. April 1933<br />
zu berichten. 10<br />
6 StadtAM Kennkartenantrag Dr. Karl Feust. In: Heusler, A. / Weger, T. (1998): 131<br />
7 KZ-Gedenkstätte Dachau, Archiv, Maschinenschriftlicher Bericht von Werner J. Cahnmann, S. 3. In<br />
Heusler, Andreas / Weger, Tobias (1998): „Kristallnacht“: 131–132<br />
8 Heusler, A. / Weger, T. (1998): „Kristallnacht“: 132<br />
9 Distel, Barbara / Benz, Wolfgang (1994): Das Konzentrationslager Dachau 1933–1945: 51<br />
10 Large, David Clay (1998): Hitlers München: 306–307<br />
15
Luber, Max, Rechtsanwalt, 70 Jahre<br />
*25.1.1869 †30.11.939 KZ Dachau<br />
Grabmal: B 34/3/2<br />
Neustätter, Albert, Rechtsanwalt, 64 Jahre<br />
*5.2.1874 München †24.11.1938 KZ Dachau<br />
Grabmal: 17a/3/10<br />
Ehefrau Anna, geb. Hochfeld (*1876 †1935). Letzte Wohnung: Friedrich-Herschel-Straße 21<br />
Kaufmann, Inhaber einer Papierfabrikation, Landwehrstraße 60. 11<br />
Strauß, Alfred, Dr. jur. Rechtsanwalt, 31 Jahre<br />
*30.8.1902 München †25.5.1933 KZ Dachau<br />
Grabmal: B 14/15/2<br />
Dr. jur. Alfred Strauß war seit 1928 als Rechtsanwalt in München tätig.<br />
Kurz nach Eröffnung des Konzentrationslagers Dachau wurden die dort inhaftierten jüdischen<br />
Rechtsanwälte Erwin Kahn am 16. April 1933 und Dr. Alfred Strauß am 25. Mai<br />
1933 ermordet. Über Dr. Alfred Strauß existieren staatsanwaltliche Untersuchungen von<br />
Oberstaatsanwalt Dr. Winterberger. 12 Dieser erhebt Anklage gegen den SS-Mann und<br />
KZ-Aufseher Johann Kantschuster wegen Mordes an Rechtsanwalt Dr. Alfred Strauß.<br />
Nach Angaben des SS-Mannes hatte sich Dr. Strauß als Schutzhaftgefangener im KZ<br />
Dachau auf einem vom Lagerarzt verordneten Spaziergang außerhalb des Lagers befunden,<br />
als er von ihm selbst durch zwei Schüsse getötet wurde. 13<br />
Literatur<br />
Belošickaja, L’uba (2000): In: Werner, Constance: Kiew – München – Kiew: 30<br />
Brenner, Michael (2000): Jüdische Kultur in der Weimarer Republik. Verlag C. H. Beck, München<br />
Gedenkstättenpädagogik (1997): Handbuch für Unterricht und Exkursion. Hrsg. v. Museums-Pädagogischen<br />
Zentrum München und Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung, Dillingen. Löwen Druck,<br />
München<br />
Geschichte und Kultur der Juden in Bayern (1988): Siehe der Stein schreit aus der Mauer. Katalog zur Ausstellung<br />
des Hauses der Bayerischen Geschichte im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg. Tümmels<br />
Buchdruckerei, Nürnberg<br />
Geschichte und Kultur der Juden in Bayern (1988): Lebensläufe. Hrsg. v. Manfred Treml und Wolfgang Weigand<br />
unter Mitarbeit von Eyamaria Brockhoff. München<br />
11 StadtAM Kennkartenantrag, KZ-Gedenkstätte Dachau, Archiv, Totenbuch. In: Heusler, A. / Weger, T.<br />
(1998): „Kristallnacht“: 131<br />
12 Lamm, Hans (1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München: 432<br />
13 Lamm, Hans (1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in Bayern: 432<br />
16
Göppinger, Horst (1990): Juristen jüdischer Abstammung im „Dritten Reich“. Entrechtung und Verfolgung.<br />
München.<br />
Heinrichs, Helmut et al. (Hrsg.): (1993): Deutsche Juristen jüdischer Herkunft. München.<br />
Heusler, Andreas / Weger, Tobias (1998): „Kristallnacht“. Gewalt gegen die Münchner Juden im November<br />
1938. Stadtarchiv München (Hrsg.). Buchendorfer Verlag, München.<br />
Lamm, Hans (Hrsg.) (1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München. Langen Müller Verlag, München,<br />
Wien<br />
Large, David Clay (1998): Hitlers München. Aufstieg und Fall der Hauptstadt der Bewegung. C. H. Beck Verlag,<br />
München<br />
Meyer, Michael A. / Brenner, Michael (Hrsg.) (1997): Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. Hrsg. i.<br />
Auftrag d. Leo Baeck Instituts. 4 Bände. C. H. Beck Verlag, München<br />
Schmid-Goetz, Irmtraud (1997): Der jüdische Friedhof Weissensee. In: Gedenkstättenpädagogik (1997):<br />
Handbuch für Unterricht und Exkursion: 81f<br />
Schubsky, Karl W. (1988): Jüdische Friedhöfe. In: Selig, Wolfram (Hrsg.) (1988): Synagogen und jüdische<br />
Friedhöfe in München. Aries Verlag, München<br />
Selig, Wolfram (Hrsg.) (1988): Synagogen und jüdische Friedhöfe in München. Aries Verlag, München<br />
Weber, Reinhard (1998): Max Hirschberg. Jude und Demokrat. Erinnerungen eines Münchener Rechtsanwalts<br />
1883–1939. Oldenburg Verlag, München<br />
Werner, Constance (2000): Kiew – München – Kiew. Schicksale ukrainischer Zwangsarbeiter. Hrsg. v. Kulturreferat<br />
der Landeshauptstadt München in Zusammenarbeit mit dem Verein Projekt Erinnerung e. V.,<br />
Buchendorfer Verlag, München<br />
17
18<br />
Israelitischer Friedhof – Neu<br />
„Siehe der Stein schreit aus der Mauer.“<br />
Titel einer Ausstellung über die Geschichte und Kultur der Juden in Bayern, konzipiert<br />
vom Haus der Bayerischen Geschichte. 14<br />
Grabmal auf dem Neuen Israelitischen Friedhof<br />
Foto: A. Olsen<br />
Mahnmal auf dem Neuen Israelitischen<br />
Friedhof<br />
Foto: A. Olsen
Israelitischer Friedhof – Neu<br />
Garchinger Straße 37<br />
Studentenstadt U6<br />
Öffnungszeiten: November bis März: Montag – Donnerstag 8–16 Uhr, Freitag 8–15 Uhr<br />
April bis Oktober: Montag – Donnerstag 8–17 Uhr, Freitag 8–16 Uhr. Samstag und an jüdischen<br />
Feiertagen geschlossen.<br />
I. Mahnmal<br />
M (1946)<br />
II. Gräber der NS-Opfer<br />
SV (1946)<br />
SV (1952)<br />
III. Renovierung des Friedhofes<br />
M (1989)<br />
Zu I. Mahnmal<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Auf Initiative der Landeshauptstadt München wurde im Neuen Israelitischen Friedhof ein<br />
Gedenkstein für die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus aufgestellt. Die Einweihung<br />
des Denkmals fand am 9. November 1946 unter der Teilnahme des Münchner Oberbürgermeisters<br />
Karl Scharnagl statt. Unter den Gästen waren auch der Staatskommissar Dr.<br />
Auerbach, der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Dr. Julius Spanier, der Oberrabbiner<br />
Dr. Ohrenstein sowie Vertreter der Militärregierung, der Staatsregierung und der<br />
Landeshauptstadt München.<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
Neben der Friedhofshalle steht auf einem flachen quadratischen Sockel ein ungefähr vier<br />
Meter hoher Obelisk aus Sandsteinblöcken, der an den Kanten von schmalen Säulen um-<br />
14 Diese wurde im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg vom 25. Oktober 1988 bis 22. Januar 1989<br />
gezeigt.<br />
19
geben und von einer flachen Feuerschale gekrönt ist. Die Inschrift in hebräischer und lateinischer<br />
Schrift lautet:<br />
„Den Opfern der schweren Verfolgungszeit 1933–1945 zum Andenken.“<br />
Zu II. Gräber der NS-Opfer<br />
Deutsch, Erwin (siehe Band 1: S. 53–54).<br />
Grabmal: 20<br />
Engelberg, Nechmias<br />
Grabmal: 12<br />
*10.1.1857 Sieniawa †10.11.1942 Theresienstadt<br />
Eschen, Heinz (siehe Band 1: S. 93–95).<br />
Grabmal: 18/11/18<br />
Klar, Max, Dr. med. Orthopäde und Chirurg<br />
*20.12.1875 Weimar †30.11.1938 KZ Dachau<br />
Grabmal 6/6/2<br />
Der Orthopäde und Chirurg Dr. med. Max Klar führte in den Jahren von 1935 bis 1938<br />
eine Praxis in der Hermann-Ling-Straße 18; seine letzte Wohnung befand sich in der Juttastraße<br />
24. Verheiratet war er mit Sylvia, geb. Adlerstein, Tochter des Justizrates, geboren<br />
1885, gestorben am 9. Juni 1942 im KZ Ravensbrück. 15<br />
Die Familie Klar stellte im Juli 1933 ihre Münchner Wohnung dem SPD-Politiker und<br />
späteren bayerischen Ministerpräsidenten Wilhelm Hoegner (siehe Band 1: Hoegner) als<br />
Versteck zur Verfügung und ermöglichte ihm mit ihrem PKW die Flucht aus Deutschland.<br />
16<br />
Männlein, Simon<br />
*29.3.1871 Dormitz (Kreis Forchheim) †1.12.1938 KZ Dachau<br />
Grabmal 5/2/15<br />
Versicherungsinspektor a. D., letzte Wohnung: Gedonstraße 6. 17<br />
15 StadtAM Kennkartenantrag Dr. Max Klar. – Gedenkstätte Dachau, Archiv, Totenbuch Dachau. In: Heusler,<br />
A. / Weger, T. (1998): „Kristallnacht“: 132<br />
16 Hoegner, Wilhelm (1959): Der schwierige Außenseiter: 120–121<br />
20
Mendle, Max<br />
*10.8.1873 Fischach (Kreis Augsburg) †30.11.1938 KZ Dachau<br />
Grabmal: 6/2/13<br />
Kaufmännischer Direktor, letzte Wohnung: Bauerstraße 9, verheiratet mit Marie, geb.<br />
Held (*1881 †25.11.1941 in Kaunas). 18<br />
Mendle, Marie<br />
*12.1.1881, deportiert nach Riga 1941<br />
Regensburger, Max, Dr. med., Kinderarzt<br />
*1.2.1871 Feuchtwangen †24.11.1938 KZ Dachau<br />
Grabmal: 9/8/10<br />
Approbation 1896, Sanitätsrat, bis 1938 Praxis in der Kaiserstraße 50, verheiratet mit Elise,<br />
geb. Kohn (*1875), Suizid am 14.4.1939. 19<br />
Schreiber, Adolf<br />
*4. 4.1877 Wien †2.12.1938 KZ Dachau<br />
Grabmal: 6/2/9<br />
Kaufmann, letzte Wohnung: Fraunhoferstraße 9, ledig. 20<br />
Wien, Ferdinand van<br />
*17.12.1872 Winschoten (Niederlande) †14.11.1938 KZ Dachau<br />
Grabmal: 18/15/9<br />
Kaufmann, Inhaber der Tuchhandlung Gebrüder van Wien (Prielmayerstraße 20), seit<br />
1905 in München, letzte Wohnung: Herzog-Heinrich-Straße 22, verheiratet mit Mathilde,<br />
geb. Ambrunn (*1886, Emigration am 26. September 1939 in die USA). 21<br />
17 StadtAM Kennkartenantrag Simon Männlein. – Gedenkstätte Dachau, Archiv, Totenbuch Dachau. In:<br />
Heusler, A. / Weger, T. (1998): „Kristallnacht“: 132<br />
18 StadtAM Kennkartenantrag Max Mendle. – Gedenkstätte Dachau, Archiv, Totenbuch Dachau. In: Heusler,<br />
A. / Weger, T. (1998): „Kristallnacht“: 132<br />
19 StadtAM, Kennkartenantrag. – Gedenkstätte Dachau, Archiv, Totenbuch Dachau. In: Heusler, A. /<br />
Weger, T. (1998): „Kristallnacht“: 131<br />
20 Gedenkstätte Dachau, Archiv, Totenbuch Dachau. In: Heusler, A. / Weger, T. (1998): „Kristallnacht“: 132<br />
21 Gedenkstätte Dachau, Archiv, Totenbuch Dachau. In: Heusler, A. / Weger, T. (1998): 131<br />
21
Weitere Grabinschriften erinnern an Opfer des Holocaust:<br />
„Zum Gedenken an die Eltern und Geschwister, vernichtet in Treblinka 1942.“<br />
„Durch die Shoah ausgelöscht.“<br />
„... Auch für die Eltern und Großeltern, die kein Grab haben ...“<br />
„... Zum Gedächtnis an ihren Gatten und Sohn, verschleppt und im KZ umgekommen ...“<br />
... Unsere innigst geliebten Eltern und Geschwister in den dunklen Jahren des Faschismus<br />
in Auschwitz ermordet ... 22<br />
Zu III. Renovierung des Friedhofes<br />
M (1989)<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Nach einem Stadtratsbeschluss vom Juli 1985 wurde die Renovierung im Jahre 1989 begonnen.<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Der Architekt Hans Grässl errichtete den neuen Israelitischen Friedhof in den Jahren 1905<br />
bis 1907. Diese Anlage, umgeben von einer hohen Steinmauer, konzipierte er für einen<br />
Zeitraum von 100 Jahren und für ungefähr 16000 Gräber – und schuf damit einen seiner<br />
schönsten Friedhöfe. Von ihm stammen auch die Anlagen des Nord-, West- und Waldfriedhofs<br />
sowie die Friedhofshalle am Ostfriedhof.<br />
Dieser Friedhof kann als historisches Symbol für die Gemeinsamkeit jüdischer und christlicher<br />
Religion in München betrachtet werden. Viele Gräber erinnern an bedeutende Persönlichkeiten.<br />
Den Gefallenen des Ersten Weltkrieges ist ein Denkmal und ein Ehrenmal<br />
gewidmet.<br />
NS-ZEIT<br />
An die zahlreichen Schicksale und Opfer der NS-Zeit erinnern außer dem großen Denkmal<br />
zahlreiche Grabmale. Erinnert werden soll aber auch an das christliche Ehepaar Karl<br />
und Katharina Schörghofer, die im Friedhofsgebäude des Neuen Israelitischen Friedhofes<br />
wohnten. Sie verhinderten den Abtransport von Grabsteinen und religiösen Gegenständen.<br />
Mit ihrer Hilfe konnten sich Verfolgte in den Friedhofsanlagen verstecken und vor<br />
22 Puvogel, U. / Stankowsky, M. (Hrsg.) (1998): Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus, Band<br />
1: 173<br />
22
der Deportation retten. Obwohl Karl Schörghofer mehrmals von der Gestapo verhört und<br />
festgenommen wurde, hat er immer wieder bedrohten Menschen geholfen. 23 Charlotte<br />
Knobloch, die Präsidentin der Israelischen Kultusgemeinde, würdigte die selbstlose Hilfe<br />
der Familie Schörghofer und gedenkt der Opfer: „Was mag in den sieben jungen jüdischen<br />
Menschen vorgegangen sein und wie mögen sie mit sich gekämpft haben, die sich 1944 im<br />
jüdischen Friedhof in München versteckt haben, um der Deportation zu entgehen ...“ 24<br />
In der „Allee der Gerechten“ in der Gedenkstätte „Jad Vashem“ (Jerusalem) erinnert heute<br />
noch ein 1969 gepflanzter Baum an die Zivilcourage dieses Ehepaares. 255<br />
Ausstellung<br />
25. Oktober 1988 – 22. Januar 1989: Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Siehe<br />
der Stein schreit aus der Mauer. Konzipiert vom Haus der Bayerischen Geschichte. Gezeigt<br />
im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg.<br />
Literatur<br />
Ben Chorin, Schalom (1991): Jüdische Jugendbewegung in Deutschland vor 1933 am Beispiel München. In:<br />
Junge Juden in Deutschland. Hrsg. v. Ellen Presser und Bernhard Schoßig. München<br />
Ben-Chorin, Schalom (1994): Bruder Jesus. Der Nazarener in jüdischer Sicht. München<br />
Chronik der Stadt München 1945–1948 (1980). Bearbeitet v. Wolfram Selig unter Mitwirkung v. Ludwig Morenz<br />
und Helmuth Stahleder. Manz Verlag, Dillingen<br />
Deckname „Betti“. Jugendlicher Widerstand gegen die Nationalsozialisten in München. Ein Projekt des Kreisjugendrings<br />
München-Stadt, 1997 München<br />
De Vries, S. Ph. (1993): Jüdische Riten und Symbole. Rowohlt Verlag, Reinbek b. Hamburg<br />
Geschichte und Kultur der Juden in Bayern (1988): Siehe der Stein schreit aus der Mauer. Katalog zur Ausstellung<br />
des Hauses der Bayerischen Geschichte im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg. Tümmels<br />
Buchdruckerei, Nürnberg<br />
Grossmann, Kurt (1957): Zeugnisse menschlicher Tapferkeit im Dritten Reich. Karl Schörghofer, München.<br />
In: Lamm, Hans (1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München: 438–440<br />
Grossmann, Kurt R. (1961): Die unbesungenen Helden. Berlin<br />
Jacobeit, Sigrid (Hrsg.) (1995): Ravensbrückerinnen. Schriftenreihe der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten,<br />
Band 4. Edition Hentrich, Berlin<br />
Jüdisches Leben in München in zwei Jahrhunderten (1989). Hrsg. v. d. Landeshauptstadt München. Buchendorfer<br />
Verlag, München<br />
Jüdisches Leben in München. (1995): Geschichtswettbewerb 1993/94. Hrsg. v. d. Landeshauptstadt München.<br />
Buchendorfer Verlag, München<br />
23 „Ich weiß, daß ich mein Leben gefährde ...“ Verfolgte und Retter auf dem Jüdischen Friedhof in München.<br />
In: Deckname „Betti“ (1997): 56<br />
24 „Ich weiß, daß ich mein Leben gefährde ...“ Verfolgte und Retter auf dem Jüdischen Friedhof in München.<br />
In: Deckname „Betti“ (1997): 56–57<br />
25 Weyerer, Benedikt (1996): München 1933–1949: 265<br />
23
Klein, Anton D. (o.J.): Die Judenretter aus Deutschland. Dossier Nr. 390, Yad Vashem<br />
Lamm, Hans (1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München. Langen Müller Verlag, München, Wien:<br />
460<br />
Nachama, A. / Sievenich, G. (1991): Jüdische Lebenswelten. Katalog. Berlin<br />
Ortag, Peter (1997): Jüdische Kultur und Geschichte. Ein Überblick. Sonderauflage der Bayerischen Landeszentrale<br />
für politische Bildungsarbeit. Hrsg. v. d. Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung.<br />
Universitätsdruckerei der Verlagsgesellschaft, Potsdam<br />
Puvogel, Ulrike / Stankowsky, Martin (Hrsg.) (1995): Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus.<br />
Eine Dokumentation. Band 1. Bundeszentrale für politische Bildung Bonn. Edition Hentrich, Berlin<br />
Schwierz, Israel (1992): Steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens in Bayern. Eine Dokumentation. Hrsg. v. d.<br />
Bayerischen Landeszentrale für Politische Bildungsarbeit. SOV Graphische Betriebe, Bamberg<br />
Selig, Wolfram (1988): Synagogen und jüdische Friedhöfe in München. Aries Verlag, München<br />
Treml, Manfred (Hrsg.) (1988): Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. 2 Bände. Augsburg<br />
Verus, Rita (1995): Erinnerungsbilder. „Bet Olam“, das Haus der Ewigkeit. In: Jüdisches Leben in München.<br />
Geschichtswettbewerb 1993/94. Hrsg. v. d. Landeshauptstadt München. Buchendorfer Verlag, München:<br />
207–210<br />
Weyerer, Benedikt (1996): München 1933–1949. Stadtrundgänge zur politischen Geschichte. Hrsg. v. d. Landeshauptstadt<br />
München. Buchendorfer Verlag, München<br />
24
Israelitisches Kranken- und Schwesternheim<br />
„Der Holocaust war gewiss eine jüdische Tragödie. Aber er war nicht nur dies.<br />
Er war auch eine christliche Tragödie für die westliche Zivilisation,<br />
ja für die gesamte Menschheit.“<br />
So urteilte der Historiker David S. Wyman in seinem Buch<br />
Das unerwünschte Volk (1986). 26<br />
Mahnmal für das Israelitische<br />
Kranken- und Schwesternheim<br />
Foto: A. Olsen<br />
Israelitisches Kranken- und<br />
Schwesternheim, Hermann-<br />
Schmid-Straße 5, 1911<br />
Foto: Stadtarchiv München<br />
25
Israelitisches Kranken- und Schwesternheim<br />
Hermann-Schmid-Straße 5–7<br />
Goetheplatz U3/U6<br />
M (1993)<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Auf Antrag der SPD-Stadträtin Dr. Ingeborg Keyser brachte im April 1989 das Baureferat<br />
der Stadt München, eine Gedenktafel am ehemaligen Standort des Israelitischen Krankenhauses,<br />
markiert durch ein ovales Gebäudeschild mit den Maßen 0,52 m × 0,40 m, an der<br />
Turnhalle der Stielerschule mit folgendem Text an:<br />
„Hier stand von 1911 bis 1942 das Israelitische Kranken- und Schwesternheim.“<br />
Bereits im Juli 1989 strebte Dr. Renate Jäckle, die Vorsitzende der „Liste der Demokratischen<br />
Ärztinnen und Ärzte“, eine bessere Gestaltung der Gedenkstätte an. In Zusammenarbeit<br />
mit dem Münchner Oberbürgermeister Georg Kronawitter, dem Baureferat und der<br />
Israelitischen Kultusgemeinde einigte man sich darauf, ein Mahnmal zu errichten. Seine<br />
Einweihung fand am 2. Juni 1993 statt.<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
Neben einer rudimentären Gartenzaunsäule, einem Rest der ehemaligen Einfriedung des<br />
Israelitischen Krankenhauses, befindet sich eine etwa 4 m × 4 m große gepflasterte, von<br />
Sitzbänken umgebene Fläche, in deren Mitte das Mahnmal steht. Auf dem Gehweg weist<br />
ein Pflastersteinstreifen zum Standort. Das Mahnmal besteht aus zwei sich durchdringenden<br />
Stahlplatten. Die schräg gestellte Platte (1,8 m × 1,8 m) ist mit einem tiefen Riss<br />
durchzogen und trägt die Inschrift:<br />
„Hier stand von 1911 bis 1942 das Israelitische Krankenhaus und Schwesternheim.<br />
Am 3. und 4. Juni 1942 wurden Patienten, Schwestern und Ärzte in das KZ Theresienstadt<br />
deportiert.“<br />
Diese Platte wird in der Mitte von einem quadratischen Gitter aus massiven Stäben durchbrochen.<br />
INTENTION DES KÜNSTLERS<br />
Professor Dr. Ing. Horst Auer beschreibt das von ihm geschaffene Mahnmal wie folgt:<br />
26 In: Der Spiegel Nr. 22. v. 28.5.2001: 160<br />
26
„Das Mahnmal bezieht seine intendierte Bild- und Aussagekraft aus dem Spannungsverhältnis<br />
einer geordneten, knappen Geometrie – und deren ,Störungen´.<br />
Zwei quadratische Stahlplatten erheblich unterschiedlicher Größe durchdringen einander.<br />
Die senkrecht stehende, kleinere Platte innerhalb ihrer dem Straßenraum zugeordneten<br />
Hälfte, durch eine – wiederum – quadratische Gittergestaltung partiell entmaterialisiert,<br />
wird von der größeren Platte längs deren Mittelachse diagonal durchbrochen.<br />
Das Gitterraster der vertikalen Platte soll bei dem Betrachter des Mahnmals spontane Assoziationen<br />
mit der Deportation erwecken. Der markante, durchgehende Riß durch die<br />
unter einem Winkel von 45° geneigte größere Platte steht als Versuch, die sinnlose und<br />
durch nichts zu rechtfertigende Zerstörung einer ursprünglichen Ganzheit anschaulich zu<br />
machen.“ 27<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Auf Anregung der Ärzte Dr. August Feuchtwanger (er emigrierte 1935 nach Palästina)<br />
und Dr. Joseph Marschütz entstand am 25. März 1910 durch Ankauf und Umbau der Häuser<br />
an der Hermann-Schmid-Straße 5 und 7 das Israelitische Kranken- und Schwesternheim,<br />
„wobei die Anforderungen einer zeitgemäßen klinischen und hygienischen, wie einer<br />
hochkultivierten Inneneinrichtung volle Berücksichtigung fanden“. 28 Es beherbergte<br />
bis 1933 Patienten aller Konfessionen; bekannte Münchner Ärzte benutzten es als Belegkrankenhaus.<br />
In Folge der restriktiven Maßnahmen nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten<br />
wurden Juden von städtischen und staatlichen Krankenhäusern abgewiesen,<br />
was zu gravierendem Platzmangel im Israelitischen Krankenhaus führte, zumal dieses<br />
auch Juden aus dem Regierungsbezirk Oberbayern mit zu betreuen hatte. „... die Seuche<br />
des Freitodes unter der jüdischen Bevölkerung wütete wie kaum jemals in der Geschichte.<br />
Es war keine Seltenheit, daß pro Tag acht bis zehn Selbstmordfälle im Israelitischen Krankenheim<br />
zur Aufnahme überwiesen wurden, ganz zu schweigen von der Zahl derer, bei denen<br />
die Aufnahme wegen Aussichtslosigkeit sich von selbst erübrigte“. 29<br />
Besondere Erschwernisse wie die Zuteilungsbeschränkung von Lebensmitteln und Medikamenten<br />
forderten von den Ärzten und Krankenschwestern außergewöhnlichen Einsatz.<br />
Nach dem 9. November 1938 ordnete die NS-Verwaltung die Entlassung aller nichtjüdischen<br />
Angestellten und Ärzte an. Im Juni 1942 wurde das Krankenhaus endgültig mit dem<br />
27 Schreiben an Helga Pfoertner, 27.11.1997<br />
28 Spanier, Julius Dr. (1958): Das israelitische Schwestern- und Krankenheim. In: Lamm, Hans: Vergangene<br />
Tage: 127<br />
29 Spanier, Julius Dr. (1958): Das israelitische Schwestern- und Krankenheim. In: Lamm, Hans: Vergangene<br />
Tage: 128<br />
27
Befehl zur Räumung aufgelöst. „Am 4. Juni 1942 ging der erste Transport unter dem Befehl<br />
und der Aufsicht der Gestapo und der SS ab. Etwa fünfzig Kranke, Schwerstkranke<br />
und Sterbende, begleitet von drei Schwestern und dem Chefarzt (siehe Band 3: Spanier,<br />
Julius), wurden auf Krankenbahren in einem Möbelwagen verladen, zum Südbahnhof<br />
transportiert und in bereitstehende Waggons übergeführt“. 30 Die Deportierten kamen<br />
nach Theresienstadt, ein „Durchgangslager“ zu den Vernichtungslagern im Osten, nach<br />
Treblinka und Auschwitz.<br />
Die geräumten Gebäude in der Hermann-Schmid-Straße 5–7 gingen in den Besitz der „Lebensborn<br />
e.V.“ 31 über. Beide Häuser wurden 1944 durch Bomben zerstört.<br />
Dr. Julius Spanier und seine Ehefrau Zipora kehrten als Überlebende zurück. Er leitete bis<br />
1955 als Chefarzt die Kinderklinik in der Lachnerstraße; dort erinnert eine Gedenktafel an<br />
ihn. (siehe Band 3: Spanier, Julius).<br />
Literatur<br />
Auer, Horst, Prof. Dr. Ing.: Schreiben an Helga Pfoertner vom 27.11.1997<br />
Jäckle, Renate (1988): Schicksale jüdischer und „staatsfeindlicher“ Ärztinnen und Ärzte nach 1933 in München.<br />
Dokumentation vorgelegt zum 50. Jahrestag des Erlöschens der Approbation vom 30.9.1938. Hrsg.<br />
v. d. Liste der Demokratischen Ärztinnen und Ärzte München. München<br />
Elkin, Rivka (1992): „Das Jüdische Krankenhaus muß erhalten bleiben“. Berlin 1938–1945. Das Krankenhaus<br />
der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Edition Hentrich, Berlin<br />
Hartung, Dagmar / Doetinchem, von / Winau, Rolf (Hrsg.) (1982): Zerstörte Fortschritte. Zur Geschichte des<br />
Jüdischen Krankenhauses zu Berlin 1756, 1861, 1814, 1989. Edition Hentrich, Berlin<br />
Picht, Barbara (1994): Dr. jur. Silber. In: Bokovoy, D. / Meining, S. (Hrsg.) (1994): Versagte Heimat. Verlag<br />
Peter Glas, München<br />
Scheffler, Detlev / Scheffler, Wolfgang (1992): Theresienstadt, eine tödliche Täuschung. Edition Hentrich,<br />
Berlin<br />
Schmid-Köster, Dorothee (1997): „Deutsche Mutter, bist Du bereit ...“ Alltag im Lebensborn. Berlin<br />
Spanier, Julius (1958): Das Israelitische Schwestern- und Krankenheim: 126–129. In: Lamm, Hans (1982):<br />
Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München. Langen, Müller Verlag, München, Wien<br />
30 Spanier, Julius Dr. (1958): Das israelitische Schwestern- und Krankenheim. In: Lamm, Hans: Vergangene<br />
Tage: 128<br />
31 Der Verein Lebensborn wurde 1935 von Heinrich Himmler gegründet, um „den Kinderreichtum der SS“<br />
zu unterstützen und „jede Mutter guten Blutes zu schützen“ – auch in eigenen Entbindungsheimen in<br />
besetzten Ländern. Ab 1941 kamen aus den besetzten Ländern „rassisch wertvolle“ Kinder, die zwangsweise<br />
eingedeutscht wurden. Die Zentrale war in München.<br />
28
29<br />
Judendeportation<br />
„... Am Güterbahnhof stand ein langer Zug unter Dampf. Unter wüsten<br />
Beschimpfungen wurden die Leute hineingetrieben ... Dann kam ein Bus<br />
mit bewaffneter SS und den Kindern (kleinen) aus der Antonienstraße.<br />
Auch sie mußten wir in den Zug unterbringen ...“<br />
Aus einem Bericht von Erwin Weil über die erste Deportation am 20. November 1941. 32<br />
Heinrich Picard<br />
Johanna Picard<br />
Fotos: Stadtarchiv München<br />
Gedenktafel für die erste<br />
Judendeportation aus<br />
München<br />
Foto: H. Engelbrecht
I. Gedenktafel im Fort IX von Kowno (Litauen)<br />
M (2000)<br />
II. Gedenktafel im Neuen Rathaus<br />
Marienplatz S1–8 und U3/U6<br />
M (2000)<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Ein Manuskript sowie Bildmaterial aus dem Nachlass eines NS-Juristen und städtischen<br />
Beamten 33 gaben den Anlass, die Deportation von 1000 Münchner Juden in Erinnerung<br />
zu bringen. Auf Initiative des Münchner Stadtarchivs im Herbst 1995 entstand eine Gedenktafel<br />
für die erste Judendeportation.<br />
Am 20. November 2000 fand die Einweihung der Gedenktafel im Beisein des Münchner<br />
Oberbürgermeisters Christian Ude und der Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde,<br />
Charlotte Knobloch, statt. Gleichzeitig stiftete die Landeshauptstadt München für die Gedenkstätte<br />
in Kowno (Kaunas) ein Mosaik (1,8 m × 1,5 m), das die Künstlerin Beate Passow<br />
entworfen hatte. Ausgeführt wurde es von den Werkstätten für Mosaik und Glasmalerei<br />
Gustav van Treeck in München. Im November 2000 konnte es im Fort IX von Kowno<br />
enthüllt werden.<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
Im Neuen Rathaus – Aufgang aus dem südlichen Prunkhof – befindet sich an der Wand<br />
des zweiten Treppenabsatzes eine Gedenktafel (1,22 m × 1,10 m) mit 54 Fotos von deoprtierten<br />
Münchner Bürgern jüdischer Abstammung. Darüber sind die Linien des Mosaik-<br />
Mahnmals von Kaunas gelegt, um damit einen Bezug zu diesem Ort herzustellen. Auf der<br />
darüberliegenden Glasplatte ist folgender Text angebracht:<br />
„In Trauer und Scham und entsetzt über das Schweigen der Mitwissenden gedenkt die<br />
Landeshauptstadt München der 1000 jüdischen Männer und Frauen, die am 20. November<br />
1941 von München nach Kowno deportiert und 5 Tage später an diesem Ort brutal<br />
ermordet wurden. Darunter waren auch 94 Kinder.“<br />
32 Dokument 14. In: Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „...verzogen, unbekannt wohin.“<br />
33 Michael Meister war dienstlich mit der sog. „Arisierung“, dem amtlichen Diebstahl jüdischer Vermögen<br />
beauftragt. Zitiert nach Bauer, Richard (2000): Ein Meister aus München. In: Stadtarchiv München<br />
(Hrsg.): „... verzogen, unbekannt wohin“: 9<br />
30
INTENTION DER KÜNSTLERIN<br />
„Das Mosaik ist eine alte, durch den Arbeitsaufwand wertvolle dauerhafte Technik. Durch<br />
das Material des Mosaiks lässt sich die Vielfalt der verschiedenen untergegangenen jüdischen<br />
Gemeinden symbolisieren, es verweist auch auf den Brauch, durch Steine auf den<br />
Grabsteinen der Toten zu gedenken. Die farbigen Glassteine sollten in verschiedenen<br />
Grauabstufungen gelegt sein. Durch schwarze Steine werden die Sprünge markiert. Die<br />
Schrift wird auch in Mosaik gelegt und ist damit gut lesbar“, so charakterisierte Beate Passow<br />
34 ihr Mahnmal in Kowno, über das Mahnmal in München schreibt sie:<br />
„Die Glasscheibe zeigt ein Foto der Gedenktafel in Kowno sowie Porträts jüdischer Bürger<br />
aus München, die deportiert wurden. So ist das Verbrechen, das in Kowno geschah,<br />
in angemessener Weise auch in München präsent.“<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Den Deportationen der jüdischen Mitbürger war eine Reihe antisemitischer Maßnahmen<br />
vorausgegangen. Anfangs waren es „Einzelaktionen“ gegen jüdische Bürger am 5. März<br />
1933, danach folgte der Boykott aller jüdischen Geschäfte in Deutschland am 1. April desselben<br />
Jahres. Zusammen mit den Nürnberger Gesetzen vom 15. September 1935 und dem<br />
staatlich organisierten Pogrom am 9. November 1938 zielten weitere Verordnungen und<br />
„Aktionen“ auf die Deportation, den Raub von Hab und Gut der Juden und später auf deren<br />
Ermordung und „Vernichtung durch Arbeit“ hin. Sie mußten seit September 1941 den<br />
so genannten „Judenstern“ tragen. Dann wurde ihnen die Benutzung öffentlicher Telefone<br />
und später der Kauf von Zeitungen verboten. Seit November 1941 beschlagnahmten die<br />
Nationalsozialisten das Vermögen der ausgewanderten Juden. Die Enteignung ging so<br />
weit, dass man die Deportation offiziell als „Auswanderung“ bezeichnete, um so „legal“<br />
an den jüdischen Besitz zu kommen. Auch für die Deportation wählten die NS-Ideologen<br />
den zynisch-euphemistischen Begriff „Umsiedlung“. Zur Beruhigung sagte man ihnen,<br />
dass sie zum Arbeitsdienst nach Polen umgesiedelt werden. Vor den meisten deutschen<br />
Juden lag ein langer Leidensweg, sie starben in Ghettos, in Erschießungsgräben und in den<br />
Gaskammern.<br />
Ein vom 31. Juli 1941 datiertes Schreiben des Reichsmarschalls Hermann Göring an den<br />
Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes Reinhard Heydrich lautete: „In<br />
Ergänzung der Ihnen bereits mit Erlaß vom 24. Januar 1939 übertragenen Aufgabe, die<br />
Judenfrage in Form der Auswanderung oder Evakuierung einer den Zeitverhältnissen entsprechend<br />
möglichst günstigen Lösung zuzuführen, beauftrage ich Sie hiermit, alle erfor-<br />
34 Schreiben an das Städtische Baureferat München, Hochbau I, 1998<br />
31
derlichen Vorbereitungen in organisatorischer, sachlicher und materieller Hinsicht zu<br />
treffen für eine Gesamtlösung der Judenfrage im deutschen Einflußgebiet von Europa ...<br />
Ich beauftrage sie weiter, mir in Bälde einen Gesamtentwurf über die organisatorischen,<br />
sachlichen und materiellen Vorausmaßnahmen zur Durchführung der angestrebten Endlösung<br />
der Judenfrage vorzulegen.“ 35<br />
Nach dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 wurde nach dem Einmarsch der<br />
deutschen Reichsarmee mit der so genannten „Endlösung“ begonnen. Bereits ein Jahr zuvor<br />
trieb man die polnischen Juden in Ghettos zusammen und brachte sie unter dem Vorwand<br />
einer Umsiedlung zu Erschießungsstätten und in die ersten beiden Vernichtungslager<br />
Chelmno und Belzec.<br />
Ein Augenzeuge berichtet über die Erschießung der Juden in Dubno: „Als ich am 5. Oktober<br />
1942 das Baubüro in Dubno besuchte, erzählte mir mein Polier Hubert Moennikes<br />
aus Hamburg-Harburg ..., daß in der Nähe der Baustelle in drei großen Gruben von je 30<br />
Meter Länge und drei Meter Tiefe Juden aus Dubno erschossen worden seien. Man hätte<br />
täglich 1500 Menschen getötet. Alle vor der Aktion in Dubno noch vorhandenen etwa<br />
5000 Juden sollten liquidiert werden ... Die von den Lastwagen abgestiegenen Menschen,<br />
Männer, Frauen und Kinder jeden Alters, mußten sich auf Aufforderung eines SS-Mannes,<br />
der in der Hand eine Reit- oder Hundepeitsche hielt, ausziehen und ihre Kleidung nach<br />
Schuhen, Ober- und Unterkleidern getrennt an bestimmte Stellen ablegen ... Da rief schon<br />
der SS-Mann an der Grube seinen Kameraden etwas zu. Dieser teilte ungefähr 20 Personen<br />
ab und wies sie an, hinter den Erdhügel zu gehen ... Ich ging um den Erdhügel herum<br />
und stand vor einem riesigen Grab. Dicht aneinandergepreßt lagen die Menschen so aufeinander,<br />
daß nur die Köpfe zu sehen waren ... Die vollständig nackten Menschen gingen<br />
an einer Treppe, die in die Lehmwand der Grube eingegraben war, hinab, rutschten über<br />
die Köpfe der Liegenden hinweg, bis zu der Stelle, die der SS-Mann anwies ... Dann hörte<br />
ich eine Reihe Schüsse.“ 36 In die auf diese Art freigewordenen Ghettos kamen die deportierten<br />
Juden aus dem „Altreich“. Ein Tagebuchbericht von Joseph Goebbels am 27. März<br />
1942 gibt Auskunft über das mörderische Vorgehen: „... Die in den Städten des Generalgouvernements<br />
frei werdenden Ghettos werden jetzt mit den aus dem Reich abgeschobenen<br />
Juden gefüllt, und hier soll sich dann nach einer gewissen Zeit der Prozeß erneuern."<br />
37<br />
35 Zitiert in: Schoenberner, Gerhard (1992): Der gelbe Stern: 145<br />
36 Eidesstattliche Erklärung des Bauingenieurs Hermann Friedrich Gräbe in Wiesbaden am 10. November<br />
1945. In: Schoenberner, Gerhard (1992): Der Gelbe Stern: 120<br />
37 Zitiert in: Schoenberner, Gerhard (1992): Der gelbe Stern: 114<br />
32
DEPORTATION DER MÜNCHNER JUDEN<br />
Am 15. Oktober 1941 begannen die Deportationen aus dem „Altreich“. 20 000 Juden aus<br />
Berlin, Köln, Frankfurt am Main, Hamburg, Düsseldorf, Wien und Prag zusammen mit<br />
5000 Zigeunern aus dem Burgenland wurden Opfer dieser Mordaktion. 38 Wie aus dem<br />
Dokument 5 des Stadtarchivs München 39 hervorgeht, erhielt die Staatspolizei-Leitstelle<br />
München vom Chef der Ordnungspolizei einen Eilbrief mit dem Datum vom 24. Oktober<br />
1941, der über die „Evakuierung von Juden aus dem Altreich und dem Protektorat“ informiert:<br />
„1. In der Zeit vom 1. November – 4. Dezember 1941 werden durch die Sicherheitspolizei<br />
aus dem Altreich, der Ostmark und dem Protektorat Böhmen und Mähren 50 000<br />
Juden nach dem Osten in die Gegend von Riga und Minsk abgeschoben. Die Aussiedlungen<br />
erfolgen in Transportzügen der Reichsbahn zu je 1000 Personen. Die Transportzüge<br />
werden in Berlin, Hamburg, Hannover, Dortmund, Münster, Düsseldorf, Köln, Frankfurt/<br />
M., Kassel, Stuttgart, Nürnberg, München, Wien, Breslau, Prag und Brünn zusammengestellt.“<br />
40<br />
In München erhielt der Leiter der Israelitischen Kultusgemeinde Julius Hechinger<br />
(*25.10.1895 in München, deportiert am 11.7.1942 nach Theresienstadt) 41 den Befehl,<br />
1000 Personen für die „Evakuierung“ zu benennen. Dr. Julius Spanier (siehe Band 3: Spanier,<br />
Julius) hatte die Aufgabe „festzustellen, ob die betroffenen Personen vom gesundheitlichen<br />
Standpunkt aus transportfähig waren ... Die Aufstellung solcher Listen hing<br />
auch von Gefühlsmomenten ab. Es war von der Vorstandschaft sicher nicht leicht, Menschen<br />
für die Transporte zu bestimmen. Es hat keiner von uns gewußt, wo diese hingehen,<br />
und was mit ihnen geschieht.“ 42 Die zur Deportation bestimmten Personen hatten ihre<br />
Wohnungen zu räumen; in diese zogen ausgewählte „Arier“ ein. 43 Die Mitnahme von maximal<br />
50 Kilogramm Gepäck war Vorschrift. Außerdem erhielten die Betroffenen eine<br />
schriftliche Anweisung, die den Raub im nachhinein dokumentierte. „Jeder Transportteilnehmer<br />
hat 50,– RM in bar mitzunehmen. Überschießende Beträge, Wertpapiere bzw.<br />
38 Longerich, Peter (1989): Politik der Vernichtung: 448f., 705<br />
39 In: Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „... verzogen, unbekannt wohin“: o. S.<br />
40 Institut für Zeitgeschichte München. In: Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „... verzogen, unbekannt<br />
wohin“. Dokument 5<br />
41 Heusler, Andreas (2000): Fahrt in den Tod. In: Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „... verzogen, unbekannt<br />
wohin“: 22<br />
42 Staatsarchiv München, Spruchkammerakt Theodor Koroncyk, Aussage von Julius Spanier während des<br />
Spruchkammerverfahrens vom 29./30.10.1947. Heusler, Andreas (2000): Fahrt in den Tod. In: Stadtarchiv<br />
München (Hrsg.) (2000): „... verzogen, unbekannt wohin“: 17<br />
43 Aktenmaterial dazu im Stadtarchiv München, Wohnungsamt 58 und Rechtsamt 490 sowie Anschlussbericht<br />
der Arisierungsstelle des Gauleiters, Stadtarchiv München, Nachlass Meister, Dokument Nr. 22.<br />
Heusler, Andreas (2000): Fahrt in den Tod. In: Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „... verzogen, unbekannt<br />
wohin“: 23<br />
33
Depotscheine, sonstige Bankauszüge u. dgl. sind in einem Umschlag mitzunehmen, der<br />
mit Namen und Inhaltsverzeichnis versehen ist. Außerdem ist das beiliegende Vermögensverzeichnis<br />
nach dem Stand vom 10.11.1941 in allen Teilen genau auszufüllen, zu unterschreiben<br />
und in einen besonderen, mit Namen versehenen, nicht verschlossenen Umschlag<br />
mitzubringen. Persönlichen Dokumente aller Art, Ausweispapiere, einschließlich<br />
Kennkarte und Pass, Lebensmittelkarten, sind ebenfalls mitzunehmen.“ 44<br />
Wie aus einer Studie des Historikers Wolfgang Benz hervorgeht, riet die Münchner Gestapo<br />
den zur Deportation bestimmten, „möglichst viel Geld und Wertsachen mitzunehmen,<br />
die dann beim Appell in Milbertshofen konfisziert wurden.“ 45 Die Verzweiflung der<br />
Menschen kommt im Abschiedsbrief der Schwestern Elsa Balbier und Karoline Adler im<br />
November 1941 zum Ausdruck: „Meine liebe gute Frau Küffner! Nun ist leider das Gefürchtete<br />
eingetreten. Am 19. ds. geht unser Transport ab, unbestimmt wohin. Ist das nicht<br />
schrecklich? Heute früh ist schon Polizei aufgezogen, Sie können sich das alles nicht vorstellen.“<br />
46 Im Jüdischen Deportationslager Milbertshofen (siehe Band 2: Jüdisches Deportationslager)<br />
waren die zur Zwangsumsiedlung Bestimmten untergebracht. 80 Prozent<br />
der Jugendlichen der jüdischen Lehrwerkstatt, die zuletzt in der ehemaligen Synagoge in<br />
der Reichenbachstraße 27 untergebracht waren, gehörten zu den Opfern der ersten<br />
Münchner Deportation. 477<br />
DER WEG IN DEN TOD<br />
Am Morgen des 20. November 1941 gelangten die Deportierten nach längerem Fußmarsch<br />
von der Knorrstraße zum Bahnhof Milbertshofen. Dies belegt der 1998 vom<br />
Münchner Stadtarchiv übernommene Nachlass eines städtischen Beamten, der unter der<br />
vom Stadtarchiv veröffentlichten Bilddokumentation „...verzogen, unbekannt wohin“<br />
(von Elisabeth Angermair) zu sehen ist. Der Augenzeuge Erwin Weil berichtete: „... Am<br />
Güterbahnhof stand ein langer Zug unter Dampf. Unter wüsten Beschimpfungen wurden<br />
die Leute hineingetrieben. Als es anfing hell zu werden, schrie man uns zu, das Gepäck<br />
rauszuwerfen, damit die Leute schneller reingepfercht werden konnten ...“ 48 Dieser Zug<br />
44 In: Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „... verzogen, unbekannt wohin“. Die erste Deportation von<br />
Münchner Juden im November 1941: Dokumente 8: o. S.<br />
45 Benz, Wolfgang (1990): Herrschaft und Gesellschaft im nationalsozialistischen Staat: 176. Auch in:<br />
Miesbeck, Peter (1993): Die Tagebücher der Elisabeth Block: 119<br />
46 Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „... verzogen, unbekannt wohin“. Die erste Deportation von<br />
Münchner Juden im November 1941: Dokument 9: o. S.<br />
47 Heinemann, Herbert (1995): Die jüdische Lehrwerkstatt in München 1932–1942. In: Jüdisches Leben in<br />
München. Geschichtswettbewerb der Landeshauptstadt München 1993/94: 104–107<br />
48 Bericht von Erwin Weil. In: Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „... verzogen, unbekannt wohin“. Die<br />
erste Deportation von Münchner Juden im November 1941: Dokument 14: o. S.<br />
34
kam nach drei Tagen in Kowno an. 49 Dann folgte ein Fußmarsch in das sechs Kilometer<br />
nordwestlich der Stadt Kowno gelegene Fort IX. 50 Hier kamen die Deportierten an einem<br />
von der Reichswehr errichteten Ghetto vorbei, in dem sich auch Ganor Solly, ein Überlebender<br />
des Holocaust, befand. Ganor sah „im grauen Licht der Morgendämmerung eine<br />
endlose Kolonne Menschen den Berg hinaufgehen in Richtung Fort IX ... Bewaffnete Litauer<br />
säumten beide Seiten der Straße, so weit das Auge sehen konnte, bereit, jeden zu erschießen,<br />
der zu fliehen versuchte ... Die Kolonne war so lang, daß der Todesmarsch vom<br />
Tagesanbruch bis mittags dauerte.“ 51 Im Fort IX waren sie zwei Tage in Arrestzellen eingesperrt.<br />
DIE ERMORDUNG<br />
Am 25. November 1941 holte die „Einsatzgruppe 3“ 52 die Gefangenen in Gruppen von 80<br />
Personen aus dem Fort und kommandierten sie in Richtung der Gräben. „Unmittelbar bei<br />
den Gräben schlugen sie auf die Opfer ein, sobald diese weglaufen wollten. Die meisten<br />
Opfer wurden erschossen, nachdem sie in die Gräben gefallen waren. Die Schüsse wurden<br />
mit Maschinengewehren abgefeuert, die auf dem bewaldeten Hügel bei den Gräben postiert<br />
waren. Diejenigen die nicht rannten oder in die andere Richtung rannten, wurden an<br />
Ort und Stelle von denjenigen Litauern und Deutschen erschossen, die sie vorher in Gruppen<br />
zusammengestellt hatten.“ 53<br />
Ein weiterer Augenzeuge der Massenmorde in Osteuropa war der Bauingenieur Hermann<br />
Friedrich Gräbe 54 , der in der ukrainischen Stadt Dubno das Geschehen sah und später berichtete:<br />
„Eine achtköpfige Familie stand beisammen: Eine alte Frau hielt das Kleinkind<br />
und versuchte es zum Lachen zu bringen, der Vater tröstete einen weinenden Zehnjährigen,<br />
zeigte mit dem Finger zum Himmel und streichelte ihm über den Kopf und schien ihm<br />
etwas zu erklären.“ 55 Die Erschießungskommandos ließen die Nackten in die Grube hin-<br />
49 Heusler, Andreas (2000): Fahrt in den Tod. In: Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „... verzogen, unbekannt<br />
wohin“. Die erste Deportation von Münchner Juden im November 1941: 18<br />
50 Es gehörte zu einer im 19. Jahrhundert von Zar Nikolaus I. errichteten Festungsanlage.<br />
51 Ganor, Solly (1997): Das andere Leben. Kindheit im Holocaust: 107–108<br />
52 „Im Polenfeldzug waren dies mobile, den fünf Armeen der Provinz Posen zugeordnete Einheiten der<br />
Sicherheitspolizei mit der Aufgabe, im jeweiligen Operationsgebiet hinter der Front einen Vernichtungskrieg<br />
gegen die polnische Oberschicht und die Juden zu führen.“ In: Schmitz-Berning, Cornelia (1998):<br />
Vokabular des Nationalsozialismus: 172<br />
53 Bericht des Augenzeugen Kulish, zitiert in Porat: 382. Heusler, Andreas (2000): Fahrt in den Tod. In:<br />
Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): ... verzogen, unbekannt wohin: 19<br />
54 Gräbe rettete Hunderten Juden in der Ukraine das Leben. Dafür wurde er in Jad Vaschem mit dem Pflanzen<br />
eines Namensbaumes an der „Allee der Gerechten“, 1965 geehrt.<br />
55 Hermann Friedrich Gräbe, zitiert in: Der Spiegel Nr. 30 v. 23.7.2001: Einer gegen die SS; von Christian<br />
Habbe: 132<br />
35
absteigen. „Sie legten sich vor die toten oder angeschossenen Menschen, einige streichelten<br />
die noch Lebenden und sprachen leise auf sie ein.“ 56 Gräbe sah, wie der SS-Mann<br />
schoss, „wie die Körper zuckten oder die Köpfe schon still auf den vor ihnen liegenden<br />
Körpern lagen.“ 57<br />
Von München aus gingen insgesamt 44 Deportationszüge mit insgesamt 3666 Opfern. Sie<br />
gelangten nach Kowno, Piaski, Theresienstadt und Auschwitz. 58 Lediglich für zwei Transporte<br />
(vom 20. November 1941 nach Kaunas und vom 4. April 1942 nach Piaski) existieren<br />
Deportationslisten; sie befinden sich im Archiv des Instituts für Zeitgeschichte München.<br />
59<br />
Der englische Historiker Professor Peter Longerich vertritt die Ansicht, dass die Nazis bereits<br />
mit dem Kriegsbeginn „konzeptionell von der Verfolgung zur physischen Vernichtung<br />
übergingen. Je weiter sie den Krieg ausdehnten, desto mehr radikalisierten sie ihre<br />
,Judenpolitik´. Für sie bildeten Krieg und Genozid eine Einheit ... Tatsächlich bestand der<br />
Holocaust aus einer nahezu ganz Europa umfassenden, über Jahre anhaltenden Serie von<br />
Massakern, von unvorstellbaren Grausamkeiten und Leid, verübt von Hunderttausenden<br />
– teilweise hoch motivierten – Tätern und Helfern und beobachtet von einer noch weitaus<br />
größeren Anzahl Augenzeugen.“ 60<br />
Einzelne Schicksale<br />
Adler, Karoline<br />
*15.5.1902 München †25.11.1941 Kowno<br />
„Karoline Adler arbeitete in den 20er und 30er Jahren als Bürokraft und Privatsekretärin.<br />
Wegen der „Arisierung“ ihrer Wohnung musste sie 1940 von der Unertlstraße 4 in<br />
eine „Judenwohnung“ in der Giselastraße 6 umziehen. Im September veranlasste die Arisierungsstelle<br />
des Gauleiters ihren Umzug in das Barackenlager an der Knorrstraße 148.<br />
Im November 1941 wurde sie für den Transport nach Kaunas eingeteilt (Stadtarchiv München).“<br />
61<br />
56 Hermann Friedrich Gräbe, zitiert in: Der Spiegel Nr. 30 v. 23.7.2001: 132<br />
57 Hermann Friedrich Gräbe, zitiert in: Der Spiegel Nr. 30 v. 23.7.2001: 132<br />
58 Ophir, Baruch Z. / Wiesemann, Falk (1979): Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918–1945: 60<br />
59 Dokumente im Institut für Zeitgeschichte (FA 208, FA 209). Auch in Heusler, Andreas (2000): Fahrt in<br />
den Tod. In: Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „... verzogen, unbekannt wohin: 14<br />
60 Longerich, Peter (2001): Der ungeschriebene Befehl. In: Der Spiegel Nr. 33 v. 13.8.2001: 138<br />
61 Dokument 10. Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „... verzogen, unbekannt wohin.“ Die erste Deportation<br />
von Münchner Juden im November 1941.<br />
36
Balbier, Elsa<br />
*21.2.1899 München †25.11.1941 Kowno<br />
„Elsa Balbier (geb. Adler), von Beruf Kindergärtnerin, lebte seit 1935 mit ihrer Schwester<br />
Karoline Adler in einem gemeinsamen Haushalt, zuerst in der Unertlstraße 4, seit März<br />
1940 in einer „Judenwohnung“ in der Giselastraße 6. Zusammen mit Karoline Adler<br />
musste sie diese Wohnung aufgeben und in den „Judensiedlung Milbertshofen“ umziehen.<br />
Auch Elsa Balbier wurde für den Transport nach Kaunas am 20. November 1941 eingeteilt<br />
(Stadtarchiv München).“ 62<br />
Blechner, Mina<br />
*5.10.1888 Nybelz (Polen) †25.11.1941 Kowno<br />
Die aus Osteuropa stammende jüdische Familie Blechner siedelte sich zwischen 1910 und<br />
1914 in der Münchner Isarvorstadt, Klenzestraße 62, später 65, an. 63 Mina Blechners Ehemann<br />
Mordechai – er nannte sich später Markus – war Inhaber der „Firma Blechner & Co.,<br />
Großhandel mit Schuhwaren“, der laut Verordnung vom 1. Januar 1939 gezwungen war,<br />
seine Firma abzumelden; dies geschah am 21. Januar. 64 Die Familie erhielt mit Hilfe Verwandter<br />
Ausreisepapiere in die Schweiz. Ihre begonnene Ausreise im August 1939 endete<br />
jedoch an der Schweizer Grenze, wo sie zurückgewiesen wurden. 65 Zurück in München,<br />
floh der Sohn Salo Blechner nach Berlin; der Vater Markus Blechner kam in das KZ Buchenwald,<br />
wo er am 14. November 1939 starb. 66 Für die allein in München lebende Mutter<br />
Mina Blechner begann ein langer Leidensweg, der nach der Einweisung in das „Jüdische<br />
Deportationslager“ in Milbertshofen (siehe Band 2: Jüdisches Deportationslager) mit ihrer<br />
Ermordnung in Kowno endete. 67<br />
Familie Koppel (nach Zeugnissen des überlebenden Sohnes Alfred (Al) Koppel, der heute<br />
in Fort Collin (USA) lebt. 68 )<br />
62 Dokument 11. Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „... verzogen, unbekannt wohin“. Die erste Deportation<br />
von Münchner Juden im November 1941.<br />
63 Seidel, Doris (2001): Zeitweilige Heimat – Die Blechners in München 1910 bis 1939. In: Heusler,<br />
Andreas (Hrsg.) (2001): Ich lebe! Das ist ein Wunder: 27<br />
64 Hoffmann, Alexa-Romana / Hoffmann, Diana-Patricia (2001): „Mein einziger Wunsch ist mit lb Salo<br />
zusammen und mit alle meine lb Kinder!“ – Diskriminierung, Verfolgung und Ermordung von Mina<br />
Blechner. In: Heusler, Andreas (Hrsg.) (2001): Ich lebe! Das ist ein Wunder: 53<br />
65 Hoffmann, Alexa-Romana / Hoffmann, Diana-Patricia (2001) In: Heusler, Andreas (Hrsg.) (2001): 56<br />
66 Hoffmann, Alexa-Romana / Hoffmann, Diana-Patricia (2001) In: Heusler, Andreas (Hrsg.) (2001): 61<br />
67 Institut für Zeitgeschichte München, Archiv, Fa 208, Kopie der Liste vom 15.11.1941. In: Hoffmann,<br />
Alexa-Romana / Hoffmann, Diana-Patricia (2001) In: Heusler, Andreas (Hrsg.) (2001): 75<br />
68 Koppel, Al (2000): Zuerst an der Reihe. Das Schicksal meiner Familie. In: Stadtarchiv München (Hrsg.)<br />
(2000): „... verzogen, unbekannt wohin“: 37–43<br />
37
Die Familie Koppel war seit über 250 Jahren in Hamburg ansässig. Im Jahre 1931 zog die<br />
Familie „nach München, der Heimatstadt meiner Mutter, wo mein Vater den Lebensunterhalt<br />
als Importkaufmann für Lebensmittel verdiente.“ Nach dem Judenpogrom verbrachte<br />
der Vater „etwa sechs Wochen im KZ Dachau.“ Vergeblich versuchte die Familie,<br />
Ausreisevisa zu bekommen. „Dann wurde mein Vater ein Jahr später in das berüchtigte<br />
Gefängnis Stadelheim geworfen, wo er einige Wochen lang schmachtete ... Nach seiner<br />
Freilassung war er gezwungen, Deutschland in kürzester Zeit zu verlassen.“ Seine Angehörigen,<br />
die Mutter mit sechs Kindern, mussten in Deutschland zurückbleiben. Für zwei<br />
Söhne (Walter und Al Koppel), die inzwischen in Berlin bei Verwandten lebten, konnten<br />
Visa besorgt werden. Sie gelangten im Juli 1941 zu ihrem Vater nach New York. Zurück<br />
in München blieben: die Mutter Karola Koppel, 38 Jahre, mit den Kindern Günther, 17<br />
Jahre, Hans, 5 Jahre, Ruth Koppel, 4 Jahre und Judis Koppel, 2 Jahre. 69 Am 20. November<br />
1941 kamen sie vom „Jüdischen Deportationslager“ in Milbertshofen mit dem Zug nach<br />
Kowno, wo sie am 25. November 1941 im Fort IX ermordet wurden.<br />
Dr. Paul Wassermann<br />
*3.3.1887 München †25.11.1941 Kowno<br />
Der in München geborene Sohn von Franz und Amalie Wassermann (geb. Fechheimer)<br />
besuchte das Luitpold Gymnasium in München; hier studierte er Chemie und promovierte<br />
1910 in diesem Fach. Wassermann trat 1920 in den Freiwilligenkorps von Franz Ritter<br />
von Epp ein. Er war Vorsitzender der akademischen Unterrichtskurse für Arbeiter und<br />
zweiter Vorsitzender des Heimat- und Königbundes. Der unverheiratete Wassermann<br />
wohnte zuletzt bei seiner Schwester Ida und seinem Schwager in Schwabing. Er stand am<br />
20. November 1941 auf der Deportationsliste nach Kowno und wurde dort fünf Tage später<br />
ermordet. 70<br />
Ausstellungen<br />
1994: Versagte Heimat. Jüdisches Leben in Münchens Isarvorstadt 1914–1945. Gezeigt<br />
in der Bibliothek des Deutschen Museums, München.<br />
25. Februar – 6. April 1997: Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–<br />
1944. Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Gezeigt in der Galerie des<br />
Neuen Rathauses, München.<br />
69 Foto von Karola Koppel und ihren vier Kindern. Koppel, Al (2000): Zuerst an der Reihe. Das Schicksal<br />
meiner Familie. In: Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „... verzogen, unbekannt wohin“: 40–41<br />
70 Bokovoy, Douglas / Meining, Stefan (1994): Versagte Heimat: 273<br />
38
8. Februar – 26. Februar 1999: Und immer noch sehe ich ihre Gesichter ... Fotografien<br />
jüdischer Lebenswelten von Polen vor der Schoa. Konzipiert von der Gesellschaft zur Förderung<br />
jüdischer Kultur und Tradition e. V., in Zusammenarbeit mit der Shalom Foundation<br />
Warschau und dem Jüdischen Museum der Stadt Frankfurt a. M.; mit Unterstützung<br />
des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus und der Landeshauptstadt<br />
München. Gezeigt im Neuen Rathaus von München.<br />
8. September – 5. Oktober 1999: Das kurze Leben einer Jüdin Felice Schragenheim.<br />
Eine Ausstellung zur Deutschen Geschichte.“ Konzipiert vom Kulturreferat der Landeshauptstadt<br />
München. Gezeigt im Foyer zum Carl-Orff-Saal im Gasteig, München.<br />
13. März – 30. April 2000: „Schicksal (un)bekannt. Idee und Realisation von Wolfram<br />
Kastner. Gezeigt in der Münchner Evangelisch-Lutherischen Christuskirche und in der<br />
KZ-Gedenkstätte Dachau. Gefördert durch die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern,<br />
die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit und das Kulturreferat der<br />
Landeshauptstadt München, Stiftung Erinnerung.<br />
23. November 2000 – Februar 2001: ... verzogen, unbekannt wohin. Die erste Deportation<br />
von Münchner Juden im November 1941. Konzipiert vom Stadtarchiv München. Gezeigt<br />
im Neuen Rathaus von München.<br />
19. Juli 2001 – 24. Januar 2002: Ich lebe! Das ist ein Wunder. Eine Ausstellung des Stadtarchivs<br />
München und der Abteilung für Jüdische Geschichte und Kultur des historischen<br />
Seminars, Ludwig-Maximilians-Universität München. Gezeigt im Jüdischen Museum<br />
München, Reichenbachstraße 27 / Rückgebäude.<br />
8. Oktober - 24. November 2002: Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges.<br />
Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Gezeigt im<br />
Stadtmuseum von München.<br />
Literatur<br />
Adler, Hans Günther (1955): Theresienstadt 1941–1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft. Verlag J. C.<br />
B. Mohr, Tübingen<br />
Adler, Hans Günther (1958): Die verheimlichte Wahrheit. Theresienstädter Dokumente. Verlag J. C. B. Mohr,<br />
Tübingen<br />
Adler, Hans Günther (1974): Der verwaltete Mensch. Studien zur Deportation der Juden aus Deutschland.<br />
Verlag J. C. B. Mohr, Tübingen<br />
Arendt, Hannah (1955): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Frankfurt a. M.<br />
Barkai, Avraham (1988): Vom Boykott zur „Entjudung“. Der wirtschaftliche Existenzkampf der Juden im<br />
Dritten Reich. Fischer TB, Frankfurt a. M.<br />
Behrend, Rosenfeld / Luckner, Gertrud (Hrsg.) (1970): Lebenszeichen aus Piaski. Briefe Deportierter aus dem<br />
Distrikt Lublin 1940–1943. München<br />
39
Benz, Wolfgang (Hrsg.) (1989): Die Juden in Deutschland 1933–1945. Leben unter nationalsozialistischer<br />
Herrschaft. C. H. Beck Verlag, München<br />
Benz, Wolfgang (1988): Deportation und Ermordung. In: Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Hrsg.<br />
v. Manfred Treml und Josef Kirmeier. Kastner & Callwey, München: 498<br />
Bokovoy, Douglas / Meining, Stefan (1994): Versagte Heimat. Jüdisches Leben in Münchens Isarvorstadt<br />
1914–1945. Eine Veröffentlichung der Forschungsstelle deutsch-jüdischer Zeitgeschichte e. V., Verlag<br />
Dr. Peter Glas, München<br />
Bracher, Karl Dietrich (1969): Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur und Folgen des Nationalsozialismus.<br />
Ullstein Tb, Köln<br />
Breitmann, Richard (1996): Der Architekt der „Endlösung“. Himmler und die Vernichtung der europäischen<br />
Juden.<br />
Browning, Christopher (2001): Judenmord. NS-Politik, Zwangsarbeit und das Verhalten der Täter. S. Fischer<br />
Verlag, Frankfurt a. M.<br />
Ganor, Solly (1997): Das andere Leben. Kindheit im Holocaust. Fischer Verlag, Frankfurt a. M.<br />
Habbe, Christian (2001): Einer gegen die SS. In: Der Spiegel Nr. 30 v. 23.7.2001: 132–134<br />
Hanke, Peter (1967): Zur Geschichte der Juden in München zwischen 1933 und 1945: 337f<br />
Haus der Wannsee-Konferenz. Dauerausstellung, Katalogbroschüre o.J., Druckhaus Hentrich, Berlin<br />
Heusler, Andreas (2000): Fahrt in den Tod. Der Mord an den Münchner Juden in Kaunas (Litauen) am 25.<br />
November 1941. In: Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „...verzogen, unbekannt wohin“: 13–14<br />
Heusler, Andreas (Hrsg.) (2001): Ich lebe! Das ist ein Wunder. Schicksal einer Münchner Familie während<br />
des Holocaust. Eine Veröffentlichung d. Stadtarchivs München. Buchendorfer Verlag, München<br />
Hiob, Hanne / Koller, Gerd (Hrsg.) (1998): „Wir verreisen ...“ in die Vernichtung. Aufbau Taschen Verlag,<br />
Berlin<br />
Hockerts, Hans Günter (1993): Enteignung und „Entmietung“ Münchner Wohnraums. In: „München – Hauptstadt<br />
der Bewegung“. Ein Projekt des Münchner Stadtmuseums. Klinkhardt & Biermann, München: 409–<br />
410<br />
Hoffmann, Alexa-Romana / Hoffmann, Diana-Patricia (2001): „Mein einziger Wunsch ist mit den lb Salo zusammen<br />
und mit alle meine lb Kinder!“ – Diskriminierung, Verfolgung und Ermordung von Mina Blechner.<br />
In: Heusler, Andreas (Hrsg.) (2001): Ich lebe! Das ist eine Wunder: 48–83<br />
Holzmann, Helene (2000): „Dies Kind soll leben“. Die Aufzeichnungen der Helene Holzmann 1941–1944.<br />
Schoeffling & Co., Frankfurt a. M.<br />
Kaiser, Reinhard / Holzmann, Margarete (Hrsg.) (2000): „Dies Kind soll leben“. Aufzeichnungen der Helene<br />
Holzmann 1941–1944. Schöffling & Co., Frankfurt a. M.<br />
Jüdisches Leben in München. Lesebuch zur Geschichte des Münchner Alltags. Geschichtswettbewerb 1993/<br />
94. Hrsg. v. d. Landeshauptstadt München. Buchendorfer Verlag, München<br />
Kaplan, Marion (2000): Der Mut zum Überleben. Jüdische Frauen und ihre Familien in Nazideutschland. Aufbau<br />
Verlag, Berlin<br />
Koppel, Al (2000): Zuerst an der Reihe. Das Schicksal meiner Familie. In: Stadtarchiv München (Hrsg.)<br />
(2000): „...verzogen, unbekannt wohin“: 37–43<br />
Leuner, Heinz David (1997): Gerettet vor dem Holocaust. Menschen die halfen. Herbig Verlag, München<br />
Longerich, Peter (1998): Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung.<br />
Piper Verlag, München, Zürich<br />
Longerich, Peter (2001): Der ungeschriebene Befehl. In: Der Spiegel Nr. 33 v. 13.8.2001: 132–138<br />
Matthäus, Jürgen (1996): Jenseits der Grenze. Die ersten Massenerschießungen von Juden in Litauen (Juni-<br />
August 1941). In: Zeitschrift f. Geschichtswissenschaft 44: 101–126<br />
Matthäus, Jürgen (1999): Das Ghetto in Kaunas und die „Endlösung“ in Litauen. In: Benz, W. /Meiss, M.<br />
(Hrsg.): Judenmord in Litauen. Studien u. Dokumente. Berlin<br />
Neumann, Franz (1984): Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1945. Fischer Tb,<br />
Frankfurt a. M.<br />
40
Rürup, Reinhard (1975): Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur „Judenfrage“ der bürgerlichen Gesellschaft.<br />
Fischer Tb, Frankfurt a. M.<br />
Scheffler, Wolfgang (1992): Abgewandert nach Osten. Die Bevölkerungsstatistik der Reichsvereinigung der<br />
Juden in Deutschland 1941–1945. Eine Dokumentation. Edition Hentrich, Berlin<br />
Schmitz-Berning, Cornelia (1998): Vokabular des Nationalsozialismus. Verlag Walter de Gruyter, Berlin,<br />
New York<br />
Schneider, Peter (2000): „Und wenn wir nur eine Stunde gewinnen ...“. Wie ein jüdischer Musiker die Nazi-<br />
Jahre überlebte.<br />
Schoenberner, Gerhard (1988): Zeugen sagen aus. Berichte über die Judenverfolgung im Dritten Reich. Berlin<br />
(DDR)<br />
Schoenberner, Gerhard (1992): Der gelbe Stern. Die Judenverfolgung in Europa 1933–1945. Fischer Tb,<br />
Frankfurt a. M.<br />
Seidel, Doris (2001): Zeitweilige Heimat – Die Blechners in München 1910 bis 1939. In: Heusler, Andreas<br />
(Hrsg.) (2001): Ich lebe! Das ist ein Wunder: 25–47<br />
Selig, Wolfram (1994): Judenverfolgung in München 1933 bis 1944. In: „München – Hauptstadt der Bewegung“.<br />
Ein Projekt des Münchner Stadtmuseums. Klinkhardt & Biermann, München: 402–406<br />
Sommer-Lefkovits, Elisabeth (1998): Ihr seid auch hier in dieser Hölle? Lebensbericht 1944–1945. Pendo<br />
Verlag, Zürich, München<br />
Spiegel, Paul (2001): Wieder zu Hause? Erinnerungen. Ullstein Verlag, Berlin<br />
Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „...verzogen, unbekannt wohin“. Die erste Deportation von Münchner<br />
Juden im November 1941. Pendo Verlag, Zürich, München<br />
Wiesemann, Falk (1975): Die Vorgeschichte der nationalsozialistischen Machtübernahme in Bayern 1932/33.<br />
Berlin<br />
41
42<br />
Judenpogrom von 1938<br />
„Aber jeder Deutsche konnte miterleben, was jüdische Mitbürger erleiden mussten, von<br />
kalter Gleichgültigkeit über versteckte Intoleranz bis zu offenem Hass.“<br />
Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker<br />
vor dem Bundestag am 8. Mai 1985. 71<br />
Gedenktafel im Alten Rathaus<br />
Foto: H. Pfoertner<br />
71 In: Bulletin der Bundesregierung Nr. 52 vom 9.5.1985: 441. Auch in: Information zur politischen Bildung,<br />
Nr. 270, 1. Quartal 2001: 41
Gedenktafel<br />
Altes Rathaus, Altstadt<br />
Marienplatz U3/U6 und S1-S8<br />
M (2000)<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Dr. Hans-Jochen Vogel, Altoberbürgermeister von München und Vorsitzender des Vereins<br />
„Gegen Vergessen und für Demokratie“, initiierte am 4. April 2000 eine Gedenktafel,<br />
die in München im Alten Rathaus an Planung und Durchführung der antisemitischen Ausschreitungen<br />
und Verbrechen erinnern sollte. Sie wurde vom Münchner Oberbürgermeister<br />
Christian Ude im Beisein der Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München,<br />
Charlotte Knobloch am 23. November 2000 enthüllt.<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
Im Foyer, am Beginn des Treppenaufgangs zum Rathaussaal im Alten Münchner Rathaus,<br />
befindet sich die Gedenktafel (Maße 1,23 m × 1,03 m) mit folgendem Text:<br />
„Dieser Tanzsaal des Alten Rathauses war jahrhundertelang Schauplatz bürgerlicher und<br />
stadtherrlicher Zusammenkünfte und Feste. Das nationalsozialistische Regime missbrauchte<br />
diesen Ort für die Planung antisemitischer Verbrechen. Im Verlauf einer Parteifeier<br />
am Abend des 9. November 1939 wurden die seit Tagen in vielen Städten des Reiches<br />
angezettelten antijüdischen Ausschreitungen hier zu einem deutschlandweiten Pogrom<br />
ausgeweitet. Als ,Reichskristallnacht´ war dieses Pogrom Vorstufe der Vernichtung des<br />
europäischen Judentums.“<br />
INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER<br />
Die Gedenktafel schuf der Münchner Bildhauer Toni Preis.<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
An der Stelle des ehemaligen Talburgtores errichtete der Architekt, Steinmetz und Baumeister<br />
Jörg von Halspach, der auch die Frauenkirche erbaute, zwischen 1470 und 1480<br />
das Alte Rathaus, das ursprünglich Tanzhaus hieß. Es diente den Zusammenkünften der<br />
Ratsherren ebenso wie den Adeligen, Patriziern und Bürgern der Stadt. In dem großen<br />
Saal befanden sich seit 1480 die berühmten, von Erasmus Grasser geschaffenen Moriskentänzer,<br />
die heute im „Moriskensaal“ des Münchner Stadtmuseums zu sehen sind. Der<br />
Historiker und Stadtarchivleiter Dr. Michael Schattenhofer hat in seinem Werk Das Alte<br />
43
Rathaus in München eine Auswahl von Veranstaltungen verzeichnet, die im großen Saal<br />
des Alten Rathauses zwischen 1819 bis 1932 stattgefunden haben 72 ; so z. B.: Am 11. Oktober<br />
1829 „Erste Verteilung der Dienstbotenmedaillen“; 12. August 1860 „Festbankett<br />
anläßlich der Eröffnung der Bahnlinie Wien- Salzburg-München“; 14. Oktober 1862<br />
„Abendfest zu Ehren des 2. Deutschen Handelstages, zu dem sich an die 400 Vertreter des<br />
deutschen Handelsstandes eingefunden hatten“; 2. August 1872 „Festbankett zur 400-<br />
Jahr-Feier der Universität“; 22. Februar 1907 „Vortrag des Baurats Hans Grässel über<br />
Grabdenkmäler anläßlich der Eröffnung des Waldfriedhofs“; 11. November 1906 „Festmahl<br />
anlässlich der Grundsteinlegung zum Deutschen Museum am 13. November in Gegenwart<br />
Kaiser Wilhelm II. und der Kaiserin Augusta Victoria“; 9. September 1907 „Eröffnung<br />
des 16. Internationalen Friedenskongresses von Bertha Suttner“; 26. Oktober<br />
1909 „3. Generalversammlung des Deutschen Verbandes für Frauenstimmrecht. Dr. Anita<br />
Augspurg wird mit 60 von 77 Stimmen zur 1. Vorsitzenden gewählt“; 11. November<br />
1932 „Geburtstagsfeier für Gerhart Hauptmann (70. Geburtstag) mit Darbietungen von<br />
Karl Valentin, Liesl Karlstadt und Käte Tellheim.“<br />
Aufruf zum reichsweiten Pogrom gegen Juden<br />
In Deutschland gab es noch bis ins 19 Jahrhundert mehrere Pogromwellen: 1819, 1830,<br />
1848 und 1872–1875. Der Ort, von dem 1938 der große reichsweite Pogrom ausging, war<br />
der Festsaal des Alten Rathauses in München. Hier traf sich am 9. November 1938 die<br />
Führerschaft der NSDAP zu einem „geselligen Beisammensein“. Danach war die Teilnahme<br />
an der Vereidigung der SS an der Feldherrnhalle vorgesehen. 73<br />
Der Vorwand für das geplante Pogrom war der Tod des deutschen Legationssekretärs<br />
Ernst von Rath in Paris. Er war zwei Tage zuvor von dem 17-jährigen polnischen Juden<br />
Herschel Grynspan bei einem Attentat verwundet worden. Grynspan protestierte damit,<br />
als er erfuhr, dass man seine Eltern und Geschwister zusammen mit 1700 anderen „polnischen“<br />
Juden in Deutschland am 27. und 28. Oktober verhaftet und nach Polen deportiert<br />
hatte.<br />
Im Oktober 1938 hatten die NS-Organe wie Gestapo und SS alle „jüdischen Gewerbebetriebe“<br />
reichsweit aufgelistet. Ebenso war die Zerstörung und Verwüstung der jüdischen<br />
Gotteshäuser und Einrichtungen geplant und vorbereitet. In der Nacht vom 9. zum 10. November<br />
sind in München circa 1000 jüdische Männer in Haft genommen oder verschleppt<br />
worden, die meisten kamen als so genannte „Aktionshäftlinge“ in das KZ Dachau. Von<br />
der Zerstörung der „jüdischen Gewerbebetriebe“ waren in München 42 jüdische Geschäfte<br />
betroffen. 74 Es kam zur Zerstörung der Schaufenster, zu Plünderungen, Verwüstung<br />
72 Schattenhofer, Michael (1972): Das alte Rathaus in München: 377–388<br />
73 StadtA Mü BuR 458/3<br />
44
von Einrichtungen und Ausraubung der Geschäfte. Zur gleichen Zeit legten SA-Leute in<br />
Zivil Feuer in Münchner Synagogen, nachdem sie gewaltsam eingedrungen waren. Sie<br />
verwüsteten die Einrichtung und die Devotionalien der jüdischen Gotteshäuser (Siehe<br />
Band 3: Synagogen). Betroffen waren hauptsächlich die Synagogen in der Reichenbachstraße<br />
und in der Herzog-Rudolf-Straße, die durch den Brand völlig zerstört wurden und<br />
abgerissen werden mussten.<br />
Über die Zerstörung der Geschäftsstelle der Israelitischen Kultusgemeinde in der Lindwurmstraße<br />
berichtete der damalige Präsident Alfred Neumeyer: „Unser Verwaltungsgebäude<br />
an der Lindwurmstraße wurde in jener Nacht vollkommen verwüstet. Es wurden<br />
Schreibmaschinen, Geld und das ganze Gestühl verschleppt, und die überaus wertvolle<br />
Bibliothek weggenommen. Einige untergeordnete SS-Organe nahmen mit mir an Ort und<br />
Stelle unter höhnischen Bemerkungen ein Protokoll auf und stellen in Abrede, mitgewirkt<br />
zu haben oder die Täter zu kennen. Tatsächlich war die Zerstörung von der einschlägigen<br />
Ortsgruppe der SA durchgeführt. Ich mußte das Protokoll schriftlich anerkennen und auf<br />
jede Entschädigung gegenüber der Gestapo verzichten ... Wir hörten, daß das Anwesen<br />
bereits einem gewerblichen Unternehmen überlassen war.“ 75<br />
Die so genannte „Reichskristallnacht“ war ein staatlich sanktioniertes Programm und bildete<br />
bis zu diesem Zeitpunkt einen Höhepunkt der Gewaltmaßnahmen gegen Juden.<br />
Judenverfolgungen von HJ-Führern<br />
Der Münchner Historiker Dr. Andreas Heusler stieß beim Studium einschlägiger Akten<br />
des Instituts für Zeitgeschichte der Außenstelle Berlin auf eine Besonderheit des Münchner<br />
Pogroms: Die „Sühnegeldaktion“. Die Idee hatte einer der ranghöchsten HJ-Führer,<br />
der nach der Veranstaltung im Alten Rathaussaal zur Tat schritt: Man zwang vermögende<br />
Juden, „Sühnegeld“ zu zahlen. 76 Bei diesem erpresserischen Raubzug wurden insgesamt<br />
127 800 Reichsmark erbeutet. 77<br />
Ausstellungen<br />
28. Oktober – 19. November 1988: Dachau ist somit judenfrei ... Vor 60 Jahren<br />
„Reichskristallnacht“. 10. November 1938. Gezeigt im Foyer des Dachauer Rathauses.<br />
25. Oktober 1988 – 22. Januar 1989: Siehe der Stein schreit aus der Mauer. Geschichte<br />
74 BayHStA Reichsstatthalter 823 vom 10.11.1938. Weger, Tobias (1998): In: Heusler, A. / Weger, T.<br />
(1998): „Kristallnacht“: 52<br />
75 Neumeyer 1941–1944, Blatt 214ff. Weger, T. (1998): In: „Kristallnacht“: 75<br />
76 Heusler, A. (1998): In: „Kristallnacht“: 95 ff<br />
77 Heusler, A. (1998): In: „Kristallnacht“: 107<br />
45
und Kultur der Juden in Bayern. Gezeigt im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg.<br />
Konzipiert vom Haus der Bayerischen Geschichte.<br />
September – November 1998: Kristallnacht. Gewalt gegen Münchner Juden im November<br />
1938. Gezeigt im Alten Münchner Rathaus. Konzipiert vom Stadtarchiv München.<br />
8. November – 15. November 1998: Zum Gedenken an den 9. November 1938. Die<br />
„Reichskristallnacht“ in München. Veranstaltungsreihe der Landeshauptstadt München<br />
unter Mitarbeit von Vereinen, Instituten und Organisationen.<br />
8. Juni – 6. Juli 1999: Deutsche Jüdische Soldaten. Von der Epoche der Emanzipation<br />
bis zum Zeitalter der Weltkriege. Konzipiert vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt<br />
Potsdam, in Zusammenarbeit mit dem Moses Mendelsohn Zentrum Potsdam und dem<br />
Centrum Judaicum, Berlin. Gezeigt im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München, Schönfeldstraße<br />
5.<br />
18. Oktober – 30. November 2000: Vom Mittelalter in die Neuzeit. Jüdische Städtebilder<br />
(Frankfurt, Prag und Amsterdam). Die Geschichte der Wissenschaft des Judentums. Konzipiert<br />
von der Hochschule für Jüdische Studien, Heidelberg. Gezeigt im Bayer. Hauptstaatsarchiv<br />
München, Schönfeldstraße 5.<br />
Literatur<br />
Bokovoy, Douglas / Meining, Stefan (Hrsg.) (1994): Versagte Heimat. Jüdisches Leben in Münchens Isarvorstadt<br />
1914–1945. Verlag Dr. Peter Glas, München<br />
Friedländer, Saul (1998): Das Dritte Reich und die Juden. Die Jahre der Verfolgung 1933–1939. C. H. Beck<br />
Verlag, München<br />
Gidal, Nachum T. (1997): Die Juden in Deutschland. Von der Römerzeit bis zur Weimarer Republik. Könemann<br />
Verlagsgesellschaft, Köln<br />
Graml, Hermann (1988): Reichskristallnacht. Antisemitismus und Judenverfolgung im Dritten Reich. dtv<br />
4519, München<br />
Graml, Hermann (1993): Rassismus und Lebensraum. Völkermord im Zweiten Weltkrieg. In: Bracher, Karl<br />
Dietrich et al. (Hrsg.): Deutschland 1933–1945: 440–451<br />
Haus der Bayerischen Geschichte (Hrsg.) (1988): Siehe der Stein schreit aus der Mauer. Geschichte und Kultur<br />
der Juden in Bayern. Katalog zur Ausstellung vom Germanischen Nationalmuseum und vom Haus der<br />
Bayerischen Geschichte. Germanisches Nationalmuseum Nürnberg.<br />
Heusler, Andreas / Weger, Tobias (1998): „Kristallnacht“. Gewalt gegen die Münchner Juden im November<br />
1938. Eine Veröffentlichung des Stadtarchivs München. Buchendorfer Verlag, München<br />
Hilberg, Raul (1991): Die Vernichtung der europäischen Juden. 3 Bände. Fischer Tb Verlag, Frankfurt a. M.<br />
Kaul, Friedrich Karl (1956): Der Fall des Herschel Grynspan. Berlin<br />
Kraft, Friedrich (Hrsg.) (1988): Kristallnacht in Bayern. Judenpogrom am 9.11.1938. Eine Dokumentation.<br />
München<br />
Krauss, Marita (1997): Familiengeschichte als Zeitgeschichte. Die jüdischen Familien Bernheimer, Feuchtwanger<br />
und Rosenfeld im Nationalsozialismus und Nachkriegszeit. In: Archiv für Familiengeschichtsforschung<br />
Band Nr. 9, 1997: 162–176<br />
46
„München – Hauptstadt der Bewegung“. Ein Projekt des Münchner Stadtmuseums. Ausstellungskatalog.<br />
Klinkhardt & Biermann, München<br />
Neumeyer, Alfred: Erinnerungen. Avigdor 1941–1944 (masch. Manuskript, in: Kopie im StadtA Mü)<br />
Ophir, Z. Baruch / Wiesemann, Falk (1997): Geschichte und Zerstörung der jüdischen Gemeinde in München.<br />
In: Lamm, Hans (Hrsg.) (1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München. Langen Müller Verlag,<br />
München, Wien: 462–489<br />
Pätzold, Kurt / Runge, Irene (1988): Pogromnacht 1939. Berlin (Ost)<br />
Pehle, Walter H. (1988): Der Judenpogrom 1939. Von der „Reichskristallnacht“ zum Völkermord. Frankfurt<br />
a. M.<br />
Schattenhofer, Michael (1972): Das Alte Rathaus in München. Seine bauliche Entwicklung und seine stadtgeschichtliche<br />
Bedeutung. Süddeutscher Verlag, München<br />
Spiegel, Paul (2001): Wieder zu Hause? Erinnerungen. Ullstein Verlag, Berlin<br />
Strasser, Marguerite (1987): Ein jüdisches Mädchen erlebt die NS-Herrschaft in München. In: Verdunkeltes<br />
München. Lesebuch zur Geschichte des Münchner Alltags. Geschichtswettbewerb 1985/86. Buchendorfer<br />
Verlag, München: 14–2<br />
47
Jüdisches Deportationslager Milbertshofen<br />
„... Somit nehme ich von Ihnen Abschied. An ein Wiedersehen glaube ich<br />
offengestanden nicht mehr ...“<br />
Aus dem Abschiedsbrief des Rechtsanwalts und Schriftstellers<br />
Fritz Schnell vom 10. Juli 1942. 78<br />
78 Brief aus dem Barackenlager an der Knorrstraße. Stadtarchiv München. Der 1872 in Augsburg geborene<br />
Rechtsanwalt und Schriftsteller Fritz Schnell wurde am 23. Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo<br />
er am 1. Februar 1943 starb. Zitiert nach Dokument 6. In: Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „... verzogen,<br />
unbekannt wohin“. Die erste Deportation von Münchner Juden im November 1941.<br />
48<br />
Mahnmal für das Jüdische<br />
Deportationslager<br />
Foto: A. Olsen<br />
Beim Aufbau des Jüdischen<br />
Deportationslagers in Milbertshofen<br />
Foto: Stadtarchiv München
Jüdisches Deportationslager Milbertshofen<br />
Knorrstraße148/Ecke Troppauerstraße, Milbertshofen<br />
Am Hart U2<br />
M (1982)<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Anlässlich einer Bürgerversammlung des Bezirksausschusses 27 (BA 27, heute BA 11) im<br />
Stadtbezirk Milbertshofen-Hart am 30. Oktober 1980, stellte Herr Otto Schmidl den Antrag,<br />
zur Erinnerung an das ehemalige Barackenlager für jüdische Bürger eine Gedenktafel<br />
zu schaffen. Das Gelände des früheren Lagergrundstückes wurde überwiegend in ein<br />
Gewerbegebiet umgewandelt; mit Ausnahme eines 14 Meter breiten, in städtischem Eigentum<br />
befindlichen Geländestreifens, der sich für die Aufstellung eines Denkmals eignete.<br />
Dieses wurde am 15. November 1982 vom Münchner Oberbürgermeister Georg Kronawitter<br />
im Beisein des Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde Dr. Hans Lamm<br />
und des bayerischen Justizministers Dr. Engelhard eingeweiht.<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
Am Ort des ehemaligen Barackenlagers, des so genannten „Judenlagers Milbertshofen“,<br />
befindet sich eine Bronzeplastik, deren Form an einen abgestorbenen Baum erinnert. Er<br />
weist symbolisch auf das Leben der hier zwangsweise festgehaltenen Menschen hin, das<br />
zerstört und vernichtet wurde. Die etwa drei Meter hohe, in gepflastertem Boden eingelassene<br />
Plastik, ist von Rasen umsäumt. Der Stamm der Plastik trägt folgende Inschrift:<br />
„Für viele Jüdische Mitbürger begann in den Jahren 1941/43 der Leidensweg in die<br />
Vernichtungslager mit ihrer Einweisung in das Münchner Sammellager hier an der<br />
Knorrstraße 148.“<br />
Wegen U-Bahn-Bauarbeiten war das Mahnmal ab 1988 vorübergehend auf dem Neuen Israelitischen<br />
Friedhof untergebracht. Anlässlich der Einweihung des U-Bahnhofes „Am<br />
Hart“ wurde am 20. November 1993 im Untergrundbereich, Aufgang zur Troppauerstraße,<br />
ein Hinweisschild „Denkmal jüdisches Deportationslager 1941/43 Milbertshofen“ angebracht.<br />
INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER<br />
Das Mahnmal wurde von Professor Robert Lippl gestaltet.<br />
49
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Ab Mai 1939 waren sämtliche jüdischen Männer im Alter bis 55 Jahren und Frauen bis zu<br />
50 Jahren zur Zwangsarbeit verpflichtet. Der Tageslohn betrug 0,50 Reichsmark.<br />
Seit dem 17. März 1941 mussten unter einem streng bewachten Baukommando jüdische<br />
Zwangsarbeiter auf einem 14 500 m² großen Grundstück südlich der Troppauerstraße –<br />
Ecke Knorrstraße in Milbertshofen ein Barackenlager aufbauen. Die Baracken standen zuvor<br />
in Oberach am Tegernseee und an der Fahrstraße am Wallberg; dort dienten sie seit<br />
1935 der SA als Unterkunft. 79 Zur Zwangsarbeit verpflichtete Juden mussten sie dort abbrechen<br />
und in Milbertshofen wieder aufbauen. Sie hatten in einer Erklärung zu bestätigen,<br />
dass sie diese Arbeit zum eigenen Nutzen, freiwillig und unter Verzicht auf Entlohnung<br />
ausführten. Das von einem Stacheldrahtzaun umgebene Ghetto mit der offiziellen<br />
Bezeichnung „Judensiedlung Milbertshofen“ war mit 18 Baracken für 1100 Personen geplant.<br />
Die folgenden Zwangsmaßnahmen bezeichneten die Behörden als „Evakuierung“.<br />
Bereits am 11. Oktober 1941 waren in diesem Ghetto 412 Männer und 38 Frauen untergebracht.<br />
80 Die zur Zwangsarbeit verpflichteten Lagerinsassen mussten die im ganzen Stadtgebiet<br />
verstreuten Arbeitsstellen zu Fuß erreichen – das Fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln<br />
war ihnen bereits verboten – das bedeutete zusätzliche Strapazen zur offiziellen<br />
Arbeitszeit von 7.30 Uhr bis 17 Uhr. Durch die Zwangsumsiedlung der Münchener Juden<br />
wurden etwa 300 Wohnungen frei, die man im Wohnungsamt vorrangig an verdiente Parteigenossen<br />
vergab. Über die Behandlung der Gefangenen im Lager berichtet der damals<br />
zehnjährige Ernst Grube: So kam nachts die Gestapo, um Julius Hechinger, der bei der Zusammenstellung<br />
der Transporte behilflich war „mit dem Wasserschlauch durchs Lager zu<br />
treiben ... Ein anderes Mal mußte er mit bloßen Händen die Latrine reinigen ... Manchmal<br />
trieben die Gestapo ihn und andere Juden durch das Lager, bis alle vor Erschöpfung zusammenbrachen.“<br />
81<br />
79 Dokument der „Arisierungsstelle“: Tätigkeits- und Abschlußbericht zum 30. Juni 1943. In: Stadtarchiv<br />
München (Hrsg.) (2000): „... verzogen, unbekannt wohin“: Dokument 22<br />
80 Ophir, B. / Wiesemann, F. (1958): Geschichte und Zerstörung der jüdischen Gemeinde in München<br />
1918–1945. In: Lamm, Hans (Hrsg.) (1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München: 483<br />
81 Grube, Ernst (1993): „Den Stern, den tragt Ihr nicht!“ In: Dachauer Hefte 9/1993. Die Verfolgung von<br />
Kindern und Jugendlichen: 7<br />
50
Einzelne Schicksale<br />
Carry Brachvogel<br />
*16.6.1862 München †20.11.1942 Theresienstadt<br />
Die Literatin Carry Brachvogel war Mitbegründerin des Schriftstellerinnenvereins in<br />
München und bis 1933 dessen Vorsitzende. Sie lebte fast drei Jahrzehnte in der Herzogstraße<br />
55/I und wurde zusammen mit ihrem Bruder, dem entlassenen Universitätsprofessor<br />
Siegmund Hellmann, nach Milbertshofen deportiert. 82 Die Münchner Autorin Gerty<br />
Spies kam am gleichen Tag, dem 22. Juli 1942, von diesem Lager aus „mit unbekanntem<br />
Ziel“, wie es im Amtsdeutsch hieß, nach Theresienstadt 83 . Sie schrieb darüber: „Vom Lager<br />
Milbertshofen aus, wo man uns eine Nacht festgehalten und unser Gepäck um die<br />
Hälfte des Gewichts erleichtert hatte, fuhr uns ein geschlossenener Möbelwagen zur Bahn<br />
... Anderntags kamen wir in Bauschowitz (Tschechoslowakei) an. Es rieselte vom Himmel<br />
und im Schlamm, unterm Regen lagen Alte und Kranke noch vom Transport, der vor uns<br />
gekommen war – und warteten, daß man sie holte. Wir gingen zu Fuß nach Theresienstadt<br />
... (sechs Kilometer; d. Verf.) Nachdem man unser Handgepäck ausgeraubt hatte, wurden<br />
wir durch den Ort geführt. Unbegreiflich! Wo war das Altersheim und das Wohnheim, von<br />
dem man uns versprochen hatte? Wo waren die sauberen Häuser, wo jeder sein eigenes<br />
wohl eingerichtetes Zimmer haben sollte?... Man brachte uns ins Quartier. Aber hier<br />
konnte man doch nicht leben! Es war ein Schuppen in einem Hinterhof. Im Hof kochte ein<br />
übelriechender Komposthaufen in der glühenden Mittagssonne. Im Schuppen war nichts.<br />
Kein Möbelstück, kein Ofen, kein Herd – nur der Fußboden, das Dach und die Fetzen, die<br />
von den Wänden hingen. Hier begann unser Dasein im Lager.“ 84 Die Verhältnisse in diesem<br />
Lager führten rasch zum Tod der 78-jährigen Carry Brachvogel: Sie starb drei Monate<br />
später, am 20. November 1942. 85<br />
82 Heuer, Renate (1988): Carry Brachvogel (1864–1942), Schriftstellerin. In: Geschichte und Kultur der<br />
Juden in Bayern. Lebensläufe: 215<br />
83 Ghetto und KZ, das in einer Festungsanlage aus dem 18. Jahrhundert untergebracht war. Es existierte<br />
vom November 1941 bis zur Befreiung am 8. Mai 1945. Zuerst war es ein Internierungslager für Juden<br />
aus Böhmen und Mähren; seit 1942 kamen dorthin auch alte gebrechliche Juden (über 65 Jahre) aus<br />
Deutschland und Weltkriegsteilnehmer mit ihren Ehefrauen. Theresienstadt war ein Durchgangslager auf<br />
dem Weg in die Vernichtungslager im Osten. Insgesamt wurden 141 000 Juden nach Theresienstadt<br />
deportiert; 42 345 kamen aus Deutschland. Aus München kamen mit 24 Transporten zwischen Mai und<br />
August 1942 1200 Juden nach Theresienstadt. Insgesamt kamen aus München 1555 nach Theresienstadt.<br />
Nur 297 von ihnen überlebten. (Enzyklopädie des Holocaust: 969, Benz, W. (1990): 758)<br />
84 Spies, Gerty (1984): Drei Jahre Theresienstadt: 34<br />
85 Heuer, Renate (1988): Carry Brachvogel (1864–1842), Schriftstellerin. In: Geschichte und Kultur der<br />
Juden in Bayern. Lebensläufe: 215<br />
51
Die Familie Block 86<br />
Friedrich Block<br />
*12.3.1892 Hannover †? 1942<br />
Mirjam Block, geb. Frensdorff<br />
*28.7.1896 Hannover †? 1942<br />
Elisabeth Block<br />
*12.2.1923 Niedernburg †? 1942<br />
Gertrud Block<br />
*28.10.1927 Niedernburg †? 1942<br />
Johannes Arno Block<br />
*23.11.1928 Niedernburg †? 1942<br />
Dem Schicksal einer oberbayerischen jüdischen Familie kann am Beispiel der Familie<br />
Block 87 , die in Niedernburg lebte, nachgespürt werden. Im März 1942 wurde diese Familie<br />
zum Umzug in das „Judensiedlung“ genannte Sammel- und Deportationslager gezwungen.<br />
Die vom Haus der Bayerischen Geschichte und dem Historischen Verein Rosenheim<br />
herausgegebenen Tagebücher der Elisabeth Block geben ein Bild über die persönliche Geschichte<br />
dieser Familie, deren Lebensspuren mit der Einweisung in das „Judenlager Milbertshofen“<br />
und der anschließenden Deportation am 3. April 1942 in das Ghetto nach Piaski<br />
im Distrikt Lublin 88 enden.<br />
Elisabeth Block führte ihr Tagebuch im Alter zwischen zehn und neunzehn Jahren, vom<br />
12. März 1933 bis zum 8. März 1942. 89 Sie vertraute vor ihrer erzwungenen Ausreise die<br />
Tagebücher einer langjährigen Haushälterin und treuen Freundin Kathi Geidobler an, die<br />
sie sorgsam aufbewahrte. 90<br />
Im so genannten „Judenlager Milbertshofen“ waren zeitweise 1376 Menschen 91 isoliert<br />
und von der ständigen Gefahr der Deportation bedroht: Dieses Ghetto diente als Sammellager<br />
für die Transporte nach Riga, Kowno, Piaski, Theresienstadt und in die Todeslager.<br />
(Das bewachte Lagergebiet durfte nur mit Erlaubnis verlassen werden).<br />
Das Lager in Milbertshofen wurde am 19. August 1942 aufgelöst, die hier noch lebenden<br />
86 Dokument 28. In: Erinnerungszeichen. Die Tagebücher der Elisabeth Block: 347<br />
87 Familie Block aus Niedernburg/ Obb.: Vater, Friedrich geb. 12.3.1892, Mutter, Miriam geb. 28.7.1896,<br />
Kinder: Elisabeth geb.12.2.1923, Gertrud geb.28.10.1927, Arno geb. 23.11.1928. Dokumente 28. In:<br />
Erinnerungszeichen. Die Tagebücher der Elisabeth Block: 347<br />
88 Ziel der Deportationen waren die Vernichtungslager Sobibor, Belzec, Lublin. In: Hilberg, Raul (1982):<br />
Die Vernichtung der europäischen Juden: 956, 509<br />
89 Miesbeck, Peter (1993): Die Tagebücher der Elisabeth Block: 103<br />
90 Miesbeck, Peter (1993): In: Erinnerungszeichen. Die Tagebücher von Elisabeth Block: 47<br />
91 Enzyklopädie des Holocaust: 969<br />
52
16 Menschen kamen in die „Heimanlage für Juden Berg am Laim“ (siehe Band 2: “Jüdisches<br />
Sammellager“ Berg am Laim). Das Barackenlager erwarb die BMW AG, um hier<br />
ihre ausländischen Arbeiter unterzubringen. 92<br />
Über den finanziellen Wert des arisierten Besitzes der in Piaski im Distrikt Lublin Ermordeten<br />
gibt das folgende Dokument Auskunft:<br />
„Dem Großdeutschen Reich wurden im Zug der Aktion ,Reinhardt‘ Lublin in der Zeit vom<br />
1. April 1942 bis einschließlich 15. Dezember 1943 nachstehende Geld- und Sachwerte<br />
(in RM) zugeführt:<br />
Abgelieferte Geldmittel (Zloti- und RM-Noten) 73.852.080,74<br />
Edelmetalle 8.973.651,60<br />
Devisen in Noten 4.521.224,13<br />
Devisen in gemünztem Gold 1.736.554,12<br />
Juwelen und sonstige Werte 43.662.450,00<br />
Spinnstoffe 46.000.000,00<br />
Gesamt 178.745.960,59<br />
Vorläufiger Abschlußbericht der Aktion ,Reinhardt‘ vom 5. Januar 1944“. 93<br />
In einem heute aufgefundenen Dokument über die Opfer des „Einsatzes Reinhardt“, die<br />
in einem Funkspruch vom britischen Geheimdienst am 11. Januar 1943 aufgefangen wurden<br />
sind die Opfer aus den Vernichtungslagern Belzec, Sobibor, Treblinka und dem Großghetto<br />
Lublin und Lemberg aufgeführt: von Mitte März bis 31. Dezember 1942 waren es<br />
1 274 166. 94<br />
Vor 1933 hatte die jüdische Gemeinde in München 10 000 Mitglieder. Im März 1946 lebten<br />
in München nur noch 746 Mitglieder der jüdischen Gemeinde. 95 Von München aus<br />
sind insgesamt 2991 966 Jüdinnen und Juden deportiert worden. Wenige überlebten den<br />
Holocaust.<br />
92 Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „... Verzogen, unbekannt wohin“. Die erste Deportation von<br />
Münchner Juden im November 1941: Abb. 3 und 4 (Stadtarchiv München)<br />
93 Schoenberner, Gerhard (1992): Der gelbe Stern. Die Judenverfolgung in Europa 1933–1945: 82<br />
94 Witte, Peter (2002): „... zusammen 1 274 166“. In Die Zeit Nr. 3 v. 10.1.2002: 82<br />
95 Bauer, Richard et al. (Hrsg.) (1986): München. Schicksal einer Großstadt: 139<br />
96 Ophir, B. / Wiesemann, F. (1958): Geschichte und Zerstörung der jüdischen Gemeinde in München<br />
1918–1945. In: Lamm, Hans (Hrsg.) (1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München: 488<br />
53
Ausstellungen<br />
7. – 26. Februar 1999: Und immer noch sehe ich ihre Gesichter. Fotografien jüdischer<br />
Lebenswelten in Polen vor der Schoa. Gesellschaft zur Förderung jüdischer Kultur und<br />
Tradition e. V. in Zusammenarbeit mit der Shalom Foundation Warschau und dem Jüdischen<br />
Museum Frankfurt a. M. mit Unterstützung des Bayerischen Staatsministeriums für<br />
Unterricht und Kultus, des Polnischen Ministeriums für Kultur und Kunst und der Landeshauptstadt<br />
München. Gezeigt im Neuen Rathaus von München.<br />
18. Oktober – 30. November 1999: Vom Mittelalter in die Neuzeit. Jüdische Städtebilder<br />
mit Sonderteil: Die Geschichte der Wissenschaft des Judentums. Präsentiert von der Gesellschaft<br />
zu Förderung jüdischer Kultur und Tradition e. V. und dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv.<br />
Gezeigt im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München, Schönfeldstraße 5.<br />
24. Oktober – 14. November 1999: Bilder aus dem Waschauer Ghetto. Zeichnungen<br />
von Teofila Reich-Ranicki. Gezeigt im Alten Rathaus von München.<br />
13. März – 30. April 2000: Schicksal (un)bekannt. Kunst- und Ausstellungsprojekt von<br />
Wolfram Kastner. Gezeigt in der Evangelischen Christus Kirche München.<br />
23. November – 23. Dezember 2000: ... verzogen, unbekannt wohin. Die erste Deportation<br />
von Münchner Juden im November 1941. Vom Stadtarchiv und der Landeshauptstadt<br />
München. Gezeigt im Neuen Rathaus, München.<br />
14. Februar – 11. März 2001: Oneg Schabbat. Dokumente aus dem Warschauer Ghetto.<br />
Vom Jüdischen Historischen Institut Warschau. Gezeigt in der Bayerischen Staatskanzlei<br />
am Franz-Josef-Strauß-Ring 1.<br />
19. Juli 2001 – 24. Januar 2002: Ich lebe! Das ist ein Wunder. Eine Ausstellung des Stadtarchivs<br />
München und der Abteilung für Jüdische Geschichte und Kultur dem Historischen<br />
Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München. Gezeigt im Jüdischen Museum<br />
München.<br />
Literatur<br />
Angermair, Elisabeth (2000): Letzte Station Milbertshofen. Fotografische Zeugnisse der Deportation und ihre<br />
Überlieferung. In: Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „...verzogen, unbekannt wohin“: 25–36<br />
Bauer, Richard / Stölzl, Christoph / Broszat, Martin / Prinz, Friedrich (Hrsg.) (1986): München. Schicksal einer<br />
Großstadt 1900–1950. Verlag Albert Langen, Georg Müller, München, Wien<br />
Bauer, Richard (2000): Ein Meister aus München. In: Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): “...verzogen, unbekannt<br />
wohin“: 9–10<br />
Behrend-Rosenfeld, Else (1988): Ich stand nicht allein. Leben einer Jüdin in Deutschland 1933–1944. Beck<br />
Verlag, München<br />
54
Benz, Wolfgang (1990): Herrschaft und Gesellschaft im nationalsozialistischen Staat. Studien zur Struktur-<br />
und Mentalitätsgeschichte. Frankfurt a. M.<br />
Brentzel, Marianne (1996): Nesthäkchen kommt ins KZ. Annäherung an Else Ury 1877–1943. Fischer Verlag,<br />
Frankfurt a. M.<br />
Gutmann, Israel (Hrsg.) (1993): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen<br />
Juden. Band 2. Piper Verlag, München, Zürich<br />
Heuer, Renate (1988): Carry Brachvogel (1886–1942), Schriftstellerin. In: Geschichte und Kultur der Juden<br />
in Bayern. Lebensläufe: 211–216<br />
Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Lebensläufe. (1988) Hrsg. v. Manfred Treml und Wolf Weigand<br />
unter Mitarbeit von Evamaria Brockhoff. Veröffentlichung zur Bayerischen Kultur u. Geschichte, Band<br />
17. Kastner & Callwey, München<br />
Gleibs, Yvonne (1981): Juden im kulturellen und wissenschaftlichen Leben Münchens in der zweiten Hälfte<br />
des 19. Jahrhunderts. München. Miscellanea Bavarica Monacensia Band 76: 109–115<br />
Hanke, Peter (1967): Zur Geschichte der Juden in München 1933–1945. Neue Schriftenreihe des Stadtarchivs,<br />
München Heft 3: 282f<br />
Haus der Bayerischen Geschichte u. Historischer Verein Rosenheim (Hrsg.) (1993): Erinnerungszeichen. Die<br />
Tagebücher der Elisabeth Block. Mit Beiträgen v. Peter Miesbach u. Walter Treml. Quellen und Darstellungen<br />
zur Geschichte der Stadt und des Landkreises Rosenheim, Band 12. Wendelstein Druck, Rosenheim<br />
Heuer, Renate (1988): Carry Brachvogel (1864–1942), Schriftstellerin. In: Geschichte und Kultur der Juden<br />
in Bayern, Band 18, Lebensläufe. Hrsg. v. Manfred Treml et al., Kastner & Callwey, München<br />
Hilberg, Raul (1990): Die Vernichtung der europäischen Juden. Die Gesamtgeschichte des Holocaust. 3 Bände.<br />
Frankfurt a. M.<br />
Hiob, Hanne / Koller, Gerd (Hrsg.) (2000): „Wir verreisen ...“ in die Vernichtung. Briefe 1937–1944. Aufbau<br />
Taschen Verlag, Berlin<br />
Kaplan, Marion (2000): Der Mut zum Überleben. Jüdische Frauen und ihre Familien in Nazideutschland. Aufbau<br />
Verlag, Berlin<br />
Kastner, Wolfram (Hrsg.) (2000): Schicksal (un)bekannt. Begleitbuch zur Ausstellung in der Münchner Christus<br />
Kirche. Eigenverlag, München<br />
Klemperer, Viktor (1995): Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933–1941, Band 1. Aufbau<br />
Verlag, Berlin: 684ff<br />
Miesbeck, Peter (1993): Die Tagebücher der Elisabeth Block. Das Schicksal einer jüdischen Familie aus Oberbayern.<br />
In: Dachauer Hefte 9/1993. Die Verfolgung von Kindern und Jugendlichen. Hrsg. v. Wolfgang<br />
Benz u. Barbara Distel. Verlag Dachauer Hefte, Dachau: 102–122<br />
Ophir, Baruch Z. / Wiesemann, Falk (1958): Geschichte und Zerstörung der jüdischen Gemeinde in München<br />
1918–1945. In: Lamm, Hans (1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München. Langen Müller Verlag,<br />
München, Wien: 462–494<br />
Schoenberner, Gerhard (1992): Der gelbe Stern. Die Judenverfolgung in Europa 1933–1945. Fischer Verlag,<br />
Frankfurt a. M<br />
Schoenberner, Gerhard (2000): Zeugen sagen aus. Berichte und Dokumente über die Judenverfolgung im<br />
„Dritten Reich“. Aufbau Taschen Verlag, Berlin<br />
Spies, Gerty (1984): Drei Jahre Theresienstadt. München<br />
Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „...verzogen, unbekannt wohin“. Die erste Deportation von Münchner<br />
Juden im November 1941. Pendo Verlag, Zürich, München<br />
Wiedenmann, Ursula (1988): Elsa Porges-Bernstein (1866–1949), Schriftstellerin. In: Geschichte und Kultur<br />
der Juden in Bayern, Band 18. Lebensläufe. Hrsg. v. Manfred Treml et al., Kastner & Callwey, München:<br />
217–224 Witte, Peter (2002): „... zusammen 1 274 166“. Der Funkspruch des SS-Sturmbannführers Hermann<br />
Höfle liefert ein Schlüsseldokument des Holocaust. In: Die Zeit Nr. 3 v. 10.1.2002<br />
55
56<br />
Jüdisches Kinderheim<br />
„Ohne eine heitere und vollwertige Kindheit verkümmert das ganze spätere Leben.<br />
Das Kind wird nicht erst Mensch, es ist schon einer.“<br />
Janusz Korczak 97<br />
„Aber ihre Leistung (von Elisabeth und Luise Merzbacher) dauert fort in den vielen,<br />
denen sie den Weg ins Leben zu ebnen geholfen haben.“ 98<br />
Henny Seidemann vor dem Jüdischen Kinderheim, 1937<br />
Foto: H. Seidemann (privat)<br />
Jüdisches Kinderheim in der Antonienstraße 7<br />
Foto: Ida Seele Archiv, Dillingen<br />
97 Tjaden, Katrin (2001): Die Steine weinten. Überleben und Tod des Janusz Korczak. In: Schulfunk und<br />
Schulfernsehen, Heft 9, Mai 2001. Auch in: Biewend, Edith (1974): Lieben ohne Illusion: 5. Janusz<br />
Korczak (Pseudonym von Henryk Goldszmit), 1878 oder 1879–1942, war Arzt, sozialkritischer Schriftsteller<br />
und Pädagoge. Korczak fühlte sich als Waisenhausleiter seinen Kindern verpflichtet. Als alle Vermittlungsversuche<br />
nichts halfen, ging er mit 200 Kinder aus dem Warschauer Ghetto am 5. August 1942<br />
zur Deportation nach Treblinka, wo alle ermordet wurden.
Jüdisches Kinderheim<br />
Antonienstraße 6, Schwabing<br />
Dietlindenstraße U6<br />
M (2002)<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Janne Weinzierl, Mitglied der SPD-Fraktion im Bezirksausschuss 12, Schwabing-Freimann,<br />
stellte am 12. Dezember 1998 den Antrag zur Anbringung einer Gedenktafel oder<br />
eines Gedenksteins zur Erinnerung an das ehemalige Jüdische Kinderheim. Am Standort<br />
des ehemaligen jüdischen Kinderheimes befindet sich heute ein Wohnhaus. Deshalb errichtete<br />
man die Gedenkstätte am gegenüberliegenden Haus; auf dem Gelände der Berufsoberschule<br />
für Sozialwesen, Antonienstraße 6.<br />
Die Einweihung fand am 16. April 2002 statt.<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
Der geplante Entwurf sieht eine Umgestaltung des Vorgartens vor. Um von außen eine<br />
freie Sicht auf die Gedenkstätte zu haben, werden die hölzernen Zaunlatten durch Sichtscheiben<br />
ersetzt. Im Hof sollen quadratische, mit Steinen gefüllte Eisenbecken stehen. Auf<br />
dem Gehsteig wird das Kinderspiel „Himmel und Hölle“ in den Boden eingelassen. 99 Zur<br />
Ausführung kam jedoch der Entwurf des Künstlers Hermann Kleinknecht.<br />
INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER<br />
Das Denkmal schuf Hermann Kleinknecht<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Im Jahr 1904 beschlossen Elisabeth und Luise Merzbacher, beide aus einer liberalen jüdischen<br />
Familie stammend, einen privaten Kindergarten zu gründen. Infolge der Pogrome<br />
in Russland war eine große Anzahl bedürftiger Familien nach München gekommen. Anfangs<br />
brachten die Merzbachers die Kinder in ihrer eigenen Wohnung unter. Später wurden<br />
weitere Zimmer und Wohnungen angemietet, um Kindergarten und Hort unterzubringen.<br />
Elisabeth Merzbacher 100 war Mitbegründerin des Vereins „Israelitische Jugendhilfe<br />
e. V.“ Es kam zur offiziellen Errichtung eines Kindergartens, der von der Stadt München,<br />
98 (1958): Jüdische Jugendfürsorge in München, 1904–1943. In: Lamm, Hans (Hrsg.) (1982): Vergangene<br />
Tage. Jüdische Kultur in München: 121<br />
99 In: Münchner Merkur Nr. 27 v. 2.2.2001: Himmel und Hölle in der Antonienstraße (hab)<br />
57
von Spendern und Freunden unterstützt wurde. So konnte sich nach zehn Jahren die ursprüngliche<br />
Kapazität, entsprechend einer Drei-Zimmer-Wohnung (Baaderstraße 5) mit<br />
Platz für 30 Kinder, auf eine Größe erhöhen, die einer Anzahl von 150 Kindern entsprach.<br />
101<br />
Das neue Heim in der Antonienstraße<br />
1925 konnte das Haus in der Antonienstraße 7 gekauft werden. „Das neue Heim, in einem<br />
schönen Garten gelegen, bestand aus 20 Räumen. Die Inneneinrichtung übernahm der<br />
Schwesternbund der München-Loge. In vorbildlicher Weise, mit größter Umsicht wurde<br />
die Sammlung der Einrichtungsgegenstände, der Wäsche und was sonst nötig war, von<br />
Frau Dr. Baerwald (Ehefrau des Rabbiners Leo Baerwald) organisiert. Die München-<br />
Loge stiftete einen Betraum, der sehr geschmackvoll ausgestattet war und in dem an den<br />
Freitag-Abenden und an Feiertagen Gottesdienst abgehalten wurde.“ 102 Am 29. März<br />
1926 war das Heim bezugsfertig, die Kinder konnten einziehen. Aufgenommen wurden<br />
Waisenkinder, uneheliche oder im Elternhaus gefährdete Kinder, dazu kamen gerade aus<br />
der Schule entlassene Kinder, die hier in Haushaltsführung und Kinderpflege ausgebildet<br />
wurden. Dem Heim war eine Säuglingsstation, eine Kleinkinderstation und eine Abteilung<br />
für Schulkinder angeschlossen. Der Kindergarten durfte nur von jüdischen Kindern besucht<br />
werden.<br />
Henny Seidemann erinnert sich an ihre Zeit im Antonienheim<br />
Ihr Tagesablauf und die spezielle Ausbildung zur Hausarbeit regelten ein genauer Plan. So<br />
mussten die Jugendlichen auch in der Küche, die unterteilt war in Großküche und Familienküche,<br />
lernen. Ebenso war die Arbeit in der Wäscherei geregelt. Hier war die Lehrerin<br />
Klara Mayer zuständig, die als 47-jährige am 4. April 1942 in das Ghetto nach Piaski<br />
kam. 103 Besonders zuverlässige Jugendliche – zu denen Henny Seidemann gehörte – wurden<br />
im Kindergarten eingesetzt und in der Säuglingspflege ausgebildet. In der Zeit ihres<br />
Aufenthaltes war Alice Bendix dort Heimleiterin, eine nach Henny Seidemann „zuverlässige<br />
und korrekte Leiterin“, die mit „Disziplin“ 104 ihre Aufgabe erfüllte.<br />
Die 1922 in Berlin geborene Henny Seidemann stammt aus einer angesehenen, im religi-<br />
100 (1861 München-1966 Washington). Verheiratet mit Dr. jur. Wilhelm Kitzinger (1870–1945), der im<br />
November 1938 einen Monat im KZ Dachau verbrachte. Das Ehepaar konnte 1939 nach Israel ausreisen.<br />
Seit 1947 lebte Elisabeth Kitzinger in Washington, wo sie 1966 starb.<br />
101 Kitzinger, Elisabeth (1958): Jüdische Jugendfürsorge in München, 1904–1943. In: Lamm, Hans (Hrsg.)<br />
(1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München: 121<br />
102 Kitzinger, Elisabeth (1958): Jüdische Jugendfürsorge in München, 1904–1943: 123–124<br />
103 Zitiert nach der Ausstellung: „Jüdisches Kinderheim in der Antonienstraße“ v. d. Berufsoberschule für<br />
Sozialwesen, erarbeitet v. Dagmar Kann u. Beate Folgner<br />
104 Interview mit Henny Seidemann, geführt von Helga Pfoertner am 19. August 2001<br />
58
ösen Bereich liberalen jüdischen Kaufmannsfamilie. Sie begann in der Schule die Schikanen<br />
bereits als Elfjährige zu spüren. Auch erlebte sie die Ausgrenzung aller jüdischen<br />
Menschen in verantwortungsvoller Position wie Juristen und Ärzte, die als Beamte im<br />
April 1933 ihre Kündigung erhielten. 105 1935 emigrierte die Familie nach Barcelona (Spanien)<br />
zu Verwandten. Dort bekam die Familie Seidemann im Herbst 1936 vom deutschen<br />
Konsulat die Aufforderung, dass wegen der Kriegsgefahren (Bürgerkrieg seit 1936), Kinder,<br />
Jugendliche und Senioren nach Deutschland zurückzukehren hätten. Henny Seidemann<br />
wurde deshalb alleine nach Deutschland geschickt. Am Münchner Bahnhof erwarteten<br />
sie bereits Leute der Gestapo, die sie vier Tage im Wittelsbacher Palais als vermeintliche<br />
Spionin verhörten. Danach kam sie in das streng orthodox geführte jüdische Kinderheim<br />
in der Antonienstraße. Am 8. Juni 1938 war sie Augenzeugin beim Abriss der Hauptsynagoge<br />
in der Maxburgstraße (siehe Band 1: Hauptsynagoge). Nach zweijährigen<br />
Heimaufenthalt konnte Henny mit Hilfe von Verwandten über die Schweiz zurück nach<br />
Spanien zu ihren Eltern zurückkehren. Große Unterstützung während ihrer Münchner Zeit<br />
bekam sie von der Direktorin des Kinderheims Elisabeth Kitzinger, die „ihre schützende<br />
Hand“ 106 über sie hielt.<br />
Henny Seidemann kehrte 1957 wieder nach Deutschland zurück und engagierte sich für<br />
verschiedene jüdische Organisationen. Sie erhielt für ihr offizielles Engagement folgende<br />
Auszeichnungen: 1987 das Bundesverdienstkreuz am Bande, 1992 das Bundesverdienstkreuz<br />
Erster Klasse und 1993 die Medaille „München leuchtet“. Seit 1983 wirkte sie als<br />
Vorsitzende der „Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit“, als Ehrenvorsitzende<br />
seit 1992. Bis heute setzt sich Henny Seidemann für die Aussöhnung zwischen den<br />
Religionen ein.<br />
Die Heimleiterinnen und das Personal des Antonienheimes<br />
Von 1928 bis 1932 leitete Hilde Rosenberg das Heim. Ab 1933 bis zur Auflösung 1942<br />
hatte Alice Bendix die Heimleitung inne. Die ärztliche Leitung übernahm Dr. Ludwig<br />
Kaumheimer. Zum Personal gehörten: Merry Gaber: geboren 29. August 1920 in Dresden.<br />
Im Antonienheim war sie von Januar 1933 bis April 1942 tätig. Nach ihrem Umzug in die<br />
„Judensiedlung Milbertshofen“, wo sie bis Juni 1942 blieb, folgte die Einweisung in die<br />
„Heimanlage“ Berg am Laim bis März 1943. Von hier wurde sie nach Auschwitz deportiert.<br />
107<br />
105 Nach dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933“ konnten jüdische<br />
Beamte entlassen oder in den vorzeitigen Ruhestand versetzt werden. Vgl. Münch, Ingo von (Hrsg.)<br />
(1994): Gesetze des NS-Staates: 36f<br />
106 Interview mit Henny Seidemann, geführt von Helga Pfoertner am 19. August 2001<br />
107 Zitiert nach der Ausstellung: „Jüdisches Kinderheim in der Antonienstraße“ v. d. Berufsoberschule für<br />
Sozialwesen, erarbeitet v. Dagmar Kann u. Beate Folgner<br />
59
Die erste Deportation von Münchner Juden<br />
Vom Betreuungspersonal des Antonienheims kamen folgende Personen auf die erste Deportation<br />
am 20. November 1941: Isabella Pmogar (*4.2.1929 München), Johanna Roth<br />
(*9.4.1891 München), Elisabeth Löb (*7.5.1888 Mannheim), Elisabeth Mann<br />
(*23.8.1895 Mannheim) und der Schreinerlehrling Josef Stettner (*5.2.1925 München).<br />
108 Sie wurden fünf Tage später in Kowno ermordet.<br />
Auflösung des Antonienheimes<br />
Bereits 1938 verlangte das Stadtjugendamt die Auflösung des Kinderheimes. Dies konnte<br />
bis zum Frühjahr 1942 hinausgezögert werden. Mit 13 Kindern übersiedelten die Betreuerinnen<br />
Alice Bendix und Hedwig Jakobi im April desselben Jahres in die „Heimanlage<br />
für Juden“ in Berg am Laim. Beide kamen zusammen mit 113 Deportierten auf den Transport<br />
am 13. März 1943 nach Auschwitz, wo sie am 16./17. März in den Gaskammern des<br />
KZ Auschwitz-Birkenau ermordet wurden. 109 Das Schicksal der Kinderheimleiterin Alice<br />
Bendix, kann mit dem aufopfernden Handeln des Waisenhausleiters Janusz Korczak im<br />
Warschauer Ghetto verglichen werden. Beide gingen sie den letzten Weg mit ihren<br />
Schützlingen.<br />
Das Gebäude des aufgelösten Antonienheims kam auf Befehl des Reichsicherheitshauptamtes<br />
in Berlin in den Besitz des SS-Vereins „Lebensborn e. V.“. Das im Krieg beschädigte<br />
Haus wurde später abgerissen. Heute befinden sich dort Wohngebäude.<br />
Ausstellungen<br />
Februar – 26. Februar 2001: Jüdisches Kinderheim in der Antonienstraße. Konzipiert<br />
als Wanderausstellung von den Schülerinnen der 13. Klasse der Berufsoberschule für Sozialwesen,<br />
Dagmar Kann und Beate Folgner. Berufsoberschule für Sozialwesen, Antonienstraße<br />
6.<br />
28. Februar – 28. März 2001: Dieselbe Ausstellung wurde im Münchner Maximilians-<br />
Gymnasium in der Karl-Theodor-Straße 9 gezeigt.<br />
Film<br />
November 1999: Kindertransport in eine fremde Welt. Dokumentarfilm von Mark Jo-<br />
108 Zitiert nach der Ausstellung: „Jüdisches Kinderheim in der Antonienstraße“ v. d. Berufsoberschule für<br />
Sozialwesen, Antonienstraße 6<br />
109 Ophir, Baruch Z. / Wiesemann, Falk (1958): Geschichte und Zerstörung der jüdischen Gemeinde in München<br />
1918–1945. In: Lamm, Hans (Hrsg.) (1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München: 485<br />
60
nathan Harris.<br />
Literatur<br />
Berger, Manfred (1995): Elisabeth Kitzinger (1881–1966) und die jüdische Wohlfahrtsarbeit in München<br />
(1904–1943). In: Jüdisches Leben in München. Geschichtswettbewerb 1993/94. Hrsg. v. d. Landeshauptstadt<br />
München. Buchendorfer Verlag, München: 57–63<br />
Epstein, Helen (1987): Die Kinder des Holocaust: Gespräche mit Söhnen und Töchtern von Überlebenden.<br />
München<br />
Grube, Ernst (1993): „Den Stern, den tragt ihr nicht“. Kindheitserinnerungen an die Judenverfolgung in München.<br />
In: Dachauer Hefte 9/1993: Die Verfolgung von Kindern und Jugendlichen. Hrsg. v. Wolfgang Benz<br />
und Barbara Distel. Dachau: 3–13<br />
Grube, Ernst (1995): „Du Jud´, schleich dich!“ Kindheit in München 1932 bis 1945. In: Jüdisches Leben in<br />
München. Lesebuch zum Geschichtswettbewerb 1993/94. Hrsg. v. d. Landeshauptstadt München. Buchendorfer<br />
Verlag, München<br />
Kitzinger, Elisabeth (1958): Jüdische Jugendfürsorge in München, 1904–1943. In: Lamm, Hans (Hrsg.)<br />
(1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München. Langen Müller, München, Wien<br />
Kössel, Ina (1995): Bildungs- und Sozialeinrichtungen für jüdische Kinder und Jugendliche in München bis<br />
1943. In: Jüdisches Leben in München. Hrsg. v. d. Landeshauptstadt München. Buchendorfer Verlag,<br />
München: 64–75<br />
Kohlenberger-Müller, H. (1990): Elisabeth Kitzinger und der Münchner Verein Israelitischer Jugendhilfe. In:<br />
Brehmer, I. (Hrsg.) (1990): Mütterlichkeit und Profession. Pfaffenweiler<br />
Lifton, J. B. (1990): Der König der Kinder. Das Leben von Januscz Korczak. Stuttgart<br />
Ruch, Martin (1992): Familie Cohn. Offenburg<br />
Ophir, Baruch Z. / Wiesemann, Falk (1958): Geschichte und Zerstörung der jüdischen Gemeinde in München<br />
1918–1945. In: Lamm, Hans (Hrsg.) (1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München. Langen<br />
Müller, München, Wien<br />
Pelzer, Wolfgang (1987): Janusz Korczak. Eine Biographie. Rowohlts Monographien. Reinbek b. Hamburg<br />
Seidemann, Henny: Interview, geführt von Helga Pfoertner am 18. Februar u. 19. August 2001<br />
61
62<br />
Jüdisches Museum München<br />
„Jetzt beginnt endlich die Teamarbeit.“<br />
Richard Grimm 110<br />
Im Jüdischen Museum München<br />
Foto: H. Pfoertner<br />
110 Süddeutsche Zeitung v. 22.12.1998. Zitiert in: Kallweit, Doreen (2000): Die Geschichte des Jüdischen<br />
Museums München: 29
Jüdisches Museum München<br />
Reichenbachstraße 27, Rückgebäude, Isarvorstadt<br />
Fraunhoferstraße U1/U2/U8<br />
Privat (1989)<br />
M (1998)<br />
Öffnungszeiten: Dienstag bis Donnerstag 14–18 Uhr, Mittwoch 9–12 Uhr.<br />
Tel.: (089) 20 00 96 93<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Der Münchner Galerist Richard Grimm gründete im Januar 1989 in Eigeninitiative das Jüdische<br />
Museum München in der Maximilianstraße 36. Er wollte damit „einen Platz schaffen,<br />
wo Menschen ohne Schwellenangst Einstieg finden in die jüdische Kultur, und ein Forum<br />
für Vergangenheit und Gegenwart der Juden. Ich will an die gemeinsame Geschichte<br />
von Deutschen und Juden erinnern und an das Furchtbare, das hier geschehen ist.“ 111 Anfang<br />
November 1998 erfolgte der Umzug des Museums in die Räume der Israelitischen<br />
Kultusgemeinde. Es gelangte damit unter die Obhut des Münchner Stadtmuseums und unter<br />
die Verwaltung der Landeshauptstadt München. Am 21. Dezember 1998 fand im Beisein<br />
der Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde, Charlotte Knobloch und des Kulturreferenten<br />
Professor Dr. Julian Nida-Rümelin, die Eröffnung statt.<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
Das Jüdische Museum befindet sich im Rückgebäude der Israelitischen Kultusgemeinde,<br />
Reichenbachstraße 27. Gezeigt werden Dokumente und Exponate zur jüdischen Kultur<br />
und Geschichte. Dazu gehört die Kapsel im Schlussstein der Münchner Hauptsynagoge<br />
(siehe Band 1: Hauptsynagoge) von 1887. Wechselnde Ausstellungen informieren über<br />
Historie, Religion und Brauchtum. Geleitet und betreut wird das Museum von seinem<br />
Gründer Richard Grimm, der den Besuchern während der Öffnungszeiten als Berater zur<br />
Seite steht.<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
In München waren bereits einige Jahrzehnte nach der Stadtgründung (um 1170) Juden ansässig.<br />
Die erste Synagoge wurde 1381 in der „Judengasse“, im Bereich des heutigen Marienhofs<br />
errichtet. Die wechselvolle Geschichte der Juden in München ist von Pogromen<br />
(1285, 1345, 1349, 1413, 1442) und der Ausweisungspolitik der bayerischen Landesherrn<br />
111 Puvogel, U. / Stankowski, M. (1995): Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus: 174<br />
63
gekennzeichnet. Nach der Vertreibung von 1442 gab es in München keine jüdische Gemeinde<br />
mehr. Dies blieb so bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. 112 Erst Jahrzehnte später<br />
war die Eingliederung der Juden in das bürgerliche Leben vollzogen. Das so genannte „Judenedikt“<br />
führte zu einer reichsweiten Regelung des Status der Juden und leitete deren<br />
rechtliche Gleichstellung ein. So erlaubte das Edikt die Gründung einer jüdischen Gemeinde<br />
pro Ort, was in München zur Gründung der Israelitischen Kultusgemeinde führte.<br />
Zu Beginn des Jahres 1815 konnte ein Friedhof angelegt und der Bau einer Synagoge begonnen<br />
werden. Die erste Synagoge erbaute Jean Baptist Métivier (1781–1853) im Jahre<br />
1826 an der Westenriederstraße.<br />
Mit der Zuwanderung der Juden aus Osteuropa vergrößerte sich die jüdische Gemeinde<br />
Münchens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und machte den Bau der Hauptsynagoge<br />
(1884–1887, siehe Band 1: Hauptsynagoge) notwendig. Volle Gleichberechtigung<br />
in Gesellschaft und Staat erreichte die jüdische Gemeinde erst in den Jahren 1869 und<br />
1871. 113 Kurz danach fand im Beisein des bayerischen Prinzregenten Luitpold die Einweihung<br />
der Münchner Hauptsynagoge statt. In der Zeit bis zur nationalsozialistischen<br />
Machtergreifung konnten sich die jüdischen Mitbürger assimilieren und ein reges religiöses<br />
Leben führen. Der Anteil der jüdischen Bevölkerung in München war trotz der Zunahme<br />
der Immigranten zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Vergleich zur Gesamtbevölkerung<br />
gering: Ihr Anteil lag im Jahre 1910 bei 1,9 Prozent. 114<br />
Im Jahre 1933 hatte München 1,2 Prozent jüdische Einwohner. 115<br />
Die „Entfernung“ der Juden war von Anfang an ein geplantes Ziel der nationalsozialistischen<br />
Politik. Die NS-Gesetzgebung, der nationalsozialistische Rassebegriff und der verbreitete<br />
Antisemitismus hatten die Ausgrenzung, Vertreibung und schließlich den Massenmord<br />
zur Folge. Die Juden wurden entrechtet, enteignet, deportiert oder in die Emigration<br />
gezwungen. Viele entzogen sich der Deportation durch Suizid.<br />
Das Jüdische Museum München<br />
Einer der Initiatoren des Jüdischen Museums war der damalige Präsident der Israelitischen<br />
Kultusgemeinde, Dr. Hans Lamm. Er strebte einen Bau auf der Grünfläche der ehemaligen<br />
Hauptsynagoge an der Herzog-Max-Straße an. Hier sollte ein „Haus der offenen<br />
112 Baerwald, Leo (1982): Juden und jüdische Gemeinden in München vom 12. bis 20. Jahrhundert. In:<br />
Lamm, Hans (Hrsg.): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München: 19–30<br />
113 Selig, Wolfram (Hrsg.) (1988): Synagogen und Jüdische Friedhöfe: 58<br />
114 Ophir, Baruch Z. / Wiesemann, Falk (1979): Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918–1945: 33<br />
115 16 Statistik des Deutschen Reiches, Band 451, Heft 5, Berlin 1936, S. 10. In: Heusler, A. / Weger, T.<br />
(1998): „Kristallnacht“: 17<br />
64
Türe des Judentums“, Bildungs- und Kunstzentrum mit Bibliothek, Vortragssaal, Ausstellungsräumen<br />
und Literatencafé errichtet werden. 116 Dieser Bau konnte jedoch wegen<br />
Platzmangels und rechtlicher Gründe nicht durchgeführt werden. 117 Der Galerist Richard<br />
Grimm führte fort, was sein Mentor Hans Lamm begann, „weil er ein Mann war, ... der<br />
mit seiner ganzen Person für die Versöhnung eingetreten ist.“ 118 Er initiierte das 1989 gegründete<br />
Jüdische Museum, das zuerst in einer Zweizimmerwohnung (etwa 30m²) untergebracht<br />
war.<br />
Zu den Aufgaben des Jüdischen Museums gehört die Darstellung jüdischer Kultur, Tradition<br />
und Geschichte.<br />
Das Konzept sieht wechselnde Ausstellungen vor (siehe Aufstellung). Die Resonanz war<br />
durchaus positiv: bis Februar 1992 konnten 22 500, bis Januar 1997 100 000 Besucher gezählt<br />
werden. 119 Die Landeshauptstadt München unterstützt seit 1995 den Bau eines Jüdischen<br />
Museums am Jakobsplatz, was anlässlich einer Gedenkfeier am 9. November 1995<br />
der Münchner Oberbürgermeister Christian Ude mit folgenden Worten bekräftigte: „Wir<br />
glauben, daß die Juden in München nicht nur eine Geschichte, sondern auch eine Zukunft<br />
haben. Und deshalb wird die Stadt alles daran setzen, daß ein Jüdisches Museum auf ihre<br />
Bedeutung in der Vergangenheit hinweist, und daß ein Gemeindezentrum entsteht, in dem<br />
sich das gegenwärtige Leben entfalten kann.“ 120 Im Juli 2001 fiel die Entscheidung, den<br />
Entwurf des Saarbrücker Architektenteams Wandel, Hoefer und Lorch für ein Jüdisches<br />
Zentrum samt Jüdischem Museum auf dem Jakobsplatz zu verwirklichen.<br />
Um die Ausstellungsfläche des Jüdischen Museums zu vergrößern, beschloss der Museumsleiter<br />
Richard Grimm im Januar 1998, ein Gartenhaus (240 m²) anzumieten. Der Umzug<br />
erfolgte im März desselben Jahres. Die damit verbundenen Kosten zogen einen finanziellen<br />
Engpass nach sich. Als alle Rettungsmaßnahmen versagten, beschloss die Israelitische<br />
Kultusgemeinde, Räume in ihrem Gemeindezentrum in der Reichenbachstraße 27<br />
zur Verfügung zu stellen. Seit dem Umzug dorthin im November 1998 ist die Landeshauptstadt<br />
München Träger des Jüdischen Museums; das Münchner Stadtmuseum übernahm<br />
die Beratung. Die vier Ausstellungsräume (120 m²) werden von dem Museumsgründer<br />
Richard Grimm betreut. 121<br />
116 Kallweit, Doreen (2000): Die Geschichte des Jüdischen Museums München: 6<br />
117 Kallweit, Doreen (2000): Die Geschichte des Jüdischen Museums München: 6<br />
118 Süddeutsche Zeitung v. 9.3.1989. In: Kallweit, Doreen (2000): Die Geschichte des Jüdischen Museums<br />
München: 4<br />
119 Kallweit, Doreen (2000): Die Geschichte des Jüdischen Museums München: 12 u. 17<br />
120 Süddeutsche Zeitung v. 16./17.12.1995. In: Kallweit, Doreen (2000): Die Geschichte des Jüdischen<br />
Museums München: 23<br />
121 Kallweit, Doreen (2000): Die Geschichte des Jüdischen Museums München: 29<br />
65
Ausstellungen (bis 1999, zitiert nach Kallweit)<br />
Ein bescheidener Anfang. Eröffnungsausstellung (1989)<br />
„Jüdische Postkarten“<br />
„E. M. Lilien – Zeichnungen“<br />
Schüler in Bayern malen zum Versöhnungstag (Jom Kippur). Ausstellung<br />
ausgewählter Bilder<br />
„Raoul Wallenberg – er rettete hunderttausend Juden das Leben“<br />
Alltag in Jerusalem. Fotografien von Sonia Gidal. In Zusammenarbeit mit der<br />
Literaturhandlung<br />
Das Buch Esther – Purim. Zeichnungen von David Bennett. In Zusammenarbeit mit der<br />
Literaturhandlung<br />
Teddy Kolleck – Bürgermeister von Jerusalem. Ein Porträt<br />
Münchner Synagogen – ein historischer Rückblick. In Zusammenarbeit mit dem<br />
Stadtarchiv München<br />
„6 000 001 – Holzschnitte Moshe Hoffmann (1938–1983)“<br />
Das Ghetto in Venedig. Photographien von Edmund Höfer. In Zusammenarbeit mit der<br />
Literaturhandlung<br />
Varian Fry – Marseille 1940/41. Rettung deutscher Emigranten. In Zusammenarbeit mit<br />
Jörg Bundschuh und der Literaturhandlung<br />
Juden in Indien. Fotografien von Frédéric Brenner<br />
Der Davidstern. Zeichen der Schmach, Symbol der Hoffnung<br />
Jüdische Zeremonien. Kupferstiche von Bernard Picart (1673–1733)<br />
Schalom ben-Chorin, Jerusalem. Ein Porträt von Sonia Gidal<br />
„Fluchtpunkt Schanghai 1938–1945“<br />
„60 Jahre Aufbau“<br />
Ein Leben aufs Neue – Jüdische „Displaced Persons” auf deutschem Boden 1945–<br />
1948. In Zusammenarbeit mit dem Fritz Bauer Institut in Frankfurt am Main und der<br />
Literaturhandlung<br />
Vertreibung – Deportation – Vernichtung. Lebensskizzen jüdischer Bürger in<br />
München während der NS-Zeit. Eine Ausstellung des Stadtarchivs München vom<br />
November 1995 – März 1996<br />
Wir sind eine Familie. (Nicht-)Alltägliches im Shoul-Eisenberg-Seniorenheim der<br />
Israelitischen Kultusgemeinde München. Photographien von Catharina Hess. Mit<br />
Unterstützung des Kulturreferats der Landeshauptstadt München, des Vereins<br />
„Freunde des Jüdischen Museums e.V.“ und José Moskovits, Buenos Aires<br />
Jüdisches Leben in München. Die Anfangsjahre 1945. In Zusammenarbeit mit dem<br />
Jugend- und Kulturzentrum der Israelitischen Kultusgemeinde München<br />
Kristallnacht – Gewalt gegen die Münchner Juden vom November 1998 – März 1999<br />
66
Beth ha – Knesseth, Ort der Zusammenkunft. Zur Geschichte der Münchner<br />
Synagogen, ihrer Rabbiner und Kantoren im Jüdischen Museum München. Eine<br />
Ausstellung des Stadtarchivs München vom 2. Dezember 1999 – 31. Mai 2000<br />
David Ludwig Bloch. München – Schanghai – New York. Eine Ausstellung zum 90.<br />
Geburtstag des Künstlers vom 19. Juli – 14. Dezember 2000<br />
Jüdisches. Eine Fotoausstellung von Peter Loewy in Zusammenarbeit mit dem<br />
Kulturzentrum der Israelitischen Kultusgemeinde München vom 22. Februar – 14. Juni<br />
2001 München<br />
Ich lebe! Das ist ein Wunder. Das Schicksal einer Münchner Familie während des<br />
Holocaust. Eine Ausstellung des Stadtarchivs München und der Abteilung für Jüdische<br />
Geschichte und Kultur, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität<br />
München vom 19. Juli 2001 – 24. Januar 2002<br />
Where I Was. Eine Fotoausstellung von Erich Hartmann. Gezeigt in München und New<br />
York. 23. Mai - 12. September 2002<br />
Die Rosenthals - Der Aufstieg einer jüdischen Antiquarsfamilie zu Weltruhm. 23.<br />
Oktober 2002 - 23. Oktober 2003<br />
Literatur<br />
Beth ha – Knesseth, Ort der Zusammenkunft. Zur Geschichte der Münchner Synagogen, ihrer Rabbiner und<br />
Kantoren. Stadtarchiv München (Hrsg.) (1999). Buchendorfer Verlag, München<br />
Hartmann, Erich (2002): Where I Was. Persönliche Fotografien. Otto Müller Verlag, Salzburg<br />
Heusler, Andreas (1995): Vertreibung. Deportation. Vernichtung. Jüdische Schicksale in München<br />
Heusler, Andreas / Weger, Tobias (1998): „Kristallnacht“. Gewalt gegen die Münchner Juden im November<br />
1938. Stadtarchiv München (Hrsg). Buchendorfer Verlag, München<br />
Heusler, Andreas (Hrsg.) (2001): „Ich lebe! Das ist ein Wunder“. Schicksal einer Münchner Familie während<br />
des Holocaust. Mit einem Vorwort von Michael Brenner. Hrsg. v. Stadtarchiv München. Buchendorfer<br />
Verlag, München<br />
Kallweit, Doreen (2000): Die Geschichte des Jüdischen Museums München. Hauptseminar-Arbeit im Fach<br />
Neuere und Neueste Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für jüdische Geschichte<br />
und Kultur, Prof. Dr. Michael Brenner. Unveröffentl. Manuskript<br />
Selig, Wolfram (Hrsg.) (1988): Synagogen und jüdische Friedhöfe in München. Aries Verlag, München<br />
Stahleder, Helmut (1988): Die Münchner Juden im Mittelalter und ihre Kultstätten. In: Selig, Wolfram (Hrsg.)<br />
(1988): Synagogen und jüdische Friedhöfe in München: 11–34<br />
Ophir, Baruch Z. / Wiesemann, Falk (1979): Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918–1945. Verlag Langen<br />
Müller, München, Wien<br />
Puvogel, Ulrike / Stankowski, Martin (1995): Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus. Eine Dokumentation.<br />
Band 1, Bundeszentrale für politische Bildung Bonn. Edition Hentrich, Bonn<br />
67
68<br />
Jüdische Rechtsanwälte<br />
„Das ist das höchste Unrecht, das sich in der Form des Rechts vollzieht.“<br />
Plato<br />
Dr. Elisabeth Kohn<br />
Foto: Stadtarchiv München<br />
Ausstellung „Anwalt ohne<br />
Recht“ im Lichthof des<br />
Justizpalasts<br />
Foto: H. Pfoertner
Gedenktafel<br />
Prielmayerstraße 7, Justizpalast, Altstadt<br />
Karlsplatz-/Stachus S1–S8<br />
M (1998)<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Am 30. November 1998 enthüllte der bayerische Justizminister Alfred Sauter im Beisein<br />
der Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde Charlotte Knobloch zu Ehren der vor<br />
60 Jahren entrechteten Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte eine Gedenktafel.<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
Die Gedenktafel befindet sich in einer Wandnische nahe der Eingangstüre. Auf einer Plexiglastafel<br />
(0,40 m × 0,60 m) steht in weißer Schrift folgender Text:<br />
„Die Rechtsanwaltskammer für den Oberlandesgerichtsbezirk München gedenkt den<br />
Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten, die während der Herrschaft des Nationalsozialismus<br />
1933 bis 1945 als Juden verfolgt und entrechtet wurden. Sie ehrt ihr Andenken<br />
durch die Aufzeichnung ihrer Namen zum 60. Jahrestag ihrer Vertreibung aus der Anwaltschaft<br />
am 30. November 1938. (RGBl I 1938, 1403).<br />
Paul Adler – Paul Adler – Siegfried Adler – Leopold Ambrunn – Hans Auerbach – Alfred<br />
Bacherach – Julius Baer – Fritz Ballin – Alfred Bauer – Max Bauer – Hans Baumann –<br />
Robert Bee – Richard Bellmann – Leo Benario – Ernst Berg – Georg Franz Bergmann –<br />
Hans Bernstein – Franz Berolzheimer – Hans Berolzheimer – Richard Berolzheimer –<br />
Adolf Bing – Adolf Bloch – Eduard Bloch – Hans Bloch – Karl Blumenstein – Richard<br />
Boscowitz – Gustav Böhm – Heinrich Buff – Fritz Dispeker – Siegfried Dispeker – Ludwig<br />
Dreifuß – Eugen Drey – Alex Dinkelsbühler – Josef Eilbott – Oskar Einstein – Max Ellinger<br />
– Albert Engel – Theodor Erlanger – Wilhelm Esslinger – Otto Feldheim – Ludwig<br />
Feuchtwanger – Max Feuchtwanger – Sigbert Feuchtwanger – Karl Feust – Martin<br />
Flaschner – Justin Fleischmann – Fritz Forchheimer – Emil Fränkel – Heinrich Frankenburger<br />
– Leopold Frei – Friedrich Freudenreich – Martin Friedenreich – Max Friedländer<br />
– Hans Fröhlich – Max Gardé – Arthur Gern – Hermann Gerstle – Oskar Gerstle –<br />
Ludwig Goldmann – Albert Goldschmidt – Friedrich Goldschmidt – Jakob Goldschmidt<br />
– Ernst Gottscho – Friedrich Guggenheim – Eugen Gunz – Josef Gunzenhäuser – Stefan<br />
Gutmann – Salomon Hähnlein – Isidor Harburger – Ludwig Haymann – Julius Heilbronner<br />
– Herbert Heinemann – Robert Held – Felix Herzfelder – Franz Herfelder – Max<br />
Hirschberg – Siegfried Holzer – Konrad Homberger – Herbert Jacobi – Alfred Jacoby –<br />
Hugo Jacoby – Siegfried Jacoby – Ferdinand Kahn – Fritz Kahn – Maximilian Kahn –<br />
69
Willy Kahn – Wilhelm Jakob Kahn – Albert Kann – Heinrich Kastor – Ignatz Katz – Adolf<br />
Kaufmann – Wilhelm Kitzinger – Fritz Klopfer – Sally Koblenzer – Arthur Königsberger<br />
– Felix Königsberger – Elisabeth Kohn – Jakob Kohnstamm – Emil Krämer – August<br />
Kronbacher – Ludwig Kurzmann – Emil Landecker – Willy Lederer – Leo Lemle – Wilhelm<br />
Levinger – Ludwig Levy – Benno Löffel – Julius Robert Löwenfeld – Philipp Löwenfeld<br />
– Karl Löwenstein – Siegfried Löwentritt – Arthur Luchs – Adolf Lustig – Max Mahler<br />
– Oskar Maron – Adolf Mayer – Arthur Mayer – Eugen Meyer – Hans Erich Mohr – David<br />
Mosbacher – Kurt Mosbacher –Sigmund Neu – Ary Neuburger – Fritz Siegfried Neuburger<br />
– Wilhelm Neuburger – Siegfried Neuland – Robert Neumark – Albert Oppenheimer<br />
– Ernst Oppenheimer – Siegfried Oppenheimer – Max Pereles – Alfred Perlmutter – Max<br />
Prager – Hermann Raff – Meinhold Rau – Ludwig Regensteiner – Franz Reinach – Heinrich<br />
Reinach – Fritz Reis – Walter Rheinheimer – Heinrich Rheinstrom – Leopold Rieser<br />
– Alfred Rosenberg – Paul Rosenberg – Julius Rosenbusch – Erich Rostousky – Hugo<br />
Rothschild – Moritz Schlesinger – Eugen Schmidt – Josef Schnaier – Friedrich Schnell –<br />
Adolf Schülein – Benno Schülein – Fritz Schulmann – Robert Schulmann – Felix Schwarz<br />
– Ernst Seidenberger – Reinhold Seligmann – Anna Selo – Alfred Selz – Julius Siegel –<br />
Michael Siegel – Fritz Silber – Emil Silbermann – Hans Silberschmidt – Josef Sinn – Karl<br />
Sonnenthal – Sigmund Steinharter – Kurt Steinmeier – Walter Steppacher – Adolf Stern –<br />
Alfred Strauß – Eugen Strauß – Elias Strauß – Hans Taub – Robert Theilhaber – Herbert<br />
Thomé – Arthur Teutsch – Robert Teutsch – Alfred Toussaint – Fritz Vogel – Alfred<br />
Wachsmann – Hans Weil – Josef Weil – Leo Weil – David Weiler – Leopold Weinmann –<br />
Arnold Weisbach – Jakob Weisbart – Jakob Weitzfelder – Alfred Werner – Simon Wertheimer<br />
– Robert Wetzler – Siegbert van Wein – Richard Wolf – Felix Zedermann<br />
München, den 30. November 1998.“<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Der Justizpalast kam auf das ehemalige Gelände des Herzoggartens und des Clemens-<br />
Schlösschens, das zuletzt als Soldatenunterkunft diente und 1890 dem Neubau weichen<br />
musste. Dieser entstand während der Amtszeit des Prinzregenten Luitpold in den Jahren<br />
1890–1897 nach den Plänen des Architekten und Professors der Baukunst an der Technischen<br />
Hochschule München, Friedrich Ritter von Thiersch (1852–1952). Der Bau zählt<br />
kunsthistorisch zu einem der bedeutendsten Bauten des ausgehenden Historismus. Der<br />
prächtige viergeschossige Monumentalbau wird von einer Eisen-Glas-Kuppel überragt<br />
und ist mit reichem Figurenschmuck ausgestattet. Das freistehende Gebäude entwickelt<br />
nach Osten zum Lenbachplatz einen vorgewölbten Gebäudeteil mit ausgeprägter Plastik.<br />
Dieser reichhaltige Figurenschmuck setzt sich im südlichen Mittelbau fort. Dort befindet<br />
sich über den Mittelfenstern im Giebelfeld eine Figurengruppe, die Unschuld, Gerechtig-<br />
70
keit und Laster symbolisieren. Im Zentralbau befinden sich ein groß angelegter Lichthof,<br />
Bibliotheks-, Repräsentations- und Schwurgerichtssaal. Hier fanden in der NS-Zeit Prozesse<br />
vor dem Volksgerichtshof statt. Durch Bomben entstanden im Dezember 1944 und<br />
im Januar 1945 erhebliche Gebäudeschäden.<br />
Der Wiederaufbau nach dem Krieg erfolgte in den 60er Jahren weitgehend nach den Plänen<br />
des Architekten Friedrich von Thiersch. Diese Arbeit konnte Ende 1988, nach vorausgegangener<br />
Innenrenovierung (1977–1982), mit der Sanierung der Fassaden abgeschlossen<br />
werden. Der Justizpalast war für die gesamte Münchner Justiz konzipiert. Heute beherbergt<br />
das Haus das Bayerische Staatsministerium der Justiz und Teile des Landgerichts<br />
München I.<br />
Jüdische Anwälte in Deutschland nach 1933<br />
Der Vorsitzende des NS-Juristenbundes und bayerische Justizminister beabsichtigte, wie<br />
sein preußischer Kollege Kerrl, die Entfernung aller Juden aus der Justiz. So hatten die<br />
Justizminister der Länder am 1. April 1933 alle jüdischen Richter, Staats- und Amtsanwälte<br />
beurlaubt. Richter „nichtarischer Abstammung“ konnten ohne nähere Begründung<br />
aus „dienstlichen Notwendigkeiten“ versetzt oder in den „vorzeitigen Ruhestand“ entlassen<br />
werden. Das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April<br />
1933“ hatte nach einem „Erlaß des Preußischen Justizministers zur Entfernung jüdischer<br />
Richter und Rechtsanwälte“ geführt. Gleichzeitig galt das Verbot, die Gerichtsgebäude<br />
weiterhin zu betreten. Im Oberlandesgerichtsbezirk München verloren aufgrund dieses<br />
Gesetzes 50 Amtspersonen, einschließlich der beiden Anwältinnen Dr. Elisabeth Kohn<br />
(siehe S. 74-75) und Anna Selo (*1896 – ?), ihre Zulassung.<br />
Anfang 1933 waren im Oberlandesgerichtsbezirk 225 jüdische Rechtsanwälte zugelassen.<br />
Der Anwaltskammer München gehörten 208 Anwälte jüdischer Herkunft an. 205 von ihnen<br />
waren in München zugelassen. 122<br />
In Berlin war etwa die Hälfte der Anwälte vom Erlass am 7. April 1933 betroffen. Die<br />
Gleichschaltung der Justiz führte dazu, dass sich die richterlichen Berufsverbände in den<br />
„Bund nationalsozialistischer Deutscher Juristen“ einzugliedern hatten. Bis zum 30. Mai<br />
1933 war die Gleichschaltung der gesamten Richtervereine vollzogen. 123 Im Berliner Kriminalgericht<br />
Moabit war es so genannten „Berichterstattern kommunistischer Richtung“<br />
und „Juristen jüdischer Abstammung“ verboten, das Gerichtsgebäude zu betreten. Bei<br />
Nichtbefolgung drohte eine Klage wegen Hausfriedensbruch. 124<br />
122 Dr. Reinhard Weber, in der Wanderausstellung „Anwalt ohne Recht“.<br />
123 Ortner, Helmut (1993): Der Hinrichter. Roland Freisler – Mörder im Dienste Hitlers: 75–77<br />
124 Haber, Fritz: (1995): Briefe an Richard Willstätter: 23<br />
71
Der Münchner Rechtsanwalt Dr. Michael Siegel (*1882 †1979) hatte sich Anfang April<br />
1933 für einen in „Schutzhaft“ genommenen Klienten im Polizeipräsidium eingesetzt. Als<br />
Strafe dafür schnitt ihm die SS die Hosenbeine ab und trieb ihn barfuß durch die Kaufingerstraße.<br />
Dabei musste er ein Schild mit folgender Aufschrift tragen: „Ich werde mich nie<br />
wieder bei der Polizei beschweren!“ Siegel gelang noch 1940 die Flucht nach Peru, wo er<br />
1979 verstorben ist.<br />
Judenpogrom<br />
In einem Fernschreiben aus Berlin vom 9. November 1938 / Nr. 234 404 forderte man alle<br />
Staatspolizei-Stellen und Leitstellen unter der Ziffer 3 auf, die Festnahmen von etwa<br />
20000 bis 30000 Juden vorzubereiten; vor allem „sind vermögende Juden auszuwählen.“<br />
125 In München wurden in diesem Zusammenhang etwa 1000 jüdische Männer festgenommen,<br />
unter ihnen befanden sich 60 der bereits 1933 entrechteten jüdischen Rechtsanwälte,<br />
die trotzdem ihren Beruf weiter ausgeübt hatten (siehe Band 2: Gräber der NS-<br />
Opfer auf dem Alten Israelitischen Friedhof). Auf dem Transport in das KZ Dachau kam<br />
Leopold Rieser ums Leben. Dr. Gustav Böhm nahm sich dort das Leben, Dr. Karl Feust<br />
starb an den im KZ erlittenen Misshandlungen. Mit der Verordnung Reichsgesetzblatt<br />
(RGB)1 I 1938, 1403 vom 30. November 1938 schloss man die in der Anwaltschaft zugelassenen<br />
Rechtsanwälte von der Rechtsanwaltskammer aus. Von dieser Regelung konnten<br />
die so genannten Altanwälte mit einer Zulassung vor dem 1. August 1914 befreit werden,<br />
ebenso die Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs. Im Oberlandesgerichtsbezirk München<br />
waren davon etwa 200 zugelassene und 55 bereits entlassene Rechtsanwälte betroffen,<br />
was einem Gesamtanteil von 38 Prozent entspricht. 126<br />
In München entfernte man aus den amtlichen Listen zuerst die jüdischen Rechtsanwälte,<br />
die der SPD angehörten. Zu ihnen zählte auch Max Hirschberg, der am 10. März 1933 für<br />
fünfeinhalb Monate festgenommen wurde. 127 Er konnte im April 1934 nach Italien emigrieren.<br />
Einzelne Beispiele<br />
Dr. Otto Feldheim (3.10.1884 Bamberg – ?)<br />
Er hatte gemeinsam mit Hugo Rothschild und Anton Doll eine Kanzlei in der Müllerstraße<br />
54/I. Seine Wohnung befand sich in der Frauenlobstraße 24. Er war verheiratet mit Alice<br />
Rosenthal; zusammen hatten sie eine Tochter. 1938 wurde ihm die Zulassung entzogen.<br />
125 Schoenberner, Gerhard (1992): Der gelbe Stern: 21<br />
126 Weber, Reinhard (1998): Max Hirschberg. Jude und Demokrat: 28<br />
127 Freisleder: Süddeutsche Zeitung Nr. 100 v. 9.9.1998. Max Hirschberg: Jude und Demokrat: 278 ff<br />
72
Dr. Otto Feldheim emigrierte im April 1939 nach New York. 128<br />
Dr. Ludwig Feuchtwanger (1885–1947)<br />
Der Bruder des Schriftstellers Lion Feuchtwanger (siehe Band 1: Feuchtwanger) arbeitete<br />
von 1915–1933 als Rechtsanwalt in München und von 1914 bis 1936 als Lektor; 1915<br />
wurde er Direktor des Verlags Duncker und Humblot. 1939 emigrierte Feuchtwanger nach<br />
England (Winchester). Sein Nachlass befindet sich im Leo-Baeck-Institut, New York. 129<br />
Dr. jur. Karl Feust (1887–1938)<br />
Der Münchner Rechtsanwalt war nach dem Pogrom in das KZ Dachau eingeliefert worden<br />
und ist dort an den Folgen seiner Misshandlung gestorben 130 (siehe Band 2: Israelitischer<br />
Friedhof).<br />
Martin Friedenreich (1887–1962)<br />
Er war seit 1924 Rechtsanwalt in München. 1935 emigrierte er nach Paris. Nach 1945 erhielt<br />
er in München die Wiederzulassung. 131<br />
Dr. jur. Max Friedlaender (1873–1956)<br />
Seit 1899 Rechtsanwalt in München. 132 Er gehörte zu den angesehensten deutschen Juristen,<br />
war Mitbegründer des Bayerischen Anwaltsvereins und viele Jahre Vorstandsmitglied<br />
der Münchner Anwaltskammer. 133 Er flüchtete am 11. November 1938 über die Schweiz<br />
nach England.<br />
Dr. jur. Hans David Fröhlich (1895–1980)<br />
Seit 1924 Rechtsanwalt in München. Er meldete sich 1936 nach Mailand ab und übersiedelte<br />
1939 zusammen mit seiner Ehefrau Margarete Fröhlich, geb. Jacoby (*1898) in die<br />
USA. 134<br />
Dr. Arthur Gern (1884–1941)<br />
Sein Studium absolvierte er in München und Berlin. Im Ersten Weltkrieg diente er als<br />
Leutnant der Reserve. Gemeinsam mit Theodor Stern hatte er eine Kanzlei in der Reichenbachstraße<br />
1/II und wohnte in der Fraunhoferstraße 4. Dr. Gern war mit Elisabeth Ehrlich<br />
verheiratet und hatte drei Söhne: Ernst, Helmut und Karl. Sein Spezialgebiet war das<br />
128 Bokovoy, Douglas / Meining, Stefan (1994): Versagte Heimat: 270<br />
129 Weber, Reinhard (1998): Max Hirschberg: Jude und Demokrat: 42<br />
130 StAM, AG München NR 1938/3930 u. Polizeidirektion München 12306. In: Weber, Reinhard (1998):<br />
Max Hirschberg: Jude und Demokrat: 290<br />
131 Weber, Reinhard (1998): Max Hirschberg: Jude und Demokrat: 283<br />
132 Weber, Reinhard (1998): Max Hirschberg: 78. In: Deutsche Juristen jüdischer Herkunft (1993): 555–569<br />
133 Haas, E. (1993). In: Heusler, A. / Weger, T. (1998): „Kristallnacht“: 111<br />
134 Weber, Reinhard (1998): Max Hirschberg: Jude und Demokrat: 307<br />
73
Grundbuchrecht. Er wurde am 20. November 1941 deportiert und am 25. November in<br />
Kaunas ermordet. 135<br />
Friedrich Goldschmidt (1871 Ludwigshafen – 1938 München)<br />
Der Justizrat nahm sich am 4. Dezember 1938 mit einer Überdosis Veronal das Leben. 136<br />
Dr. jur. Felix Herzfelder (1863 Speyer – 1944 Istanbul)<br />
Der Geheimrat emigrierte mit seiner Ehefrau Emma, geb. Oberndoerfer (*9.5.1873) nach<br />
Istanbul und starb dort im Oktober 1944. 137<br />
Dr. Max Hirschberg (13.11.1883 München – 21.6.1964 New York)<br />
Rechtsanwalt in München seit 1919. Er emigrierte 1934 über die Schweiz nach Italien und<br />
1939 weiter in die USA. 138<br />
Dr. jur. Hugo Jacoby (1869–1935)<br />
Seit 1896 Rechtsanwalt in München.<br />
Dr. jur. Siegfried Jacoby (1865–1935)<br />
Seit 1893 Rechtsanwalt in München. 139<br />
Adolf Kaufmann (1883–1933)<br />
Rechtsanwalt in München seit 1911 und Mitglied der SPD. Er war in den zwanziger Jahren<br />
geschäftsführender Direktor der Münchner Kammerspiele, emigrierte 1933 nach Wien<br />
und ist dort verstorben. 140<br />
Sally Koblenzer (1876–1953)<br />
Seit 1903 Rechtsanwalt in München. 1938 verlor er die Zulassung aus rassischen Gründen<br />
und emigrierte deshalb nach England. 141<br />
Dr. jur. Elisabeth Kohn (11.2.1902 München – 25.11.1941 Kowno)<br />
Nach dem Besuch des humanistischen Gymnasiums in München studierte Elisabeth Kohn<br />
als eine der wenigen Frauen an der Universität München Rechtswissenschaften. Nach der<br />
Promotion am 24. Juli 1924 entschied sie sich für den höheren Justiz-Verwaltungsdienst.<br />
Seit dem 7. November 1928 war sie als Rechtsanwältin bei den Landgerichten München I<br />
135 Bokovoy, Douglas / Meining, Stefan (1994): Versagte Heimat: 271<br />
136 Zitiert nach: Heusler, A. / Weger, T. (1998): „Kristallnacht“: 141<br />
137 Zit. nach: Heusler, A. / Weger, T. (1998): „Kristallnacht“: 110f<br />
138 Weber, Reinhard (1998): Max Hirschberg: Jude und Demokrat: 278ff<br />
139 Weber, Reinhard (1998): Max Hirschberg: Jude und Demokrat: 78<br />
140 Weber, Reinhard (1998): Max Hirschberg: Jude und Demokrat: 136<br />
141 StAM, Polizeidirektion München 14604 u. Oberlandesgericht (OLG) München 704 In: Weber, Reinhard<br />
(1998): Max Hirschberg: Jude und Demokrat: 78<br />
74
und II und beim Oberlandesgericht München zugelassen. 142 Elisabeth Kohn war Mitarbeiterin<br />
in der Anwaltskanzlei bei Dr. Max Hirschberg und Philipp Löwenfeld. Nach dem Berufsverbot<br />
1933 erfolgte am 5. August 1933 die Aufhebung ihrer Zulassung. Danach war sie<br />
als Fürsorgerin bei der Israelitischen Kultusgemeinde tätig. 143 Im sozialen Bereich engagierte<br />
sich Dr. Elisabeth Kohn für die „Liga der Menschenrechte“ und im politischen Bereich<br />
für die SPD. Ihrer Schwester und Mutter zuliebe verzichtete sie auf die Emigration. 144<br />
Ihre Schwester, Marie Luise Kohn (25.1.1904 München – 25.11.1941 Kowno),<br />
Malerin, Graphikerin und Bühnenbildnerin mit dem Künstlernamen „Maria Luiko“, arbeitete<br />
für das Marionettentheater im Jüdischen Kulturbund. Der Historiker Schalom Ben<br />
Chorin beschrieb sie „als überaus sensible junge Frau mit verträumten großen schwarzen<br />
Augen.“ 145 1924 entwarf sie Dekoration und Masken zu Franz Werfels Paulus unter den<br />
Juden.<br />
Am 20. November 1941 wurde Elisabeth Kohn zusammen mit ihrer Schwester Marie Luise<br />
und ihrer Mutter Olga deportiert und am 25. November 1941 in Kowno (siehe Band 2:<br />
Judendeportation) ermordet. 146<br />
Dr. Willy Lederer (24.10.1885 – 12. 4.1940)<br />
Der Münchner Rechtsanwalt, der seit 1933 Wohnung und Kanzlei in der Ruffinistraße 23<br />
hatte, setzte seinem Leben selbst ein Ende. 147<br />
Philipp Löwenfeld (1887–1963)<br />
Er war Rechtsanwalt in München, engagierter Sozialdemokrat und mit Wilhelm Hoegner<br />
(siehe Band 1: Hoegner) befreundet. Emigrierte 1933 in die Schweiz und von dort 1938<br />
nach USA. Seine unveröffentlichten Erinnerungen befinden sich im Leo-Baeck-Institut,<br />
New York. 148<br />
Karl Löwenstein (1891–1973)<br />
Der Jurist und Politologe war von 1919 bis 1933 als Rechtsanwalt in München tätig und<br />
dozierte von 1931 bis 1933 an der Universität München. 1933 emigrierte Karl Löwenstein<br />
in die USA und wurde dort Professor in Yale und Amherst. 1945/46 war er Mitarbeiter der<br />
amerikanischen Militärregierung in Deutschland (OMGUS). 1956/57 übernahm Karl Lö-<br />
142 Pförtner, Jasmin (2000): Spurensuche. In: Kastner, Wolfram (Hrsg.) (2000): Schicksal (un)bekannt: 36<br />
143 Pförtner, Jasmin (2000): Spurensuche. In: Kastner, Wolfram (Hrsg.) (2000): Schicksal (un)bekannt: 36<br />
144 Pförtner, Jasmin (2000): Spurensuche. In: Kastner, Wolfram (Hrsg.) (2000): Schicksal (un)bekannt: 37<br />
145 Ben Chorin, Schalom (1982): Jugend an der Isar. In: Lamm, Hans (1982): Vergangene Tage: 297–298<br />
146 Pförtner, Jasmin (2000): Spurensuche. In: Kastner, Wolfram (Hrsg.) (2000): Schicksal (un)bekannt: 34–<br />
37. Weber, Reinhard (1998): Max Hirschberg: Jude und Demokrat: 56. Zitiert in: Löwenthal, Ernst G.<br />
(Hrsg.) (1965): Bewährung im Untergang. Ein Gedenkbuch: 103–105<br />
147 Ulrich, Herta / Baumann, Günther (1993): Jüdische Schicksale aus Neuhausen: 153<br />
148 Weber, Reinhard (1998): Max Hirschberg: Jude und Demokrat:131<br />
75
wenstein eine Gastprofessur in München. 14950<br />
Dr. jur. Fritz Neuburger (1884–1945)<br />
Rechtsanwalt in München. 150<br />
Dr. jur. Siegfried Oppenheimer (20.2.1893 München – 25.11.1941 Kowno) 151<br />
Dr. jur. Ludwig Regensteiner (1893–1976)<br />
Der seit 1919 in München tätige Rechtsanwalt meldete sich 1940 in die Dominikanische<br />
Republik ab. 152<br />
Dr. jur. Walter Rheinheimer (6.7.1906 Pirmasens – 25.11.1941 Kowno)<br />
Er wohnte von 1940 bis 1941 in der Müllerstraße 14b und wurde am 20. November 1941<br />
nach Kaunas deportiert. 153<br />
Prof. Dr. jur. Heinrich Rheinstrom (1884–1960)<br />
Der Rechtsanwalt und Notar in München hatte bis 1933 zusätzlich eine Honorarprofessur<br />
für Finanzwirtschaft und Steuerrecht an der Technischen Hochschule München inne. Von<br />
1933 bis 1936 führte er Kanzleien in Paris und London und übte von 1936 bis 1939 eine<br />
Lehrtätigkeit in Paris aus. 1937 erfolgte seine Ausbürgerung aus rassischen Gründen. Er<br />
emigrierte 1939 in die USA. Verheiratet war er mit Clairisse Niedermeier (*1891). 154 Professor<br />
Rheinstrom war Rechtsberater des Kunstsammlers und Mäzens Dr. James Loeb<br />
(siehe Band 2: Loeb).<br />
Hugo Rothschild (15.2.1875 München – 13.2.1945 KZ Dachau)<br />
Gemeinsam mit Otto Feldheim und Anton Doll hatte er eine Kanzlei in der Müllerstraße<br />
54/1. Stock. Er war verheiratet mit Emma Boltshauser und hatte zwei Kinder: Erna und<br />
Fritz Erich. 1931 ist Rothschild aus dem Judentum ausgetreten. Er starb im KZ Dachau. 155<br />
Dr. jur. Fritz Silber (1.8.1899 München – 1983 München)<br />
Gemeinsam mit Felix Schnauth hatte er eine Kanzlei am Frauenplatz 10/3. Stock, wo er<br />
auch von 1929 bis 1933 wohnte. Von 1933 bis 1935 lebte Fritz Silber in der Müllerstraße<br />
3/2. Stock. Er war verheiratet mit Ella Gundersheimer und hatte drei Kinder: Walter Erich,<br />
Ernst Gerhard und Manfred. Im Ersten Weltkrieg diente er im Ersten Infanterieregiment<br />
149 Weber, Reinhard (1998): Max Hirschberg: Jude und Demokrat: 264<br />
150 Weber, Reinhard (1998): Max Hirschberg: Jude und Demokrat: 70<br />
151 Deportationsliste in der Ausstellung: „... verzogen, unbekannt wohin“. November 2000 im Neuen Rathaus<br />
München<br />
152 Weber, Reinhard (1998): Max Hirschberg: Jude und Demokrat: 137<br />
153 Bokovoy, Douglas / Meining, Stefan (1994): Versagte Heimat: 271<br />
154 Weber, Reinhard (1998): Max Hirschberg: Jude und Demokrat: 84, 76<br />
155 Bokovoy, Douglas / Meining, Stefan (1994): Versagte Heimat: 271<br />
76
München. Silber emigrierte im Juni 1941 mit seiner Familie nach New York. 156<br />
Dr. jur. Alfred Strauß (30.8.1902 München – 24.5.1933 KZ Dachau)<br />
Er war seit 1928 als Rechtsanwalt in München tätig. Am 24. Mai 1933 wurde er im KZ<br />
Dachau ermordet. (siehe Band 2: Israelitischer Friedhof - Alt) 157<br />
Dr. Robert Theilhaber (14.10.1881 Bamberg – ?1942 Auschwitz)<br />
Robert Theilhaber lebte sei 1888 in München. Seit 24. März 1933 wohnte er in der Löfftzstraße<br />
5/3. Stock. Als Rechtsanwalt hatte er eine Kanzlei am Promenadeplatz 10/2.<br />
Stock. Er emigrierte am 1. August 1939 nach Paris. Von dort kam er 1940 in ein Internierungslager<br />
in Südfrankreich und danach in das Vernichtungslager Auschwitz, wo er ermordet<br />
wurde. Seine in München zurückgebliebenen Eltern, Dr. Adolf Theilhaber und<br />
Therese, geborene Cohen, waren unter den Deportierten vom 20. November 1941, die am<br />
25. November 1941 in Kowno ermordet wurden. 158<br />
Alfred Werner (1891–1965)<br />
Der seit 1919 als Rechtsanwalt in München tätige A. Werner emigrierte 1933 nach Frankreich<br />
und von dort nach England und Palästina. Nach seiner Rückkehr 1953 war er Rechtsanwalt<br />
in Düsseldorf. 159<br />
Ausstellungen<br />
13. März – 30. April 2000: Schicksal (un)bekannt. Ein Kunst- und Ausstellungsprojekt<br />
konzipiert von Wolfram Kastner. Gezeigt in der Münchner Christuskirche und vom 7. Mai<br />
– 31. Mai 2000 in der KZ-Gedenkstätte Dachau.<br />
23. November – 24. Dezember 2000: ... verzogen, unbekannt wohin. Die erste Deportation<br />
Münchner Juden im November 1941. Konzipiert vom Stadtarchiv München und der<br />
Landeshauptstadt München. Gezeigt im Neuen Rathaus München.<br />
4. Oktober – 2. November 2001: Anwalt ohne Recht. Schicksale jüdischer Anwälte in<br />
Deutschland nach 1933. Dokumentation einer Ausgrenzung. Eine Wanderausstellung<br />
des Deutschen Juristentages e. V. und der Bundesrechtsanwaltskammer. Gezeigt von der<br />
Rechtsanwaltskammer für den Oberlandesgerichtsbezirk München im Justizpalast Mün-<br />
156 Picht, Barbara (1994): Lebenswege: 273; vgl. auch Dr. jur. Fritz Silber. In: Bokovoy, D. / Meining, S.<br />
(Hrsg.): Versagte Heimat: 293–302<br />
157 Weber, Reinhard (1998): Max Hirschberg: Jude und Demokrat: 290. In: Heinrich, R. (1979): 100 Jahre<br />
Rechtsanwaltskammer in München: 119. In: Göppinger, H. (1990): Juristen jüdischer Abstammung im<br />
„Dritten Reich“: 62 f<br />
158 Pförtner, Jasmin (2000): Spurensuche. In: Kastner, Wolfram (2000): Schicksal (un)bekannt: 56<br />
159 Weber, Reinhard (1998): Max Hirschberg: Jude und Demokrat: 148<br />
77
chen (Lichthof), Prielmayerstraße 7. Die Ausstellung hatte bis zum Frühjahr 2001 Station<br />
gemacht in Heidelberg, Darmstadt und Bochum. Bis Anfang des Jahres 2003 wird die<br />
Ausstellung u. a. in folgenden Städten gezeigt: Freiburg, Schwerin, Nürnberg, München,<br />
Ravensburg, Köln, Celle, Stuttgart, Mainz, Erfurt, Potsdam, Kiel und Hamburg.<br />
Literatur<br />
Benz, Wolfgang (1993): Von der Entrechtung zur Verfolgung und Vernichtung. In: Heinrichs, H. C. / Franzki,<br />
H. / Schmalz, K. / Stolleis, M. (Hrsg.) (1993): Deutsche Juristen jüdischer Herkunft. C. H. Beck Verlag,<br />
München<br />
Bokovoy, Douglas / Meining, Stefan (1994): Versagte Heimat. Jüdisches Leben in Münchens Isarvorstadt<br />
1914–1945. Eine Veröffentlichung der Forschungsstelle deutsch-jüdischer Zeitgeschichte e. V. Verlag Dr.<br />
Peter Glas, München<br />
Göppinger, Horst (1990): Juristen jüdischer Abstammung im „Dritten Reich“. Entrechtung und Verfolgung.<br />
München<br />
Grosshut, Friedrich S. (1962): Staatsnot, Recht und Gewalt. Nürnberg<br />
Gruchmann, Lothar (1988): Justiz im Dritten Reich. 1933–1940. München<br />
Haber, Fritz (1995): Briefe an Richard Willstätter 1910–1934. Hrsg. v. Petra Werner und Angelika Irmscher.<br />
Verlag f. Wissenschaft u. Regionalgeschichte, Dr. Michael Engel, Berlin<br />
Heinrich, Robert (1979): 100 Jahre Rechtsanwaltskammer in München. Festschrift. München<br />
Heinrichs, H. C. / Franzki H. / Schmalz, K. / Stolleis, M. (Hrsg.) (1993): Deutsche Juristen jüdischer Herkunft.<br />
C. H. Beck Verlag, München<br />
Heusler, Andreas / Weger, Tobias (1998): „Kristallnacht“. Gewalt gegen die Münchner Juden im November<br />
1938. Buchendorfer Verlag, München<br />
Kastner, Wolfram (Hrsg.) (2000): Schicksal (un)bekannt. Ein Kunst- und Ausstellungsprojekt. München,<br />
Dachau. Eigenverlag<br />
Krach, Tillmann (1991): Jüdische Rechtsanwälte in Preußen. Über die Bedeutung der freien Advokatur und<br />
ihre Zerstörung durch den Nationalsozialismus. Berlin<br />
Ladwig-Winters, Simone (1998): Anwalt ohne Recht. Das Schicksal jüdischer Rechtsanwälte in Berlin nach<br />
1933. Hrsg. v. d. Rechtsanwaltskammer Berlin. be.bra verlag, Berlin-Brandenburg<br />
Löwenthal, Ernst G.(Hrsg.) (1965): Bewährung im Untergang. Ein Gedenkbuch. Stuttgart<br />
Ophir, Z. Baruch / Wiesemann, Falk (1979): Geschichte und Zerstörung der jüdischen Gemeinde in München<br />
1918–1945. In: Lamm, Hans (Hrsg.) (1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München. Langen<br />
Müller Verlag, München, Wien: 473<br />
Ortner, Helmut (1993): Der Hinrichter. Roland Freisler. Mörder im Dienste Hitlers. Zsolnay Verlag, Wien<br />
Pförtner, Jasmin (2000): Spurensuche. In: Schicksal (un)bekannt. Ein Kunst- und Ausstellungsprojekt. München,<br />
Dachau. Eigenverlag<br />
Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „... verzogen, unbekannt wohin“. Die erste Deportation von Münchner<br />
Juden im November 1941. Pendo Verlag, Zürich, München<br />
Weber, Reinhard (1998): Max Hirschberg: Jude und Demokrat. Erinnerungen eines Münchner Rechtsanwalts<br />
1883–1939. Biographische Quellen zur Zeitgeschichte. Band 20. Hrsg. im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte<br />
München von Werner Röder und Udo Wengst. Oldenburg Verlag, München<br />
Werner, Alfred (1958): Jüdische Juristen in München. In: Lamm, Hans (1982): Vergangene Tage. Jüdische<br />
Kultur in München. Langen Müller Verlag, München, Wien: 323–327<br />
Wiesemann, Falk (1975): Die Vorgeschichte der nationalsozialistischen Machtergreifung in Bayern 1932/33.<br />
Berlin<br />
78
„Jüdisches Sammellager“ Berg am Laim<br />
79<br />
Mahnmal für das<br />
„Jüdische<br />
Sammellager“<br />
Foto: A. Olsen
Mahnmal<br />
Clemens-August-Straße, Berg am Laim<br />
Michaelibad U2, Bus 137<br />
M (1987)<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Oberstudienrat Erich Kasberger, vom nahe des Mahnmals gelegenen Michaeli-Gymnasiums,<br />
erstellte 1985 mit einer 10. Klasse eine erste Dokumentation über die „Heimanlage<br />
für Juden Berg am Laim“. Dies geschah im Rahmen eines Geschichtswettbewerbes der<br />
Landeshauptstadt München zum Thema „Nationalsozialistische Gewaltherrschaft und<br />
ihre Folgen“. Mit der Unterstützung des Bezirksausschuss-Vorsitzenden Hermann Weinhauser<br />
ging an die Landeshauptstadt München am 28. Mai 1985 der Antrag, eine Gedenktafel<br />
bzw. ein Mahnmal anzubringen. Der Entwurf des Bildhauers Nikolaus Gerhart wurde<br />
aus drei weiteren eingereichten Vorschlägen ausgewählt. Die Einweihung fand am 7.<br />
Juli 1987 durch den zweiten Münchner Bürgermeister Dr. Klaus Hahnzog statt.<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
Das Portal aus Naturstein blieb erhalten, als in den achtziger Jahren der Nordflügel des alten<br />
Klostergebäudes abgebrochen wurde. Es war Bestandteil der „Heimanlage für Juden<br />
Berg am Laim“, die als Sammelstelle für die zur Deportation bestimmten Juden galt. Hier<br />
war der Startpunkt des grausamen Weges, den sie gezwungen wurden zu gehen. Das<br />
Mahnmal symbolisiert die ausweglose Situation, der die Menschen damals ausgesetzt waren.<br />
Heute ist das Portal durch einen schweren, in der unteren Hälfte quer zum Durchgang<br />
perforierten Granitquader (1,5 m × 1,9 × 1,0 m) verstellt; sein enormes Gewicht soll das<br />
brutale Ausmaß des NS-Verbrechens verdeutlichen.<br />
Auf der Vorderseite des Blockes wurden der Davidstern und die Jahreszahlen 1941–1943<br />
eingraviert. Eine daneben angebrachte Bronzetafel weist auf das Mahnmal hin: „Als Mahnung<br />
und zur Erinnerung an das Sammellager für jüdische Bürger in den Jahren 1941–<br />
1943.“ so die Inschrift.<br />
Ergänzend dazu wurde in der Nähe eine Gedenktafel zur Erinnerung an Dr. Else Behrend-<br />
Rosenfeld (siehe Band 1: Behrend-Rosenfeld) angebracht.<br />
INTENTION DES KÜNSTLERS<br />
Nikolaus Gerhart interpretiert das von ihm geschaffene Mahnmal in einem Schreiben vom<br />
11. Mai 1986: Der Steinbogen des Tores, der bereits Bestandteil des Mahnmales ist, kann<br />
80
so nicht genutzt werden, „denn er war Zeuge vom Ein- und Ausgehen hilfloser, todahnender<br />
Menschen. Der Durchgang wird von einem vorgestellten Granitblock unpassierbar<br />
gemacht.“ Der durch den Block verlaufende „Hohlraum läßt somit eine Verbindung vom<br />
Steinblock zum freistehenden Portal erkennen“. 160<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Nach der seit dem Frühjahr 1941 bestehenden „Judensiedlung Milbertshofen“ wurde im<br />
Juli desselben Jahres im Klosterbau der Barmherzigen Schwestern vom Hl. Vinzenz und<br />
Hl. Paul in Berg am Laim, St. Michael-Straße 16, auf zwei Etagen eine so genannte „Heimanlage<br />
für Juden“ eingerichtet. In 38 Zimmern konnten 275 bis 300 Personen untergebracht<br />
werden. Am 31. Dezember 1941 betrug die Belegzahl in der „Heimanlage“ 222<br />
Personen. 161 Die Kosten für Unterbringung und Verpflegung hatten die Insassen selbst zu<br />
tragen, für die Ausstattung musste die Israelitische Gemeinde München aufkommen. Else<br />
Behrend-Rosenfeld, die zuvor zur Zwangsarbeit in einer Flachsfabrik in Lohhof verpflichtet<br />
war, übernahm im Auftrag der Israelitischen Kultusgemeinde die Wirtschaftsführung<br />
des Heimes. Obwohl den Klosterschwestern von der Gestapo, die das Heim kontrollierte,<br />
jeder Kontakt mit den neuen Bewohnern untersagt war, zeichneten sie sich durch Hilfsbereitschaft<br />
und Solidarität den verfolgten Menschen gegenüber aus. „Wir alle sind hier<br />
draußen wie von einem Druck befreit, der in der Stadt ständig auf uns lag ... die stets gleichen<br />
freundlichen Gesichter der Nonnen, ... und das wohlwollende Bewußtsein, von ihnen<br />
nicht gehaßt und verachtet, sondern mit schwesterlicher Zuneigung betrachtet zu werden,<br />
bedeutet eine große Entlastung“ 162 , so schrieb Else Behrend-Rosenfeld. Doch weiterer<br />
Zuzug bis zur Vollbelegung mit 320 Personen und immer neue Repressalien erschwerten<br />
die Lebensumstände erheblich. „Wir bekamen Bescheid, daß von jedem Insassen pro Tag<br />
fünfzig Pfennig für das Wohnen zu zahlen seien. ... Das ganze Mietgeld muß jeden Freitag<br />
mit der genauen Aufstellung der Insassenzahl in die Widenmayerstraße gebracht werden,<br />
zusammen mit dem Küchenzettel für die kommende Woche, den ich zu machen habe.“ 163<br />
Am 6. November 1941 setzten die Vorbereitungen für die ersten Transporte von deutschen<br />
Juden nach Riga, Minsk und Kowno ein; sie führten direkt in den Tod. Vom ersten Transport<br />
von München aus, am 20. November 1941 mit 999 Personen nach Riga 164 , gab es keine<br />
Überlebenden. „– Und von keinem von allen, die deportiert wurden, ist je wieder eine<br />
Nachricht gekommen,“ bezeugte Else Behrend-Rosenfeld, die viele persönliche Schick-<br />
160 Brief vom 11.5.1986 an das Städt. Baureferat, Hochbau I der Landeshauptstadt München.<br />
161 Dokument: 20. Zitiert in: Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „... verzogen, unbekannt wohin“, o. S.<br />
162 Behrend-Rosenfeld, Else Dr. (1988): Ich stand nicht allein: 114<br />
163 Behrend-Rosenfeld, Else Dr. (1988): Ich stand nicht allein: 119<br />
164 Wegen Überfüllung des dortigen Ghettos wurde der Transport nach Kowno umgeleitet.<br />
81
sale beschrieben hat. In der „Heimanlage für Juden“ waren 83 Personen für die erste Deportation<br />
bestimmt: „Jeder sollte für drei Tage Proviant bekommen, an Gepäck durfte jeder<br />
fünfzig Kilogramm mitnehmen, verteilt auf je einen Koffer, einen Rucksack oder eine<br />
Reisetasche und eine Deckenrolle. Keiner der Beteiligten durfte bis zum Abtransport ins<br />
Sammellager das Heim verlassen.“ 165<br />
In einem Brief des Rabbiners und Heimbewohners Bruno Finkelscherer vom 30. November<br />
1942 an den Oberlandesgerichtsrat Alfred Neumeyer sind 171 Heiminsassen genannt.<br />
166 An Finkelscherers Schicksal, der seit 1940 die Stellung des Gemeinderabbiners<br />
Leo Baerwald 167 übernommen hatte, kann die Entrechtung, Verfolgung und Vernichtung<br />
Münchner Juden exemplarisch aufgezeigt werden. Zuerst musste er aus der elterlichen<br />
Wohnung in der Arcostraße 3 in das Schulhaus Herzog-Rudolf-Straße umziehen und von<br />
dort in die „Heimanlage Berg am Laim“. 168 Da er seit Juli 1942 Zwangsarbeit leistete und<br />
nebenher die Beerdigung verstorbener Gemeindemitglieder auf dem Neuen Israelitischen<br />
Friedhof vornahm, hatte er den sieben Kilometer langen Weg dorthin zu Fuß zurückzulegen,<br />
da Juden keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen durften. 169 Bruno Finkelscherer<br />
kam am 13. März 1943 in das KZ-Auschwitz 170 und musste trotz eines Beinbruchs in einem<br />
Brunnenkommando arbeiten; er starb am 5. April 1943.<br />
Bei der Auflösung des „Judenlagers Milbertshofen“ wurden am 19. August 1942 die letzten<br />
16 Insassen in die so genannte „Heimanlage Berg am Laim“ gebracht, die noch bis zum 1.<br />
März 1943 existierte. Die dort verbliebenen Heiminsassen (circa 40 Personen) kamen dann<br />
in das Gemeindehaus der Israelitischen Kultusgemeinde in der Lindwurmstraße 125.<br />
Ein weiteres Sammellager befand sich auf dem Gelände der Flachsröste Lohhof bei Unterschleißheim.<br />
Dort waren in einer Holzbaracke 80 jüdische Zwangsarbeiterinnen bis<br />
zum 23. Oktober 1942 untergebracht. Nach der Auflösung des Lagers kamen 60 polnische<br />
Jüdinnen zur Firma Christian Dierig AG nach Augsburg. 171<br />
165 Behrend-Rosenfeld, Else (1988): Ich stand nicht allein: 125<br />
166 Finkelscherer, Bruno. In: Lamm, Hans (1982): Vergangene Tage: 459<br />
167 (1883–1970) lebte von 1898 bis 1940 in München wo er seit 1911 Rabbiner war.<br />
168 Finkelscherer, Bruno. In: Lamm, Hans (1982): Vergangene Tage: 461<br />
169 Löwenthal, E. G. (1965): 48. Auch in: Weger, Tobias (1999): Die Synagoge in der Lindwurmstraße: 200<br />
170 StadtAM Verzeichnis der am 13.3.1943 nach Auschwitz deportierten Personen (erstellt von der IKG<br />
München, 1951).Weger, Tobias (1999): Die Synagoge in der Lindwurmstraße. In: Stadtarchiv München<br />
(Hrsg.) (1999): Beth ha-Knesseth: 200<br />
171 Dokument: 21. In: Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „... verzogen, unbekannt wohin“. Die erste<br />
Deportation von Münchner Juden im November 1941.<br />
82
Ausstellung<br />
14. Februar – 11. März 2001: Oneg Schabbat. Dokumente über das Warschauer Ghetto<br />
des Jüdischen Historischen Instituts Warschau. Konzipiert von der Gesellschaft zur Förderung<br />
jüdischer Kultur in München. Gezeigt in der Bayer. Staatskanzlei am Franz-Josef-<br />
Strauß-Ring 1, München.<br />
Literatur<br />
Behrend-Rosenfeld, Else (1988): Ich stand nicht allein. Leben einer Jüdin in Deutschland 1933–1944. C. H.<br />
Beck Verlag, München<br />
Gerhard, Nikolaus (1986): Brief vom 11.5.1986 an das Städt. Baureferat Hochbau I der Landeshauptstadt<br />
München<br />
Heusler, Andreas (1995): Vertreibung. Deportation. Vernichtung. Jüdische Schicksale in München 1933–<br />
1945. Hrsg. v. Stadtarchiv München. München<br />
Jüdisches Leben in München. Lesebuch zur Geschichte des Münchner Alltags. Geschichtswettbewerb 1993/<br />
94. Hrsg. v. d. Landeshauptstadt München. Buchendorfer Verlag, München<br />
Kasberger, Erich (1993): „... zur Erinnerung und als Mahnung“. Die Errichtung eines Mahnmals in München<br />
Berg am Laim. In: Landeszentrale für politische Bildungsarbeit (Hrsg.) (1993): Didaktische Arbeit in KZ-<br />
Gedenkstätten. Erfahrungen und Perspektiven. Druckhaus Coburg: 37–42<br />
Landeshauptstadt München (Hrsg.) (1987): Verdunkeltes München. Die Gewaltherrschaft und ihre Folgen.<br />
Geschichtswettbewerb 1985/86. Buchendorfer Verlag, München<br />
Löwenthal, E. G. (1965): Bewährung im Untergang. Ein Gedenkbuch. Stuttgart<br />
Ophir, Baruch Z. / Wiesemann, Falk (1958): Geschichte und Zerstörung der jüdischen Gemeinde in München<br />
1918–1945. In: Lamm, Hans (1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München. Langen, Müller Verlag,<br />
München, Wien: 462–494<br />
Stadtarchiv München (Hrsg.) (1999): Beth ha-Knesseth – Ort der Zusammenkunft. Zur Geschichte der<br />
Münchner Synagogen, ihrer Rabbiner und Kantoren. Buchendorfer Verlag, München.<br />
Weger, Tobias (1999): Die Synagoge in der Lindwurmstraße 125. In: Stadtarchiv München (Hrsg.) (1999):<br />
Beth ha-Knesseth. Ort der Zusammenkunft: 196–200<br />
83
Mahnmal in der<br />
Justizvollzugsanstalt<br />
München-Stadelheim<br />
Foto: A. Olsen<br />
Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim<br />
„Noch gestern hat er vier zum Strick verdammt,<br />
und heute liegt er tot in den Ruinen,<br />
wird keinen mehr zu Strang und Beil bedienen,<br />
ein Haufen Trümmer ist sein ganzes Amt.“<br />
Albrecht Haushofer 172<br />
84
Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim<br />
Stadelheimer Straße 12, Giesing<br />
Schwanseestraße (Endstation) Tram 27<br />
M (1963, 1970, 1973)<br />
In der Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim (JVA) gibt es vier Gedenkstätten mit<br />
folgenden Gründungsjahren:<br />
I. 1963: Gedächtnisstätte in der Kapelle der Anstaltskirche<br />
II. 2. Juli 1970: Gedenkraum in der Kapelle der Anstaltskirche<br />
III. 1973: Mahnmal, integriert in die erweiterte Gefängnisanlage<br />
IV. 1973: Erinnerungsort zur Hinrichtungsstätte in der JVA München-Stadelheim<br />
Die Gedenkstätten I, II und IV sind für Besucher nicht öffentlich zugänglich.<br />
Zu I. 1963: Gedächtnisstätte in der Kapelle der Anstaltskirche<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
Im Vorraum der Anstaltskirche der JVA München-Stadelheim befinden sich Kruzifix und<br />
Betstuhl aus den ehemaligen Todeszellen.<br />
Zu II. 2. Juli 1970: Gedenkraum in der Kapelle der Anstaltskirche<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
Die Gedächtnisstätte in der Kapelle wurde zu einem Gedenkraum erweitert, der mit einer<br />
Wandinschrift an die Opfer mit folgender Aufschrift erinnert: „Den Opfern der Gewaltherrschaft<br />
von 1933–1945 zum Gedenken.“<br />
172 Albrecht Haushofer (1904–1945) war Professor für Geographie und Geopolitik in Berlin, der einem<br />
Kreis Intellektueller gegen den Nationalsozialismus angehörte und Kontakte zu der Widerstandsgruppe<br />
vom 20. Juli pflegte. Er kam nach dem Zusammenbruch des militärischen Widerstands in Haft und wurde<br />
in den letzten Kriegstagen erschossen. Während seiner Haftzeit entstanden Texte, die er Moabiter Sonette<br />
nannte, aus dem auch der zitierte Ausschnitt stammt. Zitiert aus seinem Gedicht Nemesis, das auf den<br />
Tod des Blutrichters Freisler anspielt.<br />
85
Zu III. 1973: Mahnmal, integriert in die erweiterte Gefängnisanlage<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Im Rahmen eines Neubaues der JVA Stadelheim wurde die Gedenkstätte 173 in die erweiterte<br />
Gefängnisanlage integriert. Der Freisinger Bildhauer Wilhelm Breitsameder übernahm<br />
die Gestaltung dieses Mahnmals.<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
Das Mahnmal befindet sich nicht am authentischen Ort der ehemaligen Hinrichtungsstätte;<br />
diese lag neben den Garagen mit einem davor befindlichen Raum, von dem aus die Gefangenen<br />
zur Hinrichtung geführt wurden.<br />
Bereits der Weg zum Mahnmal über einen fensterlosen, mit Eisengittern gesicherten, engen<br />
Gang, vermittelt das Gefühl des Gefangenseins. Der darauf folgende, im Grundriss<br />
quadratische, nach oben offene Raum (6 m × 6 m) ist mit drei Meter hohen Betonmauern<br />
umgeben. Symbolisiert liegen darauf Galgen und Guillotine aus Bronze gegossen. Aus<br />
dem Boden ragt ein Richtblock, der die Inschrift mit hervorgehobener Schrift trägt: „Den<br />
Opfern der Gewaltherrschaft von 1933–1945.“<br />
INTENTION DES KÜNSTLERS<br />
Wilhelm Breitsameder, akademischer Bildhauer schrieb am 18. Februar 1998: „Die den<br />
Opfern der Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus gewidmete Gedenkstätte versucht,<br />
Brutalität und Unmenschlichkeit dieses Terrorregimes einerseits sowie Verlorenheit und<br />
Hoffnungslosigkeit der wegen ihrer Überzeugung verfolgten Widerstandskämpfer andererseits<br />
zum Ausdruck zu bringen. Die Staatsgewalt wurde denen zum Gefängnis, die sich<br />
ihr aus Gewissensgründen widersetzten. Freilich: Das Gefängnis ist nach oben hin offen<br />
– Symbol für die Freiheit und Würde des Menschen, für jenes Residuum, das wir Gewissen<br />
nennen, und das auch durch äußerste Gewalt nicht gebrochen wird.“ 174<br />
173 Der Urkundentext des entsprechenden Mahnmals in der Gedenkstätte Berlin-Plötzensee von 1952 lautet:<br />
„An dieser Stelle sind in den Jahren der Hitlerdiktatur von 1933–1945 Hunderte von Menschen wegen<br />
ihres Kampfes gegen die Diktatur für die Menschenrechte und politische Freiheit durch Justizmord ums<br />
Leben gekommen. Unter diesen befanden sich Angehörige aller Gesellschaftsschichten und fast aller<br />
Nationen ...“ In: Oleschinski, Brigitte (1995): Gedenkstätte Plötzensee: 4<br />
174 Schreiben von Wilhelm Breitsameder an Helga Pfoertner.<br />
86
Zu IV. 1973:<br />
Erinnerungsort zur Hinrichtungsstätte in der JVA München-Stadelheim<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
Im Zuge der Erweiterungsbauten der JVA München-Stadelheim entstand über der ehemaligen<br />
Hinrichtungsstätte ein Neubau. Der ehemalige Ort ist mit einer in die Wand eingelassenen<br />
Kachel (10 cm × 10 cm) mit einem markanten durchgehenden Kreuz gekennzeichnet.<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Das „Ermächtigungsgesetz“ vom 24. März 1933, dem der Reichstag mit Ausnahme der<br />
SPD zustimmte – die Mandate der KPD waren zuvor für ungültig erklärt worden – übertrug<br />
der Regierung das Recht der Gesetzgebung ohne parlamentarische Zustimmung. Dieses<br />
Gesetz kann als Grundlage der nationalsozialistischen Gesetzgebung angesehen werden.<br />
Damit vollzog sich der legale Umbruch von der Demokratie zur Diktatur. Die Grundrechte<br />
wie Freiheit der Person und freie Meinungsäußerung galten nicht mehr. Die Hauptziele<br />
der Nationalsozialisten waren: Sicherung und Ausweitung der Macht, Wiederaufrüstung<br />
und territoriale Expansion. Das NS-Regime entwickelte mit dem neu eingerichteten<br />
System der Konzentrationslager und dem Strafvollzug ein politisches Instrument der Unterdrückung<br />
und Ausgrenzung. In der Öffentlichkeit wurden die Gefangenen als „Berufsverbrecher“<br />
und „Volksfeinde“ diffamiert. Ab 1933 war das Strafgefängnis in München-<br />
Stadelheim die zentrale Haft- und Untersuchungsanstalt für so genannte politisch Kriminelle<br />
aus ganz Bayern – für Sozialdemokraten, Kommunisten, Gewerkschafter und Regimegegner.<br />
Die Strafjustiz spielte bei der Durchführung der nationalsozialistischen Diktatur eine besondere<br />
Rolle. Die Geheime Staatspolizei (Gestapo) konnte seit dem 26. April 1933 ohne<br />
gerichtliche Anordnung und auf unbestimmte Zeit Verhaftungen anordnen und die Opfer<br />
im KZ festsetzen; dies wurde auch „Schutzhaft“ genannt. Die Bildung des Volksgerichtshofs<br />
(VGH) erfolgte mit einem Gesetz vom 29. April 1934 und wurde zur „Aburteilung<br />
von Hochverrats- und Landesverratssachen“ eingesetzt. 175 Von ihm, „dem gefürchteten<br />
Terrorinstrument staatlicher Unrechtssprechung“, gingen 5234 Todesurteile 176 aus, von<br />
denen ungefähr 1400 in München-Stadelheim vollstreckt wurden. Strafbestände wie<br />
Hochverrat, Brandstiftung und Sabotage, konnten mit dem Tode bestraft werden. Seit dem<br />
29. März 1933 galt das „Gesetz über Verhängung und Vollzug der Todesstrafe“, die Voll-<br />
175 Münch, Ingo von (Hrsg.) (1994): Gesetze des NS-Staates: 99<br />
176 Boberach, Heinz (1991): Inventar archivalischer Quellen des NS-Staates: 228<br />
87
streckung konnte durch den Strang erfolgen. 177 Damit war die Todesstrafe gesetzlich verankert<br />
und ein bevorzugtes Mittel, staatliche Härte zu demonstrieren und besonders mit<br />
politischen Gegnern abzurechnen. In der Weimarer Republik war zuvor die Vollstreckung<br />
der Todesurteile wegen ihrer besonderen ethischen Problematik minimiert worden; innerhalb<br />
von 14 Jahren waren von 1184 ausgesprochenen Urteilen nur 184 vollstreckt worden.<br />
Die seit dem 21. März 1933 eingesetzten Sondergerichte konnten alle politischen und unpolitischen<br />
Delikte nach dem Kriegssonderstrafrecht anklagen. 178 Verschärft verfolgt<br />
wurden Angriffe auf Staat und Partei nach dem so genannten „Heimtückegesetz“ von<br />
1934. Demnach konnten auch geringfügige Vergehen – vom politischen Witz bis zum<br />
Missbrauch der Uniform – mit schweren Strafen belegt werden. „In besonders schweren<br />
Fällen kann auf Todesstrafe erkannt werden.“ 179 Mit Kriegsbeginn entstanden weitere<br />
Gesetze, wie z.B. die „Verordnung gegen Volksschädlinge“ vom 5. September 1939 180 ,<br />
die auch für die besetzten Gebiete galten. Die als „Nacht- und Nebel-Erlass“ genannte<br />
Maßnahme vom 7. Dezember 1941 sollte Widerstandsbewegungen in den besetzten westeuropäischen<br />
Ländern niederhalten. Ziel dieses Erlasses war, die Bevölkerung an der Beteiligung<br />
an Untergrundaktionen zu hindern. Deshalb konnten die Militärgerichte gegen<br />
Untergrundaktionisten die Todesstrafe verhängen. Dieser Erlass galt in Frankreich, Belgien<br />
und den Niederlanden. Die Mehrzahl der verhängten Todesurteile wurden in Köln vollstreckt,<br />
gefolgt von Brandenburg, Dortmund und München-Stadelheim.<br />
Vollzug der Todesstrafe<br />
Nach der Machtergreifung wurde die Vollstreckung der Todesurteile durch den Strang<br />
und, – zur Abschreckung – wieder mit dem Handbeil vollzogen. Wegen der ansteigenden<br />
Zahl der Hinrichtungen 181 setzte man im Reichsgebiet seit dem 28. Oktober 1936 die Guillotine<br />
ein. Es gab insgesamt vierzehn Hinrichtungsstätten; München-Stadelheim war für<br />
die Gerichtsbezirke München, Bamberg, Nürnberg und für den Bereich der Sondergerichte<br />
Eger, Salzburg und Innsbruck zuständig. Drei hauptamtliche Scharfrichter, die mit der<br />
zusammenlegbaren, in Kisten verpackten Guillotine ihr blutiges „Handwerk“ ausführten,<br />
waren hierfür eingesetzt. 182 Ihr Jahresgehalt betrug 3000,– Reichsmark und 60 bis 65<br />
Reichsmark Vergütung pro Hinrichtung. Am Abend vor der Hinrichtung musste die bevorstehende<br />
Vollstreckung des Urteils dem Kandidaten im Beisein von Justizbeamten<br />
177 Münch, Ingo von (Hrsg.) (1994): Gesetze des NS-Staates: 90<br />
178 Boberach, Heinz (1991): Inventar archivalischer Quellen des NS-Staates: 229<br />
179 Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen. Vom<br />
Dezember 1934. In: Münch, Ingo von (Hrsg.) (1994): Gesetze des NS-Staates: 73<br />
180 Reichsgesetzblatt I S. 1679. In: Münch, Ingo von (Hrsg) (1994): Gesetze des NS-Staates: 96<br />
181 1933: 64, 1934: 79, 1935: 94. (Von 1933 bis 1935 ein Anstieg um ca. 50 Prozent) In: Oleschinski, Brigitte<br />
(1995): Gedenkstätte Plötzensee: 16<br />
88
mitgeteilt werden. Darauf folgte die Überführung in die so genannte „Todeszelle“, wo ihn<br />
ein Anstaltsgeistlicher besuchen durfte. In München-Stadelheim übernahmen die Geistlichen<br />
Karl Alt und Ferdinand Brinkmann diese Aufgabe. Die Vollstreckungen fanden<br />
meistens am frühen Morgen statt. Der Gefangene wurde zur Hinrichtungsstätte geführt,<br />
wo man ihm das Urteil verlas; der Henker vollzog dann die Tötung. Die Hinrichtung wurde<br />
genau protokolliert und dauerte nur wenige Sekunden. Die Kosten für Haftaufenthalt,<br />
Hinrichtung und Vergütung des Scharfrichters hatten die Angehörigen des Opfers zu begleichen.<br />
Die Bestattung fand auf dem nahe gelegenen Friedhof Perlacher Forst statt. Es<br />
gab aber auch Überführungen der Leichname zu den medizinischen Instituten der Universitäten<br />
München und Würzburg.<br />
SCHLUSSBETRACHTUNG<br />
In einem Essay Betrachtungen zur Todesstrafe schrieb der französische Philosoph,<br />
Schriftsteller und Journalist Albert Camus (1913–1960) über die Todesstrafe: „Gewiß sie<br />
ist eine Strafe, eine entsetzliche physische und moralische Qual. Exemplarisch ist sie jedoch<br />
nur in einer Hinsicht: der Sittenverderbnis. Sie bestraft, aber sie verhütet nichts, ja,<br />
sie ist viel eher dazu angetan, Mordgelüste wachzurufen. Es ist als gäbe es sie nicht, außer<br />
für den, der sie erleidet, zunächst seelisch während Monaten und Jahren, und dann körperlich<br />
in jener verzweifelten und gewalttätigen Stunde, da er in zwei Stücke gehauen<br />
wird, ohne gleich das Leben zu verlieren. Wir wollen sie bei ihrem Namen nennen, einen<br />
Namen der ihr an Ermangelung eines anderen Adels wenigstens den der Wahrheit verleihen<br />
wird, wir wollen sie als das erkennen, was sie ihrem Wesen nach ist: Rache. – “ 183<br />
Für Camus bedeutete die Todesstrafe Mord. Ihm zufolge verwandelt der Staat damit einen<br />
Menschen in eine Sache – angeblich höheren Zwecken zuliebe.<br />
Der in Cambridge lehrende Historiker Richard J. Evans kam in seinem neuesten Werk<br />
über die deutsche Geschichte der Todesstrafe von 1532 bis 1987 zu dem Schluss, dass die<br />
Todesstrafe weltweit geächtet werden sollte, „da sie die menschliche Würde nicht fördert,<br />
sondern herabsetze und mit ihr den Staat, in dem sich die menschliche Gesellschaft organisiert<br />
hat." 184<br />
182 Über den Scharfrichter in München-Stadelheim J. Reichhart erschien am 18. Dezember 1948 im Berliner<br />
„Nachtexpreß“ folgende Nachricht: „Der sechsundfünfzigjährige Scharfrichter Johann Reichart, der bis<br />
1945 insgesamt rund 2500 Hinrichtungen durchgeführt hat, wurde gestern im Wiederaufnahmeverfahren<br />
von einer Münchner Spruchkammer in die Gruppe der Belasteten eingereiht. Reichhart wird auf zwei<br />
Jahre in ein Arbeitslager eingewiesen, wobei ihm die bisherige Haft von 18 Monaten abgerechnet wird.“<br />
Zitiert in: Poelchau, Harald (1987): Die letzten Stunden: 30. In der Zeit vom 1.2.–29.2.1944 bekamen er<br />
und seine Gehilfen für 25 Hinrichtungen insgesamt 3836,– RM ausgezahlt. In: Weisenborn, G. (1974):<br />
Der lautlose Aufstand: 253<br />
183 Camus Albert (1960): Fragen der Zeit. Auszug aus dem Essay „Betrachtungen zur Todesstrafe. In: Die<br />
Zeit Nr. 22 v. 23.5.2001: 13<br />
89
Literatur<br />
Alt, Karl (1994): Überschreiten von Grenzen. Strafgefängnis München-Stadelheim zwischen 1934 und 1945:<br />
Der evangelische Seelsorger und Zeitzeuge Karl Alt begleitet die zum Tode Verurteilten bis zur Hinrichtung<br />
(Texte, Briefe, Gespräche), überarbeitete Neuauflage nach der Originalausgabe: Karl, Alt, Todeskandidaten<br />
(1946). Hrsg. v. Werner Reuter. Verlag Ökologie & Pädagogik, München<br />
Angermund, Ralph (1993): „Recht ist, was dem Volke nutzt.“ Zum Niedergang von Recht und Justiz im Dritten<br />
Reich. In: Bracher, Karl Dietrich / Funke, Manfred / Jakobsen, Hans-Adolf (Hrsg.) (1993): Deutschland<br />
1933–1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft. Bundeszentrale für politische Bildung,<br />
Bonn: 57–75<br />
Barring, L. (1998): Die Todesstrafe in der Geschichte der Menschheit.<br />
Boberach, Heinz (Hrsg.) (1975): Richterbriefe. Boppard<br />
Bracher, Karl Dietrich / Funke, Manfred / Jakobsen, Hans-Adolf (Hrsg.) (1993): Deutschland 1933–1945.<br />
Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn<br />
Breitsameder, Wilhelm: Schreiben v. 18.2.1998 an Helga Pfoertner<br />
Camus, Albert (1960): Fragen der Zeit. Deutsch von Guido Meister. Rowohlt Verlag, Reinbek<br />
Dachs, Johann (1996): Tod durch das Fallbeil. Der deutsche Scharfrichter Johann Reichhart (1893–1972).<br />
Mittelbayerische Druckerei und Verlagsgesellschaft, Regensburg<br />
Dreßen, Willi (1990): Die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung der NS-Verbrechen<br />
in Ludwigsburg. In: Dachauer Hefte Nr. 6/ 1990: 85–93<br />
Dreßen, Willi (1998): Blinde Justiz – NS-Justizverbrechen vor Gericht. In: Weber, J. / Piazolo, M. (Hrsg)<br />
(1998): Justiz im Zwielicht. Günter Olzog Verlag, München: 77–96<br />
Eiber, Ludwig (1993): Polizei, Justiz, Verfolgung in München 1933–1945. In: München – „Hauptstadt der Bewegung“.<br />
Ein Projekt des Münchner Stadtmuseums. Ausstellungskatalog. Klinkhardt & Biermann, München:<br />
235–244<br />
Evans, Richard J. (2001): Rituale der Vergeltung. Die Todesstrafe in der deutschen Geschichte 1532 –1987.<br />
Kindler Verlag, Berlin, und Hamburger Edition, Hamburg<br />
Giordano, Ralph (1999): Perfekte Morde. In: Die Zeit, Nr. 37. v. 9.9.1999<br />
Gritschneder, Otto (1998): Furchtbare Richter. Verbrecherische Todesurteile deutscher Kriegsgerichte.<br />
Beck`sche Reihe Nr. 1272, München<br />
Gruchmann, Lothar (1988): Justiz im Dritten Reich 1933–1940. Anpassung und Unterwerfung in der Ära<br />
Gürtner. München<br />
Gruchmann, Lothar (1997): Die bayerische Justiz im politischen Machtkampf 1933/34. Ihr Scheitern bei der<br />
Strafverfolgung von Mordfällen in Dachau. In: Broszat, Martin / Fröhlich, Elke (Hrsg.): Bayern in der NS-<br />
Zeit, Band II, Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt. München u.a. : 415–428<br />
Haushofer, Albrecht (1976): Moabiter Sonette. Deutscher Taschenbuch Verlag, München<br />
Herbert, Ulrich (1996): Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903–<br />
1989. Verlag J. H. W. Dietz Nachfolger, Bonn<br />
Hoffmann, Hasso (2000): Gerechtigkeit ist keine Illusion. Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie.<br />
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt<br />
Jahntz, Bernhard (1998): Diener des Unrechts: Funktionen und Selbstverständnis der NS-Strafjustiz. In: Weber,<br />
J. und Piazolo, M. (Hrsg.) (1998): Justiz im Zwielicht. Günter Olzog Verlag, München: 39–64<br />
Koch, Hansjoachim (1987): Volksgerichtshof. Politische Justiz im Dritten Reich. München<br />
Müller, Ingo (1989): Furchtbare Juristen: Unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz. C. H. Beck, München<br />
Münch, Ingo von (Hrsg.) (1994): Gesetze des NS-Staates. Dokumente eines Unrechtssystems. UTB Wissenschaft,<br />
Verlag F. Schöningh, Paderborn<br />
184 Ullrich, Volker (2001): Theater des Grauens. In: Die Zeit Nr. 20 v. 10.5.2001: 46<br />
90
Oleschinski, Brigitte (1995): Gedenkstätte Plötzensee. Gedenkstätte Deutscher Widerstand Berlin (Hrsg).<br />
Berlin<br />
Ortner, Helmut (1993): Der Hinrichter. Roland Freisler – Mörder im Dienste Hitlers. Zsolnay Verlag, Wien<br />
Pfoertner, Helga (1997): Gedenkstätte Plötzensee. In: Gedenkstättenpädagogik. Handbuch für Unterricht und<br />
Exkursion. Hrsg. v. Museums-Pädagogischen Zentrum München und der Akademie für Lehrerfortbildung<br />
und Personalführung Dillingen. Löwen Druck, München: 68–72<br />
Poelchau, Harald (1982): Pfarrer am Schafott der Nazis: Der authentische Bericht des Mannes, der über 1000<br />
Opfer des Hitler-Regimes auf ihren Gang zum Henker begleitete. Hrsg. v. Werner Maser. Rastatt<br />
Poelchau, Harald (1987): Die letzten Stunden. Erinnerungen eines Gefängnispfarrers. Verlag Volk und Welt,<br />
Berlin<br />
Vieregg, Hildegard (1993): „Menschen seid wachsam.“ Mahnmale und Gedenkstätten für die Opfer der NS-<br />
Gewaltherrschaft 1933–1945. MPZ-Themenhefte zur Zeitgeschichte. Löwen Druck, München: 36–38<br />
Weber, Jürgen / Piazolo, Michael (Hrsg.) (1998): Justiz im Zwielicht. Ihre Rolle in Diktaturen und die Antwort<br />
des Rechtsstaates. Akademiebeiträge zur politischen Bildung, Akademie für politische Bildung, Tutzing.<br />
Günter Olzog Verlag, München<br />
Weisenborn, Günther (1974): Der lautlose Aufstand. Bericht über die Widerstandsbewegung des deutschen<br />
Volkes 1933–1945. Rowohlt-Verlag, Hamburg<br />
91
Kästner, Erich Dr. phil.<br />
*23.2.1889 Dresden †29.7.1974 München<br />
92<br />
„Es gibt nichts Gutes, außer: man tut es.“<br />
Erich Kästner<br />
Erich Kästner, 1959<br />
Foto: Stadtarchiv München<br />
Gedenktafel für Erich Kästner<br />
in der Fuchsstraße 2<br />
Foto: H. Engelbrecht
I. Gedenktafel, Fuchsstraße 2, Schwabing<br />
Münchner Freiheit U3/U6<br />
M (1998)<br />
II. Bronzebüste, Staatsgalerie Moderner Kunst, Lehel<br />
Odeonsplatz U2–U6 und Bus 53<br />
M (1959)<br />
III. Grabstätte auf dem Friedhof St. Georg, Bogenhausen: Sekt. 4a<br />
M (1974)<br />
IV. Erich-Kästner-Straße, Schwabing-West (4)<br />
M (1977)<br />
V. Erich-Kästner-Realschule, Petrarcastraße 1, 80933 München, Hasenbergl<br />
Hasenbergl U2<br />
M (1979)<br />
Zu I. Gedenktafel, Fuchsstraße 2, Schwabing<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Im Zusammenhang mit der Ehrung bekannter Personen, die sich durch ihr Schaffen für die<br />
Stadt München verdient gemacht haben, beschloss die Landeshauptstadt München im Jahre<br />
1988, eine Gedenktafel für Erich Kästner zu schaffen. Die Enthüllung dieser Gedenktafel<br />
am 17. November 1998 übernahm der Kulturreferent Professor Julian Nida-Rümelin.<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
Eine Bronzetafel mit den Maßen 45 cm × 65 cm, die das Porträt von Erich Kästner zeigt,<br />
trägt folgende Inschrift: „In diesem Haus wohnte von 1946–1953 der Schriftsteller Erich<br />
Kästner.“ Heute befindet sich hier ein Studentinnenheim des Bildungszentrums Aurach.<br />
INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER<br />
Die Gedenktafel schuf der Münchner Bildhauer Toni Preis.<br />
93
Zu II. Bronzebüste in der Staatsgalerie Moderner Kunst, Lehel<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Die Bronzebüste schuf der Münchner Bildhauer Theodor Frayer. Sie wurde anlässlich<br />
Erich Kästners 60. Geburtstages von der Landeshauptstadt München erworben und ist seit<br />
März 1959 in der Staatsgemäldesammlung im Haus der Kunst verwahrt.<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Kästner, der sich selbst als „Moralisten“ und „politischen Dichter“ einstufte, wird von<br />
dem Literaturhistoriker Heinz Kamnitzer als „satirischer Berichterstatter in Versen, als<br />
lakonischer Lyriker des 20. Jahrhunderts, dem jedes Pathos nicht nur fremd, sondern widerwärtig“<br />
gewesen ist, dargestellt. 185 Erich Kästner wurde am 23. Februar 1899 als einziger<br />
Sohn der Eheleute Ida (geb. Augustin) und Emil Kästner in Dresden geboren. Die<br />
Mutter war Hausfrau und Heimarbeiterin, der Vater Sattler in der industriellen Fertigung.<br />
In dem 1982 erschienenen Buch von Werner Schneyder wird auf die Abstammung Erich<br />
Kästners eingegangen: Demnach soll Kästner der leibliche Sohn des jüdischen Hausarztes<br />
der Familie, Dr. Zimmermann, gewesen sein; dieser emigrierte vor Kriegsbeginn nach<br />
Brasilien. Dies wurde von Friedel Siebert, der Mutter des leiblichen Sohnes Thomas von<br />
Erich Kästner, bestätigt. 186<br />
Erich Kästner wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Der Verdienst des Vaters lag unter<br />
dem Existenzminimum. Deshalb arbeitete die Mutter als Friseuse, um die soziale und<br />
finanzielle Lage der Familie zu bessern. Zusätzlich wurde noch ein Zimmer der Wohnung<br />
vermietet; Ida Kästner achtete darauf, dass die Untermieter Lehrer waren. Denn<br />
dies war der Beruf, den die Mutter für ihren Sohn ausgewählt hatte. Sie machte ihren<br />
Sohn zur zentralen Figur ihres Lebens. Vater Emil blieb in dieser engen Mutter-Sohn-<br />
Beziehung außen vor. Schon sehr früh interessierte sich Kästner für Bücher, ebenso begeistert<br />
turnte er. Seine Schulzeit war von Anfang an mit Erfolg gekrönt, der auf seinem<br />
starken Wissensdrang und Bildungswillen gründete. Zuhause half er seiner Mutter; er<br />
war ein verständiges und einsichtiges Kind. Über den Sanitätsrat Dr. Zimmermann sagte<br />
Erich Kästner später: „Er kannte mich, seit dem ich auf der Welt war.“ 187 Zimmermann<br />
half wohl auch bei finanziellen Problemen. Gemäß dem Wunsch der Mutter, den Lehrerberuf<br />
zu ergreifen, wurde Kästner ab Ostern 1913 Schüler des Lehrerseminars in Dresden.<br />
Doch der hier vorherrschende Drill und militärische Ton behagte ihm nicht. Bei<br />
185 Bemmann, Helga (1994): Erich Kästner. Leben und Werk: 254<br />
186 Schneyder, Werner (1982): Erich Kästner. Ein brauchbarer Autor: 20<br />
187 Bemmann, Helga (1994): Erich Kästner. Leben und Werk: 28<br />
94
Kriegsbeginn war er 15 Jahre alt und erlebt schon die Gestellungsbefehle an seine Mitschüler.<br />
Ihn traf es im Juli 1917:<br />
“Wir hatten Angst vor diesem Krieg.<br />
Dann zog man uns ein.<br />
Wir hatten Angst. Und hofften gar,<br />
es spräche einer halt!<br />
Wir waren damals achtzehn Jahr,<br />
und das ist nicht sehr alt.“ 188<br />
Es folgte die Militärausbildung. Die böswilligen Schikanen seiner Vorgesetzten hatten<br />
seinen körperlich-seelischen Zusammenbruch und schließlich seine vorzeitige Entlassung<br />
zu Folge; er kehrte zurück zu den Eltern nach Dresden. Doch mochte er die begonnene<br />
Ausbildung am Lehrerseminar nicht weiterführen; statt dessen erreichte er die Zustimmung<br />
der Mutter, auf das König-Georg-Gymnasium wechseln zu dürfen. Wegen seiner<br />
hervorragenden Leistungen erhielt Kästner das „Goldene Stipendium der Stadt Dresden“<br />
mit der Bedingung, in einer sächsischen Stadt zu studieren. In Leipzig begann er das Studium<br />
der Germanistik und der Theaterwissenschaft. Um sein weiteres Studium zu finanzieren,<br />
nahm er Tätigkeiten als Hilfsbuchhalter und Verkäufer an. Durch eine Glosse im<br />
„Leipziger Tagblatt“ wurde der Verlagsdirektor Richard Katz auf ihn aufmerksam und bot<br />
ihm eine Redakteurstelle an. Das finanziell so abgesicherte Studium konnte er erfolgreich<br />
am 25. Oktober 1924 abschließen. Kästner schrieb für verschiedenen Leipziger Magazine<br />
und auch für die in ganz Deutschland bekannte Familienzeitschrift „Beyers für alle“; hier<br />
erschienen einige seiner Gedichte, die der Zeichner Erich Ohser illustrierte. Mit letzterem,<br />
der den Künstlernamen „e.o. plauen“ führte, und mit Erich Knauf begann in diesen Jahren<br />
eine lebenslange Freundschaft. 189 Politische Satiren entstanden unter dem Pseudonym<br />
„Flint“ für das linksbürgerlich-pazifistische Blatt „Drachen“, bei dem u.a. Joseph Roth<br />
und Joachim Ringelnatz mitarbeiteten. 190 Einfluss auf seine literarische Arbeit nahmen in<br />
dieser Zeit der Kunst- und Literaturkritiker Hans Natonek und der Publizist Max Krell, die<br />
ihn förderten und ihm uneigennützig Kontakte vermittelten. 191<br />
Der 26-jährige Kästner erfüllte sich einen lange gehegten Wunsch: die Promotion zum Dr.<br />
phil. Sein Doktorvater Professor Wittkowski bewertete die Arbeit „als hoch über den<br />
Durchschnitt unserer germanischen Dissertationen stehend ein.“ 192 Kästners Tätigkeit in<br />
188 Bemmann, Helga (1994): Erich Kästner. Leben und Werk: 39<br />
189 Bemmann, Helga (1994): Erich Kästner. Leben und Werk: 66<br />
190 Bemmann, Helga (1994): Erich Kästner. Leben und Werk: 68<br />
191 Bemmann, Helga (1994): Erich Kästner. Leben und Werk: 71<br />
192 Bemmann, Helga (1994): Erich Kästner. Leben und Werk: 73<br />
95
der Redaktion der „Neuen Leipziger Zeitung“ wurde wegen eines zweideutigen Gedichtes<br />
– Abendlied eines Kammervirtuosen – gekündigt. Erich Ohser, der das Gedicht illustriert<br />
hatte, verlor ebenfalls seine Stelle. Im Herbst 1927 zog Kästner nach Berlin. Dort erhielt<br />
er von dem Leipziger Verleger Curt Weller erstmals ein Angebot, einen Gedichtband herauszugeben.<br />
Der gewählte Titel: Herz auf Taille, mit Zeichnungen von Erich Ohser. Der<br />
Band enthielt 49 ausgewählte Gedichte und fand Anklang, so dass die erste Auflage mit<br />
2000 Exemplaren bald verkauft war.<br />
Mitarbeiter der Berliner „Weltbühne“<br />
Der Schriftsteller Hermann Kesten berichtete über das erste Zusammentreffen mit Kästner<br />
bei der Witwe von Siegfried Jakobsohn, die die Absicht hatte, „... ihren Mitarbeitern<br />
Ideen für neue Artikel einzublasen.“ 193 „Ziemlich verloren stand ich bei meinem ersten<br />
Besuch im Salon der Weltbühnenwitwe herum, zwischen lauter Redakteuren und Mitarbeitern,<br />
Carl von Ossietzky, Kurt Tucholsky, Walter Mehring, Heinz Pol, Ernst Toller, Arnold<br />
Zweig, Lion Feuchtwanger, Werner Hegemann, Alfred Polgar und vielen bekannten<br />
Unbekannten, als der eben der Universität entronnene Rudolf Arnheim, ein jugendfrischer<br />
Redakteur der Weltbühne zu mir sagte: ,Sie wollen sicher Erich Kästner kennenlernen!´<br />
Ich schüttelte die Hand eines hübschen adretten jungen Mannes, der mich mit einem<br />
freundlich verschmitzten Lächeln begrüßte. Sogleich begannen wir ein langes Gespräch<br />
und unsere Freundschaft.“ 194<br />
Erich Kästner, der Kinderbuchautor<br />
Bei einem so genannten „Weltbühnentee“ regte Edith Jacobsohn, Chefredakteurin und zugleich<br />
Besitzerin des Kinderbuchverlages Williams & Co. Erich Kästner an, ein Kinderbuch<br />
zu schreiben. Seine angemeldeten folgenden Zweifel zerstreute sie mit folgenden<br />
Worten: „In Ihren Kurzgeschichten kommen häufig Kinder vor, davon verstehen Sie eine<br />
ganze Menge. Es ist nur noch ein Schritt. Schreiben sie einmal nicht über Kinder, sondern<br />
auch für Kinder!“ 195 Bereits im Herbst 1928 war der Kinderroman Emil und die Detektive,<br />
illustriert von Walter Trier, fertig. Dieser Roman, ein Kinderbuch-Bestseller, wurde mehrfach<br />
verfilmt, für Rundfunk und Bühne bearbeitet und in dreißig Sprachen übersetzt. Der<br />
Erfolg seiner Jugend- und Kinderbücher lag in der klaren, präzisen und verständlichen<br />
Sprache. Kästner, der nach dem Wunsch der Mutter Pädagoge werden sollte, wurde es nun<br />
auch in seinen Kinderbüchern, die zeigen, dass er an den Wert der Erziehung glaubte. Sei-<br />
193 Kesten, Hermann (1958): Freundschaftlicher Steckbrief für Erich Kästner. In: Süddeutsche Zeitung Nr.<br />
238 v. 4. 8. 1958. StadtA Mü ZA Personen<br />
194 Kesten, Hermann (1958): Freundschaftlicher Steckbrief für Erich Kästner. In: Süddeutsche Zeitung Nr.<br />
238 v. 4. 8. 1958. StadtA Mü ZA Personen<br />
195 Bemmann, Helga (1994): Erich Kästner. Leben und Werk: 104<br />
96
ne Überzeugung von der Macht der Erziehung und ihren Möglichkeiten stellte er in seinen<br />
Geschichten dar, um die Diskrepanz zwischen der Erwachsenen- und der Kinderwelt auszugleichen.<br />
Kästner erwartete von einem Kinderbuchautor, er solle „der Jugend die Sterne<br />
zeigen und deuten, den Zauber der Heimat und Glanz der Ferne heraufbeschwören und<br />
den Kompaß des Gewissens in die Hand drücken.“ 196 In diesen Jahren entstehen Theaterstücke,<br />
Bühnenwerke, Gedichte, der Roman Fabian (1931) und Kinderbücher.<br />
Beim Appell im Juli 1932, der die Forderungen der demonstrierenden Arbeiter und die<br />
Vorschläge der KPD unterstützte, war er einer der Unterzeichnenden. Prominente deutsche<br />
Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler wie Albert Einstein, Heinrich Mann,<br />
Ernst Toller, Arnold Zweig, Theodor Plievier, Käthe Kollwitz und viele andere waren der<br />
Meinung, dass alle den Nationalsozialismus ablehnenden Kräfte in den Parteien (der SPD<br />
und KPD) und in den Arbeiterorganisationen gemeinsam in der Lage wären, den Faschismus<br />
abzuwehren und erfolgreich parlamentarisch auszuschalten.<br />
Machtwechsel in Deutschland<br />
Kästner befand sich auf einer Urlaubsreise in der Schweiz, als am 27. Februar 1933 der<br />
Berliner Reichstag brannte. In Zürich kamen Flüchtlinge aus Deutschland an, die sich vor<br />
dem Zugriff der Nazis retten konnten. Die offiziellen Meldungen, wonach Kommunisten<br />
den Reichstag angezündet hätten, deutete er als innenpolitisch geplante Gewaltmaßnahme,<br />
um den Angriff auf politische Feinde als bloße Selbstverteidigung hinzustellen. 197<br />
Trotz aller Mahnungen und Warnungen konnte ihn niemand dazu bewegen, unter diesen<br />
Umständen nicht mehr nach Deutschland zurückzukehren. Welche Gründe hatte der politische<br />
Schriftsteller und Moralist Erich Kästner? Hermann Kesten, der im März 1933 nach<br />
Paris emigrierte, berichtete von einem Gespräch, das er kurz vor seiner Abreise mit Kästner<br />
führte: „Er erwiderte, er wolle bleiben, seiner Mutter wegen und um Augenzeuge der<br />
kommenden Gräuel zu sein, er wolle den Roman der Nazidiktatur schreiben, und er wolle<br />
dabeigewesen sein, als ihr künftiger Ankläger.“ 198<br />
Schon in den ersten Monaten der Gewaltherrschaft war er Zeuge von Verhaftungen und<br />
Festnahmen. Die Schriftsteller Carl von Ossietzky, Erich Knauf und Hans Otto waren bereits<br />
in „Schutzhaft“. Zunächst wusste er nicht, dass auch er bereits auf der Liste der „unerwünschten<br />
Autoren“ stand, die im Februar und März „reichseinheitlich“ im Auftrag des<br />
Propagandaministeriums zusammengestellt war, um die „unerwünschten Autoren für<br />
Druck und Bibliotheken auszuschalten“ und die Verbrennung der „marxistischen“ und<br />
„jüdischen“ Bücher vorzubereiten. Alle Werke Erich Kästners waren verboten, außer Emil<br />
196 Kästner, Erich (1977): Gesammelte Werke in sieben Bänden, Band 5: 512<br />
197 Bemmann, Helga (1994): Erich Kästner. Leben und Werk: 261<br />
198 Bemmann, Helga (1994): Erich Kästner. Leben und Werk: 262<br />
97
und die Detektive. Am 10. Mai 1933 erlebte er die Bücherverbrennung vor der Berliner<br />
Staatsoper unter den Linden als Zuschauer mit. Während in Deutschland Kästners Bücher<br />
verboten waren, erhielt er die offizielle Erlaubnis, im Ausland zu publizieren. In dieser Situation<br />
konnte er weder für noch gegen das Dritte Reich schreiben. In dieser Zeit waren<br />
im Ausland folgende Titel erschienen: Das fliegende Klassenzimmer (1933), Drei Männer<br />
im Schnee, Emil und die drei Zwillinge (1934), Die verschwundene Miniatur (1935), Doktor<br />
Erich Kästners Hausapotheke (1936), Georg und die Zwischenfälle, Till Eulenspiegel<br />
(1938). 199 Die Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Ruth Klüger bezeichnete die<br />
in den ersten Jahren der NS-Herrschaft entstandenen Bücher als „sehr gekonnte Kitschromane<br />
für Erwachsene“. 200 Kästner selbst rechtfertigte diese Bücher als „humoristische<br />
Romane“, die er „unter Kontrolle“ geschrieben habe. 201 Wie konnte Kästner in dieser von<br />
Schrecken und Gewalt gezeichneten Zeit aufheiternde Unterhaltungsliteratur hervorbringen?<br />
War es Realitätsflucht? Friedrich Dürrenmatt erklärte dies so: „Versagen, ein Sichflüchten<br />
in die Welt der Kinder – wirklich? Gibt es nur die Position des Helden, ist jede<br />
andere Position Feigheit? Im Griff der Gewalt herrscht eine andere Dialektik. Auch Negieren<br />
kann tödlich sein, stellt eine der Geheimwaffen des Geistes dar, nicht nur der Protest.“<br />
202 Auch Kästners Kinderromane kamen laut Ruth Klüger in die Kritik, denn sie<br />
„sind im Grunde sentimentale Bücher, die den gängigen Vorstellungen ihrer Entstehungszeit<br />
entsprechen. Sie sind oft unehrlich in ihrer Darstellung menschlicher Beziehungen,<br />
und was sie an ,Ethik´ enthalten, ist primitiv“. Interessant erschienen ihr die „äußerst witzigen<br />
Formulierungen, aber pädagogisch sind die anfechtbar.“ Sie seien aber „ausgezeichnete<br />
Unterhaltungsliteratur, d. h. sie reizen zum Weiterlesen und sind durchgehend<br />
amüsant“. 203 Was ihren Erfolg begründete, so Ruth Klüger.<br />
Vorerst konnte Kästner sein Leben durch die im Ausland verkauften Bücher, bis zu der<br />
Verordnung vom 23. November 1933 finanzieren. Diese Verordnung, die von der Gestapo<br />
an den Deutschen Bankenverband gerichtet war, lautete: „... die Konten von vierundvierzig<br />
Schriftstellern – es war eine namentliche Aufstellung beigefügt – zu sperren. Auf der<br />
Liste der Personen, deren Vermögen polizeilich beschlagnahmt war, standen unter anderem<br />
Bertolt Brecht, Max Brod, Leonhard Frank, Joseph Roth, Ernst Ottwalt, Anna Seghers,<br />
Oskar Maria Graf, Erich Kästner, Hermann Kesten, Erich Weinert, Arnold<br />
Zweig.“ 204 Bei seiner ersten Verhaftung wurde Kästner vorgeworfen, von Prag aus gegen<br />
199 Bemmann, Helga (1994): Erich Kästner. Leben und Werk: 271<br />
200 Klüger, Ruth (1996): Korrupte Moral. Kästners Kinderbücher: 64<br />
201 Kästner, Erich (1977): Gesammelte Werke in sieben Bänden, Band 3: 8. In: Klüger, Ruth (1996): Korrupte<br />
Moral: 64<br />
202 Bemmann, Helga (1994): Erich Kästner. Leben und Werk: 278<br />
203 Klüger, Ruth (1996): Korrupte Moral. Kästners Kinderbücher: 80<br />
204 Bemmann, Helga (1994): Erich Kästner. Leben und Werk: 280<br />
98
das NS-Regime geschrieben zu haben. Dies konnte er glaubhaft widerlegen. 205 Im Juni<br />
1937 wurde bei ihm eine Hausdurchsuchung vorgenommen und er musste ein dreistündiges<br />
Verhör im Polizeipräsidium am Alexanderplatz durchstehen. Seine Lebensgefährtin<br />
Luiselotte Enderle berichtete in ihrer Biographie über die gesundheitlichen Folgen, Magenkrankheit<br />
und Herzattacken, die sich bei Kästner nach dieser Maßnahme einstellten.<br />
Mit seinem Freund Walter Trier 206 , der als Emigrant in Österreich lebte, hatte er ein neues<br />
Buch geplant. Im August 1937 trafen sie sich, um u. a. an den Salzburger Festspielen teilzunehmen.<br />
Die ersten Aufzeichnungen mit dem Titel Der kleine Grenzverkehr oder Georg<br />
und die Zwischenfälle entstanden. Walter Trier hielt dazu in farbigen Bildern die Ansichten<br />
Salzburgs fest. In Salzburg traf er mit zwei Mitarbeitern der „Weltbühne“ zusammen<br />
und den im Exil tätigen Autoren Walter Mehring und Ödön von Horvath. Kästner berichtete<br />
ihnen über die aktuellen politischen und kulturellen Ereignisse in Deutschland.<br />
Die Frage Ödön von Horvaths, „Wollen Sie denn wirklich nach Deutschland zurück? Ich<br />
hätte davor zuviel Angst!“ 207 , ließ keinen Zweifel an dem Entschluss zu seiner Rückkehr<br />
aufkommen.<br />
Die so genannte „Reichskristallnacht“ erlebte Kästner in Berlin auf der nächtlichen Heimfahrt<br />
von seinem Stammcafé, am 9. November 1938, so: „Es klang als würden Dutzende<br />
von Waggons voller Glas umgekippt. Ich blickte aus dem Taxi und sah, links wie rechts,<br />
vor etwa jedem fünften Haus einen Mann stehen, der, mächtig ausholend mit einer langen<br />
Eisenstange ein Schaufenster einschlug ... Außer diesen Männern, die schwarze Breeches,<br />
Reitstiefeln und Ziviljackets trugen, war weit und breit kein Mensch zu entdecken ...“ 208<br />
Die neuen Machthaber brauchen einen Drehbuchautor<br />
Anlässlich des 25-jährigen Bestehens der Filmproduktionsgesellschaft UFA erhielt Kästner<br />
den Auftrag, das Drehbuch zum Film Münchhausen zu schreiben. Im Anschluss daran entstand<br />
das Manuskript zur Verfilmung Der kleine Grenzverkehr und Das doppelte Lottchen.<br />
Während der Dreharbeiten zum Kleinen Grenzverkehr widerrief die Reichskulturkammer<br />
am 25. Juli 1942 Kästners Sondergenehmigung als Schriftsteller tätig zu sein. Kästner hatte<br />
für den Staat einen anspruchsvollen Film zustande gebracht und wurde nun nicht mehr gebraucht.<br />
Der Film Münchhausen lief in den Kinos, ohne dass sein Name genannt wurde.<br />
Am 15. Januar 1944 wurde Kästners Wohnung durch Brandbomben zerstört. Er zog zu der<br />
Journalistin Luiselotte Enderle. Seine Musterung zum Volkssturm beschrieb er in seinem<br />
205 Bemmann, Helga (1994): Erich Kästner. Leben und Werk: 281<br />
206 Emigrierte über England nach Kanada, wo er im Juli 1951 starb.<br />
207 Bemmann, Helga (1994): Erich Kästner. Leben und Werk: 308<br />
208 Bemmann, Helga (1994): Erich Kästner. Leben und Werk: 311<br />
99
Tagebuch am 2. März 1945: „Der Stabsarzt fragte mich, während ich nackt und stramm<br />
vor ihm stand, nach Namen und Beruf. Er sagt dann: ,so, der Kästner sind Sie!´ Die Bemerkung<br />
verhieß nichts Gutes. Als ich dann aber von dem uralten Musterungsmajor, den<br />
ein Monokel zierte, erfuhr, daß ich für militärisch untauglich befunden und ausgemustert<br />
worden sei, wußte ich, daß mir der Arzt sehr gewogen sein mußte. Wie man Freunde hat,<br />
die einem nicht mehr kennen wollen, hat man, zum Ausgleich, andere, die man selber nicht<br />
kennt.“ 209 In den letzten Kriegsmonaten kam Kästner mit Unterstützung des UFA-Produktionsleiters<br />
Eberhard Schmidt auf abenteuerliche Weise nach Mayerhofen in Tirol, wo<br />
er bis zum Einmarsch der Amerikaner am 8. Mai 1945 geblieben ist.<br />
In München<br />
Ende Juni 1945 nahm Kästner in München Kontakte zu Schauspielern und dem Intendanten<br />
Otto Falckenberg auf. Die Jahre des erzwungenen Schweigens waren vorbei. Als Redaktionsleiter<br />
der „Neuen Zeitung“ trat er für einen demokratischen Neuaufbau ein und<br />
bot Intellektuellen und Schriftstellern ein Forum. Er gründete die Kabaretts „Die Schaubude“<br />
(1945) und „Die kleine Freiheit“ (1951).<br />
Warum hat Kästner die Dokumentation der Ereignisse, die er als authentischer Zeuge der<br />
Nachwelt hinterlassen wollte, nicht geschrieben? „... das ist schwer zu sagen. Vielleicht<br />
haben die aktuellen Verpflichtungen, die er erfüllen mußte, ihn zu stark belastet,“ so der<br />
Autor Heinz Stephan. 210<br />
In seinem Haus im Herzogpark feierte er am 23. Februar 1974 seinen 75. Geburtstag. Nach<br />
schwerer Krankheit stirbt Erich Kästner am 29. Juli 1974 in München.<br />
Ausstellung<br />
2. Juli - 31. Oktober 1999: Erich Kästner zum 100. Geburtstag. Gezeigt im Münchner<br />
Stadtmuseum.<br />
Ehrungen<br />
1956 Literaturpreis der Stadt München.<br />
1957 Georg-Büchner-Preis.<br />
1960 Hans-Christian-Andersen-Preis.<br />
1966 „Goldener Igel“. Humoristenpreis der bulgarischen Jugendzeitung<br />
„Narodna Mladesch“.<br />
209 Bemmann, Helga (1994): Erich Kästner. Leben und Werk: 338<br />
210 Stephan, Heinz (1974): In: Theater Rundschau 20 (1974) Nr. 9. StadtA Mü ZA Personen<br />
100
1968 Literaturpreis der Deutschen Freimaurer.<br />
1969 Ehrenmitglied der Wilhelm-Busch-Gesellschaft.<br />
1970 Kultureller Ehrenpreis der Stadt München.<br />
1974 Goldene Ehrenmünze der Stadt München.<br />
115 Schulen in Deutschland tragen seinen Namen.<br />
Stiftung<br />
1999 Das „Erich-Kästner-Kinderdorf“ in Oberschwarzach (Unterfranken) erhielt das<br />
gesamte Mobiliar des Hauses von Erich Kästner in München. 211<br />
Literatur<br />
Bemmann, Helga (1994): Erich Kästner. Leben und Werk. Ullstein, Frankfurt a. M., Berlin<br />
Chiu, Charles S. (1996): „Zwischen Eros und Tod – Ungewöhnliche Liebesgeschichten“. Verlag Carl Ueberreuter,<br />
Wien<br />
Ebbert, Birgit (1994): Erziehung zur Menschlichkeit und Demokratie.<br />
Enderle, Luiselotte (1993): Erich Kästner. Rowohlts Bildmongraphien, Reinbek bei Hamburg<br />
Ganz, Dagmar (1977): Erich Kästners Kinderbücher im Verhältnis zu seiner Literatur für Erwachsene. In:<br />
Lypp, Maria (Hrsg.) (1977): Literatur für Kinder. Studien über ihr Verhältnis zur Gesamtliteratur. Zeitschrift<br />
für Literaturwissenschaft und Linguistik, Beiheft 7<br />
Görtz, Franz Josef / Sarkowicz, Hans (1998): Erich Kästner. Piper Verlag, München<br />
Görtz, Franz Josef (Hrsg.) (1998): Erich Kästner. Werke in neun Bänden. Hanser Verlag, München<br />
Hanuscheck, Sven (1998): Keiner blickt dir hinter das Gesicht. Hanser Verlag, München<br />
Kästner, Erich / Lemke Horst (1993): Die Schildbürger. Dressler Verlag, Hamburg<br />
Kästner, Erich (1946): Bei Durchsicht meiner Bücher. Rowohlt Verlag, Stuttgart<br />
Kästner, Erich (1962): Erich Kästner-Buch. Bertelsmann Lesering, Gütersloh<br />
Kästner, Erich (1965): Gesammelte Werke in sieben Bänden. 3. Aufl., Atrium Verlag, Zürich<br />
Kästner, Erich (1965): Aus meiner Kindheit. Matthiesen Verlag, Lübeck<br />
Kästner, Erich (1972): Friedrich der Große und die deutsche Literatur. Kohlhammer Verlag, Stuttgart<br />
Kästner, Erich (1975): Aus einer kleinen Versfabrik. dtv, München<br />
Kästner, Erich /1975): „Was nicht in euren Lesebüchern steht.“ Hrsg. v. Wilhelm Rausch. Fischer Tb-Verlag<br />
Nr. 875, Frankfurt a. M.<br />
Kästner, Erich (1976): Auswahl. Dressler Verlag, Berlin<br />
Kästner, Erich (1977): Briefe aus dem Tessin. Die Arche, Zürich<br />
Kästner, Erich (1977): Als ich ein kleiner Junge war. Dressler Verlag, Hamburg<br />
Kästner, Erich (1983): Dreizehn Monate. Droemer, Knaur, München<br />
Kästner, Erich (1985): Emil und die Detektive. Emil und die drei Zwillinge. Deutscher Bücherbund, Stuttgart<br />
Kästner, Erich (1985): Erich Kästner erzählt. Betz Verlag, München<br />
Kästner, Erich (1986): Erich Kästner erzählt die wunderbaren Reisen und Abenteuer zu Wasser und zu Lande<br />
des Freiherrn von Hamburg. Dressler Verlag, Hamburg<br />
Kästner, Erich (1988): Don Quichotte. O. Maier Verlag, Ravensburg<br />
211 Otzelberger, Manfred (1999): In Süddeutsche Zeitung Nr. 44 v. 23.2.1999<br />
101
Kästner, Erich (1989): Fabian. Büchergilde Gutenberg, Frankfurt a. M.<br />
Kästner, Erich (1990): Gedichte. Büchergilde Gutenberg, Frankfurt a. M.<br />
Kästner, Erich (1990): Doktor Kästners lyrische Hausapotheke. Atrium Verlag, Zürich<br />
Kästner, Erich (1999): Möblierte Melancholie. Gedichte, Ansprachen, Interviews von und mit Erich Kästner.<br />
Der Hör-Verlag, 71 Min.<br />
Kästner, Erich (1975): Das große Erich-Kästner-Buch. Hrsg. v. Sylvia List. Piper Verlag, München, Zürich<br />
Kästner, Erich (1933): Das fliegende Klassenzimmer; (1934) Drei Männer im Schnee; (1934) Emil und die<br />
drei Zwillinge; (1935) Die verschwundene Miniatur; (1936) Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke;<br />
(1938) Georg und die Zwischenfälle. Späterer Titel: Der kleine Grenzverkehr; (1938) Till Eulenspiegel;<br />
(1939) Die Doppelgänger. Romanfragment; (1940) Chauvelin oder lang lebe der König!; (1940) Das<br />
Haus der Erinnerung; (1940) Das lebenslängliche Kind. Unter dem Pseudonym Robert Neuner nach dem<br />
Roman „Drei Männer im Schnee“ entstanden; Münchhausen. Drehbuch; Der kleine Grenzverkehr; Das<br />
doppelte Lottchen; (1943) Zu treuen Händen<br />
Kästner, Erich / Trier, Walter (2000): Der gestiefelte Kater. Atrium Verlag, Zürich<br />
Kästner, Erich (2001): Mein liebes Muttchen, Du! Dein oller Junge. Knaus Verlag<br />
Klüger, Ruth (1996): Korrupte Moral: Erich Kästners Kinderbücher. In: Klüger, Ruth (1996): Frauen lesen<br />
anders. Essays. Deutscher Taschenbuch Verlag, München: 63–82<br />
Kordon, Klaus (1995): Die Zeit ist kaputt. Die Lebensgeschichte des Erich Kästner. Beltz & Gelberg, Weinheim<br />
Plauen, e.o. (1997): Vater und Sohn. Bildgeschichten. Verlag Philipp Reclam jun., Stuttgart<br />
Schikorsky, Isa (1998): Erich Kästner. Deutscher Taschenbuch Verlag, München<br />
Schneyder, Werner (1982): Erich Kästner. Ein brauchbarer Autor. Kindlers Literarische Portraits. Kindler<br />
Verlag, München<br />
Wegner, Manfred (Hrsg.) (1999): „Die Zeit fährt Auto“. Erich Kästner zum 100. Geburtstag. DBL Berlin u.<br />
Münchner Stadtmuseum<br />
102
103<br />
Kalter Haus, Tal 19<br />
„... Ich bin schon seit einer Woche hier, aber ich kann mich nicht erholen, die letzten<br />
Monate waren eine ständige Qual für mich, erst recht die Zeit seit dem 9.11.<br />
Ich bin im größten Regen und Wind zwei Tage und zwei Nächte rumgeirrt<br />
(an der Grenze), konnte aber nicht rein ...<br />
Nun bin ich endlich hier, möchte aber so schnell wie möglich nach Amerika.“<br />
Brief vom 15. Dezember 1938 von Eda Kalter in Amsterdam<br />
an ihren Sohn in Amerika. 212<br />
Namensinschrift auf der Grabstätte<br />
der Familie Kalter<br />
(Neuer Israelitischer Friedhof)<br />
Foto: H. Engelbrecht<br />
Kalter Haus im Tal 19<br />
Foto H. Engelbrecht<br />
212 Zitiert nach: Zuber, Elfi (1997): Das Stammhaus steht im Tal. In: Münchner Stadtanzeiger Nr. 18: 14
I. Gedenktafel Kalterhaus<br />
Tal 19<br />
Sendlinger Tor S1–S8, U2/U3 und U6/U8<br />
II. Grabstätten auf dem Neuen Israelitischen Friedhof, Sekt. 12<br />
Garchinger Straße 37<br />
Studentenstadt U6<br />
Familie Kalter<br />
Kalter, Ernestine Eda<br />
*6.3.1885 München †2.11.1942 Auschwitz<br />
Kalter, Max<br />
*1906 München †1987 New York<br />
Kalter, Ludwig<br />
*4.5.1909 München †22.10.1995 München<br />
Zu I. Gedenktafel Kalterhaus<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
Am Haus im Tal 19 und am Eingang zum Haus in der Dürnbräugasse befindet sich ein<br />
blaues, mit weißen Linien eingerahmtes Schild mit der Aufschrift: „Kalter Haus, Goldene<br />
19, Tal 19“.<br />
Zu II. Grabstätten auf dem Neuen Israelitischen Friedhof<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
Die Grabinschrift für das Ehepaar Kalter lautet: „Jakob Kalter geb. 15. Nov. 1879, gest.<br />
20. Jan. 1925. Es heißt nicht sterben, lebt man im Herzen der Menschen weiter, die man<br />
verlassen mußte. Ernestine Eda Kalter, geb. Nagel, geb. 6. März 1885, gest. 2. Nov. 1942.<br />
Ein Opfer der Verfolgungszeit. Ihr Vorbild, ihre Liebe und Arbeit leben weiter.“<br />
Die Grabinschrift für Ludwig Kalter lautet: „Zum ewigen Gedenken an einen großen<br />
Wohltäter und Humanisten, Ludwig Kalter geb. 4.5.1909 in München, gest. 22.10.1995.<br />
Du warst die Liebe und das Licht, das selbst im Tode nicht erlischt. Wir werden nie aufhören<br />
dich zu lieben, als wärst du niemals von uns geschieden.“<br />
104
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Der jüdische Geschäftsmann Pinkus Kalter hatte ein Geschäft für Herren- und Knabenkleidung<br />
in Rzeszow in Polen gegründet. 213 1895 erfolgte die Verlegung des Geschäfts<br />
nach München, in das Haus im Tal Nr. 19, weitere Filialen gab es in der Sendlingerstraße.<br />
1901 überschrieb Kalter das bekannte und populäre Herrenbekleidungsgeschäft<br />
„Goldene 19“ seinem Sohn Jakob. Geschickt verstand dieser, die Hausnummer „19“<br />
werbewirksam einzusetzen; so betrug der Höchstpreis für ein Kleidungsstück 19<br />
Reichsmark. Jakob Kalter und Ernestine Eda Nagel heirateten im Jahre 1905. Ihre Kinder<br />
waren: Max (*1906), Ludwig (*1909), Luise (*1910), Lene (*1913) und Sophie<br />
(*1915). 214 Jakob Kalter war im Ersten Weltkrieg eingesetzt, während seine Frau das<br />
Geschäft weiterführte. Gesundheitlich angeschlagen kehrte er aus dem Krieg zurück<br />
und starb 1925 im Alter von nur 45 Jahren. Das 40-jährige Firmenjubiläum wurde 1935<br />
noch mit einer großen Feier begangen. Die antijüdischen Maßnahmen führten jedoch<br />
bereits dazu, dass der älteste Sohn Max 1937 nach New York in die USA emigrierte.<br />
Ludwig Kalter konnte noch vor dem Pogrom 1938 ausreisen. Die Fensterscheiben des<br />
Geschäftes im Tal 19 wurden in der Pogromnacht eingeschlagen. Mutter Eda Kalter begab<br />
sich am 9. November 1938 auf die Flucht. Sie gelangte mit ihrer jüngsten Tochter<br />
Sophie nach Amsterdam, wo sie in einem Versteck lebte. In ihren verzweifelten Briefen<br />
an ihren Sohn richtete sie den dringenden Wunsch: „... ich möchte aber so schnell wie<br />
möglich nach Amerika.“ 215<br />
Vom November 1938 bis Juli 1942 lebte Eda Kalter illegal in Amsterdam, bis sie von einem<br />
holländischen Nachbarn denunziert wurde. Sie erhielt für den 15. Juli 1942 eine amtliche<br />
Vorladung in die Gestapoleitstelle 216 ; dort stellte man sie unter Arrest. Ihr Sohn Max<br />
Kalter hat später bei seinen Nachforschungen herausgefunden, dass seine Mutter nach<br />
Auschwitz deportiert und dort am 2. November 1942 ermordet wurde. 217<br />
Firmengeschichte und Lebensgeschichte von Max und Ludwig Kalter<br />
Das „Kalterhaus im Tal 19“ wechselte nach dem Pogrom 1938 zur Firma „Gustav Lenkeit<br />
& Co.“ Die Rückerstattung des Anwesens Tal 19 an die Überlebenden Max und Ludwig<br />
Kalter fand am 25. Januar 1949 statt. 218<br />
213 Zuber, Elfi (1997): Das Stammhaus steht im Tal: 14<br />
214 Zuber, Elfi (1997): Das Stammhaus steht im Tal: 14<br />
215 Zuber, Elfi (1997): Das Stammhaus steht im Tal: 14<br />
216 Zuber, Elfi (1997): Das Stammhaus steht im Tal: 14<br />
217 Zuber, Elfi (1997): Das Stammhaus steht im Tal: 14<br />
218 Zuber, Elfi (1997): Das Stammhaus steht im Tal: 14<br />
105
Max Kalter hatte die höhere Handelsschule besucht, absolvierte eine Ausbildung im<br />
Bankwesen und besuchte Textilschulen in Cottbus, Berlin und Düsseldorf. Bis zur Emigration<br />
1937 war er im elterlichen Herrenbekleidungsgeschäft tätig. In New York gründete<br />
er ein Damenspezialgeschäft. 1981 wurde Max Kalter vom Bürgermeister der Stadt New<br />
York zum Mitglied der „Majors Task Force for the Erection of a Holocaust Memorial in<br />
New York“ ernannt. 219 Er starb 1987 in New York.<br />
Ludwig Kalter kehrte nach Kriegsende wieder nach München zurück. Hier setzte er sich<br />
für die Deutsche Suchthilfe ein und gründete als ehrenamtlicher Alleingesellschafter von<br />
„Daytop“, „Phönix“ und „Seca“ etwa 40 Kliniken. Kalter war erster Vorsitzender des<br />
Fachverbandes „Freier Einrichtungen in der Suchtarbeit“ (FES) und der Telefonnotrufe.<br />
„Einen Telefonnotruf brachte er in den Räumen seines Hauses Tal 19 unter.“ 220 Nach seinem<br />
Tod hob der Gründer der Suchthilfe Dr. Ulrich Johannes Osterhues die Verdienste<br />
des Wohltäters und Mentors Ludwig Kalter hervor: „Die Suchthilfe in Deutschland hatte<br />
einen bedeutenden Mentor, ich habe einen väterlichen Freund verloren. Ludwig Kalter<br />
hat Spuren in seinem Leben hinterlassen – Spuren auf guten Wegen. Er liebte die großen<br />
Worte nicht ... Fakt ist, dass Daytop und Phönix ohne Ludwig Kalter niemals so erfolgreich<br />
geworden wären. Sein Anliegen war jedoch nicht der große Erfolg an sich, sondern<br />
die erfolgreiche Hilfe für Menschen in Not ... Er führte ein erfülltes und beispielgebendes<br />
Leben ...“ 221<br />
Literatur<br />
Kalter, Max (1980): Hundert Jahre Ostjuden in München 1880–1980. In: Lamm, Hans (1982): Vergangene<br />
Tage. Jüdische Kultur in München. Langen Müller Verlag, München, Wien: 394–399<br />
Selig, Wolfram (1993): Judenverfolgung in München 1933–1941. In: „München – Hauptstadt der Bewegung.“<br />
Ein Projekt des Münchner Stadtmuseums. Ausstellungskatalog. Klinkhardt & Biermann, München:<br />
398–410<br />
Zuber, Elfi (1997): Die Geschichte der jüdischen Familie Kalter. In: drogen-report 18 (1997) Nr. 3/1997: 30–<br />
31<br />
Zuber, Elfi (1997): Das Stammhaus steht im Tal. Die tragische Geschichte der Kaufmannsfamilie Kalter. In:<br />
Münchner Stadtanzeiger Nr. 18. v. 30. April 1997: 14<br />
219 Lamm, Hans (1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München: 502<br />
220 Zuber, Elfi (1997): Das Stammhaus steht im Tal: 14<br />
221 Zitiert nach Zuber, Elfi (1997): Das Stammhaus steht im Tal: 14<br />
106
Klee, Paul<br />
*18.12.1879 Münchenbuchsee bei Bern †29.6.1940 Muralto-Locarno<br />
Gedenktafel in der Feilitzschstraße 3<br />
Foto H. Pfoertner<br />
222 Giedion-Welcker, Carola (1991): Paul Klee: 64<br />
„Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.“<br />
Paul Klee, Vortrag in Jena, 1924 222<br />
Paul Klee<br />
Foto: Süddeutscher Verlag<br />
107
I. Paul-Klee-Straße, Parkstadt Solln<br />
M (1964)<br />
II. Gedenktafel<br />
Feilitzschstraße 3, Schwabing<br />
Münchner Freiheit U3/U6 und Bus 36<br />
M (1975)<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
An der Fassade des Hauses Feilitzschstraße 3 befindet sich eine Gedenktafel für Paul Klee<br />
mit folgendem Text. „Der Maler und Graphiker Paul Klee hatte in diesem Haus sein Atelier<br />
von 1908–1919.“<br />
INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER<br />
Die Gedenktafel schuf der Münchner Bildhauer Eugen Weiß.<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Jugendjahre 1879–1898<br />
Paul Klee kam als zweites Kind der Eheleute Ida (geb. Frick) und Hans Klee am 18. Dezember<br />
1879 in Münchenbuchsee im Kanton Bern (Schweiz) auf die Welt. Seine Mutter stammte<br />
aus Basel, der Vater aus Thüringen, der als Musikpädagoge in Bern am Lehrerseminar in<br />
Hochwill tätig war und dieses bis ins hohe Alter betreute. Schon früh zeigte sich Pauls zeichnerisches<br />
Talent, das seine Mutter förderte. Auf Wunsch des Vaters kam der Sohn an das<br />
literarische Gymnasium in Bern, wo ihn die griechische Sprache und Literatur neben der<br />
französischen fesselte und lebenslang begeisterte. Bei seinen Mitschülern war er wegen seiner<br />
kecken Karikaturen sehr beliebt; besonders bestaunt aber wurde sein Geigenspiel, das<br />
Paul Klee meisterhaft beherrschte und das ihm schon bald einen Platz im städtischen Orchester<br />
sicherte. Die Wahl, ob er sich für eine Zukunft als Musiker oder Zeichner und Maler<br />
entscheiden sollte, fiel ihm daher nicht leicht. Klee entschied sich fürs Malen. Die Musik begleitete<br />
ihn jedoch sein ganzes Leben lang und spielte für seine Kunst eine wichtige Rolle.<br />
Kunststudien in München und Bern 1898–1914<br />
Um sich auf das Kunststudium vorzubereiten, lernte Klee zunächst in einer privaten<br />
Münchner Zeichenschule bei Heinrich Knirr. Im Oktober 1900 bekam er die Zulassung an<br />
die Münchner Akademie und trat in die Klasse von Franz von Stuck ein, wo auch Wassily<br />
108
Kandinsky studierte. Klee kehrte nach Bern zurück. Es folgten Studienreisen nach Italien.<br />
1905 unternahm Klee mit dem Schweizer Maler Louis Moilliet ein Reise nach Paris, wo<br />
ihn die Werke älterer Meister beeindruckten. Die Werke französischer Impressionisten<br />
(Cézanne, Daumier, Toulouse-Lautrec, Ensor) lernte er durch verschiedene Ausstellungen<br />
in München kennen. Hier hatte er sich nach seiner Heirat (1906) mit der Pianistin Lily<br />
Stumpf niedergelassen. In dieser Zeit erarbeitete er sich seine künstlerischen Grundlagen<br />
und äußerte sich dazu in einem Tagebucheintrag von 1909: „Wenn bei meinen Sachen<br />
manchmal ein primitiver Eindruck entsteht, so erklärt sich diese Primitivität aus meiner<br />
Disziplin, auf wenige Stufen zu reduzieren. Sie ist nur Sparsamkeit als letzte professionelle<br />
Erkenntnis, also das Gegenteil von wirklicher Primitivität.“<br />
1911 fand in der Galerie Thannhauser in München die erste Paul-Klee-Ausstellung statt.<br />
Seit dieser Zeit listete Klee alle seine Werke bis zu seinem Lebensende auf. Im gleichen<br />
Jahr machte er die Bekanntschaft mit dem Kreis des „Blauen Reiters“. Neben Wassily<br />
Kandinsky lernte er August Macke, Alexej von Jawlensky, Franz Marc, Gabriele Münter,<br />
Marianne von Werefkin, Alfred Kubin und Heinrich Campendonk kennen. Vom 12. Februar<br />
bis April 1912 nahm er an der zweiten Ausstellung der neu gegründeten Künstlergruppe<br />
in der Münchner Galerie Goltz teil, die aus der Redaktion des Almanachs mit dem<br />
Namen „Blauer Reiter“ hervorgegangen war, und die nur auf grafische Arbeiten spezialisiert<br />
war. Während eines Aufenthalts in Paris besuchte er Robert Delaunay, einem Hauptvertreter<br />
des Orphismus 223 und Karl Hofer, einen Vertreter der Neuen Sachlichkeit. Er begegnete<br />
in Paris den Werken von Henri Matisse, Pablo Picasso und Henri Rousseau. Seit<br />
1914 wirkte er als Mitbegründer der „Neuen Münchner Sezession“. Im April desselben<br />
Jahres unternahmen Klee, August Macke und Louis Moilliet eine Reise nach Tunis und<br />
Kairouan. Während dieser Reise entdeckte Klee seinen Weg zur Farbe über die Technik<br />
der Aquarellmalerei. Gleichzeitig fand er zu einer reduzierten Bildsprache. Angeregt<br />
durch Robert Delaunays Fensterbilder setzte er geometrische Farbflächen ein, die zusammen<br />
mit reinen Farbkontrasten Stimmung und Farbklang erzeugten.<br />
Die Zeit des Ersten Weltkrieges 1914–1918<br />
Mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges trennten sich die Wege der Künstler: Wassily<br />
Kandinsky, Alexej Jawlensky und Marianne von Werefkin mussten als russische Staatsbürger<br />
Deutschland verlassen. Franz Marc und August Macke melden sich als Kriegsfreiwillige<br />
und wurden im Frankreichfeldzug eingesetzt. August Macke, Klees engster<br />
Freund, fiel am 26. September 1914 in der Champagne. Franz Marc wurde am 4. März<br />
1916 während eines Erkundungsritts vor Verdun bei einem Granateinschlag tödlich verletzt.<br />
Paul Klee erhielt seine Einberufung zum Militärdienst am gleichen Tag wie die<br />
223 Eine Kunstrichtung, die die Farbe als wichtigstes Ausdrucksmittel bildnerischer Gestaltung erklärt.<br />
109
Nachricht vom Tod seines Künstlerfreundes Franz Marc, beides am 11. März 1916. Nach<br />
der Rekruten-Ausbildung in Landshut kam er im August 1916 zur Werftkompanie der<br />
Fliegerersatz-Abteilung in Schleißheim, wo er Reparatur-, Anstreicharbeiten wie die<br />
Tarnanstriche von Flugzeugen und handwerkliche Hilfsarbeiten verrichtete sowie den<br />
Transport von Flugzeugen begleitete. Von der Flugwerft in Schleißheim kam er in die neu<br />
gegründete Fliegerschule von Gersthofen bei Augsburg, wo er bis über das Kriegsende hinaus<br />
in der Kassenverwaltung des Flugplatzes eingesetzt war. Neben seinem Militärdienst<br />
fand Klee Gelegenheit, weiter künstlerisch zu arbeiten.<br />
Lehrtätigkeit am Bauhaus 1921–1931<br />
Im November 1920 erhielt Paul Klee vom Gründer des Staatlichen Bauhauses 224 in Weimar,<br />
dem Architekten Walter Gropius, einen Ruf an sein Haus. Klee folgte der Berufung und leitete<br />
seit 1921 verschiedene Werkstätten, hielt Kurse in Gestaltungslehre und lehrte Aktzeichnen.<br />
Zugleich war er schriftstellerisch tätig und verfasste kunsttheoretische Werke.<br />
Über seine gestalterischen Ziele gab er in einem Jenaer Vortrag (1924) Auskunft: „Wollte<br />
ich den Menschen geben, so ,wie er ist´, dann brauchte ich zu dieser Gestaltung ein so verwirrendes<br />
Liniendurcheinander, daß von einer elementaren Darstellung nicht die Rede sein<br />
könnte, sondern eine Trübung bis zur Unkenntlichkeit einträte. Außerdem will ich den Menschen<br />
auch gar nicht geben wie er ist, sondern nur so, wie er auch sein könnte“.<br />
Er nahm an Ausstellungen in München (1920), Wiesbaden und Berlin (1922) teil. Im Jahr<br />
der Übersiedelung des Bauhauses nach Dessau (1925), beteiligte er sich in Paris an der<br />
ersten Gruppenausstellung der Surrealisten. In seiner kunsttheoretischen Schrift Wege des<br />
Naturstudiums (1923) definiert er zugleich die Rolle des Künstlers in der Gesellschaft:<br />
„Der heutige Künstler ist mehr als eine verfeinerte Kamera, er ist komplizierter, reicher,<br />
räumlicher. Er ist Geschöpf auf der Erde und Geschöpf innerhalb des Ganzen, das heißt<br />
Geschöpf auf einem Stern unter Sternen.“ 225<br />
1931 löste Klee den Vertrag mit dem Staatlichen Bauhaus in Dessau und übernahm eine<br />
Professur an der Staatlichen Kunstakademie in Düsseldorf.<br />
Die erzwungene Emigration 1933<br />
Die Nationalsozialisten griffen das künstlerische Schaffen Paul Klees heftig an. Es folgte<br />
bereits am 1. April 1933 seine Entlassung aus dem Lehramt an der Düsseldorfer Akademie<br />
224 1919 von Walter Gropius gegründet. Architektur, bildende Kunst und Kunsthandwerk sollten zusammengeführt<br />
werden, um die Einheit zwischen den visuellen Künsten und dem Handwerk wiederherzustellen.<br />
An dieser Schule waren herausragende Künstler der Zeit versammelt. Das Bauhaus wurde 1933 von den<br />
Nationalsozialisten geschlossen.<br />
225 Giedion-Welcker, Carola (1991): Paul Klee: 64. Auch in: Klee, Paul (1923): Wege des Naturstudiums:<br />
110
der Künste. Diese hoffnungslose Situation führte dazu, dass Klee sich in das erzwungene<br />
Exil nach Bern begab. Klee emigrierte am 23. Dezember 1933 mit seiner Familie. Seine<br />
persönliche Meinung dazu lautete: „Meine Herren, es riecht in Europa bedenklich nach<br />
Leichen.“ 226 Seine Entlassung aus dem Lehramt an der Akademie in Düsseldorf wurde in<br />
der nationalsozialistischen Zeitung „Deutsche Kulturwacht“ als wichtige Etappe zur Befreiung<br />
der von „artfremden Elementen geknebelten deutschen Kunst“ bejubelt.<br />
Lebensjahre im Schweizer Exil von 1933–1940<br />
Im Jahre 1934 hatte Klee seine erste große Ausstellung in England in der Mayor Gallery,<br />
London. Die in Deutschland von Will Grohmann veröffentlichten Paul Klee Handzeichnungen<br />
1921–1930 konfiszierte die Geheime Staatspolizei. Mehr als hundert seiner Werke,<br />
die bis dahin von deutschen Museen erworben waren, wurden beschlagnahmt und aus<br />
den Museen entfernt – als „entartet“ diffamiert.<br />
In der am 19. Juli 1937 eröffneten Ausstellung „Entartete Kunst“ 227 im alten Galeriegebäude<br />
der Hofgartenarkaden der Residenz in München waren 17 Werke von Paul Klee<br />
ausgestellt. Zu diesen gehörte Der goldene Fisch, 1925. Die ausgestellten Werke erhielten<br />
von den Nationalsozialisten beleidigende Titel wie „Verwirrung“ und „Krankheit“. Im<br />
Begleitheft zur Ausstellung war Klees Aquarell Die Heilige vom Inneren Licht abgebildet<br />
und mit der Arbeit eines Schizophrenen verglichen worden. Weitere Ausführungen rückten<br />
Klees Kunst in die Nähe des seelisch-krankhaften. 228 Insgesamt wurden 102 seiner<br />
Werke in deutschen Museen beschlagnahmt. 229<br />
Paul Klee führte ein völlig zurückgezogenes, der Meditation und Arbeit gewidmetes Leben.<br />
In Bern entstand ein umfangreiches Werk in großer stilistischer und inhaltlicher Vielfalt.<br />
Seine Künstlerfreunde Pablo Picasso, George Braque, Ernst Ludwig Kirchner und<br />
Wassily Kandinsky – mit letzterem verband ihn seit der Bauhauszeit eine enge Freundschaft<br />
– besuchten ihn in seinem Schweizer Exil. Im Jahre 1937 während der Berner Kandinsky-Ausstellung<br />
kamen die Freunde noch einmal zusammen. Klees geplante Reise<br />
nach Paris kam wegen seines schlechten Gesundheitsstandes nicht mehr zustande. Klee<br />
litt an der unheilbaren Krankheit Sklerodermie. Sein bildnerisches Werk dieser Jahre war<br />
erfüllt von seelischer Erlösung sowie vom nahenden Tod geprägt. Klee „erlebte und ahnte<br />
226 Giedion-Welcker, Carola (1991): Paul Klee: 95<br />
227 Die Nationalsozialisten übertrugen den Vorwurf einer krankhaften „Entartung“ auf die moderne Kunst<br />
mit allen Stilrichtungen bis hin zur Abstraktion. In der Münchner Ausstellung waren Werke von 113 verfemten<br />
Künstlern vertreten.<br />
228 Der so genannten Säuberungsaktion fielen 17 000 Kunstwerke (Ernst Piper, 1983) zum Opfer. Zur Devisenbeschaffung<br />
sind die Werke am 30. Juni 1939 in Luzern (Schweiz) versteigert worden. Damit konnte<br />
eine Vielzahl gerettet werden.<br />
229 Beispiele Kunst in der Verfolgung, hrsg. v. Norbert Berghof. Neckar-Verlag, Villingen<br />
111
den Tod wie das Leben in tausendfältigen Gesichtern.“ 230 Er schuf Serien mit dem Thema<br />
Engel und widmete sich damit dem Übergang des Menschen zu einem himmlischen Wesen.<br />
Damit wird Klees Streben, das die Sehnsucht des Menschen nach einer zeitlos-geistigen<br />
Existenz verkörpert, offenbart.<br />
Am 29. Juni 1940 starb Paul Klee in einer Klinik in Muralto-Locarno in der Schweiz.<br />
Auf seinem Grabstein ist ein Zitat aus seinem Tagebuch eingraviert: „Diesseitig bin ich<br />
gar nicht fassbar, denn ich wohne grad so gut bei den Toten wie bei den Ungeborenen,<br />
etwas näher der Schöpfung als üblich und noch lange nicht nahe genug. Denn ich wohne<br />
gerade so gut bei den Toten wie bei den Ungeborenen. Etwas näher dem Herzen als üblich.<br />
Und noch lange nicht nahe genug.“<br />
Ausstellungen<br />
1954: Paul-Klee-Ausstellung. Gezeigt im Haus der Kunst, München.<br />
1962: Entartete Kunst – Bildersturm vor 25 Jahren. Gezeigt im Haus der Kunst,<br />
München.<br />
1970: Paul Klee 1897–1940. Gezeigt im Haus der Kunst, München.<br />
1979/80: Paul Klee. Das Frühwerk 1883–1922. Gezeigt von der Städtischen Galerie im<br />
Lenbachhaus, München.<br />
1988: Paul Klee. Die Sammlung Berggruen. Gezeigt im Metropolitan Museum, New<br />
York und im Musée National d´Art Moderne Paris und in der Kunsthalle Tübingen.<br />
8. Mai – 30. September 1997: Paul Klee in Schleißheim. Und ich flog. Gezeigt im<br />
Deutschen Museum, Flugwerft Schleißheim, Sonderausstellung.<br />
7. September 1997 – 11. Januar 1998: Deutschlandbilder. Kunst aus einem geteilten<br />
Land. Gezeigt im Martin-Gropius-Bau, Berlin.<br />
30. Juli – 7. November 1999: Paul Klee und seine Weggefährten. Gezeigt im<br />
Schlossmuseum Murnau a. Staffelsee.<br />
8. Februar - 4. März 2003: Paul Klee 1933. In Zusammenarbeit mit der Berner Paul-Klee-<br />
Stiftung, gezeigt von der Städtischen Galerie im Lenbachhaus, München.<br />
Literatur<br />
Benz-Zauner, Margareta (1984): Werkanalytische Untersuchungen zu den Tunesien-Aquarellen Paul Klees.<br />
Frankfurt a. M.<br />
Busch, Günter (1969): Entartete Kunst. Geschichte und Moral. Societäts-Verlag, Frankfurt a. M.<br />
230 Giedion-Welcker, Carola (1991): Paul Klee: 97<br />
112
Deutsches Museum München (Hrsg.) (1997): Paul Klee in Schleißheim. Und ich flog. Konzept u. Aufbau v.<br />
Benz-Zauner, Margareta / Cichowski, Sabine / Heinzerling, Werner / Holzer, Hans / Filchner, Gerhard.<br />
Bruckmann Verlag, München<br />
Dückers, Alexander (1997): Zu Paul Klees späten Werkfolgen. In: Gillen, Eckhart (Hrsg.) (1997): Deutschlandbilder.<br />
Kunst aus einem geteilten Land: 76<br />
Frey, Stefan / Kersten, Wolfgang / Klee, Alexander (Hrsg.) (2001): Klee-Studien. Beiträge zur internationalen<br />
Paul-Klee-Forschung und Edition historischer Quellen. Band 1. ZIP-Verlag, Zürich<br />
Geelhaar, Jürgen (1974): Paul Klee, Leben und Werk. Köln<br />
Giedion-Welcker, Carola (1991): Paul Klee mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rowohlt, Reinbek b.<br />
Hamburg<br />
Gillen, Eckhart (Hrsg.) (1997): Deutschlandbilder. Kunst aus einem geteilten Land. Katalog zur zentralen<br />
Ausstellung. Du Mont Verlag, Köln<br />
Giordano, Mario (2001): Der Mann mit der Zwitschermaschine – Augenreise mit Paul Klee. Aufbau Verlag,<br />
Berlin<br />
Glaesemer, Jürgen (1976): Paul Klee. Die farbigen Werke im Kunstmuseum Bern. Bern<br />
Glaesemer, Jürgen / Huggler, Max (Hrsg.) (1977): Der pädagogische Nachlaß von Paul Klee. Bern<br />
Glaesemer, Jürgen (1987): Paul Klee und die deutsche Romantik. In: Paul Klee. Leben und Werk. Ausstellungskatalog<br />
hrsg. v. d. Paul-Klee-Stiftung, dem Kunstmuseum Bern und dem Museum of Modern Art,<br />
New York<br />
Haftmann, Werner (1950): Paul Klees Wege des bildnerischen Denkens. Prestel Verlag, München<br />
Hausenstein, Wilhelm (1921): Kairuan oder die Geschichte vom Maler Klee und von der Kunst dieses Zeitalters.<br />
München<br />
Helfenstein, Josef / Frey, Stefan (1990): Paul Klee. Das Schaffen im Todesjahr. Katalog zur Ausstellung im<br />
Kunstmuseum Bern. Bern<br />
Hoppe-Sailer, Richard (1993): Paul Klee. Ad Parnassum. Eine Kunst-Monographie. Insel Tb, Frankfurt a. M.<br />
Kandinsky, Wassily / Marc, Franz (Hrsg.) (1979): Der blaue Reiter. Neuausgabe von Klaus Lankheit. München<br />
Kersten, Wolfgang (1986): Paul Klees Beziehung zum „Blauen Reiter“. In: Der Blaue Reiter. Kunstmuseum<br />
Bern (Katalog), Bern<br />
Kersten, Wolfgang (1990): „Übermut“. Allegorie der künstlerischen Existenz. Rowohlt, Reinbek b. Hamburg<br />
Kersten, Wolfgang (Hrsg.) (2000): Das „Skizzenbuch Bürgi“, 1924/25. ZIP-Verlag, Zürich<br />
Klee, Felix (Hrsg.) (1960): Paul Klee. Leben und Werk in Dokumenten. Ausgewählt aus den nachgelassenen<br />
Aufzeichnungen und den unveröffentlichten Briefen. Zürich<br />
Klee, Felix (Hrsg.) (1979): Paul Klee. Briefe an die Familie. 2 Bände. Köln<br />
Klee, Paul (1970): Unendliche Naturgeschichte. Prinzipielle Ordnung der bildnerischen Mittel verbunden mit<br />
Naturstudium und konstruktiven Kompositionswegen. Schriften zur Form- und Gestaltungslehre. Teil 2.<br />
Hrsg. u. bearb. v. Jürg Spiller. Basel, Stuttgart<br />
Klee, Paul (1970): Paul Klee 1879–1940. Hrsg. v. Jürg Spiller u.a., München Haus der Kunst (Katalog), München<br />
Klee, Paul (1971): Das bildnerische Denken. Teil 1. Schriften zur Form- und Gestaltungslehre. Hrsg. u. bearb.<br />
v. Jürg Spiller. Basel, Stuttgart<br />
Klee, Paul (1979): Paul Klee. Das Frühwerk 1883–1922. Hrsg. v. Armin von Zweite. Städtische Galerie im<br />
Lenbachhaus (Katalog), München<br />
Klee, Paul (1980): Gedichte und Zeichnungen. Hrsg. v. Felix Klee. Basel<br />
Klee, Paul (1988): Tagebücher 1898–1918. Hrsg. v. der Paul-Klee-Stiftung und dem Kunstmuseum Bern, bearbeitet<br />
v. Wolfgang Kersten. Stuttgart, Teufen<br />
Lanchner, Carloyn (Hrsg.) (1987): Paul Klee. Museum of Modern Art, New York. Ausstellungskatalog. New<br />
York<br />
Moe, Ole Henrik (Hrsg.) (1986): Paul Klee und die Musik. Schirn Kunsthalle, Frankfurt a. M.<br />
113
Osterwald, Tillmann (1990): Paul Klee. Späte Werke. Württembergischer Kunstverein, Stuttgart<br />
Petsch, Joachim (1994): Kunst im Dritten Reich. Architektur, Plastik, Malerei, Alltagsästhetik. Vista Point<br />
Verlag, Köln<br />
Partsch, Susanna (1990): Paul Klee 1879–1940. Köln<br />
Rewald, Sabine (1988): The Berggruen Klee Collection in the Metropolitan Museum of Art (Sammlungskatalog),<br />
New York<br />
Roethel, Hans Konrad (1971): Paul Klee in München. Bern<br />
Schlossmuseum Murnau (Hrsg.) (1999): Paul Klee und seine Weggefährten. Bearb. v. Brigitte Salmen. Rieß-<br />
Druck, Benediktbeuren<br />
Schuster, Peter-Klaus (Hrsg.) (1987): Dokumentation zum nationalsozialistischen Bildersturm am Bestand<br />
der Staatsgalerie moderner Kunst in München. Verlag Klein u. Volbert, München<br />
Schuster, Peter-Klaus (1987): Nationalsozialismus und „Entartete Kunst“. Dokumentation zum nationalsozialistischen<br />
Bildersturm am Bestand der Staatsgalerie moderner Kunst in München. Prestel Verlag, München<br />
Staatsgalerie Stuttgart (Hrsg.) (1979): Klee und Kandinsky. Erinnerung an eine Künstlerfreundschaft anlässlich<br />
Klees 100. Geburtstag (Katalog), Stuttgart<br />
Verdi, Richard (1984): Klee and Nature. London<br />
Verdi, Richard (1985): The Late Klee. German Art in the 20th Century. Richard Verdi. London<br />
Werckmeister, Otto Karl (1981): Versuche über Paul Klee. Frankfurt a. M.<br />
Werckmeister, Otto Karl (1987): Von der Revolution zum Exil. In: Paul Klee. Leben und Werk. Ausstellungskatalog<br />
hrsg. v. d. Paul-Klee-Stiftung, dem Kunstmuseum Bern und dem Museum of Modern Art, New<br />
York<br />
Werckmeister, Otto Karl (1989): The Making of Paul Klee´s Career 1914–1920. Chicago<br />
Zweite, Armin von (Hrsg.) (1979): Paul Klee. Das Frühwerk 1883–1922. Städtische Galerie im Lenbachhaus,<br />
München. Ausstellungskatalog. München<br />
114
Grabmal von Walter Klingenbeck (Waldfriedhof)<br />
Foto: Andreas Olsen<br />
Klingenbeck, Walter<br />
*30.3.1924 München †5.8.1943 München-Stadelheim<br />
„Ich weiß, wofür ich mein Leben lasse“.<br />
Aus seinem Abschiedsbrief am 5. August 1943. 231<br />
Walter Klingenbeck<br />
Foto: IfZ München, Archiv<br />
231 32 Hartrumpf-Böck, Gerhard (1997): Etwas tun – Die Wahrheit verbreiten! In: Deckname „Betti“: 71<br />
115
I. Walter-Klingenbeck-Schule<br />
Staatliche Realschule Taufkirchen, Köglweg 104, 82024 Taufkirchen<br />
KM (1995)<br />
II. Grabstätte im Westfriedhof: 39/4/21<br />
III. Walter-Klingenbeck-Weg, Maxvorstadt<br />
M (1998)<br />
Universität U3/U6<br />
IV. Walter-Klingenbeck-Saal, Dachau<br />
Jugendbegegnungszentrum Dachau (1998)<br />
Zu I. Walter-Klingenbeck-Schule<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Initiatoren der Namengebung war der Realschulkonrektor Franz Pacher (†1996) und der<br />
Realschuldirektor Bernd Schmitz. Die offizielle Verleihung durch das Bayerische Staatsministerium<br />
für Unterricht, Kultus und Wissenschaft fand am 30. März 1995 statt.<br />
DENKMAL<br />
Auf einer von innen beleuchteten Bildsäule in der Schulaula wird mit Fotos, Dokumenten<br />
und Texten an Walter Klingenbeck und seine Freunde erinnert. Am 27. Januar 1997, dem<br />
Gedenktag der Opfer des Nationalsozialismus, wurde im Rahmen einer Feierstunde im<br />
Beisein von Angehörigen Walter Klingenbecks die Bildsäule enthüllt.<br />
SCHULINTERNE SCHRIFTEN<br />
Der Jahresbericht 1996 gibt auf den Seiten 1 bis 16 Auskunft über den Namenspatron.<br />
Im Jahresbericht 1997 findet man auf den Seiten 45 bis 48 einen Beitrag zur Gedenkfeier<br />
und zur Einweihung der Bildsäule.<br />
116
Zu II. Walter-Klingenbeck-Weg, Maxvorstadt<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Die Mitglieder der „Aktion Maxvorstadt“ richteten an den Bezirksausschuss 3, (Maxvorstadt)<br />
am 1. März 1997 den Antrag, einen Erinnerungsort für Walter Klingenbeck zu<br />
schaffen. Diese Initiative führte am 24. Januar 1998 zur Einweihung des Walter-Klingenbeck-Weges<br />
zwischen der Kaulbach- und Ludwigstraße, nördlich der Bayerischen Staatsbibliothek.<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
Dieser Weg befindet sich in der Nähe der Kirchengemeinde St. Ludwig, der Klingenbeck<br />
in der katholischen Jungschar bis zu ihrer Auflösung durch die Nazis angehörte. Ebenso<br />
befindet sich der Weg in der Nähe seiner ehemaligen Wohnung in der Amalienstraße 44,<br />
Rückgebäude.<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Walter Klingenbeck stammte aus einer streng katholischen Familie, die sich nicht davon<br />
abbringen ließ, die Rundfunksendungen des Radio Vatikan zu hören. Bereits seit August<br />
1933 waren von der Reichsregierung zu Propagadazwecken spezielle preisgünstige Radiogeräte<br />
(sog. „Volksempfänger“) zu einem Preis von 76 Reichsmark erhältlich, was durch<br />
staatliche Subventionen möglich wurde. Die Geräte waren so konstruiert, dass die Frequenzen<br />
von Auslandssendern nicht mehr empfangen werden konnten. Durch diese Einschränkung<br />
avancierte das Radio zum wichtigsten Instrument der nationalsozialistischen<br />
Medienpolitik. 232 Zusammen mit seinem Vater gelang es Walter Klingenbeck dennoch,<br />
Radio Vatikan zu hören, wo sie von den Maßnahmen der Nationalsozialisten gegen die katholische<br />
Kirche erfuhren. Mit der „Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen<br />
vom 1.9.1939“ konnte das Abhören ausländischer Sender mit dem Tode bestraft werden.<br />
Klingenbeck ließ sich davon aber nicht beirren. Er empfing BBC London, Radio<br />
Moskau, Gustav Siegfried 1 und weihte seinen Freund Hans Haberl ein, der wiederum seinen<br />
Zimmergenossen Erwin Eidel einbezog.<br />
Es kam zu Treffen und Erfahrungsaustausch mit Hans Haberl und Erwin Eidel in der Firma<br />
für Meß- und Nachrichtentechnik Rohde & Schwarz, wo Klingenbeck als Schaltmechanikerlehrling<br />
arbeitete. Dort lernte er auch den Praktikanten Daniel von Recklinghausen<br />
kennen, der sich in der Hochfrequenz- und Rundfunktechnik gut auskannte. In einer<br />
232 Der Staatliche Rundfunk stand unter der Leitung des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda.<br />
117
ersten gemeinsamen Aktion brachten sie das „Victory“-Zeichen heimlich an öffentlichen<br />
Stellen an. Sie zeichneten das „V“ mit schwarzer Ölfarbe im Stadtteil Bogenhausen auf<br />
Verkehrszeichen und Häuserwände. Angeregt von einem Aufruf des BBC London führten<br />
sie auch die nächste Aktion aus. Diesmal verstreuten sie Flugblätter mit dem Titel „Hitler<br />
kann den Krieg nie gewinnen, er kann ihn nur verlängern“. Die Gruppe kam auf die originelle<br />
Idee, die Flugblätter von einem ferngesteuerten Flugzeug aus zu verteilen. Erwin Eidel<br />
sollte dieses Flugzeug konstruieren. Der Erfindungsreichtum beflügelte die jungen<br />
Männer zum Bau eines eigenen Senders. Über diesen wollten sie die Nachrichten ausländischer<br />
Sender, mit Kommentaren und Musik versehen, über den Äther verbreiten. Zur Erschwerung<br />
der Ortung wechselten sie ständig die Sendestationen. Die Vorbereitungen zur<br />
Ausführung des Vorhabens waren noch im Gange, als Walter Klingenbeck denunziert und<br />
am 26. Januar 1942 festgenommen wurde. Einen Tag später erfolgte die Verhaftung Daniel<br />
von Recklinghausens, kurz danach die von Hans Haberl und Erwin Eidel. Bis zum<br />
Prozess ließ man die Inhaftierten im Ungewissen. Klingenbeck, von Recklinghausen und<br />
Haberl wurden zum Tode verurteilt, Eidel erhielt eine achtjährige Zuchthausstrafe. Für die<br />
drei Todeskandidaten begann nun eine fast einjährige seelische Tortur im Gefängnis München-Stadelheim.<br />
Am 2. August 1943 erfuhren von Recklinghausen und Haberl, dass ihre<br />
Gnadengesuche angenommen wurden und ihre Todesstrafe in acht Jahre Zuchthaus umgewandelt<br />
worden sei. Klingenbeck sagte man, dass seine Hinrichtung am 5. August 1943<br />
um 11 Uhr erfolgen wird. An seinen Freund Haberl schrieb er seine letzten Worte: „Lieber<br />
Jonny! Vorhin habe ich von Deiner Begnadigung erfahren. Gratuliere! Mein Gesuch ist<br />
allerdings abgelehnt. Ergo geht´s dahin. Nimm´s net tragisch. Du bist ja durch. Das ist<br />
schon viel wert. Ich habe soeben die Sakramente empfangen und bin jetzt ganz gefaßt.<br />
Wenn Du etwas für mich tun willst, bete ein paar Vaterunser. Lebe wohl, Walter.“ 233<br />
Aus seinen Abschiedsbriefen geht klar hervor, dass Klingenbeck von der Richtigkeit seines<br />
Handelns überzeugt war und wusste, in welche Gefahr er sich begeben hatte.<br />
Ausstellungen<br />
1997 – 1998: Deckname „Betti“. Jugendlicher Widerstand und Opposition gegen die<br />
Nationalsozialisten in München oder: Plädoyer für „Junge Demokratie“. Ein Projekt<br />
des Kreisjugendrings München-Stadt und DGB-Jugend München. In Zusammenarbeit mit<br />
dem Kulturreferat der Landeshauptstadt München. Eine Wanderausstellung, gezeigt in Instituten<br />
und Schulen in Bayern.<br />
9. Oktober – 8. November 1998: Widerstand, Verweigerung und Protest gegen das<br />
233 Hartrumpf-Böck, Gerhard (1997): Etwas tun – Die Wahrheit verbreiten! In Deckname „Betti“:71<br />
118
NS-Regime in München. Konzipiert vom Kulturreferat der Landeshauptstadt München.<br />
Gezeigt im Neuen Rathaus von München.<br />
Film<br />
Bundesfilmpreis 1982 „Von Richtern und anderen Sympathisanten“. Eine Dokumentation<br />
von A. Engstfeld. VHS, 62 Minuten.<br />
Literatur<br />
Baumeister, Martin (1993): Der Münchner Katholizismus. Die „Hauptstadt der Bewegung“ – eine katholische<br />
Metropole. In: München – „Hauptstadt der Bewegung“: 418–423<br />
Benz, Wolfgang / Distel, Barbara (Hrsg) (1991): Dachauer Hefte. Heft 7 (1991): Solidarität und Widerstand.<br />
Studien und Dokumente zur Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Im Auftrag des<br />
Comité de Dachau, Brüssel. Verlag Dachauer Hefte, Dachau<br />
Detjen, Marion (1998): „Zum Staatsfeind ernannt“. Widerstand, Resistenz und Verweigerung gegen das nationalsozialistische<br />
Regime in München. Hrsg. v. d. Landeshauptstadt München. Buchendorfer Verlag,<br />
München<br />
Gedenkstätte Deutscher Widerstand Berlin (Hrsg.) (1990): Sektion 18: Jugendopposition. Widerstand junger<br />
Christen. Berlin<br />
Harttrumpf, Gerhard (1997): Etwas tun – Die Wahrheit verbreiten! In: Deckname „Betti“: 70–73<br />
Jahnke, Karl-Heinz (1985): Jugend im Widerstand 1933–1945. Frankfurt a. M.<br />
Klönne, Arno (1993): Jugend im Dritten Reich. In: Bracher / Funke / Jacobson: Deutschland 1933–1945: 218–<br />
239<br />
Klönne, Arno (1981): Jugendprotest und Jugendopposition im NS-Staat. München. In: Broszat, M. et al.<br />
(Hrsg.) (1981): Bayern in der NS-Zeit. Band 4. München: 527ff<br />
Malvezzi, Piero / Pirelli, Giovanni (Hrsg.) (1955): Letzte Briefe zum Tode Verurteilter aus dem europäischen<br />
Widerstand. Steinberg-Verlag, Zürich<br />
Roth, Harald (Hrsg.) (1997): Widerstand. Jugend gegen Nazis. Otto Maier Verlag, Ravensburg<br />
Schwaiger, Georg / Pfister, Peter (1999): Blutzeugen der Erzdiözese München und Freising. Schnell & Steiner,<br />
Regensburg<br />
Ühlein, Erhard (1953–54) Briefe an Walter Hammer. In: Sammlung Hammer ED 106, Band 52. Institut für<br />
Zeitgeschichte München, Archiv<br />
Vier Jungen für Deutschland. In: Heute. Eine neue Illustrierte Zeitschrift Nr. 21 v. 1.10.1946<br />
Zarusky, Jürgen (1991): „... nur eine Wachstumskrankheit?“ Jugendwiderstand in Hamburg und München. In:<br />
Dachauer Hefte 7 (1991): Solidarität und Widerstand: 210–229<br />
119
Knoeringen, Waldemar von<br />
*6.10.1906 Rechetsberg b. Weilheim in Oberbayern<br />
†7.7.1971 Höhenried bei Bernried am Starnberger See<br />
„Ich hab mir die Nazis genau betrachtet und die Überzeugung gewonnen, daß diese<br />
Partei alles andere vertritt, nur nicht den Freiheits- und Lebenswillen der Entrechteten,<br />
wenn man sich auch noch so sozialistisch aufspielt ...<br />
Ich wollte nicht hetzen, aber meine Empörung gegen Diktatur und Faschismus, die<br />
schrie ich hinaus, so laut ich nur konnte.“<br />
Auszug aus einem Brief von Waldemar<br />
von Knoeringens an seinen Großvater vom 5. September 1932. 234<br />
Waldemar von Knoeringen<br />
Foto: Stadtarchiv München<br />
Grabmal von Waldemar von Knoeringen<br />
auf dem Waldfriedhof<br />
Foto H. Engelbrecht<br />
234 Knoeringen, Waldemar von (1981): Reden und Aufsätze: 13 u. 15<br />
120
I. Grabmal, Waldfriedhof Sektion 90<br />
1971<br />
II. Von-Knoeringen-Straße, Neuperlach<br />
M (1973)<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Der Landesvorsitzende der Bayerischen SPD, Dr. Helmut Rothemund zählte Waldemar<br />
von Knoeringen „zu den bedeutendsten Männern der bayerischen Sozialdemokratie und<br />
zu den profiliertesten Persönlichkeiten der bayerischen Politik der Nachkriegsjahre.“ 235<br />
Karl Ludwig Waldemar von Knoeringen war das erste und einzige Kind des Ehepaars Clemens<br />
von Knoeringen und Magdalena (geb. Schuster), das am 6. Oktober 1906 auf Gut<br />
Rechetsberg in Huglfing bei Weilheim auf die Welt kam. Ein Jahr später zog die Familie<br />
nach Aising bei Rosenheim. Zwei Jahre lang besuchte er das Rosenheimer Ignaz-Günther-<br />
Gymnasium. Nach dem Besuch der Handelsschule absolvierte er eine Lehre im Büro, um<br />
dann als Kanzlei-Assistent bei der Ortskrankenkasse in Rosenheim zu arbeiten. 236 Sein Interesse<br />
galt schon früh den Naturwissenschaften. Nächtelang beobachtete er mit dem Spiegelteleskop<br />
seines Vaters die Gestirne. Den geistigen Zugang bot indes die väterliche Bibliothek.<br />
Beeindruckt haben von Knoeringen die Schriften des Naturforschers Ernst Haeckel<br />
Welträtsel und die Autobiographie von Bruno H. Bürgel Vom Arbeiter zum Astronomen.<br />
237 Doch allmählich fand er zu seinem eigentlichen Streben. Waldemar von Knoeringen<br />
widmete sich den „den großen Fragen der Menschheit“. So kam es, dass „nicht mehr<br />
die Sterne“ sondern „der Mensch in den Mittelpunkt meiner Welt trat.“ 238 Der 17-Jährige<br />
von Knoeringen schloss sich dem Touristenverein „Die Naturfreunde“ an. Nach dem Tod<br />
des nur 45-jährigen Vaters geriet die Familie in wirtschaftliche Not. Waldemar von Knoeringen<br />
trat im Oktober 1926 239 in die Sozialdemokratische Partei in Rosenheim ein. Um<br />
beruflich voran zu kommen, konnte von Knoeringen mit der finanziellen Unterstützung<br />
seines Großvaters Karl Schuster in Bamberg eine höhere Schulbildung in München absolvieren.<br />
Neben der Ausbildung zum Bibliothekar bereitete er sich auf das Abitur vor. Ende<br />
der Zwanziger Jahre empfand von Knoeringen bereits, dass der Wahlsieg der Nationalis-<br />
235 Rothemund, Helmut (1981): Vorwort. In: Waldemar von Knoeringen (1981): Reden und Aufsätze: 7<br />
236 Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar von Knoeringen: 26<br />
237 Dieser populäre Roman erschien 1919. In: Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar von Knoeringen: 26<br />
238 Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar von Knoeringen: 27<br />
239 Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar von Knoeringen: 29<br />
121
ten eine Bedrohung der Weimarer Republik darstellte. In seinen Reden machte er auf die<br />
Notwendigkeit einer umfassenden Bildung der Arbeiter aufmerksam, um eine weitere<br />
Ausbreitung des Nationalsozialismus zu verhindern. In einem Brief an seinen Großvater<br />
bringt er dies zur Sprache: „... Mir war es klar, eine Diktatur dieses Hitlers wäre eine namenlose<br />
Schande für ein Land Fichtes, Schillers, Goethes, Kants, wäre eine Vernichtung<br />
der Freiheit der deutschen Wissenschaft und des Geistes, wäre ein Triumph der Barbarei<br />
und des Scheingeistes. Und so stieg in mir die Verpflichtung auf, meine Kraft einzusetzen,<br />
um die Abwehrfront gegen diese Barbarei der Neuzeit zu stärken ...“ 240 Er ordnete die Nationalsozialisten<br />
richtig ein und wusste, dass er nicht in Deutschland bleiben konnte, falls<br />
diese an die Macht kämen. Dies lies er seinen Großvater am 5. September 1932 in einem<br />
Brief wissen: „... denn in einer Nacht der langen Messer werden die Naziwürger an meiner<br />
Tür nicht vorübergehen.“ 241<br />
NS-Zeit<br />
Am 23. März 1933 lehnte die Sozialdemokratische Partei in Anbetracht der bereits verfolgten<br />
Parteimitglieder vor dem Reichstag das Ermächtigungsgesetz ab. Der Parteivorsitzende<br />
Otto Wels hatte in seinem Bekenntnis zur Demokratie betont, dass „kein Ermächtigungsgesetz“<br />
den Nationalsozialisten die Macht gebe „Ideen, die ewig und unzerstörbar<br />
sind, zu vernichten.“ 242 Nach dem endgültigen Verbot aller Parteien emigrierte der SPD-<br />
Parteivorstand nach Prag. Von dort wurden in allen Deutschlands angrenzenden Nachbarländern<br />
(Tschechoslowakei, Schweiz, Frankreich, Belgien, Holland) SPD-Grenzsekretariate<br />
eingerichtet. Für das Grenzsekretariat Südbayern war Waldemar von Knoeringen zuständig.<br />
In Bayern existierten dreizehn illegale, „unabhängig von einander arbeitende<br />
Gruppen“. 243 Nach Kriegsbeginn war der Kontakt zwischen den illegalen Inlandsverbänden<br />
und den Grenzsekretariaten unterbrochen. So blieb für die Verständigung einzig der<br />
konspirative Briefverkehr. Dazu kam ein in England stationierter „Sender der europäischen<br />
Revolution“ (SER), deren Leiter von Knoeringen war. In Deutschland konnte die<br />
verbotene SPD bis zur ihrer Zerschlagung 1942 durch die Gestapo wirken. 244<br />
Flucht und Versteck<br />
Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten musste von Knoeringen fliehen, um sein<br />
Leben zu retten. Zuerst hielt er sich bei seinem Parteigenossen Hans Lenk in Wörgl in Tirol<br />
(Österreich) auf. Mitte Mai 1933 machte er illegal in München Station, um die Reichs-<br />
240 Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar von Knoeringen: 35<br />
241 Knoeringen, Waldemar von (1981): Reden und Aufsätze: 15<br />
242 Knoeringen, Waldemar von (1981): Reden und Aufsätze: 130<br />
243 Knoeringen, Waldemar von (1981): Reden und Aufsätze: 135<br />
244 Knoeringen, Waldemar von (1982): Reden und Aufsätze: 136<br />
122
tagsabgeordnete Toni Pfülf (siehe Band 2: Pfülf) zur Flucht in die Schweiz zu bewegen. 245<br />
Juliane Astner, die Verlobte Waldemar von Knoeringens, kam im Juni 1933 vorübergehend<br />
in „Schutzhaft“. Ende September gelang ihr die Flucht über die grüne Grenze nach<br />
Österreich 246 , wo sie in Wörgl mit ihrem Verlobten zusammentraf. Seitdem begleitete sie<br />
ihn während der Zeit im Exil. Von Knoeringens nächster Aufenthalt war Wien, wo er ein<br />
dreiviertel Jahr verbrachte. Seit Herbst 1933 hielt er Kontakt mit der in Bayern aktiven<br />
Gruppe „Neu Beginnen“, zu der auch Hermann Frieb gehörte (siehe Band 1: Frieb). Während<br />
der Februarkämpfe in Österreich (1934) konnte sich von Knoeringen verstecken, bis<br />
ihm die Flucht in die Tschechoslowakei gelang. Hier setzte ihn der Parteivorstand der „Sopade“<br />
247 als Grenzsekretär ein. In einen Brief an Wilhelm Hoegner (siehe Band 1: Hoegner)<br />
berichtete er Folgendes: „Ich ging in den Böhmerwald in einen Ort, der mir die Möglichkeit<br />
gab, die Verbindungen mit drüben wieder aufzunehmen, Nýrsko (Neuern) ist 6 Kilometer<br />
von der deutschen Grenze entfernt. Ich habe von hier aus wieder zu arbeiten begonnen<br />
und habe rege Verbindungen.“ 248 Hier lebt er unter dem Pseudonym Walter Kerber,<br />
sein Deckname gegenüber der Partei lautete „Michel“. Seine konspirative Arbeit, sowohl<br />
für den Parteivorstand der „Sopade“ in Prag und als auch für seine Verbindung zu<br />
„Neu Beginnen“ in Oberbayern und Schwaben, machte komplizierte Methoden der Geheimhaltung<br />
notwendig. Am 16. Januar 1935 heirateten Juliane Astner 249 und Waldemar<br />
von Knoeringen.<br />
Aufgaben der Grenzsekretäre<br />
Zu den Aufgaben der Grenzsekretäre gehörte das Verteilen des „Neuen Vorwärts“, der seit<br />
Herbst 1933 erscheinenden Zeitung, die von der „Sopade“ in Prag herausgegeben wurde.<br />
Auf Seidenpapier und in Kleinstdruck hergestellt, eignete sie sich für den Schmuggel.<br />
Dazu kamen Flugblätter, Klebezettel und Tarnbroschüren, die „... in unauffällig aussehenden<br />
Probepackungen bekannter Nahrungsmittelfirmen, in Shampoo, Rasierseife oder<br />
Tee verborgen, als Groschenromane ...“ 250 verborgen waren und von Knoeringens Gehilfen<br />
Josef Denk und Johann Lenk über die Grenze nach Deutschland gebracht wurden. Im<br />
Austausch brachten die Grenzgänger Berichte aus Deutschland mit. Die so genannten mo-<br />
245 Interview von Hartmut Mehringer mit Emil Holzapfel v. 23.2.1965. In: Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar<br />
von Knoeringen: 56<br />
246 Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar von Knoeringen: 64<br />
247 So nannte sich die emigrierte Sozialdemokratische Partei Deutschlands.<br />
248 Brief von Waldemar von Knoeringen an Wilhelm Hoegner v. 17.4.1934. In: IfZ Archiv ED 120/6. Zitiert<br />
in Mehringer, Hartmut (1989): 80<br />
249 Juliane von Knoeringen (20.5.1906 – 5.2.1973). In: Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar von Knoeringen:<br />
80 u. 384<br />
250 Edinger, Lewis J. (1960): Sozialdemokratie und Nationalsozialismus: 45. In: Mehringer, Hartmut (1989):<br />
Waldemar von Knoeringen: 86<br />
123
natlich zusammengefassten Deutschland-Berichte informierten über die Verhältnisse unter<br />
dem NS-Regime und seiner Mediendiktatur. Um die internationale Öffentlichkeit zu<br />
informieren, gab es seit 1937 englische und französische Ausgaben der Deutschland-Berichte.<br />
Diese in Prag hergestellten Schriften fanden ihre Verteiler bei den Mitgliedern der<br />
Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ) in Südbayern, deren Bezirksleiter Eugen Nerdinger<br />
und der SAJ-Funktionär Josef (Bebo) Wager die Verbreitung der illegalen Literatur übernahmen.<br />
251 1934 kam es zu einem Treffen von Nerdinger und Wager bei Waldemar von<br />
Knoeringen in der Tschechoslowakei.<br />
Als die tschechischen Behörden die deutschen Emigranten aus den Grenzgebieten verdrängten,<br />
wechselte von Knoeringen ins böhmisch-mährische Hochland nach Budweis,<br />
wo er etwa ein Jahr verbrachte, um danach nach Prag zu siedeln. 252 In Folge des Münchner<br />
Abkommens vom 30. September 1938 entschloss sich die SPD-Parteiführung, den Standort<br />
und Stützpunkt Prag aufzugeben und in Paris eine Niederlassung zu gründen. Von<br />
Knoeringen war für den neuen Stützpunkt der Exil-Organisation von „Neu-Beginnen“ in<br />
Paris zuständig. Nach einem knappen Jahr entstanden wegen Kenntnis von den Kriegsvorbereitungen<br />
Pläne, das Büro von „Neu Beginnen“ nach London zu verlegen. Infolge dessen<br />
reiste von Knoeringen im August 1939 nach England.<br />
Der Sender der Europäischen Revolution (SER)<br />
Der SER in Großbritannien war ein Medium, das von deutschen Sozialisten genutzt wurde,<br />
um ihre politischen Ansichten in Nazi-Deutschland zu verbreiten. Über zwei Jahre<br />
(1940–1942) lang war es möglich, mittels dieses Senders über den Kriegsverlauf aus ihrer<br />
Sicht zu informieren. Waldemar von Knoeringen nahm dabei eine leitende Funktion ein.<br />
Die Hörer sollten davon überzeugt werden, dass Hitler den Krieg nicht gewinnen könne;<br />
hieß es in einer Sendung am 14. April 1941: „Darum bringt Hitler nicht das Ende des<br />
Kriegs, sondern der Krieg bringt das Ende Hitlers!“ 253 Als alle Radiobeiträge zensiert<br />
werden sollten, entschloss sich von Knoeringen, die Sendungen einzustellen. 254 In<br />
Deutschland kam es unterdessen durch Ermittlungen der Gestapo zur Zerschlagung der<br />
aktiven illegalen Gruppe von „Neu Beginnen“. Hermann Frieb (siehe Band 1: Frieb) und<br />
Bebo Wager verurteilte der Volksgerichtshof im Mai 1943 zum Tode.<br />
Einsatz für britische Behörden in Nordafrika<br />
251 Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar von Knoeringen: 102–103<br />
252 Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar von Knoeringen: 139<br />
253 Archiv der sozialen Demokratie, Nachlass Waldemar von Knoeringen 249A. Zitiert in: Mehringer, Hartmut<br />
(1989): Waldemar von Knoeringen: 221<br />
254 Aussage Waldemars von Knoeringen im Hedler Prozess. Zitiert in: Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar<br />
von Knoeringen: 226<br />
124
Britische und amerikanische Truppen hatten in Nordafrika die Oberhand gewonnen, nachdem<br />
deutsche und italienische Streitkräfte kapitulierten. Für die psychologisch-politische<br />
Betreuung zahlreicher deutscher Kriegsgefangener fehlte der britischen Regierung Personal.<br />
Waldemar von Knoeringen und einige seiner politischen Freunde fanden sich bereit<br />
zu helfen. Die Reise über Gibraltar nach Algier fand im Februar 1943 statt. 255 Hier bekamen<br />
sie die Aufgabe, in den Lagern deutsche Gefangene mit antifaschistischer Einstellung<br />
zu finden. Dabei machte von Knoeringen enttäuschende Erfahrungen, da die Kriegsgefangenen<br />
ablehnend und feindselig eingestellt waren. 256 Im Sommer 1944 trat von Knoeringen<br />
die Rückreise nach London an. Auch hier war er mit den von der britischen Regierung<br />
eingeführten „Reeducation-Aufgaben“ betraut. Henry Faulk 257 und Hartmut Mehringer 258<br />
informierten über die Hintergründe des Scheiterns dieser Idee.<br />
„Training Centre Wilton Park“<br />
Am 17. Januar 1946 konnten die im Auftrag des Political Intelligence Department (PID)<br />
eingerichteten Kurse im Trainings Centre Wilton Park beginnen. Hier sollte die begonnene<br />
Umerziehung der Kriegsgefangenen von besonders ausgebildeten Referenten ergänzt<br />
und verbessert werden. Waldemar von Knoeringen war am Aufbau dieses Schulungslagers<br />
beteiligt und leitete politisch-aufklärerische Kurse. Er hatte dafür ein Manuskript mit<br />
zwölf Vorlesungen unter dem Titel Deutsche Geschichte im neuen Licht verfasst. 259 Von<br />
Knoeringen wirkte vom Januar bis April 1946 im „Training Centre Wilton Park“.<br />
Rückkehr nach Deutschland<br />
Waldemar von Knoeringen wollte in seine Heimat zurückkehren, weil er die Überzeugung<br />
hatte: „Heimkommen und das Schicksal mit ihnen teilen und alles geben, was noch übrig<br />
geblieben ist nach den langen Jahren in der Fremde.“ 260 Als Unbelasteter war er Kandidat<br />
für verschiedene Aufgaben und politische Ämter. In München erfuhr er vom gewaltsamen<br />
Tod seiner politischen Freunde Hermann Frieb und Bebo Wager. Während seiner<br />
politischen Tätigkeit fühlte er sich weiterhin verpflichtet, die Erinnerung an sie wachzuhalten.<br />
Auf Veranlassung des damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Wilhelm Hoegner<br />
(siehe Band 1: Hoegner), kehrte Waldemar von Knoeringen im April 1946 in seine<br />
255 Interview von Hartmut Mehringer mit Fritz Heine am 16.4.1983. In: Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar<br />
von Knoeringen: 240<br />
256 Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar von Knoeringen: 242<br />
257 In: Die deutschen Kriegsgefangenen in Großbritannien. Reeducation. Band IX/2<br />
258 Waldemar von Knoeringen: 245–248<br />
259 0Dieses Manuskript ist Eigentum von Heinrich Kröller. Auch in: Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar<br />
von Knoeringen: 255–257<br />
260 Waldemar von Knoeringen in einem Brief an Willi Müller (Karl Frank) v. 3.3.1946. In: Mehringer, Hartmut<br />
(1989): Waldemar von Knoeringen: 270<br />
125
Heimat nach Aising zurück. Kurze Zeit später wurde er von den SPD-Delegierten der<br />
Stadt und des Landkreises Rosenheim einstimmig als Kandidat nominiert; so erhielt er einen<br />
Sitz in der verfassungsgebenden Landesversammlung.<br />
Ein Amt für politische Erziehung<br />
Waldemar von Knoeringen überreichte dem damaligen Ministerpräsidenten Wilhelm<br />
Hoegner am 3. Juli 1946 eine Denkschrift zu einem Amt für politische Erziehung. Nach<br />
von Knoeringens Vorstellungen sollten darin drei Abteilungen enthalten sein: „eine Forschungsabteilung,<br />
deren Aufgabe vor allem in der Erfassung von politisch-pädagogisch<br />
geeigneten Persönlichkeiten und Gruppen, in der Auswertung von Presse und Rundfunk<br />
und in der Beschaffung von Informationen über ähnliche Ansätze außerhalb Deutschlands<br />
bestehe; eine zweite Abteilung, die sich um die Planung und Durchführung sowie um die<br />
Propagierung von Bildungsveranstaltungen zu kümmern und den Kontakt zur Militärregierung<br />
zu halten habe; eine dritte Abteilung für wissenschaftliche Beratung und Auswertung<br />
einschlägiger Literatur und zur Kontaktpflege mit der Wissenschaft sowie zur Vorbereitung<br />
eines ,Training Centre´ für politische Bildung.“ 261 Weil das angestrebte Unternehmen<br />
zunächst auf staatlicher Ebene gescheitert war, wurde statt dessen eine Politische<br />
Bildungszentrale der SPD eingerichtet. Die Verwirklichung von Knoeringens Konzept<br />
nahm weitere Jahre in Anspruch, bis im November 1955 die Regierung unter Ministerpräsident<br />
Wilhelm Hoegner die „Bayerische Zentrale für Heimatdienst“ gründete. Diese<br />
wurde 1964 in die heutige „Landeszentrale für Politische Bildung“ umbenannt. 262<br />
Gründung der Georg-von-Vollmar-Schule in Kochel am See 263<br />
Als Leiter der politischen Bildungszentrale der SPD (seit September 1946) erkannte Waldemar<br />
von Knoeringen, dass es in dieser Zeit um eine entscheidende historische Weichenstellung<br />
gehe. Dabei gehe es jetzt um „die Erhaltung der menschlichen Freiheit und die<br />
soziale Gerechtigkeit in einer zwangsläufig gelenkten Wirtschaft“, um die „Synthese zwischen<br />
einer notwendig gewordenen Planung, ohne die wir in Anarchie versinken müßten,<br />
und der Erhaltung der Freiheit, ohne die ein wahres Menschentum unmöglich ist.“ 264 Ei-<br />
261 Eine in Details abweichende deutsche Version vom 1.7.1946 findet sich bei den Unterlagen zur späteren<br />
Gründung der Bayerischen Landeszentrale für Politische Bildung, sowie im Nachlass Wilhelm Hoegner,<br />
IfZ ED 120/203. Auch in: Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar von Knoeringen: 291–292<br />
262 Unterlagen in der Registratur der Bayerischen Landeszentrale für Politische Bildung. In: Mehringer,<br />
Hartmut (1989): Waldemar von Knoeringen: 294<br />
263 Der Namenspatron Georg von Vollmar (1850–1922) war eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der<br />
SPD in Bayern vor dem Ersten Weltkrieg und ein Vertreter der „königlich-bayerischen Sozialdemokraten“.<br />
Als einer der ersten Sozialdemokraten im Bayerischen Landtag (1893)vertrat er einen demokratischen<br />
Sozialismus und war maßgeblich am Aufbau der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands<br />
beteiligt. Seit 1915 lebte er in seinem Landhaus Soyensaß am Walchensee. Seine Grabstätte befindet sich<br />
auf dem Münchner Waldfriedhof, Sekt. 90.<br />
126
nes seiner Hauptanliegen war eine umfassende politische Bildung des Volkes. Als er von<br />
der Bayerischen Staatskanzlei eine Ministerialstelle angeboten bekam, lehnte er diese ab,<br />
da er befürchtete, seine Erziehungs- und Bildungsarbeit nicht weiter fortführen zu können.<br />
265<br />
Auf der Suche nach einem Gebäude für ein Schulungszentrum war von Knoeringen auf<br />
das Schloss Aspenstein am Kochelsee (Oberbayern, Landkreis Bad-Tölz) aufmerksam geworden.<br />
Dieses Schloss war ursprünglich Eigentum der Adelsfamilie von Dessauer. Während<br />
der NS-Zeit gelangte es in den Besitz des Reichsjugendführers Baldur von Schirach.<br />
Nach 1945 diente es der amerikanischen Luftwaffe und wurde dann Eigentum der Sozialdemokratischen<br />
Partei. Nach dem Umbau des Schlosses in ein Bildungszentrum konnte<br />
am 25. Juli 1948 mit dem Schulungsbetrieb begonnen werden. Es trägt seit 1949 den Namen<br />
„Georg-von-Vollmar-Schule“. Als freie Hochschule für politische und soziale Demokratie<br />
erfolgte später die Umbenennung in „Georg-von-Vollmar-Akademie“. 266 Von<br />
Knoeringen war als Schulleiter für das Programm, die Auswahl die Referenten und den<br />
Kursbetrieb verantwortlich.<br />
Im Jahre 1946/47 übernahm Waldemar von Knoeringen die stellvertretende Leitung der<br />
Landtagsfraktion der Sozialdemokratischen Partei in Bayern; seit 1950 war er Vorsitzender<br />
der SPD-Landtagsfraktion und seit 1952 Mitglied des bayerischen Landtags. Als Leiter<br />
der Bildungskommission im Bayerischen Landtag strebte von Knoeringen in seinem<br />
Bildungsplan ein Bündnis zwischen Wissenschaft und Politik an. So konnte nach einem<br />
Bayerischen Landesgesetz von 1957 die „Akademie für politische Bildung“ in Tutzing gegründet<br />
werden. 1958 erhielt von Knoeringen den Posten des stellvertretenden Vorsitzenden<br />
der SPD-Bundespartei. Um sich auf die Grundlagen- und Bildungsarbeit und auf die<br />
Gesellschafts- und Kulturpolitik zu konzentrieren, verzichtete von Knoeringen 1963 auf<br />
die Kandidatur des Landesvorsitzenden der SPD. In seiner Rede stellte er dies dar: „Seit<br />
37 Jahren gehöre ich dieser Partei an. Begeistert von ihren Ideen bin ich als Zwanzigjähriger<br />
zu ihr gestoßen ... 36 Jahre habe ich ihr in verantwortlichen Funktionen dienen dürfen.<br />
Ich kenne die Stürme der vorfaschistischen Zeit und ich hatte die Ehre – die höchste,<br />
die mir zuteil wurde – in den zwölf Jahren der Illegalität der Grenzsekretär unserer Partei<br />
in Bayern zu sein ... Ich kenne die Partei. Sie war, sie ist mein Leben und gerade darum<br />
will ich einen Schritt zurücktreten aus der vordersten Reihe. Was ich in der Vergangenheit<br />
mit Leidenschaft verfolgt habe, aber nur nebenher tun konnte, möchte ich nun mit ganzer<br />
Kraft betreiben. Es ist der Arbeitsbereich Kultur- und Gesellschaftspolitik ... Wenn ich die<br />
264 Knoeringen, Waldemar von: Der Weg in die Sozialdemokratie. Auch in: Mehringer, Hartmut (1989):<br />
Waldemar von Knoeringen: 335<br />
265 Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar von Knoeringen: 310–311<br />
266 Arbeitsbericht 1948. In: Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar von Knoeringen: 337<br />
127
Unterstützung der Partei dabei finde ... werden sich auch die Früchte dieser Arbeit zeigen.“<br />
267<br />
Waldemar von Knoeringen setzte beharrlich darauf, seine Erkenntnis zu verbreiten, dass<br />
sozialdemokratische Politik nicht allein den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt,<br />
sondern den Menschen in den Mittelpunkt aller Politik stellen sollte. Schon damals<br />
(1968) befasste er sich mit höchst aktuellen Fragestellungen wie der „Bedrohung des biologischen,<br />
klimatischen und landschaftlichen Gleichgewichts“, den „soziokulturellen Problemen<br />
der Arbeitszeitverkürzung“ und der Frage der „sozialen und wirtschaftlichen Integration“<br />
von Gastarbeitern.“ 268<br />
Waldemar von Knoeringen trat mit seiner Person für den humanen Sozialismus ein und<br />
stellte seine Persönlichkeit in den Dienst der Sozialdemokratischen Partei. Bereits in jungen<br />
Jahren wusste er: „Ich aber finde keinen Sinn in einem Leben, das nur auf persönliches<br />
Wohl und Glück eingerichtet ist. Ich bedauere die Menschen, die in ärmlicher Sorge<br />
nur darauf bedacht sind, daß sie in der Gesellschaft nicht ,anecken´. Diese bürgerliche<br />
Halbbildung, dieses schöne und doch scheinheilige Getue hat schon viel Unheil angerichtet<br />
und verbirgt seine Hohlheit auch nicht hinter schönen Kleidern und modernen Moden.“<br />
269<br />
Im Alter von 64 Jahren starb Waldemar von Knoeringen am 2. Juli 1971 an Herzversagen.<br />
Seine Aufsätze, Texte und Beiträge sind nicht nur geschichtliche Dokumente, sondern<br />
„Waldemar von Knoeringen hat uns auch heute noch viel zu sagen.“ 270<br />
Ehrungen<br />
Waldemar-von-Knoeringen-Preis: Verliehen am 4. Juni 1983 in Kochel an Karl Anders.<br />
1984 verliehen an Professor Richard Löwenthal.<br />
Ausstellung<br />
9. Oktober – 26. November 1998: Widerstand, Verweigerung und Protest gegen das<br />
NS-Regime in München. Projekt des Kulturreferats und der Landeshauptstadt München;<br />
konzipiert von Marion Detjen und Peter Dorsch. Gezeigt im Neuen Münchner Rathaus.<br />
267 Werner, Emil (1982): Im Dienste der Demokratie: 185f. Auch in: Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar<br />
von Knoeringen: 383–384<br />
268 Knoeringen, Waldemar von (1968): Geplante Zukunft. München. Auch in: Mehringer, Hartmut (1989):<br />
Waldemar von Knoeringen: 384<br />
269 Knoeringen, Waldemar von (1981): Reden und Aufsätze: 16<br />
270 Rothemund, Helmut (1981): Vorwort. In: Waldemar von Knoeringen (1981): Reden und Aufsätze: 10<br />
128
Tagung<br />
6.–7. Juli 2001: Mobilisierung der Demokratie. Tagung anlässlich des 30. Todestages<br />
von Waldemar von Knoeringen. Ein Zukunftsthema in Erinnerung an Waldemar von<br />
Knoeringen in der Akademie für politische Bildung Tutzing.<br />
Sendung im Bayerischen Rundfunk<br />
1. Mai 1977: Waldemar von Knoeringen. Zusammengestellt von Heike Bretschneider.<br />
Literatur<br />
Asgodom, Sabine (Hrsg.) (1983): „Halt´s Maul – sonst kommst nach Dachau!“ Männer und Frauen der Arbeiterbewegung<br />
berichten über Widerstand und Verfolgung unter dem Nationalsozialismus. Köln<br />
Boberach, Heiz (1965): Die Quellenlage zur Erforschung des deutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus.<br />
In: Stand und Problematik der Erforschung des Widerstands gegen den Nationalsozialismus.<br />
Bonn, Bad-Godesberg: 84–112<br />
Bretschneider, Heike (1968): Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in München 1933–1945. München<br />
Broszat, Martin et al. (Hrsg.) (1983): Bayern in der NS-Zeit. Band 1–4. München, Wien<br />
Edinger, Lewis J. (1960): Sozialdemokratie und Nationalsozialismus. Der Parteivorstand der SPD im Exil<br />
1933–1945. Hannover, Frankfurt a. M.<br />
Detjen, Marion (1998): „Zum Staatsfeind ernannt“. Widerstand, Resistenz und Verweigerung gegen das NS-<br />
Regime in München. Hrsg. v. d. Landeshauptstadt München. Buchendorfer Verlag, München<br />
Faulk, Henry (1970): Die deutschen Kriegsgefangenen in Großbritannien (= Zur Geschichte der deutschen<br />
Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkriegs, Band IX/2) München<br />
Felder, Josef (1982): Mein Weg. Buchdrucker – Journalist – SPD-Politiker. In: Abgeordneter des Deutschen<br />
Bundestags. Aufzeichnungen und Erinnerungen. Band 1. Boppard a. Rhein<br />
Grebing, Helga (1970): Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Ein Überblick. München<br />
Grebing, Helga (Hrsg.) (1984): Entscheidung für die SPD. Briefe und Aufzeichnungen linker Sozialisten<br />
1944–1949. München<br />
Grebing, Helga (1985): Was wird aus Deutschland nach dem Krieg? Perspektiven linkssozialistischer Emigranten<br />
für den Neubau Deutschlands nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Diktatur. In:<br />
Exilforschung 3/1985: 31–42<br />
Kraus, Elisabeth (1993): Das sozialistische Arbeitermilieu. Zur Soziologie des sozialistischen Arbeitermilieus<br />
in München. In: München – „Hauptstadt der Bewegung“. Ein Projekt des Münchner Stadtmuseums.<br />
Klinkhardt & Biermann, München: 425–432<br />
Knoeringen, Waldemar von (Hrsg.) (1966): Mobilisierung der Demokratie. Ein Beitrag zur Demokratiereform.<br />
Olzog Verlag<br />
Knoeringen, Waldemar von / Lohmar, Ulrich (Hrsg.) (1968): Was bleibt vom Sozialismus. Schriftenreihe<br />
„Mobilisierung der Demokratie“. Verlag für Literatur u. Zeitgeschehen, Hannover<br />
Knoeringen, Waldemar von (1981): Reden und Aufsätze. Zusammengestellt von Emil Werner. Hrsg. v. SPD-<br />
Landesverband Bayern. Druckhaus Bayreuth, Bayreuth<br />
Knoeringen, Waldemar von (1981): Anthropologische Orientierung der Politik. In: Knoeringen, Waldemar<br />
von / Lohmar, Ulrich (Hrsg.) (1981): Was bleibt vom Sozialismus? Verlag für Literatur und Zeitgeschehen,<br />
Hannover: 93–107<br />
129
Kronawitter, Hildegard (1988): Wirtschaftskonzeption und Wirtschaftspolitik der Sozialdemokratie in Bayern.<br />
München, New York, London, Paris<br />
Löwenthal, Richard / von zur Mühlen, Patrik (Hrsg.) (1982): Widerstand und Verweigerung in Deutschland<br />
1933–1945. Dietz Verlag, Bonn<br />
Löwenthal, Richard (1984): Die Haltung der Sozialdemokratie zur Zukunft. Rede anlässlich der Verleihung<br />
des Waldemar-von-Knoeringen-Preises 1984. In: Georg-von-Vollmar-Akademie (Hrsg.): Waldemar-von-<br />
Knoeringen-Preis 1984. München<br />
Mehringer, Hartmut (1983): Die bayerische Sozialdemokratie bis zum Ende des NS-Regimes. Vorgeschichte,<br />
Verfolgung und Widerstand. In: Bayern in der NS-Zeit, hrsg. v. Martin Broszat u. Hartmut Mehringer.<br />
München, Wien: 287–432<br />
Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar von Knoeringen. Eine politische Biographie. Der Weg vom revolutionären<br />
Sozialismus zu sozialen Demokratie. Hrsg. v. Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung u. d.<br />
Institut für Zeitgeschichte München. Schriftenreihe der Georg-von-Vollmar-Akademie. Band 2. K. G.<br />
Saur Verlag, München<br />
Nerdinger, Eugen (1965): Die unterliegen nicht, die für eine große Sache sterben! Augsburg<br />
Nerdinger, Eugen (1979): Flamme unter Asche. Augsburg<br />
Nerdinger, Eugen (1984): Brüder zum Licht empor. Ein Beitrag zur Geschichte der Augsburger Arbeiterbewegung.<br />
Hirmer Verlag, Augsburg<br />
Seebacher-Brandt, Brigitte (1984): Biedermann und Patriot. Erich Ollenhauer – ein sozialdemokratisches Leben.<br />
Diss. phil. FU Berlin. Rheinbreitbach<br />
Sontheimer, Kurt (1979): Die verunsicherte Republik. Die Bundesrepublik nach 30 Jahren. München<br />
Sontheimer, Kurt (1979): Die Bundesrepublik und ihre Bürger. In: Scheel, Walter (Hrsg.): Nach dreißig Jahren.<br />
Die Bundesrepublik Deutschland – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Stuttgart<br />
Vollmar, Georg von (1891): Vom Optimismus. Aufsätze. In: Münchner Post v. 1.–4.8.1891<br />
Werner, Emil (1980): Im Dienste der Demokratie. Die bayerische Sozialdemokratie nach der Wiedergründung<br />
1945. München<br />
Werner, Emil (1985): Waldemar von Knoeringen 1906–1971. München<br />
Wiesemann, Falk (1971): Die Vorgeschichte der nationalsozialistischen Machtübernahme in Bayern 1932/<br />
1933. Berlin<br />
zur Mühlen, Patrik von (1982): Sozialdemokraten gegen Hitler. In: Widerstand und Verweigerung in Deutschland<br />
1933–1945. Hrsg. v. Richard Löwenthal und Patrik von zur Mühlen. Dietz Verlag, Bonn: 57–75<br />
130
König, Lothar Prof. Dr. SJ<br />
*3.1.1906 Stuttgart †5.5.1946 München<br />
„Wiederherstellung des Bewußtseins von naturgegebenen, von jeder staatlichen und<br />
politischen Ordnung unabhängigen Menschenrechten, deren Beschneidung<br />
oder Vergewaltigung den Menschen zerstört<br />
und jedem gemeinschaftlichen Leben Sinn und Berechtigung nimmt.“<br />
So formulierte Pater Alfred Delp SJ die Ziele des „Kreisauer Kreises.“ 271<br />
Gedenktafel am<br />
Berchmanskolleg<br />
Foto: H. Engelbrecht<br />
Pater Lothar König SJ<br />
Foto: Archivum Monacense SJ<br />
271 Delp, Alfred (1985): Gesammelte Schriften, Band IV: 380. Auch in: Roon, Ger van (1998): Widerstand<br />
im Dritten Reich: 152<br />
131
Gedenktafel<br />
Berchmanskolleg, Kaulbachstraße 31a, Schwabing<br />
Giselastraße U3/U6<br />
Katholische Kirche 1996<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
Am Eingang zum Berchmanskolleg steht auf einer Gedenktafel folgender Text: „Dieses<br />
Haus war unter der Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus ein Zentrum des katholischen<br />
Widerstands. Hier trafen sich mit dem Jesuitenprovinzial Augustinus Rösch die Patres<br />
– Rupert Mayer – Lothar König – Alfred Delp. Hier fanden 1942–1943 mit Helmuth<br />
Graf Moltke geheime Treffen des Kreisauer Kreises statt. Alle riskierten ihr Leben, viele<br />
verloren es.“<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Rolle im Widerstand „Kreisauer Kreis“<br />
Der Jesuitenpater Dr. Lothar König (Professor für Kosmologie) übernahm als engster<br />
Mitarbeiter von Augustinus Rösch die Rolle eines Kuriers. Mit seinen zahlreichen Reisen<br />
sorgte er für ausreichenden Informationsfluss und zeitliche Abstimmung der Aktivitäten<br />
in den Widerstandskreisen. So schrieb er in seinen Taschenkalender über den<br />
Zeitraum des Jahres 1941 „Fahrtkilometer Januar bis zum 4.12.1941: 77 000 km“. Er<br />
übernahm dabei die Übermittlung von Nachrichten und Dokumenten, traf sich persönlich<br />
mit James Graf von Moltke, Eugen Gerstenmeier und anderen Vertretern der Widerstandsgruppen<br />
in Bayern. Wie in den Schriften der Historiker Ger van Roons und<br />
Roman Bleisteins aufgezeigt wurde, hatten Pater König und Pater Rösch wesentlichen<br />
Anteil daran, dass die Mehrzahl der Bischöfe stärker und auch öffentlich ihre Stimme<br />
gegen den Nationalsozialismus erhoben. Er war in den Attentatsplan gegen Hitler eingeweiht<br />
und diesen voll bejaht.<br />
Ebenso wie Rösch (siehe Band 3: Rösch) wurde Lothar König nach dem gescheiterten<br />
Attentat vom 20. Juli 1944 steckbrieflich gesucht. Der Verhaftung im Pullacher Berchmanskolleg<br />
(hier war bis 1969 die Philosophische Hochschule der Jesuiten) konnte er in<br />
letzter Sekunde entgehen. Er fand dort im Kohlenkeller ein sicheres Versteck, in dem er<br />
trotz einer schweren Krankheit und dank der Hilfe des Mitbruders Max Manall überlebte.<br />
Lothar König starb am 5. Mai 1946 an den Auswirkungen der unmenschlichen Lebensbedingungen<br />
während der Verfolgung.<br />
132
Literatur<br />
Bleistein, Roman (1982–1985): Alfred Delp. Gesammelte Werke. 4 Bände. München<br />
Bleistein, Roman (1986): Lothar König ein Jesuit im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. In: Stimmen<br />
der Zeit Nr. 204: 313ff<br />
Bleistein, Roman (1987): Dossier: Kreisauer Kreis. Dokumente aus dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus.<br />
Aus dem Nachlass von Lothar König S. J. Knecht Verlag, Frankfurt a. M.<br />
Bleistein, Roman (1993): Die Jesuiten und der Kreisauer Kreis in München. In: München – „Hauptstadt der<br />
Bewegung“. Ein Projekt des Münchner Stadtmuseums. Klinkhardt & Biermann, München: 436–437<br />
Bleistein, Roman (1993/94): Topographie des Widerstands in München – Weiße Rose – Kreisauer Kreis.<br />
Hochschule für Philosophie München<br />
Delp, Alfred (1955): Kämpfer, Beter, Zeuge. Letzte Beiträge von Freunden. Morus Verlag, Berlin<br />
Delp, Alfred (1985): Im Angesicht des Todes. Gesammelte Schriften, Band 4. Knecht Verlag, Frankfurt a. M.<br />
Delp, Alfred / Bleistein, Roman (1992): Gesammelte Schriften. Knecht Verlag, Frankfurt a. M.<br />
Oswald, Julius / Bleistein, Roman (2000): Schule des Denkens. 75 Jahre Philosophische Fakultät der Jesuiten<br />
in Pullach und München. Verlag Kohlhammer, Stuttgart<br />
Roon, Ger van (1967): Neuordnung im Widerstand. Der Kreisauer Kreis innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung.<br />
C. H. Beck Verlag, München<br />
Roon, Ger van (1986): Der Kreisauer Kreis im Ausland. In: Politik und Zeitgeschichte, Band 50/86: 31–46<br />
Roon, Ger van (1988): Der Kreisauer Kreis zwischen Widerstand und Umbruch. Beiträge zum Widerstand<br />
1933–1945, Heft 26. Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin. Felgentreff & Goebel, Berlin<br />
Roon, Ger van (1998): Widerstand im Dritten Reich. Ein Überblick. Beck´sche Reihe Band 19: 141–158<br />
Schoenhoven, Klaus (1983): Der politische Katholizismus in Byern unter der NS-Herrschaft 1933–1945. In:<br />
Bayern in der NS-Zeit, Band 5. München<br />
Schwaiger, Georg / Pfister, Peter (1999): Blutzeugen der Erzdiözese München und Freising. Schnell & Steiner,<br />
Regensburg<br />
Winterhager, Wilhelm Ernst (1985): Der Kreisauer Kreis. Porträt einer Widerstandsgruppe. Begleitband zu<br />
einer Ausstellung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Mainz<br />
Winterhager, Wilhelm Ernst (1987): Politischer Weitblick und moralische Konsequenz. Der Kreisauer Kreis<br />
in seiner Bedeutung für die deutsche Zeitgeschichte. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Heft<br />
38: 402–417<br />
133
Kolb, Annette<br />
*3.2.1870 München †3.12.1967 München<br />
„Ihre Bücher gehören zu den wichtigsten gesellschaftskritischen Zeugnissen unserer<br />
Literatur seit Fontane, sie enthalten wahrhafte politische, auch völkerpsychologische<br />
Einsichten jenseits der beliebten, bequemen und meistens pharisäerhaft wertenden<br />
oder abwertenden Klischees.“<br />
Max Rychner, der Schweizer Literaturhistoriker über Annette Kolb 272<br />
Grabmal von Annette Kolb<br />
(Bogenhausener Friedhof)<br />
Foto: H. Pfoertner<br />
Annette Kolb<br />
Foto: Stadtarchiv München<br />
272 Bauschinger, Sigrid (Hrsg.) (1993): Ich habe etwas zu sagen: 183<br />
134
I. Grabmal<br />
Friedhof St. Georg, Kirchplatz 1, Bogenhausen<br />
Max-Weber-Platz U4/U5 und Tram 18<br />
M (1967)<br />
II. Annette-Kolb-Anger, Neuperlach<br />
M (1971)<br />
III. Gedenktafel<br />
Händelstraße1, Bogenhausen<br />
Max-Weber-Platz U4/U4 und Tram 18<br />
M (1985)<br />
Zu III. Gedenktafel<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Die Landeshauptstadt München veranlasste im Januar 1981 die Anbringung einer Gedenktafel<br />
für die Schriftstellerin Annette Kolb. Die Gedenktafel wurde am 1. Juli 1985<br />
vom zweiten Münchner Bürgermeister Dr. Klaus Hahnzog enthüllt.<br />
INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER<br />
Die Gedenktafel hat Professor Dr. Ing. Horst Auer gestaltet.<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Anne Mathilde, genannt Annette, wurde als drittes Kind von Sophie (geb. Danvin) und<br />
Max Kolb am 3. Februar 1870 in München in der Sophienstraße 7 geboren. Sie ist das<br />
drittjüngste von sechs, das Säuglingsalter überlebenden Kindern. Die in Paris geborene<br />
Mutter stammte aus der Familie des bekannten französischen Landschaftsmalers Félix<br />
Danvin und Constance Amélie Lambert Danvin, die am Pariser Konservatorium als Pianistin<br />
ausgebildet worden war. Der Vater Max Kolb war „als illegitimer Sohn einer Zofe<br />
der Königin Therese von Bayern und eines unbekannten Adeligen“ 273 in München geboren.<br />
Zum Gartenarchitekten ausgebildet, erhielt er vom Hofe der Wittelsbacher den Auftrag,<br />
die Gartenanlagen zur Weltausstellung in Paris zu gestalten. Hier lernten sich die El-<br />
273 Werner, Charlotte (2000): Annette Kolb: 10–11<br />
135
tern von Annette Kolb kennen, wo auch die Vermählung stattfand. Als Max Kolb vom König<br />
Maximilian II. von Bayern die Ernennung zum Inspektor des Botanischen Gartens in<br />
München erhielt, siedelte das junge Paar in die Residenzstadt. Sophie Kolb stimmte einen<br />
Umzug nach München zu, wollte ihn aber zeitlich begrenzen. Hier schuf sie einen Salon,<br />
in dem bedeutende Persönlichkeiten aus Europa verkehrten; insbesondere pflegte sie<br />
Freundschaft mit dem Hofkonzertmeister Hans von Bülow und dessen Gattin Cosima, die<br />
spätere Ehefrau von Richard Wagner. Mit ihren beiden älteren Schwestern Louise (*1865)<br />
und Germaine (*1867) verband Annette Kolb eine innige Beziehung.<br />
Im Alter von sechs Jahren bekam sie eine Freistelle in der von den Salesianern geleiteten<br />
Klosterschule Thurnfeld bei Hall in Tirol. Dies war der Dank des Klosters dafür, dass Max<br />
Kolb den Klostergarten gestaltet hatte. 274 Nach sechsjähriger Schulzeit kehrte Annette auf<br />
eigenen Wunsch nach München zurück. Hier besuchte sie die Privatschule von Therese<br />
Ascher. Sie erhielt zusätzlich musikalische Ausbildung und berichtete über diese Jahre:<br />
„Ich hatte am Speicher oben ein Zimmer mit sechs kleinen Fenstern und einen Flügel.<br />
Man gab mir gute Lehrer für das Klavier. Ich spielte als Kind sehr gut, und es wurde schon<br />
daran gedacht, daß ich vielleicht Pianistin werden würde ... Ich war keine wirkliche Pianistin,<br />
und darum ließ ich es auch sein. Aber ich spielte zu meinem Vergnügen.“ 275<br />
In dem geselligen Haus, das die Mutter pflegte, lernte Annette viele hochgestellte Persönlichkeiten<br />
kennen. Zu ihrem Bekanntenkreis gehörte der Bildhauer Adolf von Hildebrand,<br />
die Familie des Malers Friedrich von Kaulbach und die des „Malerfürsten“ Franz von Lenbach.<br />
So unterhielt die Familie Kolb auch Kontakt zu der Familie des angesehenen Mathematikprofessors<br />
Pringsheim. Seine Tochter – die spätere Katia Mann – sagte dazu, dass<br />
sie Annette Kolb kannte, lange bevor sie Thomas Mann begegnete. 276 Auch besuchten Diplomaten<br />
aus Frankreich und Großbritannien das Kolb‘sche Haus.<br />
Der Weg zur Schriftstellerin<br />
Erste schriftstellerische Versuche unternahm Annette Kolb 1899 mit kurzen Aufsätzen,<br />
die sie in verschiedenen Zeitschriften publizierte. Die Inhalte bezogen sich auf die politische<br />
und gesellschaftspolitische Situation Europas sowie auf bedeutende französische<br />
Künstler, Diplomaten und Intellektuelle. Dabei war eines ihrer Hauptanliegen die Vermittlung<br />
zwischen Deutschland und Frankreich. In einem Selbstporträt nahm sie dazu<br />
Stellung: „... und als ich aufwuchs, da lag mir immer mehr am Herzen, daß die Franzosen<br />
und die Deutschen sich so liebten, wie ich die beiden zusammen liebte, denn ich habe zu<br />
beiden in gleichem Maße gehört.“ 277<br />
274 Werner, Charlotte (2000): Annette Kolb: 18<br />
275 Bauschinger, Sigrid (Hrsg.) (1993): Ich habe etwas zu sagen: 111<br />
276 Mann, Katia (1994): Meine ungeschriebenen Memoiren: 14<br />
136
1905 erschien in der „Neuen Rundschau“ in Berlin der Text Torso. Unterstützt von ihrem<br />
wichtigsten Förderer, dem Schriftsteller Franz Blei (1871–1942), der Novellist, zeitkritischer<br />
Essayist und Herausgeber der Zeitschrift „Hyperion“ war, übersetzte sie Gilbert<br />
Keith Chestertons Roman Orthodoxie für die gleichnamige Zeitschrift. Über Annette<br />
Kolb hielt Blei in Glanz und Elend berühmter Frauen und in dem Großen Bestarium der<br />
modernen Literatur Folgendes fest: „Annette hat den Typus einer Frau als Vorläuferin<br />
vorweggenommen und lebendig hingestellt, wie wir ihn als geläufigen Typus für einmal in<br />
dreißig Jahren erhoffen ... Ja, die große Vorläuferin dieses erlösten und erlösenden Frauentypus<br />
ist die Annette.“ 278<br />
Der Durchbruch als Autorin gelang Annette Kolb 1912 mit dem Roman Das Exemplar,<br />
der zuerst in der „Neuen Rundschau“ veröffentlicht wurde. Ein Jahr später erschien dieser<br />
Roman als Buch beim Samuel Fischer Verlag in Berlin. Die Schriftstellerin Luise Rinser<br />
äußerte sich dazu in der „Züricher Woche“: „Wer Annette Kolb kennenlernen will, tut gut<br />
ihren frühen Roman „Das Exemplar“ zu lesen. Denn die Heldin dieses Romans ist Mariclée,<br />
ist Annette Kolb; alle ihre spätere Erfahrung ist in diesem Buch vorweggenommen.<br />
Ein Meisterstück der Selbstdarstellung, aus einer großen Distanz zu sich selber entstanden,<br />
voll gescheiter und melancholischer Selbstironie, voller Humor und Witz, und nicht<br />
zu vergessen; ein bezaubernder und eigentümlicher Liebesroman.“ 279 1914 erschien ein<br />
Band im Leipziger Verlag der Weißen Bücher unter dem Titel Wege und Umwege, den<br />
Franz Blei redigiert hatte.<br />
Erster Weltkrieg<br />
Mit der Kriegserklärung an Frankreich am 3. August 1914 marschierten die Deutschen gegen<br />
das Land, das Annette Kolb so verehrte. Sie konnte ihre Verzweiflung darüber nicht<br />
verbergen und drückte in einem Brief an den Schriftsteller Alfred Walter Heymel (1878–<br />
1914) ihre Stimmung mit folgenden Worten aus: „... ich beneide die Toten.“ 280 War Annette<br />
Kolb anfangs von einem deutschen Patriotismus ergriffen, so wandelte sie sich zur<br />
radikalen Pazifistin. Als ihr Freund Walter Heymel am 26. November 1914 im Alter von<br />
36 Jahren gefallen war, begehrte sie gegen dieses sinnlose „Heldentod“-Sterben auf. Mit<br />
einem Vortrag in Dresden am 25. Januar 1915 löste Annette Kolb eine deutsche Pressekampagne<br />
aus, als sie sich für die Gründung der „Internationalen Rundschau“, einer Zeitschrift<br />
pazifistischer Richtung, aussprach. Ihr Engagement für politischen Frieden hatte<br />
277 Bauschinger, Sigrid (Hrsg.) (1993): Ich habe etwas zu sagen: 87<br />
278 Blei, Franz (1927): Glanz und Elend berühmter Frauen. In: Bauschinger, Sigrid (Hrsg.) (1993): Ich habe<br />
etwas zu sagen: 78<br />
279 Weltwoche Zürich v. 12.8.1955, Fragmentarisches über Annette Kolb. In: Werner, Charlotte (2000):<br />
Annette Kolb: 96<br />
280 Bauschinger, Sigrid (Hrsg.) (1993): Ich habe etwas zusagen: 90<br />
137
für sie behördliche Überwachung und schließlich polizeiliche Briefsperre und Reiseverbot<br />
zur Folge. 281 Von ihrem Freund, dem Diplomaten Richard von Kühlmann vermittelt, erhielt<br />
Annette Kolb vom späteren Reichsaußenminister Walter Rathenau einen neuen Pass,<br />
der ihr die Ausreise ermöglichte. Über ihre Ankunft in der Schweiz schrieb sie in<br />
Zarastro: „Am 1. Februar 1917 kam ich gegen Abend definitiv nach Bern. Trotz dieser so<br />
unvermittelt aufblitzenden Vision wurde die Mutlosigkeit, gegen die ich anzukämpfen hatte,<br />
immer drückender, und geradezu trostlos gestaltete sich meine Einfahrt in die Bahnhofshalle.“<br />
282 In Bern verbrachte sie die folgenden drei Jahre. Hier traf sie René Schickle,<br />
den Schriftsteller, Journalisten und Herausgeber der „Weißen Blätter“. Ihm gefiel Kolbs<br />
Einsatz für die Völkerverständigung, außerdem fühlte er sich persönlich mit ihr verbunden,<br />
da er ebenfalls eine französische Mutter und einen deutschen Vater hatte. Während<br />
des in Bern stattfindenden „Internationalen Arbeiter- und Sozialistenkongresses“ im Februar<br />
1919 lernte sie den Politiker Kurt Eisner (siehe Band 1: Eisner) kennen, der sie sehr<br />
beeindruckte. Nach seinem gewaltsamen Tod durch den Mörder Graf von Arco kam sie in<br />
Zarastro darauf zurück: „Wir aber, die in Bern Zeugen der ungeheuren Wirkung seines<br />
Auftretens waren, welche Werbekraft für Deutschland er dort entfaltete, welch stürmische<br />
Sympathien für Deutschland er dort erweckte, oh welch bitterlichen Eindruck machte es<br />
auf uns, in München nicht etwa die Züge dieses heldenhaften Vorläufers, nein, das unbesonnene<br />
Leutnantsgesicht seines Mörders in den Auslagen vorzufinden, dessen hirnloses<br />
und unheilvolles Verbrechen die Schrecken der Räteregierung und alle Gräuel, die von<br />
links und dann von rechts daraus erfolgten, verursachte. Mag ein Herr Studiosus die<br />
Frei(spruch)kugel gegen mich drehen, dafür, daß in diesem wahrscheinlich viel gelesenen<br />
Buch die Wahrheit steht.“ 283<br />
Nach Kriegsende erkundete Annette Kolb auf Reisen in Europa die kulturellen Veränderungen,<br />
die inzwischen stattgefunden hatten. Besonders verfolgte sie die Entwicklung in<br />
Frankreich hinsichtlich Politik und Literatur. Ebenso galt ihr Interesse dem literarischen<br />
Schaffen der Weimarer Republik in Deutschland. In Berlin bemühten sie die Verleger der<br />
„Neuen Weltbühne“ und des „Berliner Tagblattes“ um ihre Beiträge. Hier traf sie den<br />
Kunstmäzen und Sammler Harry Graf Kessler (1867–1937) und den belgischen Architekten<br />
Henry van den Velde (1863–1957).<br />
Ihr Wunsch nach einem eigenen Heim entstand, als sich ihre guten Bekannten René und<br />
Anna Schickle in Badenweiler in ihrem neu erbauten Haus niederließen. So konnte sie<br />
1923 dort in der Nachbarschaft dieses Ehepaares in ihr eigenes Haus einziehen.<br />
281 Dokumente 69, 70 und 71 in: Bauschinger, Sigrid (Hrsg.) (1993): Ich habe etwas zu sagen: 94–95<br />
282 Kolb, Annette (1921): Zarastro: 11. Auch in: Werner, Charlotte (2000): Annette Kolb: 103<br />
283 Kolb, Annette (1921): Zarastro. Auch in: Werner, Charlotte (2000): Annette Kolb: 106–107<br />
138
Kolbs nächster Roman ist ihrer vielbewunderten, jedoch jung verstorbenen ältesten<br />
Schwester Louise gewidmet und handelt von der Münchner Vorkriegszeit. Ihr Selbstbildnis<br />
darin ist ein jungenhaftes Mädchen mit dem Namen „Mathias“. Nach dem Erscheinen<br />
dieses Romans mit dem Titel Daphne Herbst erhielt sie vom Schriftsteller Jakob Wassermann<br />
eine positive Resonanz. 284 Vom Rowohlt Verlag in Berlin erhielt Annette Kolb den<br />
Auftrag, den damaligen französischen Ministerpräsidenten Aristide Briand in einem Werk<br />
zu würdigen. Der Versuch über Briand erschien 1929. Er hatte sich nach Kriegsende um<br />
eine deutsch-französische Annäherung bemüht und durch sein Mitwirken an Verträgen<br />
Deutschland den Wiedereintritt in den Völkerbund ermöglicht. Von deutscher Seite unterstützte<br />
ihn der Politiker und Nationalökonom Gustav Stresemann. Briand und Stresemann<br />
erhielten 1926 dafür den Friedensnobelpreis. 285<br />
In kulturhistorischen Aufsätzen folgten Berichte über die Städte Paris, Berlin, München<br />
und Wien. In der Kleinen Fanfare sind die Charakteristika der Städte aufgezeichnet.1932<br />
erschienen Aufsätze Annette Kolbs im Beschwerdebuch.<br />
NS-Zeit<br />
Als die Schriftstellerin aus dem Beschwerdebuch am 5. Februar 1933 beim Kölner Rundfunk<br />
vorlas, flogen einige kleine Stinkbomben ins Aufnahmestudio. 286 Dennoch hoffte sie<br />
noch immer auf einen politischen Wandel. Der Schriftsteller Manfred Hausmann machte<br />
sie jedoch darauf aufmerksam, dass das neue Regime kein Recht auf freie Meinungsäußerung<br />
gewähre. Damit konnte sich Kolb nicht arrangieren und sie entschloss sich, sofort zu<br />
emigrieren. Am 21. Februar 1933 verließ sie ihr Haus in Badenweiler und fuhr über die<br />
Schweizer Grenze nach Basel. Sie ahnte das nahende Unglück. „Nun mit einem Male<br />
dämmte der Gedanke an das namenlose Unglück, das ich über Deutschland verhängt sah,<br />
jede Genugtuung zurück.“ 287<br />
In dieser Zeit entstand der autobiographische Roman Die Schaukel, in dem ausgehend<br />
vom Brand des Münchner Glaspalastes die Geschichte einer deutsch-französischen Familie<br />
– ihrer Familie – dargestellt wird. Eltern und Geschwistern schuf sie damit literarische<br />
Ebenbilder.<br />
Unter Vermittlung des ebenfalls emigrierten Bankiers und sozialdemokratischen Politikers<br />
Hugo Simon konnte Annette Kolb in Paris eine Wohnung beziehen. 1936 erhielt sie<br />
die ersehnte Staatsangehörigkeit ihres „Mutterlandes“. 288 Doch war auch dieser Aufent-<br />
284 Werner, Charlotte (2000): Annette Kolb: 146<br />
285 Bauschinger, Sigrid (Hrsg.) (1993): Ich habe etwas zu sagen: 108<br />
286 Kolb, Annette (1960): Memento: 10. In: Werner, Charlotte (2000): Annette Kolb: 169<br />
287 Kolb, Annette (1960): Memento: 16. In: Werner Charlotte (2000): Annette Kolb: 10<br />
139
halt nicht von Dauer: Als die deutschen Truppen im Anmarsch waren, organisierte Annette<br />
Kolb ihre Emigration nach Amerika. Der bereits in New York lebende Schriftsteller<br />
Hermann Kesten erhielt ihre Hilferufe, als sie bereits in Lissabon auf ihre Abreise wartete.<br />
In diesen Tagen fühlte sie sich von Europa vergessen und verlassen. „Niemand schreibt<br />
mir nur ein Sterbenswort.“ 289 Im April 1940 konnte sie dann nach New York abfliegen.<br />
Im Gepäck hatte sie ihr in Barcelona beendetes Manuskript Franz Schubert. Sein Leben.<br />
Mit der Veröffentlichung dieses Buches konnte sie in New York ihren Lebensunterhalt bestreiten.<br />
Der Sohn von Thomas Mann – Klaus Mann – gehörte zu denen, die Annette Kolb<br />
im Exil halfen. In einer von Klaus Mann gegründeten Zeitschrift „Decision“ erschien ein<br />
Aufsatz von ihr unter dem Titel La Débacle. Hier kam ihre politische Einstellung zu Hitler-Deutschland<br />
zum Ausdruck. „Wenn ich heute sage, es gibt Nazis in allen Ländern, wer<br />
könnte mir da widersprechen? Aus verschiedenen psychologischen und politischen Gründen<br />
trägt Deutschland die schreckliche Verantwortung, diese Seuche über die Welt gebracht<br />
zu haben, aber an der Verantwortung für ihre wachsende Verbreitung haben alle<br />
Teil.“ 290 Im amerikanischen Exil versuchte sie der öffentlichen Meinung entgegenzuwirken,<br />
die Nationalsozialismus mit den Deutschen gleichsetzte. Annette Kolb hörte nicht<br />
auf, an das deutsche Volk zu appellieren und zum Widerstand aufzufordern: „... Schleppt<br />
eure Tyrannen vor die Tribunale, bevor es zu spät ist. Sie wollen nicht, daß die Welt zwischen<br />
ihnen und euch unterscheidet. Und das ist die größte Gefahr, vor der ihr steht.“ 291<br />
Auch bemühte sie sich um ihre in Nizza zurückgebliebene und gefährdete Freundin Lotte<br />
Kronheim und ihre Mutter, die auf die Ausreise warteten. Alle Bemühungen kamen zu<br />
spät. Am 20. Januar 1944 wurden sie aus dem Lager Drancy nach Auschwitz deportiert. 292<br />
Rückkehr nach Europa<br />
In Amerika stellte Annette Kolb fest, „habe sie bemerkt, wie europäisch sie sei.“ 293 Sie<br />
kehrte trotz aller Mahnungen am 25. Oktober 1945 über Irland nach Paris zurück. Das<br />
Ausmaß der kriegerischen Zerstörung sah Annette Kolb, als sie im September 1946 nach<br />
München kam, um an der Beerdigung ihrer Schwester Franziska teilzunehmen. Ihren<br />
Kommentar zur Ruinenstadt beendete sie mit folgenden Worten: „Man hätte auf mich hören<br />
sollen, dann wäre alles nicht so gekommen wie es gekommen ist.“ 294 1963 begrüßte<br />
288 Bauschinger, Sigrid (Hrsg.) (1993): Ich habe etwas zu sagen: 135<br />
289 Annette Kolb: Brief an von der Mühl, in Monacensia Archiv 81.820/14. Auch in Werner, Charlotte<br />
(2000): Annette Kolb: 229<br />
290 Annette Kolb in: Decision, Vol. 2, 1941, Nos. 5–6 Münchner Stadtbibliothek, Handschriftenabteilung. In:<br />
Bauschinger, Sigrid (Hrsg.) (1993): Ich habe etwas zu sagen: 171<br />
291 Annette Kolb: Typoskript Münchner Stadtbibliothek, Handschriftenabteilung. In: Bauschinger, Sigrid<br />
(Hrsg.) (1993): Ich habe etwas zu sagen: 174–175<br />
292 Bauschinger, Sigrid (Hrsg.) (1993): Ich habe etwas zu sagen: 172–173<br />
293 Werner, Charlotte (2000): Annette Kolb: 237<br />
140
sie die deutsch-französische Versöhnung mit der Unterzeichnung des Freundschaftsvertrags<br />
und war erfreut über den freundlichen Empfang des Staatsmannes General de Gaulle<br />
in München. Mit großer Freude sah sie die Ernennung von Wilhelm Hausenstein (siehe<br />
Band 1: Hausenstein) zum Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Paris. Annette<br />
Kolb hatte Hausenstein 1903 in München kennen gelernt; mit ihm und seiner Familie verband<br />
sie eine lebenslange Freundschaft.<br />
Rückkehr nach München<br />
Auf Drängen vieler Freunde zog Annette Kolb am 16. Mai 1961 in eine Münchner Wohnung<br />
in der Händelstraße 1 ein. Hier verbrachte sie ihre letzten Lebensjahre. In den 1964<br />
erschienen Essays Zeitbilder stellte sie an ihre Schriftstellerfreunde die Frage: „wann wird<br />
einer von den unseren in einem kleinen Auto unser schönes Bayernland, seine Gebirgswelt,<br />
kreuz und quer befahren und sich wieder weiden an den verstreuten Kapellen, den<br />
Kirchen, den Fassaden, den Schildern, den Wirtshäusern, den Gärten?“ 295<br />
Im März 1967 unternahm Annette Kolb eine lange ersehnte Reise nach Israel, die sie<br />
selbst als den letzten Wunsch ihres Lebens bezeichnete. Die 96-Jährige starb am 3. Dezember<br />
1967 in ihrer Geburtsstadt München. Ihr Grab befindet sich auf dem Friedhof von<br />
St. Georg in Bogenhausen.<br />
Anlässlich einer Ansprache nach der Verleihung des Goethepreises 1955 hatte die Schriftstellerin<br />
gesagt: „Diesen Ausruf: ,Wie gut ist es, daß der Mensch sterbe´, habe ich nicht<br />
zu meinem Wahlspruch gewählt, sondern er bemächtigte sich schon sehr früh meiner, um<br />
nie von mir zu lassen, als ein wachsender Akkord, aufseufzend, beschwichtigend, beschwingend,<br />
tröstend, aufrichtend, erdröhnend.“ 296<br />
Annette Kolb war Kultur- und Gesellschaftskritikerin, die mit scharfem Blick die politische<br />
Szene beobachtete und kommentierte. Sie äußerte sich zu den Fragen der Zeit, wie<br />
zu den Veränderungen im Leben der Frau und zu sozialen Veränderungen. Mit großer<br />
Weitsicht dachte sie stets über Nationalgrenzen hinaus und erkannte die Notwendigkeit<br />
zur Völkerversöhnung und Verständigung, insbesondere zwischen Frankreich und<br />
Deutschland. Hier fühlte sich Annette Kolb dazu berufen, die Rolle einer Vermittlerin zu<br />
übernehmen; sah sie doch in der Bewältigung dieser Frage die Voraussetzung für das zukünftige<br />
Europa. Ihre Ablehnung gegen den Nationalismus hatte seine Wurzel in der Erkenntnis,<br />
dass die Welt mit der Vielfalt der Völker nicht auf diese eine Dimension reduzierbar<br />
ist. In der Auseinandersetzung mit der deutschen, französischen, italienischen und<br />
294 Süddeutsche Zeitung v. 17.9.1946: In: Werner, Charlotte (2000): Annette Kolb: 238<br />
295 Kolb, Annette (1964): 1907–1964 Zeitbilder: 203<br />
296 Kolb, Annette (1964): 1907–1964 Zeitbilder: 203<br />
141
englischen Kultur, Politik und Gesellschaft kam sie zu der Überzeugung, dass es besser<br />
wäre, „nicht mehr nach dem Schema der Nationalitäten zu denken“ 297 , da dieses Denken<br />
den Nationalismus einseitig fördere.<br />
Ausstellung<br />
24. September – 29. Oktober 1993: Ich habe etwas zu sagen: Annette Kolb 1870–1967.<br />
Ausstellung anlässlich des 150-jährigen Bestehens der Münchner Stadtbibliothek. Gezeigt<br />
in der Münchner Stadtbibliothek, Am Gasteig.<br />
Rundfunk<br />
1964 Porträt über Annette Kolb im Westdeutschen Rundfunk.<br />
Film<br />
1983 Die Schaukel. Regie Percy Adlon. Die Rolle des Mathias übernahm Anja Jaenicke,<br />
Madame Lautenschlag spielte Christine Kaufmann.<br />
Ehrungen<br />
1919 Bronzebüste, gestaltet von Georg Kolbe, Kunstmuseum Bern<br />
1931 Gerhard-Hauptmann-Preis<br />
1949 Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz<br />
1950 Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste<br />
1951 Kunstpreis für Literatur der Landeshauptstadt München für das Jahr 1950<br />
1955 Goethe-Preis der Stadt Frankfurt a. M.;<br />
Ehrenbürgerbrief der Gemeinde Badenweiler<br />
1958 Mitglied der Légion d’honneur<br />
1959 Großes Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland<br />
1961 Chevallier des la Légion d’honneur; Bayerischer Verdienstorden;<br />
Literaturpreis der Stadt Köln<br />
1965 Bronzebüste, modelliert vom österreichischen Professors<br />
Ernst Andreas Rauch (1901–1990)<br />
1966 Pour lé mérite für Wissenschaft und Künste. Großes Verdienstkreuz<br />
mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland<br />
1967 Bronzebüste (Privatbesitz), gestaltet von Professor Hans Wimmer<br />
297 Kolb, Annette: England, Irland, Shakespeare. Typoskript, Münchner Stadtbibliothek, Handschriftenabteilung.<br />
In: Bauschinger, Sigrid (Hrsg.) (1993): Ich habe etwas zu sagen: 18<br />
142
Literatur<br />
Bauschinger, Sigrid (Hrsg.) (1993): Ich habe etwas zu sagen: Annette Kolb 1870–1967. Katalog zur Ausstellung<br />
der Münchner Stadtbibliothek. Eugen Diederichs Verlag, München<br />
Bauschinger, Sigrid / Cocalis, Susan L. (Hrsg.) (1993): Wider den Faschismus. Exilliteratur als Geschichte.<br />
Verlag Francke, Tübingen, Basel<br />
Benyoetz, Elazar (1970): Annette Kolb und Israel. Lothar Stiehm Verlag, Heidelberg<br />
Benyoetz, Elazar (1993): Aufklärung findet immer im Dunkeln statt: Drei Briefe, Annette Kolb und die Juden<br />
betreffend. In: Bauschinger, Sigrid (Hrsg.) (1993): Ich habe etwas zu sagen: 27–38<br />
Bermann-Fischer, Gottfried (1967): Bedroht – Bewahrt. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M.<br />
Bermann-Fischer, Gottfried / Bermann-Fischer, Brigitte (1990): Briefwechsel mit Autoren. S. Fischer Verlag,<br />
Frankfurt a. M.<br />
Betraux, Pierre (2001): Un Normalien à Berlin. Lettres franco-allemandes 1927–1933. Edutées, annotées et<br />
commentées par Manfred Bock, Gilbert Krebs et Hansgerd Schulte. Publications de l´Institut d´ Allemand.<br />
Université de la Sorbonne Nouvelle. Paris<br />
Blei, Franz (1911): Gott und die Frauen. Ein Traktat. Georg Müller Verlag, Leipzig<br />
Blei, Franz (1927): Glanz und Elend berühmter Frauen. Rowohlt Verlag, Berlin<br />
Fetzer, John (1993): Die musikalische Muse und Annette Kolb. In: Bauschinger, Sigrid (Hrsg.) (1993): Ich<br />
habe etwas zu sagen: 19–26<br />
Kolb, Annette (1899): Kurze Aufsätze. Putze Verlag, München<br />
Kolb, Annette (1906): Sieben Studien. L´Ame aux deux patries. Jaffe Verlag, München; Die Schaukel. Wiener<br />
Rundschau 5; (1913) Das Exemplar. Roman. S. Fischer Verlag, Berlin; (1916) Briefe einer Deutsch-Französin.<br />
Reiss Verlag, Berlin; (1918) Die Last. Rascher Verlag, Zürich; (1919) Wege und Umwege. 2. u. 3.<br />
Aufl., Hyperion Verlag, Berlin; (1921) Zarasto. Westliche Tage. S. Fischer Verlag, Berlin; (1928) Daphne<br />
Herbst. Roman. S. Fischer Verlag, Berlin; (1929) Versuch über Briand. Rowohlt Verlag, Berlin; (1930)<br />
Kleine Fanfare. Rowohlt Verlag, Berlin; (1932) Beschwerdebuch. Rowohlt Verlag, Berlin; (1937) Mozart.<br />
Sein Leben. Bermann-Fischer Verlag, Wien; (1940) Glückliche Reise. Bermann-Fischer Verlag,<br />
Stockholm; (1947) König Ludwig II. von Bayern und Richard Wagner. Querido Verlag, Amsterdam;<br />
(1953) Beschwerdebuch. Kiepenhauer & Witsch Verlag, Köln, Berlin; (1954) Blätter in den Wind. S. Fischer<br />
Verlag, Frankfurt a. M.; (1960) Memento. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M.; (1968) Daphne Herbst.<br />
In: Die Romane: Das Exemplar. Daphne Herbst. Die Schaukel. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M.; (1983)<br />
König Ludwig II. von Bayern u. Richard Wagner. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M.; (1984) Mozart. Sein<br />
Leben. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M; (1964) Zeitbilder 1907–1964. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.<br />
M.; (1987) Schubert. Sein Leben. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M.<br />
Kolb, Annette / Schickle, René (1987): Briefe im Exil 1933–1940. In Zusammenarbeit m. Heidemarie Gruppe,<br />
hrsg. v. Hans Bender. Die Mainzer Reihe, Band 65. Verlag Hase & Koehler, Mainz<br />
Lemp, Richard (1970): Annette Kolb. Leben und Werk einer Europäerin. Verlag Hase & Koehler, Mainz<br />
Mann, Katia (1994): Meine ungeschriebenen Memoiren. Fischer Verlag, Frankfurt a. M.<br />
Saint-Gille, Anne-Marie (1993): Die Deutsch-Französin und die Politik. In: Bauschinger, Sigrid (Hrsg.)<br />
(1993): Ich habe etwas zu sagen. Annette Kolb 1870–1967: 44–49<br />
Spalek, John M. / Strelka, Joseph (Hrsg.) (1989): Deutschsprachige Exilliteratur. Seit 1933. Band 2. Verlag<br />
Francke, Bern<br />
Werner, Charlotte Marlo (2000): Annette Kolb. Biographie einer literarischen Stimme Europas. Ulrike Helmer<br />
Verlag, Königstein, Taunus<br />
143
Kollwitz, Käthe, Prof. Dr.<br />
*8.7.1867 Königsberg (heute Kaliningrad)<br />
†22.4.1945 Moritzburg, Landkreis Meißen<br />
„Meine Kunst ist keine Atelierkunst, sondern eine Kunst, die lebendige Wurzeln hat.“<br />
Käthe Kollwitz 298<br />
„So etwas von Stille um mich. – Das muß alles erlebt werden!“<br />
Käthe Kollwitz, November 1936 299<br />
Käthe Kollwitz, 1929<br />
Foto: Süddeutscher Verlag<br />
298 Pels-Leusden, Hans (Hrsg.) (o. J.): Käthe-Kollwitz-Museum Berlin<br />
144
I. Städtisches Käthe-Kollwitz-Gymnasium, Nymphenburg<br />
Nibelungenstraße 51a, 80639 München<br />
Rotkreuzplatz U1 und Romanplatz Tram 17<br />
M (1968)<br />
II. Kollwitzstraße, Milbertshofen<br />
M (1947)<br />
Zu I. Städtisches Käthe-Kollwitz-Gymnasium<br />
M (1968)<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Der Initiator Oberstudiendirektor Hauenstein beantragte im Jahre 1967 die Namensänderung.<br />
Die offizielle Umbenennung der Schule, die bis dahin „Louise-Schröder-Gymnasium<br />
II“ hieß, erfolgte im Jahre 1968.<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
In der Eingangshalle des Hauses A (Ostseite) befindet sich eine Kopie eines Selbstbildnisses<br />
von Käthe Kollwitz.<br />
SCHULINTERNE SCHRIFTEN<br />
Walter, Paul (Hrsg.) (1979): Käthe Kollwitz. Leben, Zeitumstände und Werk der Künstlerin.<br />
Hrsg. v. einer SMV-Arbeitsgruppe des Käthe-Kollwitz-Gymnasiums München.<br />
Verlag Th. Kriesl, Geretsried<br />
Walter, Paul (Hrsg.) (1992): 25 Jahre Käthe-Kollwitz-Gymnasium 1967–1992. Jahresbericht<br />
1991/92. Festschrift zur Feier am 20./21./22. Oktober 1992. Hudak-Druck, München-Moosach<br />
SCHULVERANSTALTUNGEN<br />
Veranstaltungen, Jahresberichte, Ausstellungen, Gedenkreden und Aufsätze erinnern an<br />
Leben und Werk der Künstlerin.<br />
299 Fischer, Hannelore (1995). In: Lammert, Angela (Hrsg.) (1994): Ateliergemeinschaft Klosterstraße Berlin<br />
1933–1945: 8<br />
145
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Käthe Kollwitz war das fünfte Kind von Carl und Katharina Schmidt, geborene Rupp. Der<br />
Vater hatte in Königsberg ein Maurergeschäft eröffnet, nachdem er seine juristische Laufbahn<br />
aufgeben musste, da er der verbotenen „Freien Gemeinde“ angehörte. Käthes künstlerische<br />
Begabung wurde von der Familie früh entdeckt und durch privaten Zeichenunterricht<br />
bei einem Königsberger Kupferstecher gefördert. Schon früh entwickelte sich ihre<br />
tiefe Sympathie für die Menschen, die Sujets in ihrem späteren umfangreichen Werk werden<br />
sollen. Mit Begeisterung verfolgte und beobachtete sie das lebhafte Treiben im Königsberger<br />
Hafengelände. Gemeinsam mit ihrer Mutter und Schwester unternahm sie Reisen,<br />
um die Kunst zu entdecken. In München fand ihre erste Begegnung mit Werken Alter<br />
Meister in der Alten Pinakothek statt. In dieser Zeit lernte sie den Schriftsteller Gerhard<br />
Hauptmann in Berlin kennen. Da sie als Mädchen die Kunstschule ihrer Heimatstadt nicht<br />
besuchen durfte, wechselte sie an die Berliner Künstlerinnenschule unter der Leitung des<br />
Schweizers Karl Stauffer-Bern und dessen Freund Max Klinger. Hier wird ihr Zeichentalent<br />
erkannt und gefördert. Bereits in diesen Jahren entstanden Arbeiten, die sich mit dem<br />
individuellen Leid der Armen befassten. In München setzte sie ihr Studium bei Ludwig<br />
Herterich (1856–1932) fort. In dieser Zeit (1888/87) wohnte sie in der Georgenstraße 8<br />
(heute 25). 300 Sie kam auf Wunsch ihres Vaters hierher, der die Heirat mit dem Medizinstudenten<br />
Karl Kollwitz verhindern wollte. In dieser Zeit wendete sie sich vor allem der<br />
Tonmalerei zu; Vorbilder waren die frühen Werke Wilhelm Leibls und Max Liebermanns.<br />
Unter ihren Studienkolleginnen fand Käthe Anerkennung mit einer Darstellung zum Thema<br />
„Kampf“. Über ihre Erfahrung in München berichtete sie: „Wieder hatte ich großes<br />
Glück mit dem Lehrer Ludwig Herterich. Er wies mich zwar nicht so konsequent auf die<br />
Zeichnung hin, sondern nahm mich in seine Malklasse auf. Das Leben, das mich umgab,<br />
war aufregend und beglückend. Ich las zufällig von Max Klinger die Broschüre „Malerei<br />
in der Zeichnung“. Da merkte ich: ich bin ja gar keine Malerin. Aber Herterich konnte<br />
die Augen ausgezeichnet schulen, ich habe in München wirklich sehen gelernt.“ 301<br />
Käthe kehrte nach Berlin zurück und verlobte sich mit ihrem Jugendfreund Karl Kollwitz,<br />
der in Berlin sein Praktikum als Arzt absolvierte. „Das Leben hatte dort, verglichen mit<br />
München, etwas Brausendes. Vielleicht wäre ich untergegangen in jenem Lebensstrudel,<br />
vielleicht hätte er furchtbar auf mich gewirkt. Jedenfalls im Jahr darauf, 1890, war ich wieder<br />
in Königsberg.“ 302 Hier widmete sie sich mit tiefer Sympathie der Darstellung von Menschen;<br />
sie zeichnete sie in Markthallen, Kellerlokalen, auf Straßen und bei der Arbeit. So war<br />
Käthe Kollwitz schon als junges Mädchen vom Sujet des arbeitenden Menschen fasziniert.<br />
300 Das Haus wurde am 13.7.1944 durch Bomben zerstört. In: StadtA Mü<br />
301 Krahmer, Catherine (1986): Käthe Kollwitz: 28<br />
302 Krahmer, Catherine (1986): Käthe Kollwitz: 28<br />
146
Später erklärte sie, warum sie künstlerische Darstellungen aus diesem Themenbereichen<br />
vorzog: „... weil die aus dieser Sphäre gewählten Motive mir einfach bedingungslos gaben,<br />
was ich als schön empfand. Schön war für mich der Königsberger Lastträger, schön waren<br />
die polnischen Jimkies auf ihren Witinnen, schön war die Großzügigkeit der Bewegung im<br />
Volke. Ohne jeden Reiz waren mir Menschen aus dem bürgerlichen Leben ... Dagegen einen<br />
großen Wurf hatte das Proletariat. Erst viel später ... erfaßte mich mit ganzer Stärke des<br />
Schicksal des Proletariats und aller seiner Nebenerscheinungen.“ 303<br />
Am 13. Juni 1891 heiratete sie nach siebenjähriger Verlobungszeit Karl Kollwitz und siedelte<br />
ganz nach Berlin über, wo ihr Mann im Stadtteil Prenzlauer Berg eine Arztpraxis eröffnete.<br />
In ihrer künstlerischen Arbeit wurde Käthe Kollwitz von ihrem Mann unterstützt. Oft begleitete<br />
sie ihren Mann, der als Armenarzt arbeitete. Das Elend, das sie sah, kam in ihren Kunstwerken<br />
zum Ausdruck. Ihr erster Sohn Hans wurde 1892 geboren, Sohn Peter kam 1896 zur<br />
Welt. Von 1900 bis 1903 wirkte sie als Lehrerin an der Berliner Künstlerinnenschule.<br />
In ihrem Werk widmete sich Käthe Kollwitz nun ganz der Graphik. Dabei entdeckte sie<br />
die kraftvolle Präsenz dieser bildnerischen Technik, die sie zu leidenschaftlicher Expressivität<br />
steigert. Nach dem Besuch der Uraufführung von Gerhard Hauptmanns Die Weber<br />
– das Stück handelt vom Aufstand der schlesischen Weber im Jahre 1844 – begann sie den<br />
Zyklus Ein Weberaufstand. Dieser Zyklus setzt Gefühl und Moral, Empörung und Appell<br />
in eine körperliche Sprache um. In der Aktfolge Not, Tod, Beratung, Weberzug und Sturm<br />
kamen die durch das soziale Elend mobilisierten letzten Kräfte der Arbeiterklasse zum<br />
Ausdruck. Ein geschichtliches Ereignis erhielt damit einen symbolhaften Bezug zur Gegenwart,<br />
da es nun auf die Klassenkampfsituation im kaiserlichen Deutschland anspielte.<br />
Mit diesem Werk, das erstmals auf der Großen Berliner Kunstausstellung gezeigt wurde,<br />
gelang ihr der künstlerische Durchbruch. Der Lohn, die Verleihung einer Medaille von der<br />
Berliner Akademie der Künste, wurde ihr vom Kaiser Wilhelm II. mit der Begründung<br />
verweigert: „Das käme ja einer Herabwürdigung jeder hohen Auszeichnung gleich. Orden<br />
und Auszeichnungen gehören auf die Brust verdienter Männer.“ 304<br />
In einem zweiten grafischen Werk Der Bauernkrieg-Zyklus beschäftigte sich Kollwitz mit<br />
dem Bauernkrieg. Diese in den Jahren 1902–1908 entstandenen großformatigen Radierungen<br />
zählen zweifellos zu ihren besten Werken.<br />
Als Mitglied der „Berliner Secession“ (deren Vorsitzender Max Liebermann war), einer<br />
Gegenströmung zum traditionellen Kunstbetrieb der Jahrhundertwende, traf Käthe Kollwitz<br />
mit jungen Künstlern zusammen. Ihre erste Studienreise (1904) führte sie nach Paris,<br />
um sich in der Bildhauerklasse der Akadémie Julian Grundkenntnisse im plastischen Ar-<br />
303 Kollwitz, Tagebücher: 741. In: Fischer, Hannelore (Hrsg.) (1995): Käthe Kollwitz: 35–36<br />
304 Kollwitz, Tagebücher: 738. Auch in: Fischer, Hannelore (Hrsg.) (1995): Käthe Kollwitz: 37<br />
147
eiten zu erwerben. Sie besuchte auch die berühmten Bildhauer Auguste Rodin und Théophile<br />
Alexandre Steinlein in ihren Ateliers. Vom März bis Juni 1907 unternahm sie durch<br />
den von Max Klinger gestifteten „Villa-Romana-Preis“ eine fünfmonatige Reise, die sie<br />
nach Florenz und Rom führte. Ihre Mitarbeit an der Wochenzeitschrift „Simplicissimus“<br />
(gegründet von dem Verleger Albert Langen; erschienen von 1896 bis 1944 in München)<br />
begann im Jahre 1907 und dauerte bis 1909. Sie schuf in dieser Zeit sozialkritische Blätter,<br />
dabei sind die Szenen genau erfasst und machten jeden Kommentar überflüssig. 305<br />
Ein einschneidendes Erlebnis im Leben von Käthe Kollwitz war der Tod ihres 18-jährigen<br />
Sohnes Peter, der als Kriegsfreiwilliger am 22. Oktober 1914 in Flandern fiel. Fünf Wochen<br />
danach fasste sie den Entschluss, ein Denkmal für ihn zu schaffen. 306 Ihre Tagebucheintragungen<br />
aus dieser Zeit zeigen, wie sich Käthe Kollwitz zur Kriegsgegnerin wandelte.<br />
Anlässlich ihres 50. Geburtstags ehrte sie der Philosoph Paul Cassirer mit einer großen<br />
Jubiläumsausstellung. Damit war Käthe Kollwitz berühmt. Die Preußische Akademie der<br />
Künste nahm sie im Jahre 1919 als erste Frau in der Akademie der Künste auf; einige Monate<br />
später erhielt sie den Professorentitel. Die damit verbundene finanzielle Sicherheit<br />
und ein eigenes Atelier in der Akademie entlasteten ihren Mann, der bisher für ihren Lebensunterhalt<br />
sorgte. Zwischen 1922 und 1923 schuf Kollwitz die erste Holzschnittfolge<br />
Krieg, die eine treffende Anklage gegen die Schrecken des Krieges darstellt.<br />
Das Denkmal für ihren Sohn Peter stellte Käthe Kollwitz Ende des Jahres 1931 fertig: es<br />
ist Symbol für die grenzenlose Trauer der Eltern und es ist zugleich ein vollendetes Meisterwerk.<br />
Es ist in Zusammenarbeit mit zwei Bildhauern entstanden: „Wir arbeiten einträchtig<br />
zusammen, der Bildhauer und ich. Er mit dem Meißel und ich immer noch am<br />
Gips, hier und dort, vor allem noch am Kopf“ (der Mutterfigur). 307 Die Steinfiguren kamen<br />
am 2. Juni 1932 in die Vorhalle der Nationalgalerie. Zwei kniende Plastiken, die in<br />
ihrer Haltung nichts anderes als Schmerz, Leid und Trauer in ungeheurer Intensität ausdrücken.<br />
In ihren Tagebuchaufzeichnungen vom 13. Oktober 1925 nahm sie die Gestaltung<br />
dieses in Stein gegossenen tiefen Gefühls vorweg: „Die Mutter soll knien und über<br />
die vielen Gräber blicken. Die Arme breitet sie aus über alle ihre Söhne. Der Vater auch<br />
kniend. Er hat die Hände in den Schoß zusammengepreßt.“ 308 Das Elterndenkmal kam im<br />
Juli 1932 nach Belgien und befindet sich dort seit 1955 am Eingang des Soldatenfriedhofs<br />
von Roggenvelde. 1954 entstanden unter Leitung des Bildhauers Ewald Mataré Kopien,<br />
die seit 1959 als Bronzeabguss in der Ruine der Kölner Sankt Alban-Kirche stehen.<br />
305 Krahmer, Catherine (1986): Käthe Kollwitz: 59<br />
306 Krahmer, Catherine (1986): Käthe Kollwitz: 76<br />
307 Bonus-Jeep, Beate (1948): Sechzig Jahre Freundschaft mit Käthe Kollwitz. In: Krahmer, Catherine<br />
(1986): Käthe Kollwitz: 77<br />
308 9 Krahmer, Catherine (1986): Käthe Kollwitz: 78<br />
148
Gemeinsam mit Albert Einstein, Heinrich Mann, Arnold Zweig und anderen beteiligte<br />
sich Käthe Kollwitz am 18. Juli 1932 angesichts der bevorstehenden Reichstagswahlen an<br />
einem Aufruf zur Einigung der KPD und SPD. Wenige Tage nach Hitlers Machtergreifung<br />
erhielt sie zusammen mit Heinrich Mann die Aufforderung, aus der Preußischen<br />
Akademie der Künste auszutreten. Für die neuen Machthaber gehörte Käthe Kollwitz wegen<br />
der Darstellung sozialer Missstände und wegen ihrer pazifistischen Einstellung zu den<br />
Gegnern. Die international angesehene Künstlerin, die sich auf der Seite der Friedensstifter<br />
befand, zwang man zur „inneren Emigration“. Gleichzeitig verlor sie ihr Amt als Leiterin<br />
der Meisterklasse Grafik an der Akademie und damit ihr Atelier. Ihre Werke entfernte<br />
man aus den öffentlichen Sammlungen. Die 66-jährige Künstlerin fand daraufhin im<br />
Atelierhaus Klosterstraße in Berlin Ersatz. Die geplante umfangreiche Retrospektive anlässlich<br />
ihres 70. Geburtstages im Jahre 1937 in der Berliner Galerie Nierendorf durfte wegen<br />
eines Ausstellungsverbotes – seit 1936 unterlag ihr Werk einer offiziellen Zensur –<br />
nicht stattfinden. Daraufhin schrieb sie an ihre Freundin Beate: „Da ich bereits meine<br />
Graphiken schön geordnet für Nierendorf ... zusammen hatte, hab ich sie jetzt in mein Atelier<br />
bringen lassen und hänge da die Wand voll. Ich liebe es sonst gar nicht, meine eigenen<br />
Arbeiten aufzuhängen, aber dies ergibt eine andere Art Ausstellung. Ein Überblick, wenn<br />
auch sehr lückenhaft über die vierzig Jahre meiner Arbeit.“ 309 In den Jahren 1934–1937<br />
schuf Kollwitz acht Lithographien der Folge Tod.<br />
In der am 19. Juli 1937 eröffneten Münchner Schandausstellung „Entartete Kunst“ war die<br />
1897 entstandene Lithographie von Käthe Kollwitz Not aus dem Zyklus Ein Weberaufstand<br />
ausgestellt. Aus mehreren Museen wurden ihre Holzschnitte und Radierungen beschlagnahmt<br />
– insgesamt 31 Arbeiten. Der Künstler Werner Heldt (1904–1954), der sie<br />
im Atelierhaus Klosterstraße kennen gelernt hatte, schrieb über eine Begegnung mit Käthe<br />
Kollwitz: „Man kann sich keine größere Schlichtheit, Stille, ja fast Schüchternheit vorstellen.<br />
Im Atelier von Hilde Plate feierten wir ihren 70. Geburtstag. Nachher führte sie<br />
uns in ihr Atelier und zeigte uns ihr jüngstes Werk. Man sah ein junges Weib kauern und<br />
mit schützender Gebärde ihre Kinder an sich drücken („Mutter mit Zwillingen“). Niemals<br />
habe ich einen Menschen gekannt, der, ohne selbst ein Wort zu sprechen, durch seine bloße<br />
Gegenwart einen solchen Eindruck machte. Das war das Wunder einer ganz großen<br />
Mütterlichkeit. Man mußte sie einfach liebhaben. Uns Jüngeren hat sie in den Zeiten der<br />
Unterdrückung Trost und Hoffnung gegeben, sie, die selber verfolgt und beleidigt wurde.“<br />
310<br />
309 Bonus-Jeep, Beate (1948): Sechzig Jahre Freundschaft mit Käthe Kollwitz. In: Lammert, Angela (Hrsg.)<br />
(1994): Ateliergemeinschaft Klosterstraße Berlin 1933–1945: 8<br />
310 Kollwitz, Käthe (1966): Briefe der Freundschaft: 186. In: Lammert, Angela (Hrsg.) (1994): Ateliergemeinschaft<br />
Klosterstraße Berlin 1933–1945: 210<br />
149
1938 erhielt sie von einer Klientin Frau Levy den Auftrag, ein Grabmal für ihren verstorbenen<br />
Mann zu schaffen. Für die jüdische Frau brachte sie ihr Mitgefühl zum Ausdruck:<br />
„Ich habe wiederholt an sie gedacht, liebe Frau Levy, nicht nur zur Grabstätte gingen die<br />
Gedanken, sondern zu Ihnen. Glauben Sie mir, wir litten alle gemeinsam tief. Schmerz und<br />
Scham fühlen wir. Und Empörung.“ 311<br />
Mit dem Künstler Ernst Barlach verband Kollwitz eine enge Freundschaft. Von ihm erhielt<br />
sie Anregungen zu eigenen Holzschnitten und bildhauerischen Arbeiten. Barlach<br />
(1870–1938) hat Käthe Kollwitz mit seiner schwebenden Figur im Güstrower Dom ein<br />
Denkmal gesetzt, diese trägt die Gesichtszüge der Künstlerin. Als Barlach im Oktober<br />
1938 starb, verfasste Käthe Kollwitz einen Nachruf: „... worauf der starke Eindruck beruht,<br />
den Barlachs Arbeiten von jeher auf mich machen, so glaube ich, ist es dies, wie er<br />
selbst einmal formuliert hat: ,es ist außen wie innen ... – Seine Arbeit ist außen wie innen,<br />
Form und Inhalt decken sich aufs genaueste.“ 312<br />
Ihr Ehemann, Dr. Karl Kollwitz, der aus gesundheitlichen Gründen seine Praxis aufgab,<br />
starb nach langer Krankheit am 19. Juli 1940. Käthe Kollwitz, 73-jährig, musste ihr Atelier<br />
in der Klosterstraße aufgeben und verlagerte es in ihre Wohnung in die Weißenburger Straße<br />
24 (heute Kollwitzstraße). Die Rekrutierung Minderjähriger zum „Volkssturm“ kommentierte<br />
die Künstlerin nun mit dem Werk Saatfrüchte sollen nicht zermalen werden. Wegen<br />
der immer häufigeren Bombenangriffe auf Berlin zog Käthe Kollwitz zur Bildhauerin Margret<br />
Böning nach Nordhausen. Die 78-jährige musste ihre Wohnung, in der sie über 50 Jahre<br />
gelebt hatte, verlassen. Eine Bombe zerstörte das Haus; viele Bilder und Druckwerke der<br />
Künstlerin wurden dabei vernichtet. Ein weiterer Umzug wurde im Juli 1944 nötig, da Nordhausen<br />
ebenfalls nicht mehr sicher schien. Durch Vermittlung des Prinzen Ernst Heinrich<br />
von Sachsen übersiedelte sie auf den „Rüdenhof“ in Moritzburg bei Dresden.<br />
Dort starb Käthe Kollwitz am 22. April 1945, 78-jährig. Vorerst wurde sie in Moritzburg<br />
beerdigt; später kam ihre Urne in das Familiengrab auf den Berliner Zentralfriedhof Friedrichsfeld.<br />
Dort steht auf dem von ihr selbst geschaffenen Grabrelief, an dem sie seit 1935/<br />
36 gearbeitet hatte, das Goethe-Zitat: „Ruht im Frieden seiner Hände“. In ihrem Tagebuch<br />
schrieb Käthe Kollwitz: „Aus niedergedrückter Stimmung und dem Gefühl, doch<br />
nichts mehr zu sagen zu haben in meiner Arbeit, tauchte wieder der frühere Wunsch auf,<br />
ein Relief für unser Grab zu machen. Nun hab ich es begonnen. Ich bin eigentlich verwundert<br />
darüber, daß die Grabmalkunst so gar nicht gepflegt wird. Man bracht nur einmal<br />
anzufangen, sich damit beschäftigen, so strömen einem geradezu die Motive entgegen.“ 313<br />
311 Kollwitz, Käthe (1966): Briefe der Freundschaft: 86. In: Krahmer Catherine (1986): Käthe Kollwitz: 122<br />
312 Jansen, Elmar: Auguste Rodin: 52. In: Krahmer, Catherine (1986): Käthe Kollwitz: 123<br />
313 Krahmer, Catherine (1986): Käthe Kollwitz: 121<br />
150
Die große Spannweite des künstlerischen Schaffens von Käthe Kollwitz umfasste alle Facetten<br />
des menschlichen Seins und seiner steten Auseinandersetzung mit dem Leben. Dabei<br />
deutete sie nicht nur auf die dunklen Seiten des Lebens wie Not, Hunger, Krieg und<br />
Tod, sondern auch auf die kleinen Freuden menschlicher Zuneigung, der Hoffnung und<br />
menschlichen Glücks. Käthe Kollwitz hat sich selbstbewusst und mit intensiver Lebenskraft<br />
der Wirklichkeit gestellt. Ihr origineller Stil ist zeitlos und hat bis heute nichts von<br />
seiner Aussagekraft verloren.<br />
Die Schriftstellerin Ilse Reicke, die Käthe Kollwitz persönlich kannte, war von ihrer Person<br />
tief beeindruckt „wie ein Felsenhaupt inmitten flüchtiger, schillernder, plaudernder<br />
Wellen: so bedingungslos, wahrhaftig, so unerschütterlich in sich selbst ruhend, so echt,<br />
so stark, so ganz gelassene Kraft.“ 314<br />
Ehrungen<br />
1899 Kleine Goldene Medaille in Dresden<br />
1907 Villa-Romana-Preis<br />
1919 Erstes weibliches Mitglied der Preußischen Akademie der Künste,<br />
Professorentitel<br />
1929 Orden „Pour le mérite“<br />
1928–1933 Leiterin des Meisterateliers für Graphik an der Preußischen Akademie<br />
der Künste, Berlin<br />
Archiv, Gedenk- und Forschungsstätten<br />
Käthe-Kollwitz-Archiv der Berliner Akademie der Künste<br />
1995Gedenkstätte auf dem „Rüdenhof“ in Moritzburg<br />
Ausstellungen<br />
1926: Ausstellung in Moskau.<br />
1932: Ausstellung in Moskau und Leningrad anlässlich ihres 65. Geburtstages.<br />
1938: Exhibition of 20th Century German Art. Gezeigt in London.<br />
Oktober – November 1945: Käthe Kollwitz-Gedächtnisausstellung. Berlin.<br />
1946: Käthe Kollwitz zum Gedächtnis. Augustiner Museum in Freiburg im Breisgau.<br />
1952/53: Käthe Kollwitz. Gezeigt in der Staatlichen Graphischen Sammlung München.<br />
1953: Käthe Kollwitz – Zeichnungen, Graphik, Plastik. Gezeigt im Museum der Villa<br />
Stuck, München.<br />
314 Ilse Reicke, 1961 zitiert in: Krahmer, Catherine (1986): Käthe Kollwitz: 150<br />
151
1960: Käthe Kollwitz Graphik und Zeichnungen aus dem Dresdner<br />
Kupferstichkabinett. Gezeigt im Dresdner Albertinum.<br />
1967: Käthe Kollwitz zum 100. Geburtstag. Gezeigt im Haus der Kunst, München.<br />
1967: Käthe Kollwitz in ihrer Zeit. Ernst-Barlach-Haus Hamburg. „Die Zeichnerin<br />
Käthe Kollwitz.“ Gezeigt in den Graphischen Sammlungen der Staatsgalerie Stuttgart.<br />
1967/68: Käthe Kollwitz. Gezeigt in der Akademie der Künste, Berlin.<br />
1967/68: Käthe Kollwitz und Ernst Barlach. Gezeigt in London und New York.<br />
1969: Mostra di Käthe Kollwitz. Gezeigt in Venedig.<br />
1971/72: Käthe Kollwitz. Gezeigt in Tel Aviv und Jerusalem.<br />
1973: Käthe Kollwitz. Zeichnungen. Gezeigt im Wallraf-Richartz-Museum Köln.<br />
1973/74: Ausstellung Käthe Kollwitz. Gezeigt in Frankfurt a. M., Stuttgart und Berlin.<br />
1977: Käthe Kollwitz. Gezeigt im Museum der Villa Stuck, München.<br />
1985: Käthe Kollwitz-Sammlung der Kreissparkasse Köln. Köln.<br />
20. April – 18. Juni 1995: Käthe Kollwitz, Meisterwerke Zeichnung. Gezeigt im Käthe-<br />
Kollwitz-Museum, Köln.<br />
8. August – 31. Oktober 1999 : Käthe Kollwitz. Gezeigt im Olaf-Gulbransson-Museum<br />
Tegernsee.<br />
12. Mai – 8. Juli 2001: Paula Modersohn-Becker, Käthe Kollwitz. Zwei Künstlerinnen<br />
zu Beginn der Moderne. Gezeigt im Käthe Kollwitz Museum Köln.<br />
16. Juni – 12. August 2001: Käthe Kollwitz – Ernst Barlach. Begegnung. Gezeigt im<br />
Ernst-Barlach-Museum, Wedel.<br />
Museen<br />
Käthe-Kollwitz-Museum Berlin / Charlottenburg, Fasanenstraße 24 und<br />
Käthe-Kollwitz-Museum Köln, Neumarkt 18–24<br />
Denkmal in Berlin<br />
1993 schuf der Berliner Bildhauer Harald Haacke die vierfach vergrößerte Replik der Käthe<br />
Kollwitz Figur Pietá, 1937, Mutter mit totem Sohn für die Neue Wache in Berlin, die<br />
in die „Zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg<br />
und Gewaltherrschaft“ integriert wurde.<br />
Literatur<br />
Bauer, Arnold (1967): Käthe Kollwitz. Berlin<br />
Bohnke-Kollwitz, Jutta (Hrsg.) (1989): Käthe Kollwitz. Die Tagebücher. Berlin<br />
Bohnke-Kollwitz, Jutta (Hrsg.) (1992): Käthe Kollwitz. Briefe an den Sohn 1904–1945. Berlin<br />
152
Bonus, Arthur (1925): Das Käthe-Kollwitz-Werk. Dresden. Erweiterte Ausgabe, 1930, Dresden<br />
Bonus-Jeep, Beate (1948): Sechzig Jahre Freundschaft mit Käthe Kollwitz. Darmstadt<br />
Dreimal Deutschland (1981): Lenbach, Liebermann, Kollwitz. Hamburg<br />
Fischer, Hannelore (Hrsg.) (1995): Käthe Kollwitz: Meisterwerke der Zeichnung. Käthe-Kollwitz-Museum<br />
Köln und DuMont Buchverlag, Köln<br />
Jentsch, Ralph (Hrsg.) (1979): Käthe Kollwitz, Radierungen – Lithographien – Holzschnitte. Eßlingen<br />
Käthe-Kollwitz-Gymnasium (Hrsg.) (1979): Käthe Kollwitz. Leben, Zeitumstände und Werk der Künstlerin.<br />
Hrsg. v. einer SMV-Arbeitsgruppe des Käthe-Kollwitz-Gymnasiums München<br />
Käthe Kollwitz. In: Thieme, U. / Becker, F. (Hrsg.) (1927): Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler. Band<br />
21, Leipzig<br />
Kleberger, Ilse (1987): Käthe Kollwitz – Eine Gabe ist eine Aufgabe. München<br />
Kollwitz, Hans (Hrsg.) (1948): Käthe Kollwitz. Tagebücher und Briefe. Berlin<br />
Kollwitz, Hans (Hrsg.) (1968): Ich sah die Welt mit liebevollen Blicken. Ein Leben mit Selbstzeugnissen. Aus<br />
Tagebüchern. Wiesbaden<br />
Kollwitz, Käthe (1952): Ich will wirken in dieser Zeit. Auswahl von Tagebüchern und Briefen. Ullstein Verlag,<br />
München<br />
Kollwitz, Käthe (1955): Aus Tagebüchern und Briefen. Auswahl v. Horst Wandrey. Berlin<br />
Kollwitz, Käthe (1955): The Diary and Letters of Käthe Kollwitz. Chicago<br />
Kollwitz, Käthe (1966): Briefe der Freundschaft und Begegnungen. München<br />
Kollwitz, Käthe (1967): Briefe an Dr. Heinrich Becker. Bielefeld<br />
Kollwitz, Käthe (1989): Eine Gabe ist eine Aufgabe. Erika Klopp-Verlag, Berlin<br />
Kollwitz, Käthe (1992): Briefe an den Sohn. 1904-1945. Siedler Verlag, Berlin<br />
Kollwitz, Käthe (1992): Die Tagebücher. Siedler Verlag, Berlin<br />
Krahmer, Catherine (1981): Käthe Kollwitz. Rororo Bildmonographien, Band 294. Reinbek b. Hamburg<br />
Koerber, Lenka von (1959): Erlebtes mit Käthe Kollwitz. Darmstadt<br />
Lammert, Angela (Hrsg.) (1994): Ateliergemeinschaft Klosterstraße Berlin 1933–1945. Künstler in der Zeit des<br />
Nationalsozialismus. Edition Hentrich, Berlin<br />
Nagel, Otto (1964): Käthe Kollwitz. In: Frauen der ganzen Welt. Berlin DDR, Band 9: 28/29<br />
Nagel, Otto (1965): Die Selbstbildnisse der Käthe Kollwitz. Berlin<br />
Nagel, Otto / Timm, Werner (1972): Käthe Kollwitz. Die Handzeichnungen. Berlin<br />
Pels-Leusden, Hans (Hrsg.) (o. J.): Käthe-Kollwitz-Museum Berlin. Studio Pels-Leusden, Berlin<br />
Robels, Hella (1973): Käthe Kollwitz. Zeichnungen. Vorwort zum Katalog einer Ausstellung im Wallraf-<br />
Richartz-Museum Köln. Köln<br />
Schad, Martha (1998): Käthe Kollwitz. In: Schad, Martha (1998): Frauen, die die Welt bewegten. Pattloch Verlag,<br />
Augsburg: 126–129<br />
Schmidt-Linsenhoff, Victoria (1987): Käthe Kollwitz (1867–1945) „Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden“.<br />
Wider den Krieg. Große Pazifisten von Immanuel Kant bis Heinrich Böll. Hrsg. v. Christiane Rajewsky<br />
und Dieter Riesenberger. Beck´sche Reihe 322, München<br />
Schulz-Hoffmann, Carla (Hrsg.) (1977): Simplicissimus. Eine satirische Zeitschrift. München 1896–1944. Katalog<br />
zur Ausstellung im Haus der Kunst München v. 119.11.1977–15.1.1978. Karl Thiemig Verlag, München:<br />
283, 464<br />
Thieme, U. / Becker, F. (Hrsg.) (1927): Eintrag zu Käthe Kollwitz in: Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler.<br />
Band 21, Leipzig<br />
Timm, Werner (1975): Zeichnungen von Käthe Kollwitz. In: Dialog 75. Positionen und Tendenzen. Berlin, DDR<br />
Timmer, Werner (Hrsg.) (1993): Käthe Kollwitz. Meisterwerke. Schirmer / Mosel, München<br />
153
154<br />
Kriegsgefangene<br />
„Rußland, den 11.1.43 Liebe Mutter! Leider kann ich Dir heute auch keine bessere<br />
Nachricht geben. Jetzt erst weiß ich, was Hunger ist und wie weh er tut. Schon Wochen<br />
lang muß ich am Tag mit 1½ Schnitten Brot und eimem halben Kochgeschirr Wassersuppe<br />
auskommen ... Keine Zeilen, keine Päckchen habe ich seit dem 18. Nov. ... mehr<br />
von Dir erhalten. Aber ich weiß, daß es nicht Deine Schuld ist, ich weiß auch, daß Du<br />
immer an mich denkst. Gut ist es, daß Du mich nicht in dem Elend siehst ... Im festen<br />
Glauben an eine baldige Änderung grüßt und küßt Dich Dein Sohn Hans.“<br />
Auszug aus einem Brief von der Ostfront. 315<br />
Mahnmal für die<br />
nicht zurückgekehrten<br />
Kriegsgefangenen<br />
Foto: H. Engelbrecht
Mahnmal<br />
Durchgang im Alten Rathaus, Altstadt<br />
Marienplatz S1–S8 und U3/U6<br />
M (1954)<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Zur Erinnerung an die noch nicht zurückgekehrten Kriegsgefangenen Münchens initiierten<br />
die Stadträte ein Mahnmal, das am 10. Oktober 1954 von Oberbürgermeister Thomas<br />
Wimmer eingeweiht werden konnte.<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
Drei trauernde Frauengestalten sind auf einer Muschelkalkplatte (Blaubank) eingemeißelt.<br />
Die Inschrift lautet: „Wir warten auf die Heimkehr unserer Kriegsgefangenen. Ihre<br />
Leiden bleiben unvergessen. Stadt München.“<br />
INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER<br />
Dieses Mahnmal schuf der Münchner Bildhauer Professor Franz-Josef Mikorey.<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Der Münchner Oberbürgermeister Thomas Wimmer erinnerte bei der Einweihung des<br />
Mahnmals die Deutschen an ihre Verpflichtung, alles zu tun, um in der Zukunft solche<br />
„mörderischen Kriege“ zu vermeiden. 316<br />
LITERATUR<br />
„Abends, wenn wir essen, fehlt uns immer einer.“ (2000): Kinder schreiben an die Väter 1939–1945. Rowohlt<br />
Verlag, Berlin<br />
Dönhoff, Friedrich / Barenberg, Jasper (1998): Ich war bestimmt kein Held. Die Lebensgeschichte von Tönnies<br />
Hellmann. Rowohlt Verlag, Reinbek b. Hamburg<br />
Golovchansky, Anatoly / Osipov, Valentin / Prokopenko, Anatoly et al. (Hrsg.) (1993): „Ich will raus aus diesem<br />
Wahnsinn“. Deutsche Briefe von der Ostfront 1941–1945. Aus sowjetischen Archiven. Rowohlt Tb<br />
Verlag Nr. 9325, Reinbek b. Hamburg<br />
Hiemer, Alfred (1997): Zurück aus der Kriegsgefangenschaft. In: Münchner Nachkriegsjahre. Lesebuch zur<br />
Geschichte des Münchner Alltags. Geschichtswettbewerb 1995/96. Hrsg. v. d. Landeshauptstadt München.<br />
Buchendorfer Verlag, München: 161–166<br />
315 Die von der Roten Armee während des Zweiten Weltkrieges beschlagnahmten Briefe stammen aus sowjetischen<br />
Archiven. Zitiert nach Golovchansky, A. et al. (Hrsg.) (1993): „Ich will raus aus diesem Wahnsinn“:<br />
207–208<br />
316 Süddeutsche Zeitung Nr. 235 v. 11.10.1954. In: StadtA Mü ZA Denkmäler<br />
155
Hilger, Andreas (2000): Deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion 1941–1956. Kriegsgefangenenpolitik,<br />
Lageralltag und Erinnerung. Klartext Verlag, Essen<br />
Kaminsky, Annette (Hrsg.) (2000): Heimkehr 1948. Geschichte und Schicksale deutscher Kriegsgefangener.<br />
C. H. Beck Verlag, München<br />
Kurz, Georg (1994): 3002 Tage Russland, Erinnerungen an meine Kriegs- und Gefangenenjahre. Gerhard<br />
Hess Verlag, Ulm-Kisslegg<br />
Lindenauer, Hans (1997): Wieder daheim. In: Münchner Nachkriegsjahre. Lesebuch zur Geschichte des<br />
Münchner Alltags. Geschichtswettbewerb 1995/95. Hrsg. v. d. Landeshauptstadt München. Buchendorfer<br />
Verlag, München: 148–150<br />
Overmann, Rüdiger (2000): Soldaten hinter Stacheldraht. Deutsche Kriegsgefangene des Zweiten Weltkriegs.<br />
Propyläen Verlag, München<br />
Streit, Christian (1997): Die Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen 1941–1945. J. H. W. Dietz Verlag,<br />
Bonn<br />
Streit, Christian (2000): Zweierlei Leid. Andreas Hilgers Studie über die deutschen Kriegsgefangenen in der<br />
Sowjetunion. In: Die Zeit Nr. 48 v. 23.11.2000: 70<br />
156
157<br />
KZ Ehrenhain I<br />
„Die Zeit der physischen und psychischen Anpassung an das Lager war besonders<br />
schwer. Die meisten Häftlinge starben während der ersten drei Monate.“<br />
Stanislav Zamecnik war vom 22. Februar 1941<br />
bis 29. April 1945 Häftling im KZ Dachau. 317<br />
Gedenkstein im KZ Ehrenhain I<br />
Foto: Andreas Olsen<br />
KZ Ehrenhain I<br />
Foto: Andreas Olsen<br />
317 (geb. 12.11.1922). Zitiert in: Benz, W. / Distel, B. (Hrsg.) (1988): Dachauer Hefte 4/1988: 129
KZ Ehrenhain I<br />
Friedhof Perlacher Forst, Gräberfeld 58–61, Giesing<br />
Stadelheimer Straße 240<br />
Schwanseestraße Tram 27<br />
SV (1950)<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Die Landeshauptstadt München ließ nach dem Stadtratsbeschluss vom 7. Februar 1950<br />
eine Grabstätte für die circa 4000 in den Kellerräumen des Krematoriums Ostfriedhof vorgefundenen<br />
Urnen errichten. Am 10. September 1950 fand im Beisein von Vertretern der<br />
Staatsregierung und der Stadtverwaltung die Einweihung mit einer Ansprache des Münchner<br />
Oberbürgermeisters Thomas Wimmer statt.<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
In der 2800 Quadratmeter großen, mit Linden bepflanzten Anlage sind 3996 Urnen bestattet.<br />
Kreuzförmig angelegte Wege laufen in der Mitte der Anlage auf einen Brunnen (2,5<br />
m × 4,3 m) zu, dessen Einfassung folgender Text ziert: „Den Toten zur Ehre, den Lebenden<br />
zur steten Mahnung. Anno MCML.“<br />
Auf dem Boden des Brunnens stellt ein Mosaik das Tor zum Jenseits mit dem Stern der<br />
Hoffnung dar.<br />
44 Gräberfelder, von dem jedes 90 Urnen enthält, sind mit Steinplatten (0,6 m × 0,6 m)<br />
versehen. Den Eingang zum Ehrenhain markiert ein Gedenkstein (0,43 m × 0,80 m × 0,52<br />
m), der folgende Auskunft gibt: „Hier ruhen 4092 Opfer nationalsozialistischer Willkür<br />
zur letzten Ruhe bestattet“.<br />
INFORMATION ÜBER DIE KÜNSTLER<br />
Der Ehrenhain ist unter der Leitung des Münchner Professors Karl Knappe in Zusammenarbeit<br />
mit den Architekten H. Grill und F. Fredrich vom Münchner Städtischen Baureferat<br />
Hochbau I entstanden.<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Der Friedhof Perlacher Forst wurde am 1. Februar 1931 eröffnet. „Der Friedhof, der der<br />
größte Münchens ist, ist ordentlicher Begräbnisort für die Stadtteile rechts der Isar und<br />
für die Pfarreien St. Peter, Hl. Geist, St. Maximilian und St. Lukas.“ 318<br />
158
Die Asche der Toten stammt zumeist von Opfern aus dem Konzentrationslager Dachau,<br />
die in das Krematorium im Ostfriedhof gebracht wurden. Dazu kommen die Opfer, die im<br />
Zusammenhang mit der Euthanasie (siehe Band 1: Euthanasie) in den Tötungsanstalten<br />
Hartheim, Sonnenstein, Fürstenberg, Grafeneck und Steyr in den Gaskammern ermordet<br />
wurden. Unter den Toten sind Deutsche, Franzosen, Holländer, Österreicher, Polen, Russen<br />
und Tschechen. Ihre Bestattung fand im Jahre 1950 statt. Die Namensliste befindet<br />
sich im Archiv der Bayerischen Verwaltung der Staatlichen Schlösser, Gärten und Seen.<br />
Literatur<br />
Alt, Karl (1946): Todeskandidaten. Erlebnisse eines Seelsorgers. Neubau Verlag A. Groß, München<br />
Alt, Karl / Reuter, Werner (Hrsg.) (1994): Überschreiten von Grenzen. Strafgefängnis München-Stadelheim.<br />
Verlag Ökologie & Pädagogik, München<br />
Benz, Wolfgang / Distel, Barbara (Hrsg.): Dachauer Hefte. Studien und Dokumente zur Geschichte der nationalsozialistischen<br />
Konzentrationslager. (1985) Heft 1, Die Befreiung; (1986) Heft 2, Sklavenarbeit im<br />
KZ Dachau; (1987) Heft 3, Frauen – Verfolgung und Widerstand; (1988) Heft 4, Medizin im NS-Staat –<br />
Täter, Opfer, Handlanger; (1989) Heft 5, Die vergessenen Lager; (1990) Heft 6, Erinnern oder Verweigern.<br />
Das schwierige Thema Nationalsozialismus; (1991) Heft 7, Solidarität und Widerstand; (1992) Heft<br />
8, Überleben und Spätfolgen; (1993) Heft 9, Die Verfolgung von Kindern und Jugendlichen; (1994) Heft<br />
10, Täter und Opfer; (1995) Heft 11, Orte der Erinnerung 1945–1995; (1996) Heft 12, Konzentrationslager:<br />
Lebenswelten und Umfeld; (1997) Heft 13, Gericht und Gerechtigkeit; (1998) Heft 14, Verfolgung<br />
als Gruppenschicksal; (1999) Heft 15, KZ-Außenlager. Geschichte und Erinnerung; (2000) Heft 16,<br />
Zwangsarbeit; (2001) Heft 17, Öffentlichkeit und das KZ. Was wusste die Bevölkerung; (2002) Heft 18,<br />
Terror und Kunst.<br />
Kupfer-Koberwitz, Edgar (1960): Die Mächtigen und die Hilflosen. Als Häftling in Dachau. 2 Bände. Stuttgart<br />
Kupfer-Koberwitz, Edgar (1997): Dachauer Tagebücher. Die Aufzeichnungen des Häftlings 24814. Kindler<br />
Verlag, München<br />
Richardi, Hans-Günther (1983): Schule der Gewalt. Das Konzentrationslager Dachau 1933–1945. C. H. Beck<br />
Verlag, München<br />
Rost, Nico (1981): Goethe in Dachau. Hamburg<br />
Rovan, Joseph (1989): Geschichten aus Dachau. Stuttgart<br />
Sigel, Robert (1992): Im Interesse der Gerechtigkeit. Die Dachauer Kriegsverbrecherprozesse 1945–1948.<br />
Frankfurt a. M.<br />
318 Münchner Post Nr. 24 v. 30.1.1931: 6<br />
159
160<br />
KZ Ehrenhain II<br />
„Ich bin ganz ruhig. Ich bin zum Tode verurteilt, ich muss sterben, aber ich habe alles<br />
getan, was ich tun musste, vor allem die Spuren meiner Arbeit verwischt. Lebt wohl,<br />
meine lieben Freunde und Kameraden! Leb wohl, jüdisches Volk! Lasst nicht zu, dass<br />
solch eine Katastrophe je wieder geschieht!“<br />
Gela Seksztajn am 1. August 1942. Künstlerin, circa 33 Jahre alt, geboren in Warschau. 319<br />
Gedenkstein der Grabanlage für<br />
politische Opfer (KZ Ehrenhain II)<br />
Foto: Andreas Olsen
KZ Ehrenhain II<br />
Friedhof Perlacher Forst, Gräberfeld 77, Giesing<br />
Stadelheimer Straße 240<br />
Schwanseestraße Tram 27<br />
SV (1954)<br />
SV (1996)<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Der Münchner Oberbürgermeister Karl Scharnagl sprach sich anlässlich einer Gedenkveranstaltung<br />
zum Volkstrauertag 1945 für die Errichtung einer Grabanlage für die im Strafgefängnis<br />
München-Stadelheim Hingerichteten aus. Nach dem Münchner Stadtratsbeschluss<br />
vom 22. Juni 1954 entstand diese Grabstätte für politische Opfer, die aus Reihengräbern<br />
umgebettet wurden. Die Namensliste befindet sich im Archiv der Bayerischen<br />
Verwaltung Staatlicher Schlösser, Gärten und Seen.<br />
Die Beisetzung der Opfer fand im Jahre 1954 statt. Die Grabstätte erhielt die Bezeichnung<br />
KZ Ehrenhain II, sie befindet sich in unmittelbarer Nähe zum KZ Ehrenhain I (siehe Band<br />
2: KZ-Ehrenhain).<br />
Die Gedenktafeln und das einem Sarkophag ähnelnde Grabmal in der Mitte der Anlage<br />
entstanden auf Initiative von Dr. Marie Luise Schultze-Jahn; sie war eine Vertraute des<br />
Widerstandskämpfers Hans Leipelt (siehe Band 2: Leipelt), der hier begraben liegt. Die<br />
Einweihung fand am 18. Juli 1996 statt.<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
Die von einer Hecke begrenzte Grabanlage (1575m²) mit 93 Reihengräbern ist in der Mitte<br />
durch einen Betonquader (2,67 m × 0,60 m × 0,28 m) gekennzeichnet. Auf diesem sind<br />
vier Stahlplatten (0,3 m × 0,42 m) mit eingraviertem Text angebracht: „Hier ruhen 94 Opfer<br />
der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, sie wurden aus politischen Gründen in<br />
der Zeit zwischen 1942–1945 im Gefängnis Stadelheim ermordet.“ (1. Platte)<br />
Es folgen zwei Tafeln mit den Namen der Opfer.<br />
„Viele von ihnen waren Mitglieder von Widerstandsgruppen. Hans C. Leipelt gehörte zum<br />
studentischen Widerstandskreis „Weiße Rose“ und wurde am 29. Januar 1945 enthauptet.“<br />
(4. Platte)<br />
319 Das Dokument, gefunden in den Geheimarchiven des Warschauer Ghetto, ist in jiddischer Sprache abgefasst.<br />
Zitiert nach: Malvezzi, Piero / Pirelli, Giovanni (Hrsg.) (1955): Letzte Briefe zum Tode Verurteilter<br />
aus dem europäischen Widerstand: 467<br />
161
INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER<br />
Den Gedenkstein gestaltete der Architekt Ulrich Hartmann von der Bayerischen Verwaltung<br />
Staatlicher Schlösser, Gärten und Seen.<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Die meist aus politischen Gründen im Gefängnis München-Stadelheim Hingerichteten<br />
waren Gegner des Nationalsozialismus, die sich z. T. in Widerstandsgruppen organisierten.<br />
Sie wurden von der NS-Justiz wegen „Hochverrat“, „Landesverrat“, „Feindbegünstigung“<br />
und „Rundfunkverbrechen“ 320 zum Tode verurteilt. Unter ihnen befanden sich in<br />
der Mehrzahl Tschechen, etliche Deutsche, Österreicher und Polen. 321<br />
Die Situation in der Tschechoslowakei<br />
Nach der militärischen Besetzung von Böhmen, Mähren und Tschechisch-Schlesien erhielt<br />
das neu errichtete Protektorat Böhmen und Mähren einen Reichsprotektor (März<br />
1939). Nach dem Muster Deutschlands traten die allgemeinen NS-Gesetze und die so genannten<br />
„Rassen-Gesetze“ in Kraft. Zur gleichen Zeit, zwischen März und April 1939,<br />
formierte sich eine tschechische Geheimtruppe. Im folgenden Jahr entstanden die Widerstandsorganisationen<br />
der Tschechischen Kommunistischen Partei und ein Zentralkomitee<br />
des inneren Widerstandes. Nach dem Attentat tschechischer Patrioten auf den Reichsprotektor<br />
Reinhard Heydrich vollzog das NS-Regime schreckliche Vergeltungsmaßnahmen.<br />
Bereits in der ersten Woche danach fand die Aburteilung und Hinrichtung von 1800 „Politischen“<br />
statt. 322 Die Zivilbevölkerung wurde ebenfalls in die Vergeltungsmaßnahmen<br />
einbezogen, da die Gestapo vermutete, dass die Attentäter in dem Dorf Lidice Unterschlupf<br />
gefunden hätten. Das Dorf ist zerstört worden, 184 Männer und 7 Frauen fanden<br />
durch Erschießen den Tod. 203 Frauen und 104 Waisenkinder kamen in das Konzentrationslager<br />
Theresienstadt. 323<br />
320 Bezeichnung für das Abhören ausländischer Sender. Beispiel: der englische Sender BBC übertrug seit<br />
April 1939 täglich deutschsprachige Programme.<br />
321 Namensliste ist bei der Bayerischen Verwaltung Staatlicher Schlösser, Gärten und Seen (Schloss Nymphenburg<br />
16, 80638 München) einsehbar.<br />
322 Malvezzi, Piero / Pirelli, Giovanni (Hrsg.) (1955): Letzte Briefe zum Tode Verurteilter aus dem europäischen<br />
Widerstand: 487<br />
323 Malvezzi, Piero / Pirelli, Giovanni (Hrsg.) (1955): Letzte Briefe zum Tode Verurteilter aus dem europäischen<br />
Widerstand: 487<br />
162
Einzelne Schicksale:<br />
Famfulk, Frantisek<br />
*28.9.1912 Litomysl (Mähren) †28.9.1944 München-Stadelheim<br />
Frantisek Famfulk, von Beruf Maler, war während der Besetzung durch deutsche Truppen<br />
seit März 1939 in einer kommunistischen Untergrundorganisation aktiv. Nach seiner Verhaftung<br />
am 20. April 1944 kam er vom Gefängnis Pardubice, Prag über Theresienstadt<br />
nach München, wo er am 26. September 1944 verurteilt und hingerichtet wurde. 324 Ein<br />
Auszug aus seinem letzten Brief an seine Frau und sein Kind:<br />
„München-Stadelheim, den 26.9.1944<br />
Meine geliebte Anicka und mein lieber Stanicek!<br />
In den letzten Augenblicken meines Lebens nehme ich Abschied von Euch, und dabei<br />
strömt mir das Herz über von einer Liebe, die ich Euch oft verschwiegen habe, die aber<br />
immer gross war, wie die Liebe eines Arbeiters zu seiner lieben Familie sein soll.“ 325<br />
Dolak, Jaroslav<br />
*24.5.1910 †31.8.1942 München-Stadelheim<br />
Jaroslav Dolak, von Beruf Buchdrucker, war seit seiner Jugend Mitglied der tschechoslowakischen<br />
kommunistischen Partei. Nach der Besetzung durch deutsche Truppen wirkte<br />
er im Geheimen für seine Partei tätig. Am 31. Mai 1940 wurde er verhaftet und kam in das<br />
Prager Gefängnis „Pankrac“, später nach Theresienstadt, München und Berlin. Von dort<br />
überführte man ihn nach München-Stadelheim, wo er am 31. August 1942 mit zwölf weiteren<br />
Gruppenmitgliedern hingerichtet wurde. 326<br />
Der 32-Jährige nahm mit folgenden Worten von seiner Frau Abschied: „ ,Sei glücklich in<br />
deinem Leben und ruhig in deinen Träumen, vergiss alles, mein Kind, denn den Himmel<br />
gibt es nicht, und die Hölle gibt es nicht, und auf der Erde werden wir uns nicht wiedersehen.´<br />
Ich kann keine besseren Worte finden als diese Dichterworte. Ich küsse dich, ich<br />
küsse dich, meine tapfere, kluge Frau. Dein Jaroslav Dolak.“ 327<br />
324 Malvezzi, Piero / Pirelli, Giovanni (Hrsg.) (1955): Letzte Briefe zum Tode Verurteilter aus dem europäischen<br />
Widerstand: 520<br />
325 Malvezzi, Piero / Pirelli, Giovanni (Hrsg.) (1955): Letzte Briefe zum Tode Verurteilter aus dem europäischen<br />
Widerstand: 520<br />
326 Malvezzi, Piero / Pirelli, Giovanni (Hrsg.) (1955): Letzte Briefe zum Tode Verurteilter aus dem europäischen<br />
Widerstand: 495<br />
327 Malvezzi, Piero / Pirelli, Giovanni (Hrsg.) (1955): Letzte Briefe zum Tode Verurteilter aus dem europäischen<br />
Widerstand: 496<br />
163
Hartwimmer, Hans und Olschewski, Wilhelm und Willi<br />
*31.7.1902 Braunschweig †31.10.1944 München-Stadelheim<br />
Hartwimmer war als 20-jähriger dem reaktionären Freikorps- und Wehrverband „Bund<br />
Oberland“ beigetreten, der die Weimarer Republik bekämpfte. Später setzte er sich von<br />
den rechts-orientierten Parteien ab und engagierte sich in der KPD. Das Programm der damaligen<br />
KPD war eine „Nationale und soziale Befreiung des deutschen Volkes.“ Seit<br />
1931 engagierte sich Hartwimmer aktiv in dem Arbeitskreis der Widerstandsgruppe um<br />
Beppo Römer, der die Zeitschrift „Aufbruch“ herausbrachte. Nach seiner erstmaligen<br />
Verhaftung lautete die Anklage vom 15. April 1935 „Vorbereitung zum Hochverrat“.<br />
Hartwimmer wurde wegen mangelnder Beweise freigesprochen, kam aber bis Ende 1937<br />
in das KZ Dachau. Nach seiner Haftentlassung nahm er Kontakt zum Kreis um Olschewski<br />
(siehe Band 2: Olschewski), einem KPD-Funktionär, auf. Die kommunistische<br />
Untergrundorganisation in Berlin um Robert Uhrig (1903–1944) und Beppo Römer<br />
(1892–1944) nahm Verbindung mit der Münchner Gruppe auf, um Ziele und Vorgehensweisen<br />
wie Flugblattaktionen und Sabotageakte zu koordinieren.<br />
Die Hartwimmer/Olschewski-Gruppe erhoffte sich von gezielten Sabotageakten – Waffen-<br />
und Sprengstofflager waren vorhanden – im Bereich der Rohstoff- und Energieversorgung<br />
eine erhebliche Schwächung der Wirtschafts- und Rüstungskapazität der Machthaber.<br />
Das Ziel war der Umsturz mit einem darauf folgenden kommunistischen Staat auf<br />
nationaler Grundlage. 328 Anfang 1942 hatte die Gruppe eine so genannte Generallinie für<br />
das ganze Reich erarbeitet mit dem Ziel, durch Zusammenarbeit von Bürgertum, Wirtschaft<br />
und Militär den Sturz des NS-Regimes herbeizuführen.<br />
Auflösung, Verhaftung, Prozesse<br />
Im Februar 1942 gelang es der Gestapo die Berliner Uhrig-Gruppe und die Münchner<br />
Hartwimmer/Olschewski-Gruppe aufzudecken. Am 18. April 1943 wurde Hans Hartwimmer<br />
vor dem Volksgerichtshof zum Tode verurteilt. Die Hinrichtung fand am 31. Oktober<br />
1944 im Strafgefängnis München-Stadelheim statt. Der Sohn von Wilhelm Olschewski<br />
wurde zwei Tage später zum Tode verurteilt. Hartwimmers Grabstätte befindet sich im KZ<br />
Ehrenhain für politische Opfer, Sektion 65.<br />
Reisinger, Johann (Hans)<br />
*8.2.1897 Oberschleißheim †30.10.1944 München-Stadelheim<br />
In München hatte Johann Reisinger als gelernter Maschinenschlosser eine Stelle als Museumswärter<br />
im Deutschen Museum. Dort lernte er Simon Hutzler (1889–1943) kennen,<br />
328 Bretschneider, Heike (1968): Widerstand gegen den Nationalsozialismus in München 1933–1945: 81<br />
164
der zur kommunistischen Widerstandsgruppe Hartwimmer/Olschewski (siehe Band 2: Olschewski)<br />
gehörte. Wegen Verbreitung kommunistischer Schriften war Hans Reisinger in<br />
den Jahren 1934, 1936 und 1943 angeklagt. Vom 29. April 1936 bis 24. November 1938<br />
war er im KZ Dachau inhaftiert. 329 Nach der Entdeckung der Berliner Uhrig-Gruppe, die<br />
seit 1940 mit der Münchner Hartwimmer/Olschewski-Gruppe Kontakt pflegte, kam es zur<br />
wiederholten Festnahme von Hans Reisinger. Der Prozess vor dem Volksgerichtshof am<br />
30. April 1944 endete mit dem Todesurteil wegen „Hochverrats“ für Reisinger, das am 30.<br />
Oktober 1944 in München-Stadelheim vollstreckt wurde.<br />
Ausstellung<br />
9. Oktober – 26. November 1998: Widerstand, Verweigerung und Protest gegen das<br />
NS-Regime in München. Gezeigt vom Kulturreferat der Landeshauptstadt München in<br />
der Ausstellungshalle im Neuen Rathaus.<br />
Literatur<br />
Alt, Karl (1946): Todeskandidaten. Erlebnisse eines Seelsorgers. Neubau Verlag, A. Groß, München<br />
Alt, Karl / Reuter, Werner (Hrsg.) (1994): Überschreiten von Grenzen. Strafgefängnis München-Stadelheim.<br />
Verlag Ökologie & Pädagogik, München<br />
Bretschneider, Heike (1968): Widerstand gegen den Nationalsozialismus in München 1933–1945. Miscellanea<br />
Bavarica Monacensia, Band 4. München<br />
Detjen, Marion (1998): „Zum Staatsfeind ernannt ...“. Widerstand, Resistenz und Verweigerung gegen das<br />
NS-Regime in München. Hrsg. v. d. Landeshauptstadt München. Buchendorfer Verlag, München<br />
Deutsche Kommunistische Partei München (Hrsg.) (1998): Die wieder gefundene Liste. Porträts von Münchner<br />
Kommunistinnen und Kommunisten, die im antifaschistischen Widerstandskampf ihr Leben ließen.<br />
Entdeckt von Resi Huber. Verlag Otto Barck, München<br />
Gritschneder, Otto (1998): Furchtbare Richter. Verbrecherische Todesurteile deutscher Kriegsgerichte. Verlag<br />
C. H. Beck, München<br />
Letzte Briefe tschechoslowakischer Widerstandskämpfer (1950). Dietz Verlag, Berlin<br />
Malvezzi, Piero / Pirelli, Giovanni (Hrsg.) (1955): Letzte Briefe zum Tode Verurteilter aus dem europäischen<br />
Widerstand. „Und die Flamme soll euch nicht versengen“. Mit einem Vorwort von Thomas Mann. Steinberg-Verlag,<br />
Zürich<br />
Schlüter, Holger (1995): Die Urteilspraxis des nationalsozialistischen Volksgerichtshofs. Berlin<br />
Schreibmayr, Erich (1989): Wer? Wann? Wo? Persönlichkeiten in Münchner Friedhöfen. Verlag Erich<br />
Schreibmayr, München<br />
Stuiber, Irene (1999): Die internationale Dimension des Terrors. Spuren von Widerstand und Verfolgung auf<br />
dem Münchner Friedhof am Perlacher Forst. Unveröffentlichtes Manuskript<br />
Wagner, Walter (1974): Der Volksgerichtshof im nationalsozialistischen Staat. Stuttgart<br />
329 In: Deutsche Kommunistische Partei München (Hrsg.) (1998): Die wieder gefundene Liste: 82<br />
165
166<br />
Leipelt, Hans<br />
*21.7.1921 Wien<br />
†29.1.1945 München-Stadelheim<br />
„Hans hat die Folgen der Nürnberger Gesetze für seine Familie als persönliche Verletzung<br />
und Entwürdigung empfunden. Deshalb haßte er die Nationalsozialisten, das trieb<br />
ihn in den Widerstand.“<br />
Marie-Luise Jahn 330<br />
Hans Leipelt<br />
Fotos: Dr. M.-.L. Schultze-Jahn, Archiv<br />
330 Schultze-Jahn, Marie-Luise (1991): Hans Leipelt – ein Kapitel Münchner Hochschule im Nationalsozialismus:<br />
67–68
I. Grabstätte Friedhof Perlacher Forst 85/118, Giesing<br />
SV (1945)<br />
Schwanseestraße Tram 27<br />
II. Gedenktafel im Lichthof der Universität, II. Stock, „Weiße Rose“<br />
Universität U3/U6<br />
M u. LMU (1946)<br />
III. Mahnmal im Lichthof der Ludwig-Maximilians-Universität, Schwabing,<br />
„Weiße Rose“<br />
Universität U3/U6<br />
M u. LMU (1958)<br />
IV. Hans-Leipelt-Straße, Studentenstadt, Freimann<br />
M (1963)<br />
V. Bodendenkmal am Haupteingang der Ludwig-Maximilians-Universität, Schwabing,<br />
„Weiße Rose“<br />
Universität U3/U6<br />
M (1988)<br />
VI. Gedenktafel, Justizpalast, „Weiße Rose“<br />
Prielmayerstraße 7<br />
Karlsplatz/Stachus S1–S8 und Tram 19/20/27<br />
M (1993)<br />
VII. Grabtafel, KZ Ehrenhain II, Friedhof Perlacher Forst 85/118, Giesing<br />
Schwanseestraße Tram 27<br />
SV 1996<br />
167
VIII. Denkraum in der Ludwig-Maximilians-Universität, „Weiße Rose“<br />
Universität U3/U6<br />
M, LMU u. Weiße Rose Stiftung (1997)<br />
IX. Hans-Leipelt-Seminarraum<br />
KM (1999)<br />
Pharmazeutisches Institut der Ludwig-Maximilians-Universität, Großhadern (Butenandtstraße)<br />
Zu VII. Grabtafel, KZ Ehrenhain II, Friedhof Perlacher Forst 85/118, Giesing<br />
SV (1996)<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Auf Initiative von Dr. Marie-Luise Schultze-Jahn, einer ehemaligen Studienkollegin von<br />
Hans Leipelt, wurde auf dem Denkmal für politische Opfer im KZ Ehrenhain II des Friedhofs<br />
am Perlacher Forst im Jahre 1996 eine Grabtafel angebracht.<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
Auf einem Betonsockel (2,67 m × 0,6 m × 0,28 m) mit Sarkophag-Habitus sind die Namen<br />
von 93 Opfern auf Stahlplatten eingraviert. Eine dieser Platten (30 cm × 42 cm) trägt folgende<br />
Inschrift:<br />
„Viele von ihnen waren Mitglieder von Widerstandsgruppen.<br />
Hans Leipelt gehörte zum studentischen Widerstandskreis ,Weiße Rose´ und wurde am 29.<br />
Januar 1945 enthauptet.“<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Hans Leipelt wurde in Wien geboren. Seine Mutter, Dr. Katharina Leipelt (geb. Baron)<br />
stammte aus einer österreichisch-böhmischen, jüdischen Familie und war promovierte<br />
Chemikerin. Der Vater, Diplom-Ingenieur Conrad Leipelt, kam aus Schlesien. Die Familie<br />
siedelte nach Hamburg-Wilhelmsburg über, wo Conrad Leipelt in einem bedeutenden<br />
Unternehmen eine leitende Stellung übernahm. Hans Leipelt wuchs zusammen mit seiner<br />
vier Jahre jüngeren Schwester Maria in einem Elternhaus auf, das besonders durch seine<br />
„hochintelligente, äußerst liebenswerte und sehr musikalische“ 331 Mutter geprägt war.<br />
168
Die zu Hause gepflegte Offenheit wurde Hans schon früh zum Verhängnis: wegen einer<br />
kritischen Äußerung musste er 1935 die Schule wechseln. Der 17-jährige Leipelt absolvierte<br />
schon im Frühjahr 1938 die Matura. Nach der freiwilligen Teilnahme am Reichsarbeitsdienst<br />
erhielt er für seinen Einsatz am Bau des Westwalls ein Ehrenabzeichen. Nach<br />
der Einberufung in die Wehrmacht wurde er an der Front in Frankreich und Polen eingesetzt.<br />
Für seine Tapferkeit bekam er wiederum Auszeichnungen, so das Eiserne Kreuz 2.<br />
Klasse und das Panzerkampfabzeichen in Bronze. 332<br />
Zu den Leidtragenden der „1. Verordnung zur Ausführung des Gesetzes zum Schutze des<br />
Deutschen Blutes und der Deutschen Ehre vom 14. November 1935“ gehörte die Familie<br />
Leipelt. Die Mutter wurde zur „Privilegierten Volljüdin“, Hans und Maria zu „Mischlingen<br />
1. Grades“ erklärt. Bei der Einverleibung Österreichs durch das Deutsche Reich im<br />
März 1938 nahm sich Leipelts jüdischer Onkel das Leben. Seine Großeltern flohen in die<br />
Tschechoslowakei. Nach dem Tod des Großvaters holte Conrad Leipelt die Großmutter<br />
nach Hamburg-Wilhelmsburg, weil er sie dort sicherer wähnte. 333<br />
Auf Grund des geheimen Führererlasses vom August 1940 wurde Hans Leipelt als „Halbjude“<br />
aus der Wehrmacht entlassen. Weitere Schwierigkeiten brachte die Immatrikulation<br />
für das Chemiestudium an der Hamburger Universität mit sich, da bereits die Zulassung<br />
so genannter „jüdischer Mischlinge“ durch Erlass vom 5. Januar 1940 verboten war. Wohl<br />
durch Vermittlung seines Vaters konnte er in Hamburg sein Studium beginnen. Hier traf<br />
er auf Gleichgesinnte, die das nationalsozialistische Regime ablehnten. „Zu ihnen gehörten<br />
Karl Ludwig Schneider (Absolvent der Lichtwark-Schule), Heinz Kucharski (Student<br />
der Philosophie, Ethnologie und Orientalistik), seine Freundin, die Medizinstudentin<br />
Margaretha Rothe (Universitätsklinik Eppendorf), die Musikstudentin Dorle Zill sowie<br />
der Philologiestudent Howard Beinhoff.“ 334 Wegen der sich verschlechternden Studienbedingungen<br />
in Hamburg setzte er mit Beginn des Wintersemesters 1940/41 sein Chemiestudium<br />
in München fort. Er fand Aufnahme bei Professor Heinrich Wieland (Nachfolger<br />
des freiwillig aus dem Amt geschiedenen Richard Willstätter (siehe Band 3: Willstätter),<br />
der in seinem Institut etwa einem Dutzend „Halbjuden“ das Studium ermöglichte. „Die<br />
Gäste des Geheimrates bekamen ihre abgelegten Examina mit dem Zusatz schriftlich bescheinigt,<br />
,man werde das später regeln.´“ 335 Wieland nahm sich vor, „irgend etwas dagegen<br />
zu unternehmen, etwas, das er auch die ganze Zeit durchhalten könnte. Da sei ihm<br />
331 Möller, Klaus (1986): Hans Leipelt und die Weiße Rose: 4<br />
332 Möller, Klaus (1986): Hans Leipelt und die Weiße Rose: 5<br />
333 Möller, Klaus (1986): Hans Leipelt und die Weiße Rose: 5<br />
334 Möller, Klaus (1986): Hans Leipelt und die Weiße Rose: 5<br />
335 Freise, Gerda (1988): Der Nobelpreisträger Heinrich Wieland. In: Schultze-Jahn, M.-L. (1994): Hans<br />
Leipelt: 3<br />
169
eben dies eingefallen: Den Antisemitismus und später die Nürnberger Gesetze einfach zu<br />
ignorieren.“ 336<br />
Hans Leipelts Familie erfuhr weiteres Leid: Seine jüngere Schwester Maria musste 1942<br />
die öffentliche Schule verlassen. Am 19. Juli 1942 wurde seine 76-jährige Großmutter<br />
nach Theresienstadt deportiert; sie starb dort nach kurzer Zeit. Als im gleichen Jahr sein<br />
„arischer“ Vater starb, verlor die Familie ihren letzten juristischen Schutz. „Mit ungeheurer<br />
Willenskraft, die ständige Aktivität bedeutete, hat Hans Leipelt versucht, sein schweres<br />
Schicksal zu ertragen.“ 337 In dieser aussichtslosen Lage wandte sich seine Mutter an einen<br />
Schweizer Kommilitonen ihres Sohnes, der ihr helfen sollte, ihre 15-jährige Tochter ins<br />
Ausland zu bringen. 338 Am Chemischen Institut von Professor Wieland schloss sich Leipelt<br />
inzwischen einem Freundeskreis an, zu dem Marie-Luise Jahn, Wolfgang Erlenbach,<br />
Valentin Freise, Liselotte Dreyfeldt, Ernst Holzer und Miriam David gehörten. Sie propagierten<br />
unzensierte Literatur, Kunst und Musik. Leipelt hörte ausländische Sender und gab<br />
die Informationen weiter. Einige Tage nach der Hinrichtung der Geschwister Scholl (siehe<br />
Band 1: Geschwister Scholl) und Christoph Probst (siehe Band 2: Probst) hielt er das<br />
sechste Flugblatt in den Händen, das er gemeinsam mit seiner Vertrauten Marie-Luise<br />
Jahn vervielfältigte und unter dem Titel „Und ihr Geist lebt trotzdem weiter“ verbreitete.<br />
Zu Ostern 1943 brachten sie das Flugblatt nach Hamburg, wo es seine Freunde weiter verteilten.<br />
Sie planten auch Sabotageaktionen. „In München erfuhren wir von einem Institutsangestellten,<br />
daß die Angehörigen von Prof. Kurt Huber .... keinen Anspruch auf Hinterbliebenenrente<br />
haben. So veranstalteten wir eine Sammelaktion unter Münchner und<br />
Hamburger Freunden. Den Erlös konnten wir der Familie von Prof. Huber anonym zukommen<br />
lassen. Durch Denunziation erhielt die Gestapo Kunde von dieser Sammelaktion.“<br />
339<br />
Hans Leipelt wurde am 8. Oktober 1943 gefasst, Marie-Luise Jahn zehn Tage später; seine<br />
Hamburger und Münchner Freunde (circa 40 Personen) in den darauf folgenden Monaten.<br />
Seine Schwester wurde am 9. November 1943 in Haft gesetzt, die jüdische Mutter festgenommen.<br />
Dr. Katharina Leipelt starb unter noch ungeklärten Umständen im Gestapogefängnis<br />
Fuhlsbüttel. Der Prozess gegen Leipelt und seine Münchner Mitangeklagten fand<br />
am 13. Oktober 1944 vor dem Zweiten Senat des VGH in Donauwörth statt. Dieser tagte<br />
in der Kleinstadt Donauwörth, um einerseits Schutz vor den massiven alliierten Bombenangriffen<br />
auf München zu haben, und andererseits zu verschleiern, dass die „Weiße Rose“<br />
336 Chemiker im Gespräch: Erinnerungen an Heinrich Wieland. In: Chemie in unserer Zeit. Jg. 11 (1977) Nr.<br />
5: 144. Auch in: Vieregg, Hildegard (1993): Wächst Gras darüber?: 208.<br />
337 Möller, Klaus (1988): Hans Leipelt und die Weiße Rose: 8<br />
338 Forster, Otto (1994): Hans Leipelt, o. S.<br />
339 Schultze-Jahn, M.-L. (1994): Hans Leipelt: 5<br />
170
Nachfolger gefunden hatte. Professor Wieland ließ seine „Schützlinge“ auch in dieser<br />
Lage nicht in Stich. Er hielt Kontakt „zu den Angehörigen, erkundigte sich nach Rechtsanwälten,<br />
war auch in einem Fall bereit, die Anwaltskosten zu tragen; er schickte auch<br />
Lebensmittelpäckchen an die Inhaftierten.“ 340<br />
Hans Leipelt wurde zum Tode verurteilt. Alle Quellen bestätigten, dass Leipelt versuchte,<br />
seine Mitangeklagten zu entlasten. So erfuhr Marie-Luise Schultze-Jahn von ihrem Verteidiger,<br />
Rechtsanwalt Dr. Kartini, dass ihm Leipelts Verhalten „als tiefer persönlicher<br />
Eindruck bei jener Hauptverhandlung beim VGH geblieben ist: ... er hat mich in einer persönlichen<br />
Rücksprache auf dem Gang des Gerichtsgebäudes, die wir trotz der damaligen<br />
Gestapo-Überwachung organisieren konnten, beschworen, unter allen Umständen zu versuchen,<br />
Ihnen (M.-L. Jahn) zu helfen, und, wenn es irgend ginge, ihn zu belasten.“ 341 Tatsächlich<br />
wurde die am 22. Juli 1944 in Berlin beantragte Todesstrafe für Marie-Luise<br />
Jahn 342 in eine zwölfjährige Zuchthausstrafe umgewandelt; ihre Befreiung erfolgte am 8.<br />
Mai 1945 im Gefängnis Aichach.<br />
Der 23-jährige Leipelt befand sich drei Monate mit Heinrich Hamm im so genannten<br />
„Haus des Todes“ im Gefängnis München-Stadelheim. Sein letzter Tag war am 29. Januar<br />
1945. Hans Leipelt verabschiedete sich von seinem Zellennachbarn: „ ,Heinrich, ich danke<br />
dir für allen Trost und Zuspruch in den letzten Monaten. An Gott glaubst du ja nicht,<br />
so wollen wir uns dann auch nicht Wiedersehen sagen, aber laß uns noch einmal Lebewohl<br />
sagen.´ Wir drückten uns zum letzten Mal die Hand. Taumelnd falle ich auf meine<br />
Pritsche. Da schlägt die Uhr viermal. Ich drücke die Daumen fest in die Ohren, damit ich<br />
das Beil nicht fallen höre.“ 343<br />
Seine Beisetzung fand am 3. Februar 1945 auf dem Friedhof Perlacher Forst statt.<br />
Die Kostenrechnung für Hinrichtung und Bestattung erhielt Leipelts Tante in Wien.<br />
Ehrungen, Namenspatronage<br />
1994: Hans-Leipelt-Schule (Staatliche Fachoberschule) in Donauwörth.<br />
29. Januar 2000: Denkstunde am Grab von Hans Leipelt anlässlich des 55. Todestags im<br />
Beisein von Dr. Marie-Luise Schultze-Jahn.<br />
340 Freise, Gerda (1988): Ein Beispiel für Zivilcourage in der Zeit des Nationalsozialismus: 3<br />
341 Rechtsanwalt Dr. Kartini: Brief vom 17.5.1972 an M.-L. Jahn. In: Schultze-Jahn, M.-L. (1994): Hans<br />
Leipelt: 6<br />
342 Anklageschrift -11J118/44- Institut für Marxismus-Leninismus Berlin, Zentralarchiv der SED: 54. Auch<br />
in: Dr. M.-L. Schultze-Jahn, Privatarchiv<br />
343 Hamm, Heinrich (1965): Der letzte Zweig der „Weißen Rose“. In: Die Tat v. 30.1.1965<br />
171
Literatur<br />
Bottin, Angela (1992): Enge Zeit. Spuren Vertriebener und Verfolgter der Hamburger Universität. Hamburger<br />
Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte, Band 11. Hamburg<br />
Die Weiße Rose (1998): Hans Leipelt. Begleitheft zur Wanderausstellung „Weiße Rose“. München<br />
Forster, Otto (1994): Hans Leipelt. Unveröffentlichtes Manuskript<br />
Freise, Valentin (1946): Der Todesweg eines Kämpfers. Hans Leipelt – ein Kapitel Hochschule. In: Süddeutsche<br />
Zeitung v. 8.3.1946<br />
Freise, Gerda (1988): Der Nobelpreisträger Heinrich Wieland. Ein Beispiel für Zivilcourage in der Zeit des<br />
Nationalsozialismus. Vortrag am 14.11.1988 in Pforzheim. Unveröffentlichtes Manuskript<br />
Hamm, Hans (1965): Mit Hans Leipelt in der Todeszelle. In: Die Tat v. 30.1.1965.<br />
Hamm-Brücher, Hildegard (1997): „Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit“. Die „Weiße Rose“ und unsere<br />
Zeit. Aufbau Verlag, Berlin<br />
Hédiard, J.(1993): „Und ihr Geist lebt trotzdem weiter!“. In: Deckname Betti. Jugendlicher Widerstand und<br />
Opposition gegen die Nationalsozialisten in München. Ein Projekt des Kreisjugendrings München und der<br />
Landeshauptstadt München (1997): 52–55.<br />
Möller, Klaus (1986): Hans Leipelt und die Weiße Rose. Vortrag, gehalten am 24.2.1986 an der Freien Akademie<br />
der Künste Hamburg. Unveröffentlichtes Manuskript<br />
Schultze-Jahn, Marie-Luise (1991): Hans Leipelt – ein Kapitel Münchener Hochschule im Nationalsozialismus.<br />
Unveröffentlichtes Manuskript<br />
Schultze-Jahn, Marie-Luise (1993): Rede zum 50jährigen Gedenken der Weißen Rose. Manuskript<br />
Schultze-Jahn, Marie-Luise (1994): Hans Leipelt – ein Kapitel Münchner Hochschule im Nationalsozialismus.<br />
In: Siefken, Hinrich / Vieregg, Hildegard (Hrsg.) (1993): Student Resistance to National Socialism.<br />
Arbeiter, Christen, Jugendliche, Eliten. Forschungsergebnisse und Erfahrungsberichte. University of Nottingham,<br />
Nottingham: 67–76<br />
Tuckova, A. (1995): Cousine Hans Leipelts erinnert sich. In: Elbe Extra, vom 8.2.1995, im Privatarchiv v. Dr.<br />
M.-L. Schultze-Jahn<br />
Weiße Rose Stiftung (zusammengestellt) (1990): Die „Weiße Rose“. Der Widerstand von Studenten gegen<br />
Hitler 1942/43. Verlag G. J. Manz, München<br />
Wünsche, Frederic (2000): Marie-Luise Schultze-Jahn. Ein Leben für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit im<br />
Zeichen der „Weißen Rose“. Ein Beitrag zum Bertini-Preis 1999. Heisenberg-Gymnasium Hamburg<br />
172
Leisner, Karl Seliger Neupriester<br />
*28.2.1915 Rees, Niederrhein †12.8.1945 Planegg<br />
„An Hitler aber glaube ich nicht.“<br />
Titel des biographischen Romans von Pfarrer Klaus-Peter Vosen<br />
„Für die Jugend hat er sein Leben geopfert.“<br />
Pater Otto Pies SJ brachte die erste Biographie über Karl Leisner heraus. 344<br />
Bronzebüste von Karl Leisner<br />
Foto: H. Engelbrecht<br />
173<br />
Karl Leisner, 1944<br />
Foto: Mit freundlicher Genehmigung des<br />
Internationalen Karl-Leisner-Kreises, Kleve
I. Karl-Leisner-Gedenkraum<br />
Katholische Kirche (1945)<br />
Waldsanatorium der Barmherzigen Schwestern, heute Alten- und Pflegeheim Sanatoriumstraße,<br />
Krailling.<br />
Planegg S6, Bus 967<br />
II. Büste von Karl Leisner<br />
Katholische Kirche und Gemeinde (1997)<br />
Waldsanatorium, Sanatoriumstraße, Krailling<br />
Planegg S6, Bus 967<br />
III. Karl-Leisner-Weg<br />
Planegg-Krailling (1996)<br />
Zu II: Büste von Karl Leisner<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Der Münchner Weihbischof Engelbert Siebler hat die Errichtung des Denkmals initiiert.<br />
Die Einweihung fand am 12. August 1997 in seinem Beisein statt, zusammen mit dem<br />
Bürgermeister Dieter Haager und dem Präsidenten des Internationalen Leisner Kreises<br />
Hans-Karl-Seeger.<br />
Kurzbeschreibung<br />
Die Bronzebüste (0,5m hoch) steht in einem kleinen Ehrenhain (Maße ca. 7 m x 5 m) auf<br />
einem Travertinsockel (1,40 m hoch) mit quadratischem Querschnitt (0,4 m x 0,4 m) und<br />
trägt folgende Inschrift: „Seliger Karl Leisner, Priester, Märtyrer *1915 in Rees †1945<br />
im Waldsanatorium. Seligsprechung 1996 von Papst Johannes Paul II.“<br />
Diese wird von zwei kleineren, analog gestalteten Säulen flankiert. Die Inschrift auf der<br />
linken Säule lautet:<br />
„Du armes Europa, zurück zu Deinem Herrn Jesus Christus! 16. Juni 1945.“<br />
344 war vom 2. August 1941 – 27. März 1945 im KZ Dachau aufgrund seines Protestes gegen die Aufhebung<br />
eines Jesuitenklosters. Zitiert in: Pies, Otto (1971): Karl Leisner. In: Weiler, Eugen (1971): Die Geistlichen<br />
im KZ Dachau: 969<br />
174
Die auf der rechten lautet:<br />
„Viktor in vinculis (Sieger in Fesseln). Segne auch Höchster meine Feinde! 25. Juli<br />
1945.“<br />
INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER / DIE KÜNSTLERIN<br />
Die Bronzebüste schuf der Künstler Dr. Joseph Alexander Henselmann. Den Platz gestaltete<br />
die Landschaftsarchitektin Adelheid Schönborn.<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Karl erblickte am 28. Februar 1915 als erstes Kind des Gerichtssekretärs Wilhelm Leisner<br />
und seiner Ehefrau Amalie, geb. Falkenstein, das Licht der Welt. Seine Geschwister waren:<br />
Willi (*1916), Maria (*1917), Paula (*1919) und Elisabeth (*1923). In Kleve besuchte<br />
Karl von 1921-1925 die Volksschule und trat in das dortige Gymnasium ein. Im<br />
gleichen Jahr begann der Zwölfjährige seine Tätigkeit im katholischen Jungkreuzbund als<br />
Schriftführer. 1928 engagierte sich Leisner für die Neugründung der Jugendgruppe „Katholischer<br />
Wandervogel“. Dieses außergewöhnliche Engagement hatte später seine Ernennung<br />
zum Bezirksjungscharführer in Kleve zur Folge. Auch diese anspruchsvolle Aufgabe<br />
mit der Übernahme von Verantwortung einer Jugendgruppe konnte er neben den üblichen<br />
Schülerpflichten bewältigen.<br />
Nach erfolgreichem Schulabschluss (Abitur 1934) entschloss er sich zum Studium der<br />
Theologie, um Priester zu werden. Auch in dieser Zeit setzte er die Jugendgruppenarbeit<br />
fort, was zu seiner Ernennung zum Diözesanjugendführer in der Diözese Münster durch<br />
Bischof von Galen führte. Karl Leisner hatte sich bereits früh ein klares politisches Urteil<br />
über die Zeit nach der Machtergreifung gebildet. Dies führte bereits 1936 dazu, dass die<br />
Gestapo eine Akte über ihn anlegte und seine Post kontrollierte.<br />
Vom 1. April bis 23. Oktober 1937 absolvierte Leisner den Reichsarbeitsdienst in Sachsen<br />
und in Emsland. Kurz darauf beschlagnahmte die Gestapo seine seit 1927 geführten Tagebücher.<br />
345<br />
Das Studium der Theologie setzte Leisner in Münster fort. In dieser Zeit erschüttern ihn<br />
innere Zweifel: soll er sich zur Ehe entscheiden oder zum Priestertum? Am 4. März 1939<br />
hielt er vor der Subdiakonsweihe in seinem Tagebuch fest: „Es war ein tödlicher Kampf.<br />
Aber ich bin zum Priestertum berufen – und diesem Beruf opfere ich alles.“ 346 Am 25.<br />
März 1939 erhielt er die Diakonsweihe. Die kurz danach diagnostizierte Lungentuberku-<br />
345 Riße, Klaus (1996): Karl Leisner (1915-1945): Text zur Ausstellung: 3<br />
346 Zitiert in: St. Christophorus Wolfsburg: der selige Karl Leisner: 1<br />
175
lose führte zur Unterbrechung der Vorbereitungen zur Priesterweihe, da ein Sanatoriumsaufenthalt<br />
nötig war. Er kam in das „Fürstabt Gerbert Haus“ in St. Blasien im Schwarzwald.<br />
Der 24-jährige Student hatte sich die Lungentuberkulose beim Moorkommando im<br />
Reichsarbeitsdienst zugezogen, wo er monatelang im Sumpf stand und schweren Dienst<br />
leisten musste. 347 Seine Genesung in der Heilanstalt machte Fortschritte und eine baldige<br />
Entlassung stand in Aussicht.<br />
Beginn des Leidensweges<br />
Als die Nachricht vom fehlgeschlagenen Attentat von Georg Elser (siehe Band 1: Elser) auf<br />
Hitler bekanntgegeben wurde, äußerte sich Leisner, der Hitler „radikal ablehnte“ (Johann<br />
Krein), gegenüber seinen beiden Zimmerkameraden Johann Krein und Kaplan Stein. Er<br />
kommentierte das missglückte Attentat: „Schade, dass er (Hitler) nicht dabeigewesen<br />
ist.“ 348 Ein anderer Mitpatient zwang Johann Krein dazu, die Worte Leisners vor einem<br />
Ortsgruppenleiter zu wiederholen. 349 Doch bevor Leisner abgeführt werden konnte, musste<br />
der Chefarzt des Sanatoriums seine Haftfähigkeit bestätigen, was dieser tat. Am 9. November<br />
1939 wurde Karl Leisner in St. Blasien verhaftet und kam in Schutzhaft ins Gefängnis<br />
Freiburg. Während dieser Zeit notiert er in sein Tagebuch am 11. November 1939: „Gott,<br />
ich danke Dir für die Tage der schweren Krankheit und jetzt wieder für die Tage der Unfreiheit<br />
und Gefangenschaft. Alles hat seinen Sinn, Du meinst es überaus gut mit mir.“ 350 Von<br />
dort verlegte man ihn am 5. Februar 1940 ins Gefängnis nach Mannheim. Nach einem Monat<br />
fand seine Überstellung in das KZ Sachsenhausen statt.<br />
Trotz der äußeren unliebsamen Bedingungen blieb der Häftling Karl Leisner seinem Lebens-<br />
und Glaubensprinzip treu. Über diese Zeit schrieb der Geistliche Otto Pies: „Im Lager<br />
machte Karl sich bald überall beliebt. Sein sonniges, immer frohes Wesen und seine<br />
Hilfsbereitschaft öffneten ihm Türen und Herzen. Auch mit den Kameraden von der SPD<br />
und KPD verstand er gut auszukommen. Er hatte überall Freunde.“ 351 Die KZ-Wärter<br />
hatten es jedoch auf die Priester abgesehen und behandelten diese besonders schlecht.<br />
Über seine Ankunft im KZ Buchenwald berichtete der französische Geistliche Henoque:<br />
„Ich wurde von einer Gruppe von SS-Leuten angefallen, die meine Soutane abrissen, unter<br />
höhnischem Grinsen mein Brevier zertraten.“ 352 Auch war in allen Konzentrationslagern<br />
die Ausübung jeder Religion unter Todesstrafe verboten.<br />
347 Pies, Otto (1971): Karl Leisner. In: Weiler, Eugen (1971): Die Geistlichen im KZ Dachau: 967<br />
348 Riße, Klaus (1996): Karl Leisner (1915-1945): Text zur Ausstellung: 6<br />
349 Pies, Otto (1971): Karl Leisner. In: Weiler, Eugen (1971): Die Geistlichen im KZ Dachau: 967<br />
350 Zitiert in: St. Christophorus Wolfsburg: 2<br />
351 Pies, Otto (1971): Karl Leisner. In: Weiler, Eugen (1971): Die Geistlichen im KZ Dachau: 968<br />
352 Konzentrationslager Dokument F 321 für den internationalen Militärgerichtshof Nürnberg: 61<br />
176
Seit Dezember 1940 zog man die in Gefängnissen und anderen Konzentrationslagern festgehaltenen<br />
Geistlichen im Konzentrationslager Dachau zusammen. Hier wurden sie zuerst<br />
in den Blöcken 26, 28 und 30 festgehalten. Eine Stube im Block 26 diente als eine von der<br />
Kommandantur genehmigte Kapelle. Diese Blöcke umgab ein Stacheldrahtzaun und durften<br />
unter strengster Strafandrohung von anderen nicht betreten werden. Zunächst erhielten<br />
diese geistlichen Gefangenen Privilegien: pro Tag ein viertel Liter Wein und die gleiche<br />
Menge Kakao. Außerdem waren alle Geistlichen von körperlicher Zwangsarbeit freigestellt.<br />
Von diesen Vergünstigungen waren aber seit dem 19. September 1941 alle polnischen<br />
Geistlichen ausgeschlossen, die auch die Kapelle im Priesterblock nicht mehr betreten<br />
durften. Auch für die deutschen Geistlichen endete die Wein- und Kakaozuteilung am<br />
11. Februar 1942; darauf folgte am 1. Mai desselben Jahres die Aufhebung der Freistellung<br />
von körperlicher Arbeit. 353 „Wenn auch amtlich mitgeteilt wurde, daß die Geistlichen<br />
zu leichter Gartenarbeit herangezogen würden, so ist doch ganz unbestreitbar, daß<br />
die Kommandos „Plantage“ und „Liebhof“ die schwersten und am meisten gefürchteten<br />
waren. In diesen Kommandos waren die Geistlichen fast ausschließlich beschäftigt. Die<br />
300 toten Priester aus dem Jahre 1942 sind zum größten Teil auf Kosten dieser Kommandos<br />
zu buchen.“ 354 Kaplan Theodor Brasse, der zwei Jahre im KZ Dachau inhaftiert war,<br />
berichtete ausführlich über das Gemeinschaftsleben und die Lebensumstände seiner Leidensgenossen:<br />
Zur täglichen Arbeit waren die meisten auf der „Plantage“, wo Heilkräuter,<br />
Gewürze, aber auch Drogen angebaut wurden. Hier musste bei Wind und Wetter in kniender<br />
Haltung schwerste Gartenarbeit geleistet werden. Die Verpflegung bestand aus einer<br />
Tagesration von 350g Brot (morgens), 1 Liter Rüben- oder Weißkohlsuppe (mittags) und<br />
1 Liter Suppe (abends).<br />
Im Konzentrationslager Dachau 355<br />
Am 12. Dezember 1940 kam Karl Leisner mit weiteren Priestern in das KZ Dachau. Hier<br />
bekam er die Häftlingsnummer 22356. Er lag auf einer Holzpritsche, eingeengt mit circa<br />
200 Mitgefangenen im „Priesterblock“. Im März 1942 musste er infolge seiner Lungenkrankheit,<br />
die nach den Entbehrungen in der Haft wieder auftrat, ins Krankenrevier, wo<br />
120 bis 150 Kranke und Sterbende, zusammengepfercht und dem Tode nahe, untergebracht<br />
waren. Doch auch hier hatte der stets heitere Gelassenheit Ausstrahlende für jeden<br />
etwas übrig, „jeder kam gerne zu ihm, kaum konnte er zur notwendigen Ruhe kommen,<br />
weil er ständig Besuch bekam. Und alle verstand er, ob es ein Pole war oder ein junger<br />
353 Brasse, Theodor (1971): Die Priester im KZ Dachau. In: Weiler, Eugen (1971): Die Geistlichen im KZ<br />
Dachau: 1112-1113<br />
354 Brasse, Theodor (1971): Die Priester im KZ Dachau. In: Weiler, Eugen (1971): Die Geistlichen im KZ<br />
Dachau: 1113<br />
355 Hier waren insgesamt 2796 Geistliche aus 20 Nationen inhaftiert. In: Weiler, Eugen (1971): Die Geistlichen<br />
in Dachau. Geistliche in Dachau nach Nationen (nach Bornefeld): 45<br />
177
Russe war, er wußte, was der Leidensgefährte erzählen oder sagen wollte. Immer teilte er<br />
das wenige, das er hatte. Geben war ihm Notwendigkeit und Freude. Wenn man ihm Vorhaltungen<br />
darüber machte, daß er alles wegschenkte, wies er mit spitzbübischem Lächeln<br />
nach, daß Gott ihm doppelt wiedergebe, was er verschenke, darum sei er so großherzig<br />
und gut.“ 356 Dreimal konnte er wieder in die Priesterbaracke zurückkehren mit der Hoffnung,<br />
geheilt zu sein. Unter seinem Kopfkissen versteckt bewahrte er das heilige Sakrament<br />
auf, um „heimlich die Sterbenden mit dem Brot des Lebens zu stärken und vielen anderen<br />
die heilige Kommunion zu schenken.“ 357<br />
Die Willkür und Brutalität der KZ-Aufseher kannte keine Grenzen: Am Karfreitag führten<br />
sie 60 Gefangene aus dem „Priesterblock“ zum Baumhängen. Dies war für die meisten das<br />
Todesurteil. Die so Gequälten waren auf Dauer arbeitsunfähig kamen nach einer Selektion<br />
durch eine Ärztekommission auf die so genannten „Invalidentransporte“ nach Schloss<br />
Hartheim bei Linz, wo sie in Gaskammern ermordet wurden 358 (siehe Band 1: „Euthanasie“-Opfer)<br />
.<br />
Karl Leisner empfing am 17. Dezember 1944 von dem Mitgefangenen französischen Bischof<br />
Gabriel Piquet, 359 der seit dem 6. September desselben Jahres im Konzentrationslager<br />
Dachau festgehalten war, im geheimen die Priesterweihe. In der eigens im Priesterblock eingerichteten<br />
Notkapelle durfte Leisner am 26. Dezember 1944 die Primiz feiern, „dabei ließ<br />
Christus ihn seine unmittelbare Nähe und die Liebe und Größe seines Herzens wissen und<br />
spüren. Später hat Karl immer daran gedacht und sich gesehnt nach dem Altar.“ 360<br />
Auf seine Befreiung musste er noch bis zum 29. April 1945 warten, als die US-Armee das<br />
Konzentrationslager Dachau befreite. Leisner wusste selber genau, dass „jeder Tag noch<br />
im Lager an meinem Leben zehre.“ 361 Am 4. Mai 1945 erwirkten der Jesuitenpater Otto<br />
Pies zusammen mit dem Dachauer Pfarrer Pfanzelt Leisners Entlassung aus dem unter<br />
Quarantäne stehenden Lager. Der schwerkranke Karl Leisner kam in die Lungenheilanstalt<br />
der Barmherzigen Schwestern nach Planegg. Am 23. Juli 1945 schrieb er in sein Tagebuch:<br />
„Wir armen Kzler! Sie wollten unsere Seele töten. O Gott, ich danke Dir für die<br />
Errettung ins Reich der Liebe und Menschenwürde. Herr, gib, daß ich immer mehr Dich<br />
356 Pies, Otto (1971): Karl Leisner. In: Weiler, Eugen (1971): Die Geistlichen in Dachau: 968<br />
357 Pies, Otto (1971): Karl Leisner. In: Weiler, Eugen (1971): Die Geistlichen in Dachau: 969<br />
358 Im Jahr 1942 kamen 3166 Häftlinge nach Schloss Hartheim. In: Konzentrationslager Dachau 1933-1945:<br />
157<br />
359 Am 28.5.1944 in Clermont-Ferrand wegen Widerstandes verhaftet. Er kam am 24. April 1945 mit über<br />
100 anderen nach Tirol, wo er befreit wurde. (Weiler, 1971: 521)<br />
360 Pies, Otto (1971): Karl Leisner. In: Weiler, Eugen (1971): Die Geistlichen im KZ Dachau: 969<br />
361 Steinbock, Johann (1948): Das Ende von Dachau. In: Weiler, Eugen (1971). Die Geistlichen im KZ<br />
Dachau: 1099<br />
178
liebe. Liebe und Sühne! Ich danke Dir für alles. Verzeih mir meine Schwäche!“ 362<br />
Der 30-jährige Priester starb am 12. August 1945. Seine Beisetzung erfolgte am 20. August<br />
1945 auf den Friedhof in Kleve. Im Jahre 1966 wurde Leisner in der Märtyerkrypta<br />
des Domes in Xanten zur letzten Ruhe gebettet.<br />
Ehrungen<br />
1973 Gründung des „Freundeskreises Karl Leisner“<br />
1975 Gründung des „Internationalen Karl-Leisner-Kreises“<br />
1977 Einleitung des Seligsprechungsprozesses<br />
1980 Genehmigung des Seligsprechungsprozesses<br />
1988 8. Oktober: Papst Johannes Paul II. empfiehlt in Straßburg 42 000 Jugendlichen aus<br />
ganz Europa Karl Leisner und den Franzosen Marcel Callo als Vorbilder<br />
1996 23. Juni: Seligsprechung gemeinsam mit Domprobst Bernhard Lichtenberg durch<br />
Papst Johannes Paul II. im Olympiastadion von Berlin<br />
Ausstellung<br />
1996 Karl Leisner (1915-1945) Menschentreue – Glaubensfreude – Hoffnungszeichen.<br />
Wanderausstellung vom Bischöflichen Generalvikariat Münster.<br />
Rundfunk<br />
Bayerischer Rundfunk: Sendung am 12.11.1999 von Michael Weberpals und Friedrich<br />
Schloffer Priesterweihe im Konzentrationslager.<br />
Literatur<br />
Archiv der KZ-Gedenkstätte Dachau<br />
Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (1998): Band 14, Verlag Traugott Bautz. Spalten 1185-1187<br />
Brasse, Theodor (1971): Die Prieser im KZ Dachau – Ihr Gemeinschaftsleben und Wirken daselbst. In: Weiler,<br />
Eugen (1971): Die Geistlichen in Dachau sowie anderen Konzentrationslagern und Gefängnissen:<br />
1112-1121<br />
Feldmann, Christian (1996): Wer glaubt, muss widerstehen. Bernhard Lichtenberg – Karl Leisner. Herder<br />
Verlag, Freiburg, Basel, Wien<br />
Goldhagen, Daniel Jonah (2002): Die katholische Kirche und der Holocaust. Siedler Verlag, Berlin<br />
Gotto, Klaus / Repgen, Konrad (Hrsg.) (1990): Die Katholiken und das Dritte Reich. Mainz<br />
362 Zitiert in: St. Christophorus Wolfsburg: Der selige Karl Leisner: 2<br />
179
Haas, Wilhelm (1977): „Christus meine Leidenschaft“. Karl Leisner. Sein Leben in Bildern und Dokumenten.<br />
Kevelaer<br />
Haas, Wilhelm (Hrsg.) (1979): Mit Christus leben. Gedanken für jeden Tag. Kevelear<br />
Heckens, Josef (Hrsg.) (1996): Rote Rosen und Stacheldraht: der selige Märtyrer Karl Leisner. Kevelaer<br />
Holzapfel, Theo (Hrsg.) (1996): Ein Zeuge des Glaubens in dunkler Zeit: Karl Leisner 1915-1945. Münster<br />
Konzentrationslager Dachau 1933-1945. Hrsg. v. Comité International de Dachau (1998). Lipp<br />
Verlag, München<br />
Leisner, Karl (2000): Karl Leisners letztes Tagebuch. Hrsg. v. Hans K. Seeger. Münster<br />
Lejeune, René von (1999): Wie Gold im Feuer geläutert. Karl Leisner (1919-1945). Parvis Verlag, Maria heute.<br />
Hauteville / Schweiz<br />
Lettmann, R. (1996): Flagge zeigen – Gegen den Strom schwimmen. In: L`Osservatore Romano (Deutsche<br />
Ausgabe) 26. Jg. Nr. 25.,21. Juni, 1,4<br />
Mertens, Mathias (1988): Priesterweihe hinter Stacheldraht. Gaesdonker Blätter<br />
Mussinghoff, H. (1996): Leidenschaft für Christus und den Nächsten – Karl Leisner, ein Leben für die Jugend.<br />
In: L`Osservatore Romano (Deutsche Ausgabe) 26. Jg. Nr. 25, 21. Juni, 9<br />
Pies, Otto (1961): Geweihte Hände in Fesseln. Priesterweihe im KZ. Kevelaer<br />
Pies, Otto (1962): Stephanus heute. Karl Leisner. Priester und Opfer des KZ. Kevelaer<br />
Pies, Otto (1971): Karl Leisner. In: Weiler, Eugen (1971): Die Geistlichen in Dachau sowie anderen Konzentrationslagern<br />
und Gefängnissen. Missionsdruckerei St. Gabriel, Mödling: 967-969<br />
Riße, Klaus (1996): Karl Leisner (1915-1945) Menschentreue – Glaubensfreude –Hoffnungszeichen. Vortrag<br />
zur Wanderausstellung<br />
Roon, Ger van (1998): Widerstand im Dritten Reich. Beck`sche Reihe, München<br />
Schmiedl, Joachim (1996): Leben für die Jugend. Vallendar-Schönstatt<br />
Schmiedl, Joachim (1999): Mit letzter Konsequenz: Karl Leisner 1915-1945. Münster<br />
Seeger, Hans-Karl (Hrsg.) (2001): Karl Leisners letztes Tagebuch. Kevelaer<br />
Steinbock, Johann (1948): Das Ende von Dachau. In: Weiler Eugen (1971): Die Geistlichen in Dachau sowie<br />
anderen Konzentrationslagern und Gefängnissen. Missionsdruckerei St. Gabriel, Mödling: 1069-1105<br />
Sterzinsky, G. C. (1996): Zeugen des Glaubens und Boten der Versöhnung. Zur Seligsprechung von Bernhard<br />
Lichtenberg und Karl Leisner am 23. Juni im Olympiastadion von Berlin. I: L`Osservatore Romano (Deutsche<br />
Ausgabe) 26. Jg. Nr. 24, 14. Juni, 9-10<br />
Thoma, Emil (1971): Wie dieser Bericht in Dachau vorbereitet wurde. In: Weiler, Eugen (1971): Die Geistlichen<br />
in Dachau sowie in anderen Konzentrationslagern und Gefängnissen: 21-36<br />
Vosen, Klaus-Peter (2000): An Hitler aber glaube ich nicht. Karl Leisner - ein Lebensweg. Köln<br />
Weiler, Eugen (1971): Die Geistlichen in Dachau sowie anderen Konzentrationslagern und Gefängnissen. Nachlass<br />
von Pfarrer Emil Thomas. Erw. u. hrsg. v. Eugen Weiler. Missionsdruckerei St. Gabriel, Mödling<br />
180
Leonrod, Ludwig Freiherr von<br />
*17.9.1906 †28.8.1944 Berlin-Plötzensee<br />
„Nicht das Beliebige, sondern das Rechte tun und wagen, nicht im Möglichen schweben,<br />
das Wirkliche tapfer ergreifen, nicht in der Flucht der Gedanken,<br />
allein in der Tat ist die Freiheit.“<br />
Dietrich Bonhoeffer schrieb dieses Gedicht mit dem Titel Stationen auf dem<br />
Weg zur Freiheit mit dem Untertitel Tat nach dem gescheiterten Putsch vom 20. Juli 1944<br />
im Berliner Gefängnis Tegel. 363<br />
363 Bethge, Eberhard u. Renate (Hrsg.) (1984): Letzte Briefe im Widerstand: 125<br />
181<br />
Freiherr Ludwig von Leonrod<br />
vor dem VGH in Berlin<br />
Foto: Institut für Zeitgeschichte<br />
München, Archiv
I. Leonrodstraße, Neuhausen<br />
M (1906)<br />
II. Leonrodplatz, Neuhausen<br />
M (1927)<br />
III. Gedenktafel<br />
St. Georg, Bogenhausener Kirchplatz 1, Bogenhausen<br />
Max-Weber-Platz U4/U5 und Tram 18<br />
Kath. Kirche (1946)<br />
Zu III. Gedenktafel<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Für die im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944 ermordeten Widerstandskämpfer Ludwig<br />
Freiherr von Leonrod, Pater Alfred Delp, Dr. Hermann Wehrle und Franz Sperr errichtete<br />
die katholische Kirche eine Gedenktafel, die am 31. Oktober 1946 eingeweiht und<br />
enthüllt wurde.<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
An der westlichen Kirchenmauer von St. Georg befindet sich die durch ein Kreuz in vier<br />
Teile gegliederte Gedenktafel. Eine der vier Segmente ist Ludwig Freiherr von Leonrod<br />
mit folgender Inschrift gewidmet:<br />
„Selig der Mann, der in der Prüfung stand hält. Denn wenn er sich bewährt hat, wird er<br />
die Krone des Lebens empfangen. Jak.1, 12. Ludwig Freiherr von Leonrod, geboren 17.<br />
September 1906. Hingerichtet 25. Aug. 1944. Im Kampf mit den Mächten der Finsternis<br />
fiel er für seinen Glauben, seine Freunde, sein Vaterland.“<br />
INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER<br />
Die Gedenktafel schuf der Architekt Hansjakob Lill.<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Ludwig Freiherr von Leonrod stammte aus einer Familie, die traditionell ihre männlichen<br />
182
Mitglieder militärisch ausbilden ließ. Während der Ausbildung zum Berufssoldaten lernte<br />
von Leonrod Claus Graf von Stauffenberg (siehe Band 3: Stauffenberg) beim 17. Reiterregiment<br />
in Bamberg kennen. Im Juli 1933 erfolgte seine Ernennung zum Oberleutnant,<br />
was mit dem Führereid verbunden war. Mit Kriegsbeginn leistete er Frontdienst und erhielt<br />
zahlreiche Auszeichnungen. Eine schwere Verwundung brachte Anfang 1942 eine<br />
Versetzung nach München mit sich. Von Leonrod heiratete im Frühjahr 1943 und bezog<br />
mit seiner Frau eine Wohnung in der Möhlstraße (Bogenhausen). Von Stauffenberg weihte<br />
von Leonrod Ende 1943 in die Attentatspläne ein und erhielt seine Zusage zur Unterstützung.<br />
Ein Problem dabei war für von Leonrod der geleistete Eid: „... als gläubiger Katholik<br />
sei ich auf Grund der Ausführungen über die politische und militärische Lage schon<br />
gewissenmäßig verpflichtet, entgegen diesem Eid zu handeln. Trotzdem hatte ich auf meiner<br />
Heimreise (...) Gewissensqualen, ob die Handlungsweise richtig sei und ich nicht in<br />
einem Zustand der Sünde stehe, da ich von dem geplanten Attentat auf den Führer Kenntnis<br />
hatte.“ 364<br />
Der strenggläubige Katholik Freiherr Ludwig von Leonrod suchte wegen diesem Gewissenskonflikt<br />
seinen Beichtvater Kaplan J. Wehrle in St. Georg in Bogenhausen auf, um zu<br />
erfahren, ob bereits das Wissen über ein geplantes Attentat auf den Führer Sünde sei. Kaplan<br />
Wehrle verneinte dies, riet jedoch nach der kirchlichen Lehrmeinung vom Tyrannenmord<br />
ab. Von Stauffenberg hatte von Leonrod beim geplanten Umsturz als Verbindungsoffizier<br />
für Berlin vorgesehen. Zur Zeit des Umsturzversuchs war von Leonrod auf einem<br />
Lehrgang für höhere Adjutanten in Potsdam-Krampnitz. Dort wurde er am 21. Juli 1944<br />
verhaftet. In seinem Gnadengesuch versuchte er, seine Entscheidung zum Widerstand Kaplan<br />
Wehrle anzulasten: „Wahrscheinlich hätte schon ein anderer Beichtvater genügt.<br />
Mein Unglück ist eben, daß ich an diesen geraten war.“ 365 Nach einer Gegenüberstellung<br />
vor dem von Roland Freisler geleiteten VGH mit Kaplan Wehrle sagte er: „Wehrle habe<br />
gesagt, er brauche nicht zu beichten, denn ,Wissen um ein solches Attentat sei keine Sünde.‘“<br />
366 Nach Meinung Freislers hatte von Leonrod die Attentatspläne unterstützt und war<br />
als Verschwörer und Verräter zum Tode zu verurteilen. Am 26. August 1944 wurde von<br />
Leonrod mit dem Fallbeil hingerichtet. Im Zuge der Sippenhaft 367 kam die Witwe Monika<br />
364 Morschhäuser, Franz J. (1994): Hermann Joseph Wehrle (1899–1944). Zeuge des Glaubens in bedrängter<br />
Zeit: 175. In: Detjen, Marion (1998): „Zum Staatsfeind erklärt“: 187<br />
365 Gritschneder, Otto: Von NS-Schergen erhängt: 18. Auch in: Vieregg, Hildegard (1993): Wächst Gras darüber?:<br />
195<br />
366 Urteil des VGH. AZ 1 L 321/44 O J 14/444gRs.: 8, IfZ-Archiv München. In: Vieregg (1993): 193<br />
367 Die Sippenhaft wurde am 21.11.1944 von den Nazis verhängt. Durch sie konnten Angehörige eines<br />
Täters für dessen „Delikte“ strafbar gemacht werden. Gestapochef Heinrich Müller ordnete ein einheitliches<br />
Verfahren für alle Sippenhäftlinge an. „Unter Sippe ist zu verstehen: Ehegatte, Kinder, Geschwister,<br />
Eltern und sonstige Verwandte, wenn letztere nachteilig bekannt sind.“ BAK, R58 1027, fol. 326. In:<br />
Hett / Tuchel (Hrsg.) (1994): 384<br />
183
Freifrau von Leonrod auch wegen Nichtanzeige ihres Ehemanns in Haft und noch am 18.<br />
April 1945 vor den VGH. Sie hat überlebt. 368<br />
Ausstellung<br />
9. Oktober – 8. November 1998: Widerstand, Resistenz und Verweigerung gegen das<br />
NS-Regime in München. Konzipiert vom Kulturreferat der Landeshauptstadt München.<br />
Wissenschaftliche Leitung: Marion Detjen und Peter Dorsch. Gezeigt in der Kassenhalle<br />
des Münchner Neuen Rathauses.<br />
Literatur<br />
Bethge, Eberhard u. Renate (Hrsg.) (1984): Letzte Briefe im Widerstand. Aus dem Kreis der Familie Bonhoeffer.<br />
Kaiser Verlag, München<br />
Detjen, Marion (1998): „Zum Staatsfeind ernannt“. Widerstand, Resistenz und Verweigerung gegen das NS-<br />
Regime in München. Hrsg. v. d. Landeshauptstadt München. Buchendorfer Verlag, München<br />
Gritschneder, Otto (1985): Von NS-Schergen erhängt. In: Münchner Stadtanzeiger Nr. 90 v. 22.2.1985<br />
Gritschneder, Otto (1986): Roland Freisler liefert Kaplan Wehrle dem Henker aus. In: Gritschneder, Otto<br />
(1986): Weitere Randbemerkungen. Selbstverlag Otto Gritschneder, München: 304-318<br />
Hett, Ulrike / Tuchel, Johannes (1994): Die Reaktionen des NS-Staates auf den Umsturzversuch vom 20. Juli<br />
1944. In: Steinbach, Peter / Tuchel, Johannes (Hrsg.) (1994): Widerstand gegen den Nationalsozialismus.<br />
Sonderauflage d. Bayerischen Landeszentrale f. politische Bildungsarbeit. Bonn: 377–389<br />
Maier, Hans (1993): Christlicher Widerstand im Dritten Reich. In: Siefken, Hinrich / Vieregg, Hildegard<br />
(Hrsg.): Resistance to National Socialism: Arbeiter, Christen, Jugendliche, Eliten: 21–38<br />
Vieregg, Hildegard (1993): Wächst Gras darüber? München: Hochburg des Nationalsozialismus und Zentrum<br />
des Widerstands. Universitätsdruckerei u. Verlag Dr. C. Wolf & Sohn, München<br />
368 Vieregg, Hildegard (1993): Wächst Gras darüber?: 195<br />
184
Loeb, James, Prof. Dr.h.c.<br />
*6.8.1867 New York †27.5.1933 Murnau-Hochried<br />
„Nur wenige Menschen in dieser denkmallosen Zeit haben eine schönere und dauerhafte<br />
Erinnerung hinterlassen als James Loeb, der in dieser Woche starb ... Mag auch<br />
das Zeitalter der Förderer mit dem 18. Jahrhundert versunken sein, – es ist, wie das Leben<br />
James Loebs zeigt, noch immer ein Raum für ein zwar weniger brillantes, jedoch<br />
keineswegs unbedeutendes Mäzenatentum ...“<br />
The Times, 2. Juni 1933 369<br />
Stiftertafel im Marie-<br />
Antonie-Haus<br />
Foto: H. Engelbrecht<br />
James Loeb<br />
Foto: Stadtarchiv München<br />
Gedenktafel für James Loeb<br />
Maria-Josepha-Straße 8<br />
Foto: A. Olsen<br />
185
I. Gedenktafel, Maria-Josepha-Str. 8, Schwabing<br />
Giselastr. U3/U6<br />
M (1990)<br />
II. James-Loeb-Straße, Schwabing<br />
M (1983)<br />
III. James-Loeb-Gedenktafel, Kraepelinstr. 2-10<br />
Deutsches Forschungsinstitut für Psychiatrie (1928)<br />
IV. Stiftertafel im Marie-Antonie-Haus, Studentinnen-Wohnheim, Kaulbachstr. 49<br />
Giselastr. U3/U6<br />
Privat (1930)<br />
Zu I. Gedenktafel, Maria-Josepha-Str. 8, Schwabing<br />
M (1990)<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Auf Initiative von Brigitte Pflug wurde im Jahre 1989 eine Gedenktafel für James Loeb<br />
geplant. Einige Jahre zuvor hatte sich die Stadträtin Cäcilie Götschel (CSU) bereits erfolgreich<br />
für eine James-Loeb-Straße (1983 in Schwabing) eingesetzt. Die Gedenktafel wurde<br />
am 1. August 1990 vom Münchner Oberbürgermeister Christian Ude enthüllt.<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
Dieses Haus ließ sich James Loeb in den Jahren 1909-1911 vom Architekten Carl Sattler<br />
errichteten. Hier lebte er bis zu seinem Umzug 1922 nach Murnau. An der mit antiken Motiven<br />
geschmückten Fassade befindet sich die Gedenktafel mit folgender Inschrift:<br />
„James Loeb 1867-1933 Förderer von Kunst und Wissenschaft und Stifter bedeutender<br />
sozialer Einrichtungen lebte in diesem Hause.“<br />
INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER<br />
Der Münchner Bildhauer Toni Preis schuf diese Gedenktafel.<br />
369 Hamdorf, Friedrich Wilhelm (1983): James Loeb. Mäzen von Beruf: o. S.<br />
186
Zu IV. Stiftertafel im Marie-Antonie-Haus, Studentinnen-Wohnh., Kaulbachstr. 49<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
In der Eingangshalle befindet sich eine in die Mauer eingelassene Gedenktafel (1,45 m x<br />
1 m) aus poliertem Solnhofener Kalk mit eingemeißelter Inschrift:<br />
„Der Bau dieses Hauses wurde ermöglicht durch die Stiftung eines gütigen Menschen. Es<br />
soll den Studentinnen der Münchner Hochschulen ein gemütliches Daheim sein sowie eine<br />
Stätte edlen Strebens und guter Kameradschaft. Zu Ehren der Gemahlin des Stifters trägt<br />
das Haus den Namen „Marie-Antonie-Haus“. Sie selbst hat durch eine besondere Stiftung<br />
die Ausschmückung des Hauses ermöglicht und seine Wohnlichkeit erhöht. In Dankbarkeit<br />
sei ferner der gütigen Stifter gedacht, die ausserdem zur Verwirklichung des Studentinnenwohnheimes<br />
beigetragen haben: Frau Geheimrat Duisburg u. Frau von Veltheim;<br />
Herr u. Frau Ministerpräsident Dr. Held; Geheimrat Dr. Caro; Albert Fürst von Thurn<br />
und Taxis; Direktor Dr. Hess; Staatsminister Dr. Goldenberger; Akademikerinnen-Bund<br />
München; Frau Professor Sattler; F. W. Lafrentz, New-York; Quarter-Collection, New-<br />
York; Mr and Mrs. Rudolf Erbslöh, New-York; Mrs. Louis Stern, Californien; Mrs. E. S.<br />
Heller, Californien; Mr. and Mrs. Wunderlich, New-York; Frauen der Dozenten der Universität;<br />
Frau Professor von Klenze; Frau Geheimrat Dantscher; Frau Geheimrat<br />
Berthold; Mrs. Emory E. Cochran, New-York; Mount Holy Coke College, U.S.A.; Vassar<br />
College, U.S.A.; Frau Professor M. Mueller, Wellesley-College, U.S.A.; Frauengruppe<br />
München des Bundes der Auslandsdeutschen; Mrs. J. H. Schiff, New-York; Herr und Frau<br />
Hambuechen; Theodore Spiering.“<br />
Die beschriftete Gedenktafel ist ober- und unterhalb mit grün-grauem Mosaik verziert.<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
James Loeb erblickte als zweites Kind von Solomon Loeb und Betty (geb. Gallenberg) in<br />
New York das Licht der Welt. Die Mutter war eine in Paris und Mannheim ausgebildete<br />
Pianistin. Sein Vater war 1829 in Worms geboren. Einer jüdischen Kaufmannsfamilie entstammend,<br />
wanderte er nach Amerika aus und gründete dort ein eigenes Bankunternehmen,<br />
Kuhn, Loeb & Co. „Wohlstand, verbunden mit dem sozialen Prestige wie der Nüchternheit<br />
des Bankiersberufes, bestimmen das Familienleben.“ 370<br />
James Loeb studierte an der Harvard-University Wirtschaftsgeschichte, Nationalökonomie,<br />
Handelsrecht, Geschichte und Altphilologie. 371 Er schloss sein Studium der Altertumswissenschaften<br />
mit dem Bachelor of Art ab. Auf Wunsch des Vaters begann er die<br />
370 Hamdorf, Friedrich Wilhelm (1983): James Loeb. Mäzen von Beruf: o. S.<br />
187
Arbeit im väterlichen Bankhaus und avancierte nach sechsjähriger „Lehre“ zum Teilhaber.<br />
1901 schied Loeb 1901 aus dem Familienunternehmen aus. Danach widmete er sich<br />
seinen wissenschaftlichen Interessen und vergrößerte seine Antikensammlung durch Ankäufe.<br />
Vier Jahre später entschloss sich Loeb zur Übersiedlung nach Europa.<br />
Ein psychisches Leiden veranlasste Loeb, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Auf der<br />
Suche nach einer führenden Kapazität fand er den bekannten Psychiater Emil Kraepelin<br />
(1856-1926) in München. Am 14. November 1906 bezog Loeb eine Wohnung in der Konradstraße<br />
12, später wohnte er in der Konradstraße 14 in München. Ein Jahr später erwarb<br />
Loeb das Anwesen an der Maria-Josepha-Straße 8, wo ihm Carl Sattler sein Münchner<br />
Domizil errichtete. Inspiriert vom französischen Gelehrten Salomon Reinach entschloss<br />
sich Loeb zur Herausgabe einer „umfassenden Bibliothek“ griechischer und lateinischer<br />
Texte und deren Übersetzung, der Loeb Classical Library. In dieser umfangreichen Publikationsreihe<br />
sollten alle literarischen Texte der griechischen und römischen Antike als<br />
wissenschaftliche Ausgaben aufgelegt werden: in Originalsprache und englischer Übersetzung.<br />
Loeb gründete dafür eine Stiftung, die bis heute mit Sitzen in Harvard und London<br />
besteht und insgesamt über 490 Bände herausgegeben hat. 372<br />
In Hochried bei Murnau erbaute der Mäzen und Wissenschaftler mit seinem Architekten<br />
Carl Sattler ein Landhaus (1911-1913), das er im Jahre 1912 bezog. Loeb heiratete 1921<br />
Marie Antonie Hambuechen, die seine Verwalterin und persönliche Vertraute seit seiner<br />
Übersiedlung nach München war. Im selben Jahr erwarb er das Grundstück am Bavariaring<br />
46, um sich von Carl Sattler ein Mietshaus errichten zu lassen; hier war das mit seiner<br />
Hilfe gegründete „Deutsche Forschungsinstitut für Psychiatrie“ untergebracht. 373 Dieses<br />
Haus beherbergt heute die Maria-Theresia-Klinik.<br />
Durch die Initiative seiner Frau Marie Antonie entstand in der Kaulbachstraße 49 ein Studentinnen-Wohnheim,<br />
genannt „Marie-Antonie-Haus“. Es wurde 1929 von seinem Architekten<br />
Carl Sattler errichtet und besteht noch heute. Seine Ernennung zum Ehrenbürger<br />
der Universität München erfolgte 1925. „In Würdigung seiner außerordentlichen Förderung<br />
der wissenschaftlichen Forschung in München und der steten Hilfsbereitschaft, die<br />
er der Stadt München gegenüber bekundet hat“, erhielt er die goldene Ehrenmünze verliehen.<br />
Dieses vom Bildhauer Theodor Georgii gestaltete Kunstwerk befindet sich heute<br />
in der Staatlichen Münzsammlung München.<br />
371 Burgmair, Wolfgang / Weber, Mathias M. (1997): „... daß er sich nirgends wohler als in Murnau fühle ...“.<br />
In: Jahrbuch des Historischen Vereins Murnau (Hrsg.): 78<br />
372 Stewart, Zeph (2000): Gründung und Geschichte der Loeb Classical Library. In: Schlossmuseum des<br />
Marktes Murnau (Hrsg.): 104<br />
373 Scherer, Benedikt M. (2000): James Loeb und sein Architekt Carl Sattler. In: Schlossmuseum des Marktes<br />
Murnau (Hrsg.): James Loeb 1967-1933. Kunstsammler und Mäzen: 127-142<br />
188
Ein schwerer Schicksalsschlag war für Loeb der Tod seiner Frau Marie Antonie am 28.<br />
Januar 1933. Die politischen Ereignisse – die Machtergreifung und deren Auswirkungen<br />
– veranlassten Loeb, Verbindung mit seinem Rechtsberater Professor Dr. Heinrich Rheinstrom<br />
(siehe Band 2: Jüdische Rechtsanwälte) aufzunehmen, der bereits in die Schweiz<br />
emigriert war. Im April 1933 reiste er mit seinem Stiefsohn Joseph Wilhelm Hambuechen<br />
in die Schweiz. Dort erlitt er kurz vor der Rückfahrt einen „cerebralen Insult mit Halbseitenlähmung.“<br />
374<br />
Am 27. Mai 1933 starb James Loeb in Murnau-Hochried. Seine Urne ist im Park des<br />
Landsitzes beigesetzt. In seinem Testament überließ er seine Sammlungen antiker Kunstwerke,<br />
die er durch wissenschaftliche Publikationen und Kataloge bekannt gemacht hatte,<br />
der Staatlichen Antikensammlung München. Die umfangreiche „Sammlung James Loeb“<br />
hat die Kriegsjahre unversehrt überstanden und ist seit 1967 in der neu eingerichteten<br />
Staatlichen Antikensammlung am Königsplatz zu sehen, wo sie in die kunstgeschichtliche<br />
Abteilung des Museums eingegliedert wurde. 375 Einen Teil der umfangreichen Bibliothek<br />
von Loeb bekam das archäologische Institut in München.<br />
James Loeb kann nicht als direktes Opfer des nationalsozialistischen Gewaltherrschaft<br />
gelten, er stellt jedoch einen Grenzfall dar. Seine Einschätzung der politischen Lage wird<br />
an seinem Testament deutlich.<br />
Ausstellungen<br />
1983: James Loeb Mäzen von Beruf. Die „Sammlung James Loeb“. Gezeigt in der<br />
Staatlichen Antikensammlung am Königsplatz, München, anlässlich seines 50. Todestages<br />
im Jahre 1983<br />
7. April – 9. Juli 2000: James Loeb 1867-1933. Kunstsammler und Mäzen. Sonderausstellung<br />
im Schlossmuseum der Marktgemeinde Murnau am Staffelsee; Oberbayern<br />
Stiftungen von James Loeb<br />
1902 „Charles-Eliot-Norton-Stipendium“, Harvard.<br />
1905 „Institute of Musical Art“, New York.<br />
1910 „Loeb Classical Library“ mit Sitz in Harvard und London.<br />
1917 Gründung der „Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie“ in München.<br />
374 Burgmair, Wolfgang / Weber, Mathias M. (1997): „... daß er sich nirgends wohler als in Murnau fühle ...“.<br />
In: Jahrbuch des Historischen Vereins Murnau (Hrsg.): 112<br />
375 Hamdorf, Friedrich Wilhelm (1983): James Loeb Mäzen von Beruf: o. S.<br />
189
1924 Neubau für die „Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie“ am Bavariaring 46 in<br />
München.<br />
1928 Neubau für die „Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie“ in der Kraepelinstraße<br />
2-10 in München; heute „Max-Planck-Institut für psychologische Forschung“.<br />
1929 „Marie-Antonie-Haus“: Studentinnen-Wohnheim in der Kaulbachstraße 19 in München.<br />
1932 Krankenhaus der Marktgemeinde Murnau.<br />
Ehrungen und Namenspatronagen<br />
1922 Ehrendoktorwürde der philosophischen Fakultät der Universität München.<br />
1925 Ehrendoktorwürde der Universität Cambridge (England).<br />
1925 Ehrenbürger der Münchener Universität.<br />
1927 Ehrenmedaille zum 60. Geburtstag (Geschenk seiner Freunde) von Theodor Georgii,<br />
Goldene Schale von der Landeshauptstadt München. 376<br />
1929 Ehrenmitglied der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft.<br />
1930 Goldene Ehrenmünze der Stadt München.<br />
1932 Ehrenbürger der Marktgemeinde Murnau, James-Loeb-Straße in Murnau.<br />
2001 James-Loeb-Schule (Grundschule) in Murnau<br />
Literatur<br />
Birmingham, Stephen (1969): In unseren Kreisen. Berlin 1969<br />
Burgmair, Wolfgang / Weber, Mathias M.: „... daß er sich nirgends wohler als in Murnau fühle ...“ James Loeb<br />
als Förderer der Wissenschaft und philantropischer Mäzen. In: Jahrbuch des Historischen Vereins Murnau<br />
(Hrsg.) (1997) M. + A. Fischer, Weilheim: 76-128<br />
Burgmair, Wolfgang / Weber, Mathias M. (2000): „... Ein Lichtstrahl in das trübe Dunkel ...“. James Loeb als<br />
Wissenschaftsmäzen der psychiatrischen Forschung. In: Schlossmuseum der Marktgemeinde Murnau<br />
(Hrsg.) (2000): James Loeb 1867-1933. Kunstsammler und Mäzen: 107-126<br />
Festschrift für James Loeb zum sechzigsten Geburtstag, gewidmet von seinen archäologischen Freunden in<br />
Deutschland und Amerika (1930) u. a. mit Beiträgen zu Ausstellungsobjekten der Sammlung Loeb<br />
Hall, Max (1993): Renewal of a Classic. „The James Loeb Classical Library“ with 477 volumen in print, prepares<br />
for the 21st century. In: Harvard Magazine Sept/Okt. 1993: 48-52<br />
Hamdorf, Friedrich Wilhelm (1983): Sammlung James Loeb. Staatliche Antikensammlung u. Glyptothek,<br />
München<br />
Hamdorf, Friedrich W. (2000): James Loebs archäologische Studien. In: Schlossmuseum der Marktgemeinde<br />
Murnau (Hrsg.) (2000): James Loeb 1867-1933. Kunstsammler und Mäzen: 147-190<br />
Hamdorf, Friedrich W. (Hrsg.) (1996): Hauch des Prometheus – Meisterwerke in Ton. Staatl. Antikensammlungen<br />
München. Verlag Staatssammlungen, München<br />
Loeb, James (1929): Our Father. München 1929. Selbstverlag<br />
376 StadtA Mü ZA Personen. In: Salmen, Brigitte (2000): James Loeb. Leben und Wirken. In: Schlossmuseum<br />
des Marktes Murnau (Hrsg.): 63<br />
190
Salmen, Brigitte (2000): James Loeb – Leben und Wirken. In: Schlossmuseum der Marktgemeinde Murnau<br />
(Hrsg.) (2000): James Loeb 1867-1933. Kunstsammler und Mäzen: 17-72<br />
Schlossmuseum der Marktgemeinde Murnau (Hrsg.) (2000): James Loeb 1867-1933 Kunstsammler und Mäzen.<br />
Bearbeitet von Brigitte Salmen. Katalog zur Sonderausstellung im Schlossmuseum Murnau vom 7.4.-<br />
9.7.2000. Rieß-Druck, Benediktbeuern<br />
Mc Ewan, Dorothea (2000): Facetten einer Freundschaft. Aby Warburg und James Loeb. Verwandte, Freunde,<br />
Wissenschaftler, Mäzene. In: Schlossmuseum Murnau (Hrsg.) (2000): James Loeb Kunstsammler und<br />
Mäzen: 75-98<br />
Sieveking, Johannes (1930): Aus der Antikensammlung von Dr. James Loeb, Murnau. In: Pantheon Band 6:<br />
323-325<br />
Sieveking, Johannes (1935): Das Vermächtnis James Loeb an die Münchner Antikensammlungen. In: Pantheon<br />
Band 8: 53-58<br />
Stuart, Zeph (2000): Gründung und Geschichte der Loeb Classical Library. In: Schlossmuseum der Marktgemeinde<br />
Murnau (Hrsg.) (2000): James Loeb 1867-1933. Kunstsammler und Mäzen: 99-106<br />
Warburg, Aby (2001): Tagebuch der kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg. Akademie-Verlag, Berlin<br />
Weber, Mathias M. (1991): „Ein Forschungsinstitut für Psychiatrie ...“ In: Sudhoffs Archiv, Band 75. München<br />
Wünsche Raimund (1983): Mäzene. In memoriam James Loeb. In: Pantheon Band 39: 282-283<br />
Wünsche, Raimund (1984): James Loeb und sein Vermächtnis in den Antikensammlungen. In: Museumskunde,<br />
Band 49. Staatliche Antikensammlung, München: 55-61<br />
Zahn, Robert (1931): Hellenistischer Goldschmuck I. Diadem in der Sammlung des Herrn Dr. phil. h. c. James<br />
Loeb zu Murnau am Staffelsee. In: Antike Denkmäler, Band IV (1931): 69ff<br />
191
Luftkriegsopfer – Neuhofener Schuttberg<br />
„Ein Bombenteppich nach dem andern rauscht aus hellem Himmel todesnah heran –<br />
Wie todesnah berechnet ihre Bahn, wer eingegittert ihrem Brausen lauscht.“<br />
Albrecht Haushofer 377<br />
Gedenkstätte auf dem<br />
Neuhofener Schuttberg<br />
Foto: H. Engelbrecht<br />
192<br />
Neuhofener Schuttberg, 5.7.1950, Blick<br />
auf die Stadt gegen Nordosten<br />
Foto: Stadtarchiv München
Gedenkstätte<br />
Neuhofener Schuttberg, Sendling<br />
Mittersendling S7/S27<br />
M (1957)<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Die Gedenkstätte wurde auf Initiative der Landeshauptstadt München 1957 errichtet.<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
Der Künstler Josef Wiedemann konzipierte die einem Rundtempel ähnelnde Gedenkstätte.<br />
Sie besteht in ihrem Zentrum aus einer von Professor Hans Wimmer gestalteten, flachen<br />
Nagelfluh-Brunnenschale (Durchmesser 2 m) mit kleinem Springbrunnen, die von<br />
acht, äquidistant und symmetrisch auf einen Kreisumfang postierten, 4,5 m hohen weißen<br />
Travertin-Rundsäulen eingefasst ist. Sie tragen ein mittelsteiles Dachgewölbe, das sich<br />
aus acht, mit Holzschindeln abgedeckten Sektoren aufbaut. Die Spitze des Dachgewölbes<br />
krönt eine vergoldete Kupferkugel. Die circa 10 Meter nördlich dieser Gedenkstätte in den<br />
Boden eingelassene und von Pflastersteinen gerahmte Gedenktafel (1,3 m × 0,9 m), geschaffen<br />
vom Bildhauer Blasius Gerg, trägt folgende Inschrift:<br />
„Die Anlage steht auf Schuttmassen des Bombenkrieges. Sie ist der Erinnerung an die<br />
6000 Münchner gewidmet, die im 2. Weltkrieg den Bomben zum Opfer gefallen sind.“<br />
INFORMATION ÜBER DIE KÜNSTLER<br />
Die Gedenkstätte ist ein Gesamtkunstwerk von Josef Wiedemann, Professor Hans Wimmer<br />
und Blasius Gerg.<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Die Eskalation des Bombenkrieges gegen Deutschland begann mit der deutschen Westoffensive.<br />
Zuvor waren die weite Anflugsroute nach Süddeutschland und die deutsche Flak<br />
ein hohes Risiko für englische Bombenangriffe. Die Situation änderte sich, nachdem der<br />
deutsche Russlandfeldzug gescheitert war und die alliierten Bomber technisch verbessert<br />
worden waren. Ab 1943 kam es zu systematischen Angriffen auf alle Großstädte des Deutschen<br />
Reichs. Unterstützt von Verbänden der „United States Army Air Forces“ (USAAF)<br />
fielen die Bomben auf Hauptverkehrswege, Industrieanlagen, Bahnhöfe, Kasernen und<br />
377 A. Haushofer: Moabiter Sonetten, Gedicht Bombenregen: 17<br />
193
Wohngebiete. Golo Mann schilderte die Schrecken dieser Angriffe gegen Ende des Zweiten<br />
Weltkrieges: „Dort lebte das Volk jetzt zwischen zwei Schrecken, den feindlichen<br />
Bomben aus der Luft und den Volksgerichtshöfen, mit deren Todesurteilen der Führer seine<br />
,deutschen Menschen´ heimsuchte ...“ 378<br />
Die Luftschutzmaßnahmen reichten in München für die Zivilbevölkerung bei weitem<br />
nicht aus. Deshalb erfolgten seit dem 20. März 1943 Evakuierungen und „Landverschickungen“<br />
im Raum Oberbayern. München mied die von Berlin bestimmten Ausweichgebiete<br />
in den Reichsgauen Salzburg bzw. Steiermark und brachte die Stadtbewohner in abseits<br />
gelegenen Dörfern und Kleinstädten Oberbayerns unter. 379 Bis zum Kriegsende<br />
mussten – bei einer Gesamtbevölkerung von 820000 vor Kriegsausbruch – circa 400000<br />
Personen aus München evakuiert werden. 380<br />
Nach der alliierten Landung (D-Day) am 6. Juni 1944 an der Normandieküste verkürzten<br />
sich die Anflugzeiten der Bomberstaffeln; damit erhöhte sich die Häufigkeit der Angriffe<br />
der „fliegenden Festungen“. Zum schwersten Bombardement kam es Ende April 1944, bei<br />
dem Phosphor- und Stabbrandbomben München in eine Feuerhölle verwandelten.<br />
Die Alliierten zerstörten weite Teile Münchens. In der Altstadt waren 90 Prozent der Gebäude<br />
betroffen. Baudenkmäler und Kunstschätze – ein großer Teil des Münchner Kulturwertes<br />
– lagen in Schutt und Asche.<br />
Nach Kriegsende lagen zehn Millionen Kubikmeter Bauschutt im Stadtgebiet. Über seine<br />
Entsorgung berichtet die Chronik von München am 31. August 1945:<br />
„Das Stadtgebiet ist von einem Kleinbahnnetz von fast 50 Kilometer Länge durchzogen.<br />
Täglich fahren 14 Dampfzüge mit Kipploren aus, die von 12 Greifbaggern mit Bombenschutt<br />
beladen werden. Die Militärregierung hat außerdem 140 Lastwagen zur Verfügung<br />
gestellt. 150000 cbm Schutt sind bereits abgefahren, täglich werden 2000 weitere cbm beseitigt.<br />
Als nächstes sollen Häuserruinen beseitigt werden, bei denen Einsturzgefahr besteht.<br />
Nach Neuhofen kommt der Schutt aus dem Marienplatz-, Rindermarkt- und Färbergrabengebiet.<br />
Er wird über eine Zwischenkippe, die im Bereich der Hotter- und Damenstiftstraße<br />
ist, nach Neuhofen verladen.“ 381<br />
Die Kleinbahn („Bockerlbahn“) verkehrte zwischen dem Sendlinger-Tor-Platz und Neuhofen.<br />
Hier befand sich eine der vier großen Deponien, auf denen der Bauschutt gelagert<br />
378 Mann, Golo (1968): Deutsche Geschichte 1919–1945: 226<br />
379 Bauer, Richard (1987): Fliegeralarm: 20<br />
380 Bauer, Richard (1987): Fliegeralarm: 25<br />
381 Chronik der Stadt München 1945–1949 v. 6.8.1946: 187<br />
194
wurde. Weitere Ablageplätze gab es am Pullacher Platz (hier entstand später ein Sportstadion),<br />
am Luitpoldpark und auf dem Oberwiesenfeld, dem späteren Olympiagelände.<br />
Ausstellung<br />
1984: Trümmerzeit in München. Kultur und Gesellschaft einer deutschen Großstadt im Aufbruch<br />
1945–1949. Gezeigt von der Landeshauptstadt München im Münchner Stadtmuseum.<br />
Literatur<br />
Bauer, Richard / Stölzl, Christoph / Broszat, Martin / Prinz, Friedrich (Hrsg.) (1986): München. Schicksal einer<br />
Großstadt 1900–1950. Verlag Langen Müller, München, Wien<br />
Bauer, Richard (1987): Fliegeralarm. Luftangriffe auf München 1940–1945. Hugendubel Verlag, München<br />
Bauer, Richard (1988): Ruinen-Jahre. Bilder aus dem zerstörten München 1945–1949. Hugendubel Verlag,<br />
München<br />
Berthold, Eva / Matern, Norbert (1990): München im Bombenkrieg. Droste Verlag, Düsseldorf<br />
Chronik der Stadt München 1945–1948 (1980). Bearbeitet von Wolfram Selig, Ludwig Morenz, Helmut Stahleder.<br />
Stadtarchiv München, hrsg. v. Michael Schattenhofer. Manz AG Verlag, Dillingen<br />
Friedrich, Jörg (2002): Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940-1945. Propyläen Verlag, München<br />
Hausenstein, Wilhelm (1958): Liebe zu München. Prestel Verlag, München<br />
Hausenstein, Wilhelm (1967): Licht unterm Horizont. Tagebücher von 1942 bis 1946. Prestel Verlag, München<br />
Mann, Golo (1968): Deutsche Geschichte 1919–1945. Frankfurt a. M.<br />
Richardi, Hans-Günter (1992): Bomber über München. Der Luftkrieg 1939 bis 1945, dargestellt am Beispiel<br />
der „Hauptstadt der Bewegung“. W. Ludwig Verlag, München<br />
Trümmerzeit in München (1984): Kultur und Gesellschaft einer deutschen Großstadt im Aufbruch 1945–<br />
1949. Hrsg. von Friedrich Prinz. Katalog zur Ausstellung im Münchner Stadtmuseum. C. H. Beck Verlag,<br />
München<br />
Schreibmayr, Erich (1989): Wer? Wann? Wo? Persönlichkeiten auf Münchner Friedhöfen. Verlag Erich<br />
Schreibmayr, München<br />
195
Luftkriegsopfer – Schwabinger Schuttberg<br />
„Die Europa zu terrorisieren schienen, lebten selber unter gleichem Terror.“<br />
Golo Mann 382<br />
Kruzifix auf dem Schuttberg im Luitpoldpark<br />
Foto: H. Pfoertner<br />
Kruzifix mit Inschrift<br />
Schwabinger Schuttberg<br />
Luitpoldpark, Schwabing<br />
Scheidplatz U2/U3/U8 und Tram 12<br />
M (1958)<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Auf Veranlassung der Landeshauptstadt München wurde nach Abschluss der Landschaftsund<br />
Freizeitparkgestaltung im Jahre 1958 auf dem Schwabinger Schuttberg im Luitpoldpark<br />
ein Bronzekreuz mit Inschrift errichtet. Die Namengebung seit Juni 1959 – „Schwabinger<br />
Schuttberg“ – geht auf den Wunsch der Münchner Bürger zurück. Sie konnten sich mit Vorschlägen<br />
wie „Kreuzberg“, „Ruinenberg“ oder „Luitpoldhügel“ nicht anfreunden.<br />
382 Mann, Golo (1968): Deutsche Geschichte 1919–1945: 226<br />
196
KURZBESCHREIBUNG<br />
Auf dem Gipfel des Schuttberges befindet sich ein in Bronze gegossenes Kruzifix mit folgender<br />
Inschrift: „Betet und gedenket all’ der unter den Bergen von Trümmern Verstorbenen. O<br />
Herr gib ihnen die ewige Ruhe. Das Kreuz ist geweiht. 3.5.1958.“ Eine Tafel am Weg kurz vor<br />
dem Gipfel des Berges trägt die Inschrift: „Dieser Berg entstand aus dem Trümmern der im<br />
Zweiten Weltkrieg durch Bomben zerstörten Münchner Häuser. Die bei den Luftangriffen umgekommenen<br />
Bewohner sind auf den städtischen Friedhöfen bestattet.“<br />
INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER<br />
Das Kreuz schuf Herbert Altmann.<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Der Luitpoldpark ist im Jahre 1911 vom Prinzregenten Luitpold (1821–1912) errichtetet<br />
worden. An der Südseite steht ein 17 Meter hoher Obelisk, von dem axial ein Hain mit 90<br />
Linden ausgeht. An der westlichen Parkseite steht das „Bamberger Haus“: Ein Bürgerhaus<br />
im genuesischen Barockstil, das in den Jahren 1707–1713 in Bamberg von Welsch und<br />
Dienzenhofer geschaffen wurde. 383 Der Luitpoldpark erstreckt sich über eine Fläche von<br />
33 Hektar. Am nördlichen Ende des Parks entstand der etwa 40 Meter hohe Schuttberg,<br />
eine der vier großen Deponien für den Bombenschutt aus der Innenstadt.<br />
Noch heute sind Spuren der ehemaligen Lorenbahn auf der Nordseite des Berges zu erkennen.<br />
Der botanisch gut gepflegte „Schwabinger Schuttberg“ bietet einen weiten Blick<br />
über die Stadt und ihr Land und ist nun ein Symbol für Versöhnung.<br />
Ausstellung<br />
1984: Trümmerzeit in München. Kultur und Gesellschaft einer deutschen Großstadt im<br />
Aufbruch 1945–1949. Von der Landeshauptstadt München. Gezeigt im Münchner Stadtmuseum.<br />
Literatur<br />
(siehe Band 2, Luftkriegsopfer – Neuhofener Schuttberg)<br />
383 Im Jahre 1900 kamen die Fassadenteile dieses Hauses nach München; 1911 wurde es im Luitpoldpark<br />
wieder errichtet.<br />
197
Ehrenhain mit Denkmal<br />
Nordfriedhof, Ungererstraße 130, Gräberfeld 144 mit 149<br />
Nordfriedhof U6<br />
M (1950)<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Denkmal auf dem Nordfriedhof<br />
Foto: H. Engelbrecht<br />
198<br />
Luftkriegsopfer – Ehrenhain<br />
Auf Antrag der Landeshauptstadt München entstand auf dem Neuen Teil des Nordfriedhofs<br />
ein Ehrenhain für die Münchner Opfer des Bombenkrieges. Die Einweihung fand am<br />
31. Oktober 1950 statt.
KURZBESCHREIBUNG<br />
Diese Grabanlage (8855 m²) wurde für die Opfer der Luftangriffe vom 7. Dezember 1944<br />
bis 7. Januar 1945 384 geschaffen, die am 28. Januar 1945 an diesen Ort umgebettet wurden.<br />
Sie umfasst 1940 Einzelgräber und ein Sammelgrab. Ein Weg führt zu einer Bronzestele<br />
(1,2 Meter breit, circa 5 Meter hoch) mit christlicher Symbolik. Der Ehrenhain ist<br />
von einer Hecke umgeben. Im Boden eingelassene Keramiktafeln (0,10 m × 0,10 m) tragen<br />
die Namen und Lebensdaten der Toten. Das Gräberfeld ist mit Formsteinen verziert.<br />
Die Inschrift auf der pfeilförmig endenden Stele lautet:<br />
„Tiefe des Reichtums der Weisheit und Erkenntnis Gottes. Wie unbeschreiblich sind seine<br />
Gerichte, wie unerforschlich seine Werke.“<br />
INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER<br />
Denkmal und Ehrenhain schuf der Münchner Professor Hans Wimmer.<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Der Nordfriedhof ging aus einem Gemeindefriedhof hervor, der seit 1884 zu Schwabing<br />
gehörte; seine Fläche betrug 1897 etwa 26 Hektar. Der Architekt Hans von Grässel schuf<br />
die Anlage in Anlehnung an italienische und byzantinische Vorlagen. Seit 1920 ist dieser<br />
Friedhof um circa zwölf Hektar nach Osten und Norden erweitert worden.<br />
Die Anlage für die Luftkriegsopfer besteht seit 1945. Hier ruhen 2099 Tote, davon 159<br />
Unbekannte. „Bei 74 Fliegerangriffen zwischen 4.6.1940 und 26.4.1945 wurden 6632<br />
Personen getötet, 15 800 verwundet. Auf das Stadtgebiet fielen 450 Luftminen, 61 000<br />
Sprengbomben, 142 000 Flüssigkeitsbrandbomben und 3 316 000 Stabbrandbomben.<br />
Rund 300 000 Einwohner wurden obdachlos, 81 500 Wohnungen zerstört. Die historische<br />
Altstadt wurde zu 90% zerbombt, 50% der gesamten Bausubstanz der Stadt wurden vernichtet.“<br />
385<br />
Innerhalb des Münchner Stadtgebietes fanden während des Zweiten Weltkriegs „6242<br />
Bürger und Bürgerinnen bei 66 Luftangriffen den Tod.“ 386<br />
Literatur<br />
(siehe Band 2, Luftkriegsopfer – Neuhofener Schuttberg)<br />
384 Chronik der Stadt München 1945–1949: 27<br />
385 Chronik der Stadt München 1945–1948: 27. Auch in: Schreibmayr, Erich (1989): 453<br />
386 Bauer, Richard (1988): Ruinenjahre: 45<br />
199
I. Kruzifix<br />
M (1960)<br />
II. Gedenktafel<br />
M (1999)<br />
Luftkriegsopfer – Olympiapark<br />
200<br />
Kruzifix im Olympiapark<br />
Foto H. Pfoertner
Zu I. Kruzifix<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Im Zusammenhang mit der Neugestaltung des Olympiaparks wurde die Gedenkstätte am<br />
5. August 1960 hier errichtet.<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
Ein Kruzifix am südöstlichen Ausläufer des Olympiaberges erinnert an die Luftkriegsopfer.<br />
Zu II. Gedenktafel<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
Am Weg kurz vor dem Gipfel des Berges befindet sich eine Tafel mit folgender Inschrift:<br />
„Dieser Berg entstand aus den Trümmern der im Zweiten Weltkrieg durch Bomben zerstörten<br />
Münchner Häuser.“<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Auf dem heutigen Olympiagelände erstreckte sich ursprünglich das „Obere Wiesenfeld“<br />
vom Maßmannbergl (Ecke Dachauer-/Maßmannstraße) nach Nordosten. Vom Jahre 1794<br />
bis zum späten 19. Jahrhundert diente das Gelände zwischen Dachauer- und Milbertshofener<br />
Straße als „Artillerie- und Exerzierplatz“. Im Jahre 1909 landete hier der erste Zeppelin.<br />
In den Jahren 1925 bis 1939 befanden sich auf dem Oberwiesenfeld Hallen und<br />
Rollfeld des Münchner Verkehrsflughafens.<br />
Der 290 Meter hohe Olympiaturm ist in den Jahren 1965 bis 1968 errichtet worden. Von<br />
1968–1972 wurde durch Stauung des Nymphenburger Kanals ein künstlicher See geschaffen.<br />
Am Fuße des aus Bombenschutt bestehenden Olympiabergs entstand eine abwechslungsreich<br />
gegliederte Sport- und Erholungslandschaft, die mit dem Olympiastadion, der<br />
Sport- und Schwimmhalle und dem verbindenden Zeltdach ein architektonisches Denkmal<br />
bildet.<br />
Literatur<br />
(siehe Band 2, Luftkriegsopfer – Neuhofener Schuttberg)<br />
201
Mann, Heinrich<br />
*27.3.1871 Lübeck †12.3.1950 Santa Monica, Kalifornien<br />
„Das Dritte Reich wird scheitern an seiner Unfähigkeit und an seiner Abhängigkeit.<br />
Dann aber käme ein ungemein blutiger Abschnitt der deutschen Geschichte. Das Reich<br />
der falschen Deutschen und falschen Sozialisten wird gewiß unter Blutvergießen<br />
errichtet werden, aber das ist noch nichts, gegen das Blut,<br />
das fließen wird bei seinem Sturz.“ 387<br />
Heinrich Mann<br />
Foto: Süddeutscher Verlag<br />
387 Heinrich Mann. „Die deutsche Entscheidung“ v. 13.12.1931. In: Schröter, Klaus (1998): Heinrich<br />
Mann: 113<br />
202<br />
Gedenktafel für Heinrich Mann,<br />
Leopoldstraße 59<br />
Foto: A. Olsen
I. Heinrich-Mann-Allee, Herzogpark<br />
M (1956)<br />
II. Gedenktafel, Leopoldstraße 59, Schwabing<br />
M (1985)<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Von 1914 bis 1928 lebte Heinrich Mann, der seit 1896 in München ansässig war, mit seiner<br />
Familie im dritten Stock des Hauses Leopoldstraße 59. Mit dieser Gedenktafel ehrte<br />
die Landeshauptstadt München den im Schatten seines berühmten Bruders Thomas stehenden<br />
– aber deshalb nicht weniger bedeutenden – Heinrich Mann.<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
An der südlichen Hausseite befindet sich eine Steintafel mit der Inschrift:<br />
„Der Schriftsteller Heinrich Mann lebte in diesem Haus 1914–1928.“<br />
INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER<br />
Die Gedenktafel schuf Horst Auer<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Als erstes Kind von Thomas Johann Heinrich Mann und seiner Frau Julia (geb. da Silva-<br />
Bruhns) wurde Heinrich Mann am 27. März 1871 in Lübeck geboren. In der wohlhabenden<br />
Patrizierfamilie kamen die Kinder durch die vielseitig gebildete Großmutter und Mutter sehr<br />
früh mit Literatur und Musik in Kontakt. Heinrich und seine Geschwister Thomas (*1875),<br />
Julia (*1877), Carla (*1881) und Viktor (*1890) erhielten ihren Neigungen entsprechende<br />
Förderungen. Ein frühes autobiographisches Dokument ist das Tagebuch des 13-jährigen<br />
Heinrich, wo er über eine Reise nach Petersburg im Jahre 1884 berichtet. Das Gymnasium<br />
schloss er 18-jährig in der Unterprima ab. Dem Vater, der den Ältesten gerne als seinen<br />
Nachfolger im Handelshaus gesehen hätte, blieb die Neigung seines Sohnes nicht verborgen.<br />
Um den väterlichen Vorstellungen noch gerecht zu werden, entschloss sich Heinrich kompromissbereit<br />
für eine Buchhandelslehre in Dresden, die er nach einem knappen Jahr abbrach.<br />
Anschließend war er Volontär im S. Fischer Verlag Berlin. Diese Tätigkeit musste er<br />
aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Der Vater, der am 13. Oktober 1891 gestorben war,<br />
verfügte in seinem Testament die Liquidierung der Firma und bestimmte, dass die Erbteile<br />
des bedeutenden Erlöses auf seine Frau und Kinder übergehen sollten. Damit war Heinrich<br />
Mann finanziell unabhängig und konnte als freier Schriftsteller leben.<br />
203
Sein erster Roman In einer Familie erschien 1894. Die Verbindung mit dem jüngeren Bruder<br />
Thomas vertiefte sich bei gemeinsamen Reisen und Aufenthalten in Italien zwischen<br />
den Jahren 1895 bis 1905. Heinrich Mann war vom April 1895 bis März 1896 der Herausgeber<br />
der konservativen Zeitschrift „Das Zwanzigste Jahrhundert. Blätter für deutsche Art<br />
und Wohlfahrt“. Durch seine Mitarbeit bei der konservativen Zeitschrift lernte er „die gefährlichen<br />
Meinungen einer imperialistischen Bourgeoise kennen und bald durchschauen.“<br />
388 Während der gemeinsamen Zeit mit seinem jüngeren Bruder Thomas in Italien löste<br />
er sich von seinen frühen autobiographisch-psychologischen Studien. Er begann, die<br />
Umwelt mit ihren sozialen Schichten und gesellschaftlichen Erscheinungen analytisch zu<br />
erfassen und darzustellen. Über diese persönliche Entwicklung äußerte er sich später:<br />
„1897 in Rom, Via Argentina 34, überfiel mich das Talent, ich wußte nicht, was ich tat.<br />
Ich glaubte einen Bleistiftentwurf zu machen, schrieb aber den beinahe fertigen Roman.<br />
Mein Talent ist in Rom geboren, nach dreijähriger Wirkung der Stadt.“ 389 Wechselnde<br />
Aufenthalte in München, Berlin und diversen Städten Italiens folgten. Im Roman Zwischen<br />
den Rassen griff Heinrich Mann auf die Kindheitserinnerungen seiner Mutter zurück.<br />
In Berlin lernte er die Schauspielerin Maria Kanová kennen, die er zwei Jahre später<br />
heiratete. Im Jahre 1914 siedelten beide nach München über.<br />
Das Zerwürfnis mit dem Bruder Thomas hatte seine Ursache in dessen deutschnationaler<br />
Kriegsbegeisterung. Als dessen Gedanken im Kriege erschienen, nahm der Bruder Heinrich<br />
„... die Trennung vor von denen, die er trotz allem für seinesgleichen gehalten hatte.“<br />
390 Sein zwischen 1907–1914 entstandener Roman Der Untertan, sein erfolgreichstes<br />
Werk, erschien als Fortsetzungsroman in der illustrierten Wochenschrift „Zeit im Bild“.<br />
Der Roman ist eine brillant angelegte Analyse der Zusammenhänge zwischen Autoritätshörigkeit<br />
und gesellschaftlichen Strukturen im Kaiserreich. Nach Kriegsbeginn musste die<br />
Veröffentlichung in der Wochenschrift abgebrochen werden; der Roman erschien erst<br />
1918, aber da mit großem Erfolg. 1916 kam die Tochter Leonie zur Welt. In den Kriegsjahren<br />
verkehrte Heinrich Mann mit Gleichgesinnten im Münchner Café Luitpold. Er traf<br />
dort die Schriftsteller Frank Wedekind, Kurt Martens, Gustav Meyrink, Erich Mühsam,<br />
Joachim Friedenthal und Lion Feuchtwanger. Nach der Ermordung des bayerischen Ministerpräsidenten<br />
Kurt Eisners hielt er auf seinen Freund am 16. März 1919 eine Gedenkrede:<br />
„... Wer so unwandelbar in der Leidenschaft der Wahrheit und eben darum so mild<br />
im Menschlichen ist, verdient den ehrenvollen Namen eines Zivilisationsliteraten. Dies<br />
war Kurt Eisner.“ 391 Eisner (siehe Band 1: S. 79–81) war für Heinrich Mann der Idealfall<br />
388 Schröter, Klaus (1998): Heinrich Mann: 38<br />
389 Brief an Karl Lemke, 29.1.1947. In: Schröter, Klaus (1998): Heinrich Mann: 43<br />
390 Schröter, Klaus (1998): Heinrich Mann: 81<br />
391 Huch, Ricarda (1990): Der Mord an Kurt Eisner. In: Schwab, Hans-Rüdiger (Hrsg.) (1990): München.<br />
Dichter sehen eine Stadt: 207<br />
204
eines Menschen, bei dem Geist und Tat vollständig harmonierten. 392 Ein 1917 unternommener<br />
Versöhnungsversuch mit seinem jüngeren Bruder Thomas scheiterte. Weitere fünf<br />
Jahre sollte es dauern, bis Thomas Mann durch die Ereignisse der Revolution, der Ausrufung<br />
der Republik und des rechtsextremen Terrors im Deutschen Reich eine Wendung zu<br />
politischer Liberalität vollzog und sich damit den bürgerlich-demokratischen Prinzipien<br />
des älteren Bruders näherte. In den Jahren der Weimarer Republik wurde Heinrich Mann,<br />
bisher Vertreter der literarischen Avantgarde, Repräsentant einer politischen Bewegung.<br />
393 Wie er zu seinem Beruf als Schriftsteller stand, beschrieb Heinrich Mann mit folgenden<br />
Worten: „Literatur ist niemals nur Kunst, eine bei ihrem Entstehen schon überzeitliche<br />
Dichtung gibt es nicht. Sie kann so kindlich nicht geliebt werden wie Musik. Denn<br />
sie ist Gewissen – das aus der Welt hervorgehobene und vor sie hingestellte Gewissen. Es<br />
wirkt und handelt immer.“ 394<br />
Im Jahre 1926 erfolgte Heinrich Manns Aufnahme und Mitgliedschaft in der Preußischen<br />
Akademie der Künste, Sektion Dichtkunst. Nach der Trennung von seiner Frau Maria zog<br />
Heinrich Mann nach Berlin, dem kulturellen Zentrum Deutschlands. In seinem politischen<br />
Denken waren auch die internationalen Beziehungen wichtig; verstärkt setzte er sich für<br />
die Aussöhnung mit Frankreich ein. Sein Ziel galt der Völkerverständigung und einem<br />
vereinten Europa.<br />
Im Berliner Lessing-Theater lernte er bei Proben zu einer Komödie von Ernst Toller (siehe<br />
Band 3: Toller) und Walter Hasenclever die Schauspielerin Trude Hesterberg kennen. Sie<br />
bat ihn, Professor Unrat zur Verfilmung freizugeben. Regisseur Josef von Sternberg besetzte<br />
die Hauptrolle mit Marlene Dietrich. Der Film mit dem Titel Der blaue Engel wurde<br />
ein bedeutender Erfolg (Premiere war im Frühjahr 1930): „Mein Kopf, und die Beine von<br />
Marlene Dietrich (Der blaue Engel),“ 395 so fasste Heinrich Mann das Geheimnis des Gelingens<br />
zusammen. Ein gesellschaftlicher Höhepunkt war sein 60. Geburtstag, den er zusammen<br />
mit Max Liebermann (Präsident der Akademie), Gottfried Benn, Lion Feuchtwanger<br />
(siehe Band 1: Feuchtwanger) und seinem Bruder Thomas (siehe Band 2: Mann,<br />
Thomas) feierte.<br />
Vor der Ernennung des neuen Reichskanzlers hatte er gemeinsam mit der Graphikerin<br />
und Bildhauerin Käthe Kollwitz (siehe Band 2: Kollwitz) und dem Physiker Albert Einstein<br />
(siehe Band 1: Einstein) einen Aufruf des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes<br />
zur Einigung von SPD und KPD gegen die drohende Diktatur unterzeichnet. Die<br />
392 Wißkirchen, Hans (1999): Heinrich Mann: 58<br />
393 Wendepunkt: 71. In: Schröter, Klaus (1998): Heinrich Mann: 56<br />
394 Schröter, Klaus (1998): Heinrich Mann: 106<br />
395 Schröter, Klaus (1998): Heinrich Mann: 112<br />
205
Behörden schlossen daraufhin die Unterzeichnenden aus der Akademie aus. Heinrich<br />
Mann zog die Emigration vor, weil er die Weltanschauung der Nazis für „imbécile“<br />
hielt. Im Dezember 1932 bekannte er sich zum Übernationalen: „Ich habe den alten<br />
Macht- und Nationalstaat verlassen, weil sein sittlicher Inhalt ihm ausgetrieben ist ...<br />
Der nationalistischen Lüge werden Menschen geopfert. Der nationalistischen Lüge<br />
wird das Menschtum geopfert. Ich bin es gründlich satt, die freche Lüge zu hören, daß<br />
nicht der Kampf um das Menschtum der höhere Beruf ist, sondern der Kampf dagegen.“<br />
396 Am 21. Februar 1933 reiste er allein und ohne Gepäck mit der Bahn von Frankfurt<br />
über Straßburg nach Nizza. Seinen Besitz hatte die Gestapo sofort beschlagnahmt;<br />
allein einige wertvolle Manuskripte und Bücher wurden auf Veranlassung des tschechischen<br />
Außenministeriums nach Prag ausgeliefert. Im Exil nahm er den politischen<br />
Kampf gegen die Nationalsozialisten mit Schrift und Wort auf. Er stellte sich dem in Paris<br />
gegründeten Schutzverband deutscher Schriftsteller zur Verfügung, leitete Kundgebungen<br />
und schrieb in einer französischen Zeitung aufklärende Artikel über die politischen<br />
Verhältnisse in Deutschland. Im Deutschen Reich verbrannte man seine Bücher<br />
auf dem Scheiterhaufen. Mit Hilfe des tschechischen Präsidenten bekam er 1936 die<br />
tschechische Staatsbürgerschaft. Während seiner Zeit in Nizza hielt er Kontakt zu den<br />
Autoren Joseph Roth, Hermann Kesten, René Schickle, Lion Feuchtwanger und zu seinem<br />
Bruder Thomas. 1939 heiratete er die 27 Jahre jüngere Nelly Kroeger. Weiterhin<br />
arbeitete er am Sturz Hitlers. Der drohende Krieg sollte vermieden werden. Am 25. Mai<br />
1939 richtete er einen Brief an seinen Bruder Thomas: „... Das Beschämende ist, daß<br />
mit einem deutschen Aufstand noch immer nirgends gerechnet wird ... Zum Jahreswechsel<br />
muß Hitler am Boden liegen; oder, was folgt, wäre unabsehbar, wenigstens für<br />
mich.“ 397 Heinrich Mann blieb bis September 1940 in Nizza. Die Gefahr der Internierung<br />
veranlasste ihn, Europa zu verlassen. So wanderte er zusammen mit seiner Frau<br />
Nelly, Lion Feuchtwanger, Franz Werfel und dessen Frau Alma sowie Golo Mann über<br />
die Pyrenäen nach Lissabon. Die Flucht hatte ihnen Varian Fry ermöglicht. 398 Von dort<br />
brachte sie ein Schiff in die USA. Über seinen Abschied reflektierte der 70-Jährige: „Eine<br />
verlorene Geliebte ist nicht schöner. Alles was mir gegeben war, hatte ich an Europa<br />
erlebt, Lust und Schmerz eines seiner Zeitalter, das meines war; aber mehreren anderen,<br />
die vor meinem Dasein liegen, bin ich auch verbunden. Überaus leidvoll war dieser<br />
Abschied.“ 399<br />
396 Schröter, Klaus (1998): Heinrich Mann: 118<br />
397 Schröter, Klaus (1998): Heinrich Mann: 137<br />
398 Ein Agent des amerikanischen Emergency Rescue Committee. Eine Organisation, die insbesondere<br />
gefährdete Künstler, Wissenschaftler und Intellektuelle vor der Gestapo und dem Vichy-Regime rettete.<br />
Mehr als dreihundert Menschen gelangten mit Varian Frys Hilfe über die Pyrenäen nach Spanien. In:<br />
Feuchtwanger, Lion (1982): Der Teufel von Frankreich: 375<br />
399 Schröter, Klaus (1998): Heinrich Mann: 141<br />
206
Zuerst fand er für ein Jahr als Scriptwriter bei den Filmgesellschaften in Hollywood eine<br />
Anstellung. Danach war das Ehepaar gezwungen in Los Angeles mit Hilfe von Thomas<br />
Mann und dem geringen Lohn von Nelly auszukommen. Sie verdiente als Schneiderin und<br />
Krankenschwester den Lebensunterhalt, kam aber mit der veränderten Situation seelisch<br />
nicht zurecht. Am 16. Dezember 1944 nahm sich Nelly mit einer Überdosis Schlaftabletten<br />
das Leben. In einem Brief nahm Heinrich dazu Stellung: „Personen, die nicht wissen,<br />
versuchen mir anzudeuten, es sei ,besser so´. Nein ... Wir waren fünfzehn Jahre vereint.<br />
Erinnerungen, tragische und wunderbare, lebten in ihr, sind aber jetzt schattenhaft wie<br />
der mir gebliebene Rest vom Dasein.“ 400 Im Krieg hatte er seine Gedanken und Erinnerungen<br />
in dem Werk Ein Zeitalter wird besichtigt zu Papier gebracht: Das Zeitgeschehen<br />
mit seinen politischen und militärischen Ereignissen wird hier beleuchtet und die Frage<br />
nach den Ursachen der Katastrophe gestellt. „Finsternis sinkt und verbietet den Ausweg,<br />
wenn der Mensch selbst in Frage gestellt wird. Wesen ohne geistig-sittliche Verantwortung<br />
sind keine Menschen mehr.“ 401<br />
Nach Kriegsende bekam Heinrich Mann das Angebot, in die Sowjetzone zurückzukehren.<br />
Die philosophische Fakultät der Humboldt-Universität Berlin verlieh ihm 1947 die Ehrendoktorwürde.<br />
Zwei Jahre später bekam er den Nationalpreis I. Klasse für Kunst und Literatur<br />
der DDR zugesprochen. Seine Rückkehr nach Berlin war bereits beschlossen. Mit<br />
der Berufung zum Präsidenten der Deutschen Akademie der Künste standen ihm Wohnund<br />
Amtssitz zur Verfügung. Doch seine Rückkehr verhinderte sein schlechter gesundheitlicher<br />
Zustand. Heinrich Mann starb am 12. März 1950 in Santa Monica, Kalifornien.<br />
Die Beisetzung seiner Urne fand am 25. März 1961 auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof<br />
in Berlin statt. Dort steht eine von Gustav Seitz geschaffene Porträtbüste.<br />
Ehrungen<br />
1926 Wahl zum Mitglied der Preußischen Akademie der Künste, Sektion Dichtkunst.<br />
1928 Vorsitzender des Volksverbandes für Film und Kunst.<br />
1931 Präsident der Dichtkunst der Preußischen Akademie der Wissenschaften.<br />
1947 Ehrenvorsitz im Schutzverband Deutscher Autoren; Ehrendoktor der Humboldt-<br />
Universität, Berlin (Ost) und Ehrendoktor der Frankfurter Universität.<br />
1949 Nationalpreis der DDR Erster Klasse.<br />
1950 Wahl zum Präsidenten der Akademie der Künste in Berlin; Berufung zum Ersten<br />
Präsidenten der Deutschen Akademie der Künste in Berlin (Ost).<br />
400 Brief an Eva Lips v. 7.1.1945. In: Schröter, Klaus (1998): Heinrich Mann: 149<br />
401 Zitiert in: Schröter, Klaus (1998): Heinrich Mann: 153<br />
207
Filme<br />
Der blaue Engel verfilmt 1930; geschrieben als „Professor Unrat“, erschienen 1905<br />
Der Untertan mehrfach verfilmter Roman, beendet 1914, erschienen 1916<br />
Archive, Forschungs- und Gedenkstätten<br />
Heinrich-Mann-Archiv der Akademie der Künste zu Berlin, Robert-Koch-Platz 10, 10115<br />
Berlin.<br />
Heinrich- und Thomas-Mann-Zentrum Buddenbrookhaus, Mengstraße 4, 23552 Lübeck.<br />
Heinrich-Mann-Gesellschaft, Marbach am Neckar.<br />
Ausstellungen<br />
1998: Die Deutsch-Brasilianerin Julia Mann – Mutter berühmter Männer. Gezeigt<br />
von der Landeshauptstadt München im Kulturzentrum Gasteig.<br />
26. August – 28. Oktober 2001: Liebschaften und Greuelmärchen. Die unbekannten<br />
Zeichnungen von Heinrich Mann. Gezeigt im Buddenbrook-Haus in Lübeck.<br />
Literatur<br />
Banuls, Andree (1968): Thomas Mann und sein Bruder Heinrich. Kohlhammer Verlag, Stuttgart<br />
Becker, Thorsten (2001): Der Untertan steigt auf den Zauberberg. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek b. Hamburg<br />
Breloer, Heinrich (2001): Die Manns – Ein Jahrhundertroman. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M.<br />
Breloer, Heinrich (2001): Unterwegs zur Familie Mann. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M.<br />
Ebersbach, Volker (1978): Heinrich Mann. Leben, Werk, Wirken. Röderberg-Tb 71, Frankfurt a. M.<br />
Frühwald, Wolfgang (1994): „Er war mein Vater“. Menschenrecht und Menschenwürde in der Literatur des<br />
Exils. In: Odersky, Walter: Die Menschenrechte: 149–162<br />
Jasper, Willi (2002): Der Bruder. Biografie von Heinrich Mann, Fischer Verlag, Frankfurt a. M.<br />
Jens, Inge (1994): Dichter zwischen rechts und links. Die Geschichte der Sektion für Dichtkunst an der Preußischen<br />
Akademie der Künste. Gustav Kiepenhauer Verlag, Leipzig (Neuauflage)<br />
Johnson, Uwe / Unseld, Siegfried (2000): Der Briefwechsel. Suhrkamp / SWR, 2 CDs, 148 Min.<br />
Kantorowicz, Alfred (1956): Heinrich und Thomas Mann. Aufbau Verlag, Berlin<br />
Kesting, Hanji (2000): Heinrich und Thomas Mann. Ein deutscher Bruderzwist. Dokumentation. NDR / Literatron<br />
Hamburg, 2 CDs, 106 Min.<br />
Romane von Heinrich Mann: (1894) In einer Familie; (1900) Im Schlaraffenland; (1903) Die Göttinnen. Die<br />
Jagd nach Liebe; (1905) Professor Unrat; (1906) Zwischen den Rassen; (1909) Die kleine Stadt; (1916)<br />
Der Untertan; (1917) Die Armen; (1925) Der Kopf; (1927) Mutter Maria; (1928) Die Bürgerzeit; (1930)<br />
Die große Sache; (1932) Ein erstes Leben; (1938) Die Jugend des Henri Quatre; (1943) Lidice; (1949) Der<br />
Atem; (1960) Die traurige Geschichte von Friedrich dem Großen<br />
208
Mann, Heinrich (1931): Fünf Reden und eine Entgegnung zum sechzigsten Geburtstag. Gesprochen von Max<br />
Liebermann, Gottfried Benn, Lion Feuchtwanger, Berlin. Zsolnay Verlag, Berlin<br />
Mann, Heinrich und Thomas (1994): Heinrich und Thomas Mann. Ihr Leben und Werk in Text und Bild. Katalog<br />
zur ständigen Ausstellung im Buddenbrook-Haus der Hansestadt Lübeck. Dräger Druck, Lübeck<br />
Mann, Julia (1991): Ich spreche so gern mit meinen Kindern. Aufbauverlag, Berlin und Weimar<br />
Mueller-Stahl, Armin (2001): Rollenspiel. Ein Tagebuch zu den Dreharbeiten für den Film „Die Manns“. J.<br />
Strauss Verlag, Berlin<br />
Paintner, Peter (1986): Erläuterungen zu Heinrich Manns „Der Untertan“, C. Bange Verlag, Hollfeld<br />
Schoeller, Wilfried (1978): Künstler und Gesellschaft. Studien zum Romanwerk Heinrich Manns zwischen<br />
1900 und 1914. C. H. Beck, München<br />
Schröter, Klaus (1998): Heinrich Mann. Rororo Bildmonographien Nr. 50125, Rowohlt Verlag, Reinbek bei<br />
Hamburg<br />
Schwab, Hans-Rüdiger (Hrsg.) (1990): München. Dichter sehen eine Stadt. J. B. Metzler Verlag, Stuttgart<br />
Sierka, Volker (Hrsg.) (2001): „Liebschaften und Greuelmärchen“. Die unbekannten Zeichnungen von Heinrich<br />
Mann. Steidl Verlag, Göttingen<br />
Wißkirchen, Hans (1999): Die Familie Mann. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg<br />
Zühlsdorff, Volkmar (1999): Deutsche Akademie im Exil. Der vergessene Widerstand. Ernst Martin Verlag,<br />
Berlin<br />
209
Mann, Thomas<br />
*6.6.1875 Lübeck †12.8.1955 Zürich<br />
„Antisemitismus ist eine Schande jedes Gebildeten und kulturell Eingestellten.“ 402<br />
Thomas Mann<br />
Foto: Süddeutscher Verlag<br />
Gedenktafel für Thomas Mann und<br />
seine Familie, Franz-Joseph-Straße 2<br />
Foto: H. Engelbrecht<br />
402 Thomas Mann und das Judentum. In: Selbstwehr. Jüdisches Volksblatt. Prag 25.1.1935; vgl. auch Interview<br />
S. 206. Auch in: Kurzke, Hermann (2000): Thomas Mann: 288<br />
210
I. Thomas-Mann-Allee, Herzogpark<br />
M (1956)<br />
II. Gedenktafel<br />
Giselastraße 15<br />
Giselastraße U3/U6<br />
M (1969)<br />
III. Thomas-Mann-Gymnasium, Drygalski-Allee 2, München, Forstenried<br />
M (1969)<br />
IV: Gedenktafelkunstwerk<br />
Franz-Joseph-Straße 2<br />
Giselastraße U3/U6<br />
Privat (2001)<br />
Zu II. Gedenktafel<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Die von der Landeshauptstadt München initiierte Gedenktafel wurde am 30. April 1969<br />
der Öffentlichkeit übergeben. Im Jahr 2001 ist diese entfernt worden, da sie den historischen<br />
Gegebenheiten nicht entsprach. 403<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
An der Fassade neben dem Hauseingang, befand sich eine Bronzetafel (0,80 m × 0,40 m)<br />
mit der Aufschrift: „Thomas Mann vollendete in diesem Haus die Buddenbrooks 1898–<br />
1901.“<br />
INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER<br />
Die Gedenktafel schuf der Künstler Hans Zilken.<br />
403 Thomas Mann wohnte hier in der „Pension Gisela“ für einen Monat im September 1902. Heiserer, Dirk<br />
(1993): Wo die Geister wandern: 113<br />
211
Zu IV: Gedenktafelkunstwerk Franz Joseph-Strasse 2<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Am ersten Wohnsitz von Katia und Thomas Mann initiierten der Historiker Dirk Heißerer<br />
und der Künstler Joachim Jung dieses Gedenktafelkunstwerk. Im Juli 2001 fand die Einweihung<br />
statt.<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
An der Fassade sind zwei Glastafeln (à 0,8 m x 2,0 m) angebracht. Eine ist mit dem Foto<br />
des ehemaligen Gebäudes versehen, die zweite zeigt die Porträts von Thomas und Katia<br />
Mann mit den Kindern Erika, Klaus, Golo und Monika. Eingefügt sind Informationen und<br />
ein Brieftext.<br />
INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER<br />
Das Gedenktafelkunstwerk schuf der Künstler Joachim Jung. Er versuchte, mit der Collage<br />
„von Informationstext und Brieftext (Julia Mann), die Textform der Gedenktafel für<br />
den Leser assoziationsreich und frei von einer bestimmten Lesereihenfolge zu gestalten.<br />
Glas als Material für die permanenten Tafeln wählte ich, um Farbe und Licht in die Gestaltung<br />
einzubeziehen.“ 404<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Thomas, das zweite Kind von Thomas Johann Heinrich Mann und Julia (geb. da Silva-<br />
Bruhns) wurde in Lübeck geboren. Der Vater leitete das Handelshaus seiner Vorfahren;<br />
er war Konsul und später Senator. Thomas hatte eine behütete und glückliche Kindheit.<br />
Die Familie besaß seit 1893 ein eigenes Haus in der Beckergrube 52, doch besonders gern<br />
hielten sich die Mann-Kinder im Stammhaus der Familie in der Mengstraße 4 auf. Heute<br />
ist hier im „Buddenbrookhaus“ das Heinrich- und Thomas-Mann-Zentrum untergebracht.<br />
Die Mutter mit ihren Neigungen zu Kunst und Kultur bedeutete ihm besonders viel. „Unsere<br />
Mutter war außerordentlich schön, von unverkennbar spanischer Turnüre – gewisse<br />
Merkmale der Rasse, des Habitus habe ich später bei berühmten Tänzerinnen wiedergefunden<br />
– mit Elfenbeinteint des Südens, einer edelgeschnittenen Nase und dem reizendsten<br />
Mund, der mir vorgekommen ist.“ 405 Julia da Silva-Bruhns war die Tochter eines Deutschen<br />
und einer portugiesisch-kreolischen Brasilianerin, die sieben Jahre auf dem Landsitz<br />
ihrer Eltern in Brasilien verbrachte. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter zog der Vater<br />
mit zwei Töchtern in seine Heimatstadt Lübeck, überließ seine beiden Töchter der Obhut<br />
404 Schreiben von Joachim Jung vom 7.6.2002 an Helga Pfoertner<br />
405 Gesammelte Werke XI: 421. Auch in: Schröter, Klaus (2000): Thomas Mann: 15<br />
212
seiner Verwandten und zog es vor, nach Brasilien zurückzukehren. Julia heiratete im Jahre<br />
1869 Thomas Johann Heinrich Mann. Aus der Ehe gingen fünf Kinder hervor: Heinrich<br />
(*1871), Thomas (*1875), Julia (*1877), Carla (*1881) und Viktor (*1890).<br />
Die Schulzeit war für Thomas Mann ein Qual; er schilderte sie folgendermaßen: „Erstens<br />
bin ich ein verkommener Gymnasiast. Nicht daß ich durchs Abiturexamen gefallen wäre,<br />
– es wäre Aufschneiderei, wollte ich das behaupten, sondern ich bin überhaupt nicht in<br />
die Prima gelangt; ich war schon in der Sekunda so alt wie der Westerwald. Faul, verstockt<br />
und voll liederlichen Hohns über das Ganze, verhaßt bei den Lehrern der altehrwürdigen<br />
Anstalt, ausgezeichneten Männern, (...) so saß ich die Jahre ab, bis man mir den<br />
Berechtigungsschein zum einjährigen Militärdienst ausstellte.“ 406 Eine Ausnahme am<br />
Lübecker Katharinengymnasium war sein Deutschlehrer Bähte, den er besonders schätzte.<br />
Er vermittelte dem 15-Jährigen die Bekanntschaft mit Schillers Balladen. Die Begeisterung<br />
für Richard Wagner kam durch die Theaterbesuche, an denen er als Schüler im Stadttheater<br />
teilnahm. Erinnerte er sich später an diese Eindrücke, sagte er: „Ich werde wieder<br />
jung, wenn es mit Wagner anfängt.“ 407<br />
Der Tod des Vaters, am 13. Oktober 1891, markierte für die Familie ein einschneidendes<br />
Ereignis. Im Testament hatte er die Liquidierung der über 100 Jahre bestehenden Firma<br />
bestimmt; über seinen Sohn Thomas Mann hieß es: „Mein zweiter Sohn ist ruhigen Vorstellungen<br />
zugänglich, er hat ein gutes Gemüth und wird sich in einen praktischen Beruf<br />
hineinfinden. Von ihm darf ich erwarten, daß er seiner Mutter eine Stütze sein wird.“ 408<br />
Der damals 16-jährige Thomas Mann blieb noch bis zum Abschluss der Mittleren Reife<br />
in Lübeck, um 1894 die ungeliebte Schulzeit zu beenden. Er zog zu seiner Mutter, die mit<br />
den jüngeren Geschwistern Julia, Carla und Viktor in München, Rambergstraße 2, wohnte.<br />
Hier trat er als Voltontär bei einer Feuerversicherungsgesellschaft ein. In dieser Zeit<br />
entstand seine erste Novelle Gefallen (1894): Ausgestattet mit einer monatlichen Rente<br />
aus dem Vermögen des Vaters, konnte er ein finanziell sorgenfreies Leben führen. Mit<br />
dem älteren Bruder Heinrich begann nun eine intensive gemeinsame Zeit. Sie verbrachten<br />
in den Jahren 1895 bis 1898 oft mehrere Monate gemeinsam in Italien. 1898 und 1899<br />
wirkte er als Lektor beim „Simplicissimus“, einer politisch-satirischen Münchner Wochenschrift.<br />
Den Militärdienst quittierte Thomas Mann mit einem Attest eines Arztes, der ihn wegen<br />
einer Sehnenscheidenentzündung als dienstuntauglich erklärt hatte. Mit dem Erscheinen<br />
406 Gesammelte Werke XI: 329f. Auch in: Wißkirchen, Hans (1999): Die Familie Mann: 16<br />
407 Gesammelte Werke XI: 927. Auch in: Schröter, Klaus (2000): Thomas Mann: 19<br />
408 Heinrich und Thomas Mann. Ihr Leben und Werk in Text und Bild. In: Wißkirchen, H. (1999): Die Familie<br />
Mann: 20<br />
213
seines ersten Romans – im Oktober 1901 – Die Buddenbrooks trat der 26-Jährige als<br />
Schriftsteller und Künstler vor die Öffentlichkeit. In seinem Notizbuch, das er sich für die<br />
Arbeit an den Buddenbrooks angelegt hatte, stand folgender Eintrag: „Eines ist wahr: Psychologie<br />
allein würde unfehlbar trübsinnig machen; die Koketterien der literarischen<br />
Ausdrucksform sind es, die uns klar und munter erhalten.“ 409 Als Erzähler bringt er verborgene<br />
Vorgänge ans Licht; der Leser will stets bei der Lektüre die interessanten, geheimnisvollen<br />
und noch unbekannten Figuren des Romans kennen lernen. Der damals<br />
gleichaltrige Prager Lyriker Rainer Maria Rilke schrieb: „Man wird sich diesen Namen<br />
notieren müssen ... gerade weil nichts in dem Buche für den Leser da zu sein scheint, weil<br />
nirgends über die Ereignisse hinweg ein überlegener Schriftsteller zu einem unterlegenen<br />
Leser neigt, um ihn zu überreden und mitzureißen, gerade deshalb ist man so ganz bei der<br />
Sache und fast persönlich beteiligt, ganz als ob man in irgendeinem Geheimfach alte Familienpapiere<br />
gefunden hätte, in denen man sich langsam nach vorn liest, bis an den Rand<br />
der eigenen Erinnerungen.“ 410 Thomas Mann beschrieb die 42-jährige Familiengeschichte<br />
der Buddenbrooks. Seinen Gegnern, die ihm unterstellten „zersetzende Bücher“ zu<br />
schreiben, antwortete er, dass „der Verfall einer Familie ein brauchbares episches Thema<br />
gewesen sei; aber wir Buddenbrooks haben nach unserer bürgerlichen Auflösung in der<br />
Welt weiter ausgegriffen, dem Leben mehr geschenkt, als unseren beiden Vorväter in ihren<br />
Mauern je gegönnt war.“ 411<br />
1905 heiratete Thomas Mann Katja Pringsheim, – die zu dieser Zeit Mathematik studierte<br />
– Tochter von Alfred Pringsheim, Ordinarius für Mathematik an der Münchner Universität.<br />
In ihrem Hause, Arcisstraße 12, verkehrten Künstler und Literaten. So war Thomas<br />
Mann von der Atmosphäre des großen Familienkreises, „die mir die Umstände meiner<br />
Kindheit vergegenwärtigte“, bezaubert. 412 Während der Sohn Golo das Verhältnis seines<br />
Vaters zu seiner Mutter als „die größte Liebe seines Lebens und jene, die bei weitem am<br />
längsten dauerte“ 413 interpretierte, äußerte sich Klaus Mann über seine Eltern: „Ihre Ehe<br />
war nicht die Begegnung zwei polarer Elemente: eher handelte es sich wohl um die Vereinigung<br />
von zwei Wesen, die sich miteinander verwandt wußten – um ein Bündnis zwischen<br />
zwei Einsamen und Empfindlichen, die gemeinsam einen Kampf zu bestehen hofften,<br />
dem jeder für sich vielleicht nicht gewachsen wäre.“ 414 1914 bezog die Familie in<br />
München eine in historistischem Stil erbaute Villa in der Poschingerstraße 1.<br />
409 Isenschmid, Andreas (2001): Die Geburt des Erzählers. In: Die Zeit Nr. 44 v. 25.10.2001: 51<br />
410 Zitiert in: Isenschmid, Andreas (2001): Die Geburt des Erzählers: 51<br />
411 Gesammelte Werke XI: 556. In: Schröter, Klaus (2000): Thomas Mann: 60<br />
412 Hage, Volker (2001): Die Windsors der Deutschen. In: Der Spiegel Nr. 51 v. 17.12.2001: 177<br />
413 Hage, Volker (2001): Die Windsors der Deutschen. In: Der Spiegel Nr. 51 v. 17.12.2001: 177<br />
414 Schröter, Klaus (2000): Thomas Mann: 78<br />
214
Der Erste Weltkrieg führte zu Spannungen zwischen Thomas und Heinrich Mann (siehe<br />
Band 2, Mann, Heinrich) und zum Bruch zwischen den beiden Brüdern. Ursache waren<br />
die unvereinbaren politischen Auffassungen über den Krieg. Thomas Mann übernahm auf<br />
der Seite der Deutschnationalen die Kriegsverherrlichung und -begeisterung, die der liberale<br />
und demokratisch gesinnte Heinrich Mann ablehnte. In dieser Zeit brach der Kontakt<br />
zwischen den Brüdern ab. In den Nachkriegsjahren nahm Thomas Mann intensiv am Zeitgeschehen<br />
teil; davon zeugen die erhaltenen Tagebücher vom September 1918 bis Dezember<br />
1921. Er gab seine konservative Haltung zugunsten einer liberalen Humanität auf. Daraufhin<br />
kam es 1922 zu einer Versöhnung der Brüder Heinrich und Thomas Mann, die<br />
nach dem Wunsch von Heinrich, „sich nie wieder zu verlieren“, dauerhaft blieb. Zunehmend<br />
trat Thomas Mann in den zwanziger und dreißiger Jahren auch in der Öffentlichkeit<br />
des europäischen Auslands auf. Nach dem Erscheinen des Romans Der Zauberberg<br />
(1924) und der Verleihung des Literatur-Nobelpreises (1929) für Die Buddenbrooks war<br />
sein Weltruhm erreicht. Seinen 50. Geburtstag feierte die Landeshauptstadt München ihm<br />
zu Ehren im Münchner Rathaussaal (1925). Hier ehrte ihn Professor F. Mucker mit einer<br />
Festrede. Die Tischrede des Jubilars war voll Lob und Hoffnung auf die neue Republik.<br />
„Auf jeden Fall ist es eine wundervolle, tief dankenswerte Sache, einem großen Kulturvolk,<br />
wie dem deutschen, anzugehören, von seiner Sprache getragen zu sein, sein höchstes<br />
Erbgut wahren und fortentwickeln zu dürfen.“ 415 Als Vertreter des demokratischen Zeitgeistes<br />
reiste Thomas Mann als Kulturbotschafter nach Paris. Anlässlich der 700-Jahr-Feier<br />
der Hansestadt Lübeck hielt er einen Festvortrag.<br />
Als politischer Redner hielt der Schriftsteller am 17. Oktober 1930 eine Ansprache. Ein<br />
Appell an die Vernunft, in dem er ein Zusammenwirken von Bürgertum und Sozialismus<br />
forderte, das hieß: Abwehr des faschistischen Fanatismus – „damit nicht heute München<br />
und morgen Berlin italienisch gemacht werden könnten.“ 416 Gegen den Nationalsozialismus<br />
richtete sich auch seine Rede vor Arbeitern in Wien (1932).<br />
Exil 1933<br />
Am 10. Februar 1933 – zum 50. Todestag des Komponisten Richard Wagners – hielt Thomas<br />
Mann im Auditorium Maximum der Münchner Universität einen Vortrag über Leiden<br />
und Größe Richard Wagners. Dieser Vortrag charakterisierte Wagners große Gaben, aber<br />
auch seine menschlichen Schwächen und Eigentümlichkeiten. Thomas Mann betonte aber<br />
dabei die große Verbundenheit mit ihm. Am folgenden Tag verließ er München, ohne zu<br />
wissen, dass er erst nach 16 Jahren wieder zurückkehren sollte. Ganz unvorbereitet auf die<br />
folgende Zeit, „denn wir hatten nichts mitgenommen, außer dem, was man für eine drei-<br />
415 Tischrede zur Feier des 50. Geburtstages. In: Thomas Mann Brevier: 142<br />
416 Gesammelte Werke XI: 879–883. Auch in: Schröter, Klaus (2000): Thomas Mann: 106<br />
215
wöchige Reise braucht.“ 417 Er trat eine Wagner-Vortragsreise an, die ihn nach Amsterdam,<br />
Brüssel und Paris führte; mit anschließendem Erholungsurlaub in Arosa. Inzwischen<br />
brannte in Berlin der Reichstag, es kam zu Verhaftungen und Übergriffen in München<br />
durch das neue Regime.<br />
Am 16. April 1933 erschien ein u. a. vom Dirigenten Knappertsbusch, den Komponisten<br />
Hans Erich Pfitzner und Richard Strauß sowie vom Künstler Olaf Gulbransson unterschriebener<br />
offizieller Protest der „Richard-Wagner-Stadt München“ in den „Münchner<br />
Neuesten Nachrichten“ gegen einen von Thomas Mann im Ausland gehaltenen Wagner-<br />
Vortrag. Die Unterzeichner kritisierten: „Wir lassen uns unseren wertbeständigen Geistesriesen<br />
nicht durch Thomas Mann im Ausland verunglimpfen.“ 418 Manns Antwort dazu:<br />
„...das ,Münchner-Haberfeldtreiben‘ sei ihm anstößig. Die Methode ist es, die zum Himmel<br />
schreit, die die Besseren hätte abstoßen müssen ... Das war kein kräftiger Protest, es<br />
war eine lebensgefährliche Denunziation, die gesellschaftliche Ächtung, die nationale Exkommunikation.“<br />
419 Thomas Manns’ Haus wurde durchsucht, die Autos und der Familienbesitz<br />
beschlagnahmt. Ende Mai erfolgte ein Konfiszierung des Anwesens und der Vermögenswerte<br />
(August 1933), dann erging ein Schutzhaftbefehl gegen Thomas Mann.<br />
Nach Aufenthalten in Arosa, Lugano und Badol mietete die Familie ein Haus in Südfrankreich<br />
im Ort Sanary-sur-Mer. Bereits im März 1933 setzte er seine Tagebuchaufzeichnungen<br />
wieder fort. Er erkannte, dass „Hitler der eigentliche Beauftragte des Kapitals ist“<br />
(Juli 1933). 420 Im November 1936 erhielt Thomas Mann die tschechische Staatsbürgerschaft,<br />
einen Monat später kam es zur Aberkennung der deutschen und zum gleichzeitigen<br />
Verlust seines gesamten Besitzes. Die Trennung vom „menschenverachtenden Regime“<br />
war vollzogen. Thomas Mann bekannte sich zum Exil-Dasein, ein Angriff des Feuilletonchefs<br />
der „Neuen Züricher Zeitung“ Eduard Korrodi, der die Exilliteratur mit Ausnahme<br />
der von Thomas Mann als jüdisch bezeichnete, bestärkte seinen Entschluss. Thomas<br />
Mann antwortete in einem offenen Brief in der gleichen Zeitung an Korrodi und er betonte,<br />
„daß aus der gegenwärtigen deutschen Herrschaft nichts Gutes kommen kann, für<br />
Deutschland nicht und für die Welt nicht, – diese Überzeugung hat mich das Land meiden<br />
lassen, in dessen geistiger Überlieferung ich tiefer wurzele als diejenigen, die seit drei<br />
Jahren schwanken, ob sie es wagen sollen, mir vor aller Welt mein Deutschtum abzusprechen.<br />
Und bis zum Grunde meines Gewissens bin ich dessen sicher, daß ich vor Mitwelt<br />
und Nachwelt recht getan ...“ 421<br />
417 Mann, Katia (1994): Meine ungeschriebenen Memoiren: 101<br />
418 Mann, Katia (1994): Meine ungeschriebenen Memoiren: 102–103<br />
419 Kolbe, Jürgen (1987): Heller Zauber – Thomas Mann in München 1894–1933: 277<br />
420 Schröter, Klaus (2000): Thomas Mann: 110<br />
421 Wißkirchen, Hans (1999): Die Familie Mann: 94<br />
216
Vom Schweizer Exil aus versuchte Thomas Mann, seine in München verbliebenen Manuskripte<br />
zu retten. Katia Mann berichtete davon: „Erika hatte es noch fertiggebracht, nach<br />
dem Umsturz nach München zu fahren und das „Joseph“-Manuskript und ein paar weitere<br />
Handschriften aus unserem schon beschlagnahmten Haus zu holen. Aber das übrige<br />
– alle Manuskripte von den „Buddenbrooks“ ab und den frühen Novellen, alle seine Briefschaften,<br />
die Briefe meines Mannes, Briefe, die ich von Hoffmannsthal und anderen aufgehoben<br />
hatte – ist durch die Emigration verlorengegangen.“ 422 Dem befreundeten<br />
Münchner Anwalt Dr. Heins bat Thomas Mann, die Manuskripte zu retten und vertraute<br />
ihm dazu die Schlüssel für den Schrank an, in dem sich die Papiere befanden. Nach dem<br />
Krieg kamen sein Sohn Klaus (er diente in der US-Armee) und seine Tochter Erika (sie<br />
war amerikanische Korrespondentin) nach München, um die „von ihm (Dr. Heins) aufbewahrten<br />
Sachen abzuholen. Da erklärte er ihnen, sein office, das zentral in der Stadt gelegen<br />
sei, sei zerbombt, seine guten Akten hätte er gerade noch gerettet, aber die Papiere<br />
und Handschriften von Thomas Mann seien Opfer der Flammen geworden; er hätte sie<br />
nicht mehr evakuieren können.“ 423<br />
Die Flucht in die USA<br />
Wegen des deutschen Einmarsches in Österreich beschloss Thomas Mann, in die USA<br />
auszuwandern. In Princeton übernahm er eine Gastprofessur. Seit Herbst 1940 richtete er<br />
Radioansprachen – fast jeden Monat einmal – über den britischen Sender BBC-London an<br />
die Deutschen. In einer Radioansprache am 23. Juni 1943 würdigte Thomas Mann die Tat<br />
der „Weißen Rose“ mit den Worten: „Brave, herrliche junge Leute! Ihr sollt nicht umsonst<br />
gestorben, sollt nicht vergessen sein! Die Nazis haben schmutzigen Rowdies, gemeinen<br />
Killern in Deutschland Denkmäler gesetzt – die deutsche Revolution, die wirkliche,<br />
wird sie niederreißen und an ihrer Stelle eure Namen verewigen, die ihr, als noch Nacht<br />
über Deutschland und Europa lag, wußtet und verkündetet: ,Es dämmert ein neuer Glaube<br />
an Freiheit und Ehre.´“ 424<br />
Katia und Thomas Mann nahmen 1944 die amerikanische Staatsbürgerschaft an. Kurz vor<br />
Kriegsende schrieb der Schriftsteller auf Wunsch von „Free World“ einen Aufsatz mit<br />
dem Titel The end. In einen Brief an Agnes E. Meyer heißt es: „Ich habe dazu Tagebuchaufzeichnungen<br />
aus dem Beginn der Emigration benutzt, die zeigen, wie die persönliche<br />
Verstörung und Beängstigung überherrscht war vom Gefühl des Mitleids mit dem<br />
unglückseligen deutschen Volk und von der Frage: Was soll eines Tages, früher oder später,<br />
aus diesen Menschen werden?... Nicht schrecklich genug habe ich mir den Ausgang<br />
422 Mann, Katia (1994): Meine ungeschriebenen Memoiren: 111–112<br />
423 Mann, Katia (1994): Meine ungeschriebenen Memoiren: 113–114<br />
424 Scholl, Inge (2000): Die Weiße Rose: 198<br />
217
vorgestellt ... Grausamere Herren hat wohl ein Volk nie gehabt, Herren, die eisern darauf<br />
bestanden, dass es mit ihnen zu Grunde geht.“ 425<br />
Nach Kriegsende bat der Schriftsteller Walter von Molo Thomas Mann, nach Deutschland<br />
zurückzukehren; dies lehnte er jedoch ab. Seine Meinung dazu brachte er so zum Ausdruck:<br />
„Niemals habe ich einem deutschen Künstler sein Verbleiben daheim verübelt,<br />
wenn ihm nicht ein Bekanntsein in der Welt auch draußen die Existenz gesichert hätte.<br />
War er aber weltbekannt, so mußte er wissen, daß er mit seinem Bleiben und Schaffen in<br />
Deutschland der geistigen Propaganda des Bösen diente. Darüber kommt man mit dem<br />
Argument der Heimatliebe nicht hinweg. Die Großen hätten aus Heimatliebe auswandern<br />
müssen. Den anderen verdenke ich es nicht einmal, wenn sie in die Zwangsverbände oder<br />
sogar in die Partei gegangen sind, um sich zu halten.“ 426<br />
Es folgten mehrere Europareisen. Zu einem Wiedersehen mit München kam es Ende Juli<br />
1949, 16 Jahre waren inzwischen vergangen. Das Ehepaar Mann entschloss sich 1952 zur<br />
Übersiedlung in die Schweiz.<br />
In seinem letzten Lebensjahr erfuhr Thomas Mann zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen.<br />
„Im Mai kommen die rednerischen Schillerfeiern in Stuttgart, München, Weimar,<br />
auch in der Schweiz, und gleich danach geht es los mit meinem Achtzigsten, zu welchem,<br />
wie es schon aussieht, alles geschehen wird, damit ich nicht viel älter werde,“ 427 so Mann.<br />
Ein begonnener Erholungsurlaub in Noordwijk musste wegen einer schweren Erkrankung<br />
unterbrochen werden. Eine Behandlung im Züricher Kantonspital war nötig geworden.<br />
Thomas Mann starb dort am 12. August 1955.<br />
Sein Grab befindet sich auf dem Friedhof Kilchberg am Zürichsee.<br />
Archive, Forschungs- und Gedenkstätten, Namenspatronagen<br />
Thomas-Mann-Archiv der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, Schönberggasse<br />
15, 8001 Zürich.<br />
Heinrich- und Thomas-Mann-Zentrum Buddenbrookhaus, Mengstraße 4, 23552 Lübeck.<br />
1996 Thomas-Mann-Kulturzentrum im litauischen Nida, Haus Hiddensee. Thomas-<br />
Mann-Sammlung des Deutschen Literaturarchivs Marbach.<br />
1994 „Villino“. Literarisches Museum für Thomas Mann in Feldafing am Starnberger See.<br />
1996 Thomas-Mann-Preis an Günter Grass.<br />
1999 Thomas-Mann-Förderkreis München e.V.<br />
425 Brief an A. E. Meyer, 15.2.1945. In: Thomas Mann Brevier: 151<br />
426 Mann, Viktor (1949): Wir waren fünf: 586f<br />
427 Brief an H. Ewers, 19.1.1955. In: Schröter, Klaus (2000): Thomas Mann: 155<br />
218
Ehrungen<br />
1919 Ehrendoktorwürde der philosophischen Fakultät der Universität Bonn.<br />
1926 Professorentitel der Universität Lübeck, verliehen vom Senat der Stadt; Mitglied der<br />
Preußischen Akademie der Künste, Sektion Dichtkunst.<br />
1929 Literatur-Nobelpreis.<br />
1935 Ehrendoktorwürde der Harvard University, USA.<br />
1938 Ehrendoktorwürde der Columbia Universität, New York; Akademischer Lehrer an<br />
der University of Princeton (1938–1940).<br />
1939 Ehrendoktorwürden der Rutgers University, der Princeton University und des Hobart<br />
College.<br />
1941 Ernennung zum „Consultant in Germanic Literature“ an der Library of Congress in<br />
Washington. Ehrendoktorwürde der University of California, Berkeley.<br />
1945 Ehrendoktorwürde des Hebrew Union College.<br />
1947 Aufnahme in die Accademia Nazionale dei Lincei, Rom.<br />
1948 Ehrendoktorwürde der Universität Oxford, Großbritannien.<br />
1949 Ehrendoktorwürde der Universität Lund, Schweden. Verleihung des Goethe-Preises<br />
der Stadt Frankfurt am Main und der Stadt Weimar.<br />
1952 Rosette der Französichen Ehrenlegion.<br />
1953 Ehrendoktorwürde der Universität Cambridge, Großbritannien.<br />
1955 Ehrendoktorwürde der Friedrich-Schiller-Universität Jena; Ehrendoktorwürde der<br />
Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich; Verleihung des Ordenskreuzes von<br />
Oranje-Nassau; Ehrenbürger der Stadt Lübeck; Wahl in die Friedensklasse des Ordens<br />
„Pour le Mérite“.<br />
Filme<br />
1923 und 1959 Die Buddenbrooks. Regie Alfred Weidenmann.<br />
1953 Königliche Hoheit.<br />
1957 Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Regie Kurt Hoffmann.<br />
1973 Der Tod in Venedig.<br />
1978 Die Buddenbrooks. Regie Peter Wirth.<br />
1981 Der Zauberberg. Regie Hans Geissendörfer.<br />
1982 Doktor Faustus. Regie Franz Seitz.<br />
Juli 2000 Die Manns. Fernsehfilm in drei Teilen. Regie Heinrich Breloer.<br />
Dezember 2001 Die Manns – ein Jahrhundertroman. Fernsehfilm in drei Teilen, Regie führt<br />
Heinrich Breloer. Armin Mueller-Stahl spielt Thomas Mann, Monica Bleibtreu Katia Mann.<br />
219
Ausstellungen<br />
1987 Villa Stuck München: Heller Zauber – Thomas Mann in München 1894–1933.<br />
20. November 2000 – 21. Februar 2001: Thomas Mann. Die Buddenbrooks. Im Münchner<br />
Literaturhaus in Zusammenarbeit mit dem Heinrich- und Thomas-Mann-Archiv Lübeck.<br />
Hörspiele<br />
26. Dezember 2000 – 6. Januar 2001 Der Zauberberg. Zehnstündiges Hörspiel, aufgeteilt<br />
in mehrere Folgen. Produziert vom Bayerischen Rundfunk München.<br />
Der Zauberberg. CD-Version im Hör-Verlag, zehn- und achtteilige MC-Version.<br />
Besonderheit<br />
November 2001: Der ausgestopfte sibirische Braunbär aus dem Elternhaus von Thomas<br />
Mann in Lübeck – übergegangen in den Haushalt von Thomas Mann in der Poschingerstraße<br />
– befindet sich nun als Dauerleihgabe im Münchner Literaturhaus. 428<br />
Literatur<br />
Berendsohn, Walter Artur (1956): Thomas Mann und das Dritte Reich. O. Verlag, o. Ort<br />
Hage, Volker (2001): Die Windsors der Deutschen. In: Der Spiegel Nr. 51 v. 17.12.2001: 174–196<br />
Harpprecht, Klaus (1995): Thomas Mann. Eine Biographie. Rowohlt Verlag, Reinbek b. Hamburg<br />
Heiserer, Dirk (1993): Wo die Geister wandern. Boheme um 1900. Eugen Diederichs Verlag, München<br />
Heiserer, Dirk / Jung, Joachim (1998): Ortsbeschreibung. Tafeln und Texte in Schwabing. Anderland Verlag,<br />
München<br />
Hübinger, Paul Egon (1974): Thomas Mann, die Universität Bonn und die Zeitgeschichte. Drei Kapitel deutscher<br />
Vergangenheit aus dem Leben des Dichters 1905–1955. Langen Müller Verlag, München, Wien<br />
Kolbe, Jürgen (1987): Heller Zauber – Thomas Mann in München 1894–1933. Hrsg. v. d. Bayer. Rückversicherungs<br />
AG München. Ausstellungsreihe „Erkundungen“, Nr. 6<br />
Kurzke, Thomas (1999): Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk, Verlag C. H. Beck, München<br />
Mann, Golo (1986): Erinnerungen und Gedanken. Eine Jugend in Deutschland. Frankfurt a. M.<br />
Mann, Katia (1994): Meine ungeschriebenen Memoiren. Hrsg. v. Elisabeth Plessen u. Michael Mann, S. Fischer<br />
Verlag, Frankfurt a. M.<br />
Romane von Thomas Mann: (1901) Die Buddenbrooks; (1909) Königliche Hohheit; (1922) Bekenntnisse des<br />
Hochstaplers Felix Krull; (1924) Der Zauberberg; (1933) Joseph und seine Brüder; (1934) Der junge Joseph;<br />
(1937) Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull; (1939) Lotte in Weimar; (1943) Joseph der Ernährer;<br />
(1947) Doktor Faustus; (1951) Der Erwählte<br />
Mann, Thomas (1977): Tagebücher 1933–1934. Hrsg. v. Peter de Mendelssohn. S. Fischer Verlag, Frankfurt<br />
a. M.<br />
428 Görl, Wolfgang (2001): Der Bär kehrt zurück. In Süddeutsche Zeitung Nr. 46 v. 14.11.2001<br />
220
Mann, Thomas (1980): Tagebücher 1937–1939. Hrsg. v. Peter de Mendelssohn, S. Fischer Verlag, Frankfurt<br />
a. M.<br />
Mann, Thomas (1994): Thomas Mann Brevier. Hrsg. v. Günther Debon, Verlag Philipp Reclam jun., Stuttgart<br />
Mann, Thomas (1999): Selbstkommentare: „Joseph und seine Brüder“. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M.<br />
Mann, Viktor (1949): Wir waren fünf. Bildnis der Familie Mann. Südverlag, Konstanz<br />
Reich-Ranicki, Marcel (1998): Thomas Mann und die Seinen. Deutscher Taschenbuch Verlag, Stuttgart<br />
Schröter, Klaus (1964): Thomas Mann in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg<br />
Schröter, Klaus (2000): Thomas Mann. Rowohlts Monographien Nr. 50093, Rowohlt Verlag, Reinbek bei<br />
Hamburg<br />
Schwarberg, Günter (1996): Es war einmal ein Zauberberg. Eine Reportage aus der Welt des deutschen Zauberers<br />
Thomas Mann. Rasch und Röhrig Verlag, Hamburg<br />
Vaget, Hans Rudolf (1984): Thomas Mann. Kommentar zu sämtlichen Erzählungen. Winkler Verlag, München<br />
Wißkirchen, Hans (1999): Die Familie Mann. Rowohlt Verlag, Reinbek b. Hamburg<br />
221
Mayer, Rupert Seliger Pater SJ<br />
*23.1.1876 Stuttgart †1.11.1945 München<br />
„Mit dem Strom schwimmen ist nichts Großes.<br />
Aber gegen den Strom zu schwimmen ist etwas Ungeheueres.“<br />
Pater Rupert Mayer SJ 429<br />
Pater Rupert Mayer im Gefängnis<br />
Landsberg am Lech,1938<br />
Foto: Dr. Otto Gritschneder, Archiv<br />
Gedenktafel Maxburgstraße 1<br />
Foto: Andreas Olsen<br />
Rupert-Mayer-Museum im Bürgersaal<br />
Foto: Andreas Olsen<br />
222
I. Rupert-Mayer-Straße, Obersendling<br />
M (1947)<br />
II. Gruft in der Krypta des Bürgersaals<br />
Neuhauser Straße, Altstadt<br />
Karlsplatz /Stachus S1–S8 und Tram 17/18/20/27<br />
Katholische Kirche (1948)<br />
III. Pater-Rupert-Mayer-Altar, Kreuzkapelle von St. Michael<br />
Kaufingerstraße, Altstadt<br />
Marienplatz S1–S8 und U3/U6<br />
Katholische Kirche (1987)<br />
IV. Bronze-Büste, Bürgersaal<br />
Neuhauser Straße, Altstadt<br />
Karlsplatz /Stachus S1–S8 und Tram 17/18/20/27<br />
Katholische Männerkongregation (1948)<br />
V. Rupert Mayer-Museum, Bürgersaal<br />
Neuhauser Straße, Altstadt<br />
Karlsplatz /Stachus S1–S8 und Tram 17/18/20/27<br />
VI. Gedenktafel, Justizpalast, Prielmayerstraße 3<br />
Karlsplatz /Stachus S1–S8 und Tram 17/18/20/27<br />
M (1988)<br />
VII. Gedenktafel Maxburgstraße 1, Altstadt<br />
Karlsplatz /Stachus S1–S8 und Tram 17/18/20/27<br />
Katholische Kirche (1989)<br />
429 Grassl, Irene (1984): Pater Rupert Mayer in Selbstzeugnissen: 67<br />
223
VIII. Kirchenglocke für Pfarrei St. Maximilian Kolbe, Neuperlach<br />
Quiddestraße U2/U8<br />
Ursula Brendel (1996)<br />
IX. Gedenktafel, Berchmanskolleg, Maxvorstadt-Schwabing<br />
Katholische Kirche (1996)<br />
X. Pater-Rupert-Mayer-Gymnasium Pullach<br />
Pullach S7<br />
Katholische Kirche (1978)<br />
XI. Pater-Rupert-Mayer-Haus<br />
Hirtenstraße 4, Maxvorstadt<br />
Hauptbahnhof S1–S8 und Tram 20/21<br />
Caritas Verband der Erzdiözese München und Freising e.V. (1985)<br />
XII. Pater-Rupert-Mayer-Stiftung<br />
Hirtenstraße 4, Maxvorstadt<br />
Caritas Verband der Erzdiözese München und Freising e.V. (1987)<br />
XIII. Pater-Rupert-Mayer-Volksschule Pullach<br />
Pullach S7<br />
KM u. Katholische Kirche (1994)<br />
XIV. Pater-Rupert-Mayer-Realschule Pullach<br />
Pullach S 7<br />
KM u. Katholische Kirche (1994)<br />
XV. Pater-Rupert-Mayer-Studentenwohnheim, Kaiserplatz 13, Schwabing<br />
Münchner Freiheit U3/U6<br />
224
Zu II. Gruft in der Krypta des Bürgersaals<br />
Katholische Kirche (1948)<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Pater Rupert Mayer war auf dem Ordensfriedhof der Jesuiten in Pullach beigesetzt worden.<br />
Am 23. Mai 1948 erfolgte die Überführung im Beisein von etwa 120000 Gläubigen<br />
in den Münchner Bürgersaal in München. Seither ist das Grab ein Wallfahrtsort.<br />
Zu III. Pater-Rupert-Mayer-Altar, Kreuzkapelle von St. Michael<br />
Katholische Kirche (1987)<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Zwei Tage nach der Seligsprechung des Paters im Münchner Olympiastadion erhielt der<br />
Altar in der Kreuzkapelle von St. Michael seinen Namen. Hier hatte Pater Rupert Mayer<br />
am 1. November 1945 seine letzte Predigt gehalten.<br />
Zu IV. Bronze-Büste im Bürgersaal<br />
Katholische Männerkongregation (1948)<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
Im Altarraum der Unterkirche im Bürgersaal ruht auf einem Steinsockel die von der katholischen<br />
Männerkongregation gestiftete Bronzebüste von Pater Rupert Mayer.<br />
Zu V. Pater-Rupert-Mayer-Museum<br />
Katholische Kirche (1987)<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
Im Eingangsbereich des Bürgersaals sind in Vitrinen Dokumente und Utensilien aus dem<br />
Leben von Pater Rupert Mayer ausgestellt. Davor steht sein ehemaliges Taufbecken aus<br />
St. Eberhardt in Stuttgart.<br />
225
Zu VI. Gedenktafel im Justizpalast, Prielmayerstraße 7<br />
M (1988)<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
In der Eingangshalle des Justizpalastes ist eine Gedenktafel mit folgender Inschrift angebracht:<br />
„Pater Rupert Mayer, SJ. Ich werde künftig wie bisher die katholische Kirche, ihre Glaubens-<br />
und Sittenlehre gegen alle Angriffe, Anfeindungen und Verleumdungen verteidigen.<br />
Das halte ich für mein Recht und meine Pflicht als katholischer Priester. Erklärung von<br />
P. R. Mayer am 22. Juli 1937 vor dem Münchner Sondergericht.“<br />
Hier fand am 22. und 23. Juli 1937 die Sondergerichtsverhandlung gegen den Jesuitenpater<br />
Rupert Mayer statt.<br />
Zu VII. Gedenktafel, Kreuzkapelle von St. Michael<br />
Katholische Kirche (1987)<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Im Zusammenhang mit der Seligsprechnung von Pater Rupert Mayer am 3. Mai 1987<br />
weihte Kardinal Friedrich Wetter diese Gedenktafel ein.<br />
Zu VIII. Kirchenglocke für St. Maximilian Kolbe in Neuperlach<br />
Ursula Brendel (1996)<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Für das neue Pfarrzentrum stiftete Ursula Brendel eine Glocke (Gewicht circa eine Tonne)<br />
mit der Aufschrift: „Ich schweige nicht. Pater Rupert Mayer SJ, 23.1.1876 – 1.11.1945.“<br />
Domkapitular Josef Obermeier weihte die Glocke am 27. Juli 1996 ein.<br />
Zu IX. Gedenktafel, Berchmanskolleg, Kaulbachstraße 31a, München<br />
Katholische Kirche (1996)<br />
Giselastraße U3<br />
226
KURZBESCHREIBUNG<br />
Am Eingang zum Berchmanskolleg befindet sich eine Gedenktafel mit der Inschrift:<br />
„Dieses Haus war unter der Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus ein Zentrum des<br />
katholischen Widerstands. Hier trafen sich mit dem Jesuitenprovinzial Augustinus Rösch<br />
die Patres Rupert Mayer, Lothar König, Alfred Delp. Hier fanden 1942–1943 mit Helmut<br />
J. Graf Moltke geheime Treffen des Kreisauer Kreises statt. Alle riskierten ihr Leben, viele<br />
verloren es.“<br />
Zu X. Pater-Rupert-Mayer-Gymnasium<br />
Wolfratshauser Straße 30, 82049 Pullach<br />
Katholische Kirche (1978)<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Auf Initiative des katholischen Familienwerkes e.V., dem damaligen Träger der Schule,<br />
wurde die Namengebung beantragt, die am 21. November 1978 erfolgte.<br />
DENKMAL<br />
Im Eingangsbereich der Schule ruht auf einem Steinsockel eine Bronzebüste Pater Rupert<br />
Mayers, eine Kopie des im Münchner Bürgersaal befindlichen Originals. Im Rahmen eines<br />
Festaktes am 22. März 1979 weihte der Erzbischof Kardinal Ratzinger diese Büste ein.<br />
GEDENKORTE<br />
Ein Gedenkstein an der ehemaligen Grabstätte auf dem Ordensfriedhof von Pullach erinnert<br />
an Pater Rupert Mayer, ebenso eine Stele auf demselben Friedhof, der sich in unmittelbarer<br />
Nachbarschaft der Schule befindet.<br />
GEDENKTAGE<br />
Ein jährlicher Gedenktag im November, der so genannte „Pater-Rupert-Mayer-Tag“, wird<br />
mit Veranstaltungen, mit Filmen, Ausstellungen und Gottesdiensten begangen.<br />
VERÖFFENTLICHUNGEN<br />
Anlässlich des 20. Jahrestages der Namengebung erschien eine Chronik des Gymnasiums.<br />
Das Schulsiegel zeigt eine Porträtzeichnung des Namensvetters.<br />
227
Zu XI. Pater-Rupert-Mayer-Haus<br />
Hirtenstraße 4, 80335 München<br />
Katholische Kirche (1985)<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Die Benennung des Hauses, der Zentrale des Caritasverbandes der Erzdiözese München<br />
und Freising e.V., wurde unter dem Vorsitz von Prälat Franz Sales Müller im Jahre 1984<br />
beschlossen. Die offizielle Einweihung fand durch den Erzbischof Kardinal Friedrich<br />
Wetter am 17. Juli 1985 statt.<br />
Denkmal<br />
Im Foyer des Hauses befindet sich eine Bronzebüste von Pater Rupert Mayer. Ein Ölgemälde<br />
in der Kapelle im fünften Stock des Hauses zeigt sein Porträt. Dieser im Jahr 1995<br />
geschaffene Ort der Besinnlichkeit ist geistiger Mittelpunkt des Hauses.<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND<br />
Pater Rupert Mayer war in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts im Vorstand des Caritasverbandes<br />
der Erzdiözese München und Freising.<br />
Zu XII. Pater-Rupert-Mayer-Stiftung<br />
Hirtenstraße 4, 80335 München<br />
Katholische Kirche (1987)<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Anlässlich seiner Seligsprechung gründete der Caritasverband der Erzdiözese München<br />
und Freising e.V. für Kranke und Behinderte die „Pater-Ruper-Mayer-Stiftung“.<br />
Erinnerung<br />
1997 Eine Telefonkarte mit dem Motiv: „Pater Rupert Mayer sammelt für die Caritas.“<br />
Zu XIII. Pater-Rupert-Mayer-Volksschule<br />
Wolfratshauser Straße 30, 82049 Pullach<br />
KM u. Katholische Kirche (1994)<br />
228
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Auf Antrag des Erzbischöflichen Ordinariats beim Bayerischen Staatsministerium für Unterricht<br />
und Kultus trägt die Volksschule seit dem 1. Januar 1994 diesen Namen.<br />
Zu XIV. Pater-Rupert-Mayer-Realschule<br />
Wolfratshauser Straße 30, 820449 Pullach<br />
KM u. Katholische Kirche (1994)<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Auf Antrag des Erzbischöflichen Ordinariats beim Bayerischen Staatsministerium für Unterricht<br />
und Kultus trägt die Realschule seit dem 1. Januar 1994 diesen Namen.<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Die Eltern von Pater Rupert Mayer waren Kaufleute, die sich 1873 in Stuttgart niedergelassen<br />
hatten, um ein Haushaltswarengeschäft zu führen. Zusammen mit einem älteren<br />
Bruder und vier jüngeren Schwestern wuchs Rupert Mayer in einer religiösen Familie auf.<br />
Nach dem Abitur begann er mit dem Studium der Theologie an der katholischen Universität<br />
in Freiburg (1894/95), wechselte an die Universität München (1895/96) und später an<br />
die Universität Tübingen. Zum Abschluss seiner Ausbildung im Priesterseminar Rottenburg<br />
erhielt er am 2. Mai 1899 in St. Martin zu Rottenburg von Bischof Keppler die Priesterweihe.<br />
Danach folgte der Eintritt in den Jesuitenorden in Tisis bei Feldkirch (Vorarlberg),<br />
der wegen des noch geltenden Jesuitengesetzes seit 1872 aus dem Deutschen Reich<br />
verbannt war. In Valkenburg und Wijnandsrade in den Niederlanden schloss er seine Studien<br />
ab und wurde als Volksmissionar in Deutschland, Österreich und der Schweiz eingesetzt.<br />
1912 versetzte man ihn nach München, wo er als Seelsorger für die „Zuwanderer“<br />
wirkte.<br />
Bei Kriegsbeginn meldete sich Pater Rupert Mayer freiwillig als Feldgeistlicher. Er diente<br />
als Divisionspfarrer im Elsass, in Galizien und Rumänien. „Am 30. Dezember 1916 erlitt<br />
er im rumänischen Sultatal eine schwere Verwundung, in deren Folge das linke Bein amputiert<br />
werden mußte. Eine zweite Operation, lange Lazarett-Aufenthalte in Rumänien,<br />
Ungarn und in der Heimat folgten.“ 430 Als er am 30. März 1917 nach München zurückkehrte,<br />
nahm er alle Kraft zusammen, „da ich nur noch einen kleinen Stumpf (am linken<br />
Bein) habe, schon über vierzig Jahre alt bin und mein Gesundheitszustand durch das, was<br />
430 Sandfuchs, Wilhelm (1987): Pater Rupert Mayer: 32<br />
229
ich seit dem 30. Dezember 1916 auszustehen hatte, nicht wenig geschwächt bin, so ist für<br />
mich das Gehenlernen eine überaus schwierige und mühsame Sache.“ 431 Im selben Jahr<br />
nahm er wieder das Amt als Seelsorger für die Zuwanderer in der ständig wachsenden<br />
Großstadt München auf. In einem Kreis von kirchlichen Mitarbeitern gelang es ihm, durch<br />
praktische Hilfe wie Stellenvermittlung und Unterstützung den „Zugereisten“ in Notlagen<br />
zu helfen und so ihr Vertrauen zu gewinnen. Über seine Kontakte berichtete er später:<br />
„Bei den Hausbesuchen ging es sehr lebhaft zu. So wurde ich bekannt mit dem Sozialismus<br />
und dem Kommunismus. Ich war gezwungen die soziale und die kommunistische Presse<br />
zu verfolgen und die diesbezüglichen Schriften zu lesen ... So konnte ich in den Vorträgen<br />
aus dem vollen Leben schöpfen. Diese Tätigkeit brachte es mit sich, daß ich immer mehr<br />
in die katholische Arbeiterbewegung hineingezogen wurde und auch die christliche Gewerkschaftsbewegung<br />
kennenlernte.“ 432 In den Nachkriegsjahren setzte er sich für Frieden<br />
und Versöhnung ein, übernahm die Leitung der „Marianischen Bürger-Kongregation“<br />
und das Amt des Spirituals der „Schwestern von der Heiligen Familie“. Als Seelsorger,<br />
Beichtvater, Prediger und Caritas-Apostel betreute er die Jesuitenkirche St. Michael und<br />
den Bürgersaal. Die Tätigkeit als Mitarbeiter des Diözesan-Caritasverbandes bot Möglichkeiten,<br />
Notleidenden neben seelischem Beistand auch praktische Hilfe zu geben. Um<br />
den sonntäglichen Ausflüglern den Gottesdienst zu ermöglichen, hielt er seit 1925 Gottesdienste<br />
im Münchner Hauptbahnhof.<br />
Nach der Machtergreifung<br />
Als Prediger in der St. Michaelskirche setzte er sich gegen die Angriffe der neuen Regierung<br />
auf die Kirche zur Wehr. „Wenn eine kirchenfeindliche Zeitung Falschmeldungen<br />
über religiöse Ereignisse abdruckte, nahm er das Blatt auf die Kanzel mit und forderte<br />
überzeugend zum kritischen Lesen auf“, 433 obwohl er wusste, dass die Gestapo seine Predigten<br />
mitschrieb. Am 7. April 1937 verhängte die Gestapo-Zentrale Berlin gegen Pater<br />
Rupert Mayer ein „Redeverbot für das gesamte Reichsgebiet“. Pater Rupert Mayer nahm<br />
dies nicht zur Kenntnis, weil er es für einen unrechtmäßigen Eingriff in die Verkündungsfreiheit<br />
der Kirche hielt. Deshalb erfolgte zwei Monate später seine Inhaftierung; er wurde<br />
in das Münchner Corneliusgefängnis gebracht und später nach München-Stadelheim verlegt.<br />
Den Prozessverlauf vor dem Sondergericht gegen Pater Rupert Mayer am 22. und 23.<br />
Juli 1937 hatte der damalige Rechtsreferendar Otto Gritschneder schriftlich festgehalten<br />
und das Verhandlungsprotokoll im Jahre 1965 veröffentlicht. „Bei der staatsanwaltlichen<br />
Vernehmung, mehr noch im Prozeß selbst, wurde offenbar, daß Pater Mayer sich ganz<br />
und gar nicht einschüchtern oder auch nur zu einer Verharmlosung oder Zurücknahme<br />
431 Mayer, Rupert: Briefe 1: 67. In: Loerzer, Sven (1984): Pater Rupert Mayer: 36<br />
432 Mayer, Rupert: Briefe 1: 41. In: Loerzer, Sven (1984): Pater Rupert Mayer: 22<br />
433 Sandfuchs, Wilhelm (1987): Pater Rupert Mayer: 48<br />
230
seiner Äußerungen drängen ließ, ... er hatte klar und überlegt gepredigt und war im vollen<br />
Bewußtsein der Folgen für seine Person, die sich aus seinem mutigen Eintreten für die Religion<br />
ergeben konnten.“ 434<br />
Provinzial Pater Augustinus Rösch ersparte seinem Zögling die sechsmonatige Haft, zu<br />
der er verurteilt worden war, indem er ihm – zur Beruhigung der Behörden – Predigt- und<br />
Redeverbot auferlegte (siehe Band 3: Rösch). Doch Pater Rupert Mayer wollte nicht<br />
schweigen und setzte seine Predigten fort. Eine erneute Festnahme erfolgte nach der dritten<br />
Predigt am 5. Januar 1938 und führte zu seiner Inhaftierung im Gefängnis München-<br />
Stadelheim und später in Landsberg am Lech. Wegen einer Amnestie, die im Zusammenhang<br />
mit dem „Anschluss“ Österreichs erging, wurde er am 3. Mai 1938 vorzeitig entlassen.<br />
Danach war seine seelsorgerische Tätigkeit auf Einzelgespräche im Beichtstuhl und<br />
im Audienzzimmer beschränkt. Doch auch hier griff die Gestapo ein; er sollte ihnen die<br />
Namen mutmaßlicher konspirativer Gesprächspartner nennen. Bei seiner wiederholten<br />
Festnahme am 3. November 1939 verweigerte er die Offenlegung der Namen, „...auch<br />
nicht, wenn sie mich an die Wand stellen“ 435 . Daraufhin kam er in der Nacht vom 22. auf<br />
den 23. Dezember 1939 in Schutzhaft im KZ Sachsenhausen (Einzelhaft im „Bunker“).<br />
„Gleich bei meinem Eintritt ins KZ wurde mir gesagt, daß ich zu keiner körperlichen Arbeit<br />
herangezogen würde, daß ich also frei über meine Zeit verfügen könnte. Und daran<br />
hat man festgehalten. Die Kost war begreiflicherweise schmal.“ 436 Wegen seines schlechten<br />
Gesundheitszustandes erfolgte am 7. August 1940 seine Entlassung. Von der Außenwelt<br />
vier Jahre und vier Monate abgeschlossen, verbrachte er die Zeit bis zur Befreiung<br />
im Kloster Ettal. Ein Pfarrer, der ihn im Auftrag der Gestapo besuchte, beschrieb ihn „wie<br />
einen im Käfig eingesperrten Löwen, der bereit wäre, das Kloster heimlich zu verlassen,<br />
um in München den Kampf gegen die Nazis öffentlich aufzunehmen.“ 437<br />
Nach München zurückgekehrt, übte er sofort wieder sein Amt aus. „Doch die viele Arbeit,<br />
die er tun wollte und mußte, beanspruchte seine Gesundheit sehr. Ende Juli 1945 hatte er<br />
einen ersten, leichten Schlaganfall, Mitte Oktober erlitt er einen zweiten Gehirnschlag,<br />
der zur Folge hatte, daß er nicht mehr sprechen konnte.“ 438 Nach seiner Genesung setzte<br />
er seine Predigten wieder fort.<br />
Pater Rupert Mayer starb am Allerheiligentag während einer Predigt. Seine Beisetzung<br />
fand am 4. November 1945 auf dem Ordensfriedhof in Pullach statt. Bei der Überführung<br />
434 Gritschneder, Otto (1965): Pater Rupert Mayer vor dem Sondergericht: 24<br />
435 Loerzer, Sven (1984): Pater Rupert Mayer: 66<br />
436 Koerbling, Anton (1960): Pater Rupert Mayer: 179<br />
437 Koerbling, Anton (1960): Pater Rupert Mayer: 187<br />
438 Loerzer, Sven (1984): Pater Rupert Mayer: 74<br />
231
und Beisetzung in die Gruft der Krypta im Münchner Bürgersaal am 23. Mai 1948 nahmen<br />
Tausende von Gläubigen teil. Die Feier der Seligsprechung durch Papst Johannes Paul II.<br />
fand am 3. Mai 1987 im Münchner Olympiastadion statt.<br />
Ehrungen<br />
1976 Feier zum 100. Geburtstag in der Kirche St. Michael in München, geleitet durch Kardinal<br />
Döpfner.<br />
1980 Würdigung durch den Papst Johannes Paul II. in seiner Predigt auf der Münchner<br />
Theresienwiese.<br />
1987 Seligsprechung durch Papst Johannes Paul II.<br />
1988 Bronzerelief für Pater Rupert Mayer und Edith Stein (siehe Band 3: Stein, Edith) im<br />
Pfarrzentrum Maria Himmelfahrt in Landsberg am Lech.<br />
1990 Gedenktafel in der Ignatiuskapelle in Landsberg am Lech.<br />
1995 Pater-Rupert-Mayer-Platz und Brunnen in Landsberg am Lech.<br />
1995 Gedenktafel im Kloster Ettal: Gedenken an Pater Rupert Mayer SJ und Pastor Dietrich<br />
Bonhoeffer (1900–1940).<br />
2001 Pater-Rupert-Mayer-Medaille des Diözesanrats der Münchner Katholiken, die an<br />
fünf bayerische Hospizvereine vergeben wurden.<br />
Schauspiel<br />
1995 Zeit zu reden, Zeit zu schweigen. Von Herbert Rosendorfer. Aufgeführt an der Schulbühne<br />
des Ettaler Gymnasiums.<br />
Film<br />
1988 Ich schweige nicht! Von Pater Walter Rupp SJ. Pater Rupert Mayer im Widerstand<br />
gegen den Nationalsozialismus, München.<br />
Literatur<br />
Bleistein, Roman (1993): Rupert Mayer der verstummte Prophet. Knecht Verlag, Frankfurt a. M.<br />
Boesmiller, Franziska (1947): Pater Rupert Mayer. Verlag Schnell & Steiner, München<br />
Dirks, Walter (1997): Katholiken zwischen Anpassung und Widerstand. In: Löwenthal, Richard / Mühlen, Patrik<br />
von zur (Hrsg.): Widerstand und Verweigerung in Deutschland: 140–142<br />
Grassl, Irene (1984): Pater Rupert Mayer in Selbstzeugnissen. Manz Verlag, Dillingen<br />
Gritschneder, Otto (1965): Pater Rupert Mayer vor dem Sondergericht. Verlag Anton Pustet, München und<br />
Salzburg<br />
Gritschneder, Otto (1987): Pater Rupert Mayer und das Dritte Reich. Rosenheim<br />
232
Gritschneder, Otto (Hrsg.) (1987): Ich predige weiter. Pater Rupert Mayer und das Dritte Reich. Rosenheim<br />
Koerbling, Anton (1950): Pater Rupert Mayer. Verlag Schnell & Steiner, München<br />
Koerbling, Anton (1960): Pater Rupert Mayer. Verlag Schnell & Steiner, München<br />
Läpple, Alfred (Hrsg.) (1987): P. Rupert Mayer. Ein Erinnerungsbuch zur Seligsprechung. Don Bosco Verlag,<br />
München<br />
Loerzer, Sven (1984): Pater Rupert Mayer. Paul Pattloch Verlag, Aschaffenburg<br />
Mayer, Rupert (1951): Dokumente, Selbstzeugnisse und Erinnerungen. Verlag Schnell & Steiner, München<br />
Mayer, Rupert (1987): Mein Kreuz will ich tragen. Texte des Predigers von St. Michael. Ostfildern<br />
Morgenschweis, Karl (1968): Strafgefangener Nr. 9469 P. Rupert Mayer. Erinnerungen an seine Haft im<br />
Strafgefängnis Landsberg/Lech. München<br />
Rupp, Walter / Vieregg, Hildegard (1987): Pater Rupert Mayer SJ. Eine Dokumentation in Texten und Bildern.<br />
München<br />
Sandfuchs, Wilhelm (1982): Pater Rupert Mayer, Verteidiger der Wahrheit, Apostel der Nächstenliebe. Würzburg<br />
Sandfuchs, Wilhelm (1987): Pater Rupert Mayer. Sein Leben in Dokumenten und Bildern, seine Seligsprechung.<br />
Echter Verlag, Würzburg<br />
Schwaiger, Georg (Hrsg.) (1984): Das Erzbistum München und Freising in der Zeit der nationalsozialistischen<br />
Herrschaft. 2 Bände. München<br />
Volk, Ludwig (1976): Pater Rupert Mayer vor der NS-Justiz. In: Stimmen der Zeit, Band 194 (Januar 1976)<br />
Heft 1<br />
Vieregg, Hildegard (1993): Wächst Gras darüber? München Hochburg des Nationalsozialismus und Zentrum<br />
des Widerstands. Dr. C. Wolf & Sohn Verlag, München: 184–190<br />
233
Meitner, Lise, Prof. Dr.<br />
*17.11.1878 Wien †27.10.1968 Cambridge (Großbritannien)<br />
„... Und ich, die ich so sehr am schlechten Gewissen leide,<br />
bin Physikerin ohne jedes böse Gewissen.“<br />
Lise Meitner in einem Brief an eine Freundin, Elisabeth Schiemann, Dezember 1915.<br />
Lise Meitner im Labor des Kaiser-Wilhelm-Instituts<br />
für Chemie, Berlin um 1915<br />
Foto: Deutsches Museum<br />
234<br />
Lise Meitner, Porträtbüste von<br />
Chrysile Schmitthenner im Ehrensaal<br />
des Deutschen Museums<br />
Foto: Deutsches Museum
I. Lise-Meitner-Weg, Neuperlach-Süd<br />
M (1991)<br />
II. Porträtbüste aus Marmor, Ehrensaal des Deutschen Museums<br />
Isartorplatz S1–S8<br />
M (1991)<br />
III. Grabstätte auf dem Friedhof Bramley in Hampshire, Südengland<br />
1968<br />
Zu II. Porträtbüste aus Marmor, Ehrensaal des Deutschen Museums<br />
KM (1991)<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Im Ehrensaal des Deutschen Museums werden mit 20 Büsten, 13 Reliefs und Gemälden<br />
große deutsche Naturforscher und Erfinder gewürdigt. Man schuf „in dankbarem Gedenken<br />
an die hervorragenden Forscher, Ingenieure und Industrielle eine Ruhmeshalle, würdig<br />
der für die Menschheit so unendlichen Großtaten dieser Geistesheroen.“ 439 Die Büste<br />
der Atomphysikerin Lise Meitner wurde im Jahre 1991 im Ehrensaal aufgestellt.<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
Auf einem an der Wand befestigtem Sockel befindet sich eine Marmorbüste mit folgender<br />
Inschrift:<br />
„Lise Meitner, geb. in Wien am 7. November 1878, gest. in Cambridge am 27. Oktober<br />
1968. Das Ausmaß ihrer Verdienste um die Grundlagen der Radioaktivität und um die Radiochemie<br />
wurde erst spät bekannt und gewürdigt. Die Gruppe um Otto Hahn verdankt<br />
ihr wesentliche Anregungen bei der Entdeckung der Kernspaltung und ihrer Bedeutung.“<br />
INFORMATION ÜBER DIE KÜNSTLERIN<br />
Die Marmorbüste hat die Bildhauerin Chrysille Schmitthenner geschaffen.<br />
439 Deutsches Museum (Hrsg.) (1997): Ausstellungsführer: 60<br />
235
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Lise wurde als drittes von acht Kindern der Eltern Philipp und Hedwig Meitner am 17. November<br />
1878 in Wien geboren. Sie ist im amtlichen Geburtenregister der israelitischen<br />
Kultusgemeinde Wiens genannt. Der Vater Philipp war Freidenker und erzog seine Kinder<br />
nicht im jüdischen Glauben; so besuchten sie in ihrer Schulzeit den evangelischen Religionsunterricht.<br />
Lise wuchs in einer glücklichen Familie auf und lebte mit ihren sieben Geschwistern<br />
in enger Verbundenheit. Nach der Volksschule lernte sie drei weitere Jahre auf<br />
der Bürgerschule; die gymnasiale Laufbahn war damals nur den Knaben erlaubt. Vorerst<br />
befolgte sie den Rat der Eltern, ihre akademischen Ambitionen zurückzunehmen und einen<br />
Beruf zu erlernen, der ohne Studium möglich war. Sie entschied sich, zunächst Französischlehrerin<br />
zu werden. Gleichzeitig unterstützte sie ihre ältere Schwester, die Komposition<br />
studierte. Lise strebte einen externen Matura-Abschluss an, um ein Studium aufnehmen<br />
zu können. Hierbei wurde sie von ihren Eltern unterstützt; diese Toleranz kam auch<br />
ihren Schwestern zugute, sie wurden Ärztin, Chemikerin und Komponistin. In einem Privatkurs<br />
bereitete Lise sich innerhalb von zwei Jahren auf das Abitur vor, das sie am 11.<br />
Juli 1901 bestand. Mit dem Studium der Physik begann sie im Sommer 1901. Im Kolloquium<br />
des Physikers Ludwig Boltzmann (Universität Wien) lernte sie die experimentelle<br />
und theoretische Physik kennen. Professor Ludwig Boltzmann kämpfte um die Jahrhundertwende<br />
für die wissenschaftliche Anerkennung der neuen Atomlehre, die nach der Entdeckung<br />
der Radioaktivität das bestehende Wissen über die Atome erweiterte. Lise Meitner<br />
schloss ihr Studium mit der Promotion im Fach Physik ab (1906). Sie bewarb sich anschließend<br />
um eine Assistentenstelle am Lehrstuhl für Physik an der Sorbonne in Paris bei<br />
Madame Curie, von der sie aber eine Absage bekam. „Ich wollte ja ursprünglich zu ihr<br />
gehen; zum Glück hat sie mir abgesagt. Ich habe ja so bestimmt viel mehr gelernt. Ihr<br />
Buch ist in physikalischen Sachen mehr vom chemischen Standpunkt geschrieben.“ 440 Da<br />
erinnerte sie sich an Professor Max Planck (1858–1947), der nach dem Tod von Boltzmann<br />
den Ruf nach Wien nicht angenommen hatte und an der Universität in Berlin geblieben<br />
war. Plancks Entdeckung des Wirkungsquantums (1900) hatte das wissenschaftliche<br />
Verständnis der Natur der atomaren Welt revolutioniert und bildete den Grundstock der<br />
Quantenmechanik. Lise erhielt die Erlaubnis eines Aufbaustudiums der Physik bei Max<br />
Planck, obwohl er zu dieser Zeit Studentinnen bzw. Doktorandinnen nicht gerne bei sich<br />
aufnahm. Sie schrieb rückblickend darüber: „... Wieviel menschliches Verständnis und<br />
wieviel Förderung habe ich von ihm bekommen.“ 441<br />
Mit finanzieller Unterstützung ihres Vaters übersiedelte Lise Meitner nach Berlin. Da sie<br />
experimentell arbeiten wollte, wandte sich die Physikerin an Professor Heinrich Rubens,<br />
440 Kerner, Charlotte (1987): Lise, Atomphysikerin: 23<br />
441 Kerner, Charlotte (1987): Lise, Atomphysikerin: 27<br />
236
dem Leiter des Berliner Instituts für Experimentalphysik. Dieser vermittelte ihr die Zusammenarbeit<br />
mit dem Chemiker Otto Hahn, der sich ein kleines Labor im Keller des chemischen<br />
Institutes eingerichtete hatte. Der Leiter dieses Institutes, Emil Fischer, stimmte<br />
der wissenschaftlichen Zusammenarbeit von Meitner und Hahn unter der Bedingung zu,<br />
„wenn sie im Keller bleibt und niemals das Institut betritt, soll es mir recht sein.“ 442 Ihre<br />
Wirkungsstätte wurde somit in den Institutskeller, der ursprünglich als Holzwerkstatt<br />
diente, verlegt. Sie tolerierte diese Bedingungen nur wegen ihres großen wissenschaftlichen<br />
Ehrgeizes. Vorlesungen in den oberen Etagen hörte sie heimlich mit. Als im Dezember<br />
1908 der englische Physiker Ernest Rutherford zum wissenschaftlichen Diskurs in das<br />
Kellerlabor kam, sagte er überrascht zu Lise Meitner: „I thought, you were a man!“ 443 In<br />
Zusammenarbeit mit Otto Hahn entstanden in circa fünf Jahren über zwanzig wissenschaftliche<br />
Publikationen. Während dieser Zeit wurde sie finanziell von den Eltern unterstützt.<br />
Erst ab 1912 arbeitete sie offiziell als Assistentin bei Professor Max Planck; sie betreute<br />
Studenten und korrigierte Übungsaufgaben. Endlich kam das Angebot einer Dozenten-<br />
und Professorenstelle von der Universität Prag. Das hatte zur Folge, dass auch in Berlin<br />
ihre Arbeit öffentliche Anerkennung erfuhr und das Kaiser-Wilhelm-Institut ihr eine<br />
Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin im neu gegründeten „Institut zur Förderung der<br />
Wissenschaften“ zur Verfügung stellte. Die wissenschaftliche Grundlagenforschung wurde<br />
vom deutschen Staat und von der Industrie gefördert; das bedeutete für Meitner eine<br />
wesentliche Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen.<br />
Unterbrochen wurde diese Zeit wissenschaftlicher Forschung durch den Ersten Weltkrieg.<br />
Otto Hahn erhielt die Einberufung zum Militärdienst. Er diente an der Westfront in der<br />
von Fritz Haber geleiteten Einheit für Gaseinsätze. Meitner meldete sich freiwillig im Jahre<br />
1915 zum Einsatz als Röntgenschwester eines Feldlazaretts an die Ostfront. Als österreichische<br />
Staatsbürgerin kam sie in ein Lazarett nach Lemberg und später in ein Hospital<br />
nach Prag-Karolinenthal. Auf Anraten von Otto Hahn kehrte sie im Sommer 1917 wieder<br />
nach Berlin zurück, um ihre Forschungsarbeit fortzuführen. Die gemeinsame Arbeit ging<br />
weiter, als Hahn während des Fronturlaubs weiterforschen konnte. Sie entdeckten 1917<br />
gemeinsam in einer Pechblende-Probe das chemische Element mit der Ordnungszahl 91,<br />
das sie Protaktinium (Pa) nannten. Als Anerkennung dafür erhielt sie im gleichen Jahr die<br />
Leitung einer physikalisch-radiologischen Abteilung am Kaiser-Wilhelm-Institut Berlin.<br />
Als Privatdozentin (1921) bekam sie nach erfolgter Habilitation den Titel einer außerplanmäßigen<br />
Professorin; ihre männlichen Kollegen hatten inzwischen fast alle den Titel eines<br />
ordentlichen Professors und einen eigenen Lehrstuhl inne. Wegen ihrer Arbeiten über radioaktive<br />
Strahlen wurde sie erstmals mit der „Leibniz-Medaille der Berliner Akademie<br />
442 Kerner, Charlotte (1987): Lise, Atomphysikerin: 29<br />
443 Kerner, Charlotte (1987): Lise, Atomphysikerin: 31<br />
237
der Wissenschaften“ und dem „Ignaz-L.-Lieben-Preis der Wiener Akademie der Wissenschaften“<br />
ausgezeichnet. Für den Nobelpreis für Physik stand sie zusammen mit Otto<br />
Hahn in den Jahren 1924, 1925 und 1928 auf dem Vorschlagspapier. Als Teilnehmerin auf<br />
internationalen Kongressen hoffte sie, dass die Wissenschaft die internationale Zusammenarbeit<br />
am besten fördere. 444 Sie pflegte Freundschaft mit ihren Wissenschaftskollegen<br />
James Franck (1882-1964) und Max von Laue (1879–1960). Ihr Neffe Otto Robert Frisch<br />
(1904–1979), der Sohn ihrer älteren Schwester, kam als Physiker ebenfalls nach Berlin.<br />
Die Jahre 1933–1938<br />
Zu Beginn des Jahres 1933 nahm Lise Meitner noch am internationalen Solvay-Kongress<br />
445 in Brüssel teil. Dieses seit 1911 stattfindende Treffen diente der Zusammenführung<br />
der bedeutenden Physiker und Chemiker Europas. Das im April 1933 in Deutschland<br />
erlassene „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ sah die Entlassung aller<br />
Beamten „nichtarischer Abstammung“ vor. Die Physikerin erhielt deshalb die Entlassungsurkunde.<br />
Auch die Petitionen ihrer Kollegen Otto Hahn, Max Planck und Max von<br />
Laue für den Erhalt des Professorenpostens von Lise Meitner an der Universität Berlin<br />
konnten nicht verhindern, dass ihr am 11. September 1933 die Lehrbefugnis entzogen<br />
wurde. Sie blieb trotzdem in Berlin, wo sie zusammen mit Otto Hahn und Fritz Straßmann<br />
weiter nach den Transuranen forschte. Dabei experimentierten sie mit der von Enrico Fermi<br />
(1901–1954) entwickelten Neutronen-Bestrahlung, um künstliche chemische Elemente<br />
zu erzeugen.<br />
Ihr langes Verweilen in Deutschland nach der Machtergreifung beurteilte sie im Rückblick<br />
wie folgt: „Heute weiß ich, daß es nicht nur dumm, sondern ein großes Unrecht war,<br />
daß ich nicht sofort weggegangen bin ... denn letzten Endes habe ich durch meine Bleiben<br />
doch den Hitlerismus unterstützt.“ 446 Bisher war Lise Meitner als österreichische Staatsbürgerin<br />
nicht von den „Rassegesetzen“ berührt. Das änderte sich jedoch nach dem im<br />
März 1938 erfolgten „Anschluss von Österreich“. Als sie erfuhr, dass sich in der zum Judenhass<br />
anstachelnden Ausstellung „Der ewige Jude“ auch ihr Konterfei befand, wusste<br />
sie, dass sie fliehen musste. Ohne Vorbereitung und in großer Eile emigrierte sie, wie viele<br />
andere bedeutende deutsche Wissenschaftler nach der Machtergreifung. „Ich habe genau<br />
eineinhalb Stunden Zeit gehabt um zu packen, um nach 31 Jahren von Deutschland wegzugehen.“<br />
447 Ihr gelang am 13. Juli 1938 die Flucht über Holland nach Dänemark und<br />
444 Kerner, Charlotte (1987): Lise, Atomphysikerin: 65<br />
445 Genannt nach Ernest Solvay, einem Chemiker und reichen Industriellen, der einen Teil seines Kapitals<br />
für eine Tagung stiftete, auf der international anerkannte Physiker über aktuelle wissenschaftliche Probleme<br />
diskutierten.<br />
446 Kerner, Charlotte (1987): Lise, Atomphysikerin: 76<br />
447 Kerner, Charlotte (1987): Lise, Atomphysikerin: 82<br />
238
weiter nach Schweden, wo ihr Freunde am Nobel-Institut in Stockholm einen Arbeitsplatz<br />
bereithielten. Ihre Aufzeichnungen und die wissenschaftlichen Geräte konnte sie in der<br />
Eile nicht mitnehmen. Per Briefwechsel konnte sie als „geistig Führende“, so ein Kollege,<br />
mit den im Deutschen Reich verbliebenen Forschern Hahn und Straßmann an der Fortführung<br />
der Experimente, die zur Entdeckung der Kernspaltung führten, mitwirken. Zusammen<br />
mit Otto Robert Frisch veröffentlichte sie am 11. Februar 1939 die theoretische Deutung<br />
der Ergebnisse. Damit waren die Erkenntnisse der gemeinsamen Versuche von Meitner,<br />
Hahn und Straßmann gesichert. In Deutschland setzten Hahn und Straßmann inzwischen<br />
die Forschungen an der Uran-Kernspaltung fort und publizierten ihre Ergebnisse.<br />
Otto Hahn bekam für diese Arbeiten 1945 den Nobelpreis für Chemie. Lise Meitners<br />
Name blieb unerwähnt, obwohl sie an entscheidenden Vorversuchen bedeutenden Anteil<br />
hatte. Auch bei seiner Dankesrede in Stockholm erwähnte Otto Hahn Meitners Namen<br />
nicht. Die politischen Verhältnisse und die traditionelle Rolle der Frau haben sie um die<br />
verdiente Ehrung gebracht. Fritz Straßmann beurteilte Lise Meitners Anteil an der Entdeckung<br />
der Kernspaltung so: „Ihrem Impuls ist der Beginn des gemeinsamen Weges mit<br />
Hahn, ab 1934, zuzuschreiben – 4 Jahre danach gehörte sie zu unserem Team – , anschließend<br />
war sie von Schweden aus gedanklich mit uns verbunden ... Aber es ist meine Überzeugung:<br />
Lise Meitner war die geistig Führende in unserem Team gewesen, und darum<br />
gehörte sie zu uns – auch wenn sie bei der ,Entdeckung der Kernspaltung´ nicht gegenwärtig<br />
war.“ 448<br />
Im Exil<br />
Über das erzwungene Exil und die wissenschaftliche wie die menschliche Isolation in<br />
Stockholm berichtete die Physikerin: „Ich habe hier eben einen Arbeitsplatz und keinerlei<br />
Stellung, die mir irgendein Recht auf etwas geben würde ... ich hätte mich viel besser und<br />
viel früher auf mein Fortgehen vorbereiten müssen, hätte von den wichtigsten Apparaten<br />
wenigstens Zeichnungen machen müssen ...“ Lise Meitner fühlte sich heimatlos und einsam,<br />
„... als ob ich in der Wüste lebte.“ 449 Erst ab 1941 hielt sie wieder Vorlesungen über<br />
Kernphysik am physikalischen Institut der Universität Stockholm. Obwohl sie mit ihrer<br />
wissenschaftlichen Tätigkeit in Schweden nicht zufrieden war, lehnte sie den Ruf von James<br />
Franck, in die USA zu kommen, ab.<br />
Nach Beendigung des Krieges beherrschte sie die Sorge, wie wohl Deutschland mit seiner<br />
historischen Schuld fertig werden würde. 450<br />
448 Bührke, Thomas (1997): „Ich habe die Atombombe nicht entworfen.“ In: Bührke, Thomas (1997): Newtons<br />
Apfel: 252<br />
449 Kerner, Charlotte (1987): Lise, Atomphysikerin: 95, 98, 99<br />
450 Kerner, Charlotte (1987): Lise, Atomphysikerin: 100<br />
239
Ablehnung einer Rückkehr nach Deutschland<br />
Lise Meitner hatte kein Nachsehen für das, was ihr die Nazis an Leid zugefügt hatten.<br />
1947 bekam sie von ihrem früheren Mitarbeiter Fritz Straßmann, der als Professor am neu<br />
gegründeten Mainzer Max-Planck-Institut für Chemie arbeitete, ein Angebot zur Übernahme<br />
der Leitung der dortigen Physikalischen Abteilung. Sie schlug dieses Angebot aus,<br />
weil sie nicht mehr nach Deutschland zurückkehren wollte. Dabei spielte vor allem das<br />
Verhalten vieler deutscher Wissenschaftler während des Nationalsozialismus für sie eine<br />
entscheidende Rolle. In einem Brief an ihren ehemaligen wissenschaftlichen Mitarbeiter<br />
Otto Hahn im Juni 1945 kommt dies zum Ausdruck: „Ihr habt auch alle für Nazideutschland<br />
gearbeitet und habt auch nie nur einen passiven Widerstand zu machen versucht. Gewiß,<br />
um euer Gewissen los zu kaufen, habt ihr hier und da einem bedrängten Menschen<br />
geholfen, aber Millionen unschuldiger Menschen hinmorden lassen, und keinerlei Protest<br />
wurde laut.“ 451<br />
Die aus Deutschland kommenden Ehrungen nahm Lise Meitner jedoch trotzdem mit Freude<br />
an. 1949 bekam sie die „Max-Planck-Medaille“ der Deutschen Physikalischen Gesellschaft<br />
überreicht und wurde korrespondierendes Mitglied der Deutschen Akademie der<br />
Wissenschaften. Bundespräsident Theodor Heuss überreichte ihr den Verdienstorden der<br />
Bundesrepublik Deutschland „Pour le mérite“ für Wissenschaften. 1959 wurde in Berlin<br />
das „Hahn-Meitner-Institut für Kernforschung“ gegründet. Lise Meitner verbrachte ihre<br />
letzten Lebensjahre in der Nähe ihres Neffen Otto Robert Frisch in Cambridge (Großbritannien).<br />
Dort starb sie im Alter von 89 Jahren am 27. Oktober 1968. Ihr Grab befindet<br />
sich auf dem Friedhof von Bramley in Hampshire, Südengland.<br />
Meitner vertrat den Wissenschaftlertypus, der aus Freude und Interesse an fundamentalen<br />
Naturgesetzen eine nicht zweckgebundene Grundlagenforschung betrieb.<br />
„Wenn trotzdem die technischen Fortschritte die Menschen in fast unlösbare Schwierigkeiten<br />
verwickelt haben, so liegt das nicht an dem ,bösen Geist´ der Wissenschaft, sondern daran,<br />
daß wir Menschen weit davon entfernt sind, das schon von den Griechen angestrebte<br />
,höhere Menschentum´ erreicht zu haben.“ Aus einem Vortrag von Lise Meitner. 452<br />
Ehrungen<br />
1912 Erste Universitätsassistentin Preußens.<br />
1918 Hahn-Meitner-Abteilung am Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin.<br />
451 Bührke, Thomas (1997): „Ich habe die Atombombe nicht entworfen“. In: Bührke, Thomas (1997): Newtons<br />
Apfel: 254<br />
452 Kerner, Charlotte (1987): Lise, Atomphysikerin 122<br />
240
1922 Ernennung zur außerplanmäßigen Professorin.<br />
1924 „Leibniz-Medaille“ der Akademie der Wissenschaften, Berlin „Ignaz-L.-Lieben-<br />
Preis“ der Akademie der Wissenschaften, Wien.<br />
1945 Frau des Jahres. Eine Auszeichnung durch die amerikanische Presse.<br />
1949 „Max-Planck-Medaille“ der Deutschen Physikalischen Gesellschaft.<br />
1959 Verdienstorden „Pour le mérite“ für Wissenschaften der Bundesrepublik Deutschland.<br />
1959 „Hahn-Meitner-Institut“ für Kernforschung, Berlin.<br />
29. August 1982 „Meitnerium“ (vorläufiger Name: Unnilennium): von der Darmstädter<br />
Gesellschaft für Schwerionenforschung künstlich erzeugtes chemisches Element der Platingruppe<br />
mit der Kernladungszahl 109, benannt nach Lise Meitner.<br />
Gedenktafel in Berlin<br />
Neben dem Eingang der Humboldt-Universität in Berlin befindet sich eine Gedenktafel<br />
mit folgender Inschrift: „In der ehemaligen Holzwerkstatt im Erdgeschoß dieses Gebäudes<br />
haben die Radiumforscher Otto Hahn und Lise Meitner von 1906–1912 durch bedeutende<br />
Entdeckungen der Naturwissenschaft gedient.“<br />
Literatur<br />
Bürke, Thomas (1997): Newtons Apfel. Sternstunden der Physik von Galilei bis Lise Meitner. Beck`sche Reihe<br />
1202, München, darin: „Ich habe die Atombombe nicht entworfen.“: 231–255<br />
Ernst, S. (1992): Lise Meitner an Otto Hahn. Briefe aus den Jahren 1912 bis 1924. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft,<br />
Stuttgart<br />
Fölsing, Ulla (1991): Nobel-Frauen – Naturwissenschaftlerinnen im Porträt. C. H. Beck Verlag, Beck`sche<br />
Reihe 426, München<br />
Hahn, Otto (1989): Vom Radiothor zur Kernspaltung. Eine wissenschaftliche Selbstbiographie. Vieweg-Verlag,<br />
Braunschweig<br />
Kaufmann, Doris (Hrsg.) (2000): Die Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus.<br />
Bestandsaufnahme u. Perspektiven der Forschung, 2 Bände. Wallstein Verlag, Göttingen<br />
Kerner, Charlotte (1987): Lise, Atomphysikerin. Die Lebensgeschichte der Lise Meitner. Belz Verlag, Weinheim,<br />
Basel<br />
Krafft, F. (1981): Im Schatten der Sensation. Leben und Wirken von Fritz Straßmann. VCH Verlagsgesellschaft,<br />
Weinheim<br />
Loerzer, Sven (1989): Lise Meitner. In: Die Großen unserer Zeit. Loewe Verlag, Bindlach: 249–266<br />
Schad, Martha (1998): Lise Meitner. In: Schad, Martha (1998): Frauen, die die Welt bewegten. Pattloch Verlag,<br />
Augsburg: 160–161<br />
Rife, P. (1990): Lise Meitner. Ein Leben für Wissenschaft. Claassen-Verlag, Düsseldorf<br />
Sime, Ruth Lewine (1996): Lise Meitner. A Life in Physics. University of California Press, Berkeley<br />
Sime, Ruth Lewine (2001): Lise Meitner. Ein Leben für die Physik. Biographie. Insel Verlag, Frankfurt a. M.<br />
Stolz, Werner (1983): Otto Hahn, Lise Meitner. Leipzig<br />
241
Mertz von Quirnheim, Albrecht Ritter<br />
*25.3.1905 München †21.7.1944 Berlin<br />
„Das Attentat muß erfolgen, coute que coute. Sollte es nicht gelingen, so muß trotzdem<br />
in Berlin gehandelt werden. Denn es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an,<br />
sondern darauf, daß die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und der Geschichte<br />
den entscheidenden Wurf gewagt hat. Alles andere ist daneben gleichgültig.“<br />
General Henning von Tresckow 453<br />
Gedenktafel an der Kirche St. Georg,<br />
Bogenhausen<br />
Foto: Andreas Olsen<br />
Albrecht Ritter Mertz von Quirnheim<br />
Foto: Süddeutscher Verlag<br />
453 Gostomski, Viktor von / Loch, Walter (1969): Der Tod von Plötzensee: 200<br />
242
Gedenktafel, St. Georg, Bogenhausen<br />
St. Georg, Bogenhausen<br />
Max-Weber-Platz U4/U5 und Tram18<br />
M (1988)<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Die Witwe von Oberst Albrecht Mertz von Quirnheim, Hilde Mertz von Quirnheim, rief<br />
die Landeshauptstadt München in einem Antrag vom 28. April 1982 dazu auf, für ihren<br />
am 21. Juli 1944 ermordeten Mann ein sichtbares Zeichen zu setzen. Dieser war zusammen<br />
mit General Friedrich Olbricht, Oberst Claus Graf Schenk von Stauffenberg (siehe<br />
Band 3: Stauffenberg) und Oberleutnant Werner von Haeften im Hof des Berliner Bendler<br />
Blocks getötet worden. Im Juni 1988 wurde die Gedenktafel an der nordöstlichen Außenwand<br />
der Münchner Kirche von St. Georg angebracht.<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
An der Nordostseite des Chores der Kirche befindet sich eine Gedenktafel aus grauem<br />
Stein (0,69 m × 0,52 m) mit eingemeißelter Inschrift. Der Text lautet:<br />
„Zum Gedenken an Oberst i. G. Albrecht Ritter Mertz von Quirnheim. Er wurde am 25.<br />
März 1905 in München geboren und gab sein Leben für Freiheit und Recht in Berlin am<br />
20. Juli 1944.“<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Albrecht Mertz von Quirnheim stammte aus einer bayerischen Offiziersfamilie und wählte<br />
selber den Beruf zum Soldaten. Seine Ausbildung zum Berufsoffizier absolvierte er<br />
1923 an der Kriegsakademie in Berlin; dort befreundete er sich mit Claus Schenk Graf von<br />
Stauffenberg (siehe Band 3: Stauffenberg). Nach Fronteinsätzen in Polen und Frankreich<br />
traf er im Winter 1941 an der Ostfront in Winniza wieder auf seinen Freund Stauffenberg.<br />
Mertz von Quirnheim erlebte an der Front die Niederlage von Stalingrad im Winter 1942/<br />
43. In München heiratete er 1943 Hilde Baier. Als Nachfolger Stauffenbergs trat er im<br />
Juni 1944 als Chef des Stabes bei General Olbricht ein. Er war in alle Vorbereitungen und<br />
Pläne des als Operation „Walküre“ getarnten Umsturzversuchs eingeweiht und hat in vielen<br />
Phasen entscheidend mitgewirkt.<br />
Zur Vorgeschichte des 20. Juli 1944<br />
Eine der ersten militärischen Oppositionsgruppen entstand unter dem Generalstabschef<br />
des Heeres Ludwig Beck. Er versuchte seit Juli 1935 mit Aktennotizen, Denkschriften und<br />
243
Vorträgen die Außenpolitik Hitlers zu beeinflussen, weil er das in den Krieg mündende<br />
Großmachtstreben der Nationalsozialisten kompromisslos ablehnte. Beck stellte Kontakt<br />
mit dem Leipziger Oberbürgermeister Carl Goerdeler her, um eine Ausweitung der Opposition<br />
zu erreichen, die nun fast alle politischen Lager, Geheimdienste und die Abteilung<br />
Abwehr im Oberkommando der Wehrmacht umfasste. Um den drohenden Krieg in Europa<br />
zu verhindern, forderte Beck die Generalität vergeblich zum geschlossenen Rücktritt<br />
auf. Konkrete Vorbereitungen zum Militärputsch liefen zusammen mit dem Generalstabschef<br />
Franz Halder und General von Witzleben (siehe Band 3: Witzleben). Dieser Plan sah<br />
vor, mit Hilfe militärischer Unterstützung unblutige Aktionen auszuführen und anschließend<br />
die Bevölkerung durch Proklamation über den „verbrecherischen Charakter und den<br />
Katastrophenkurs des Hitler-Regimes“ 454 aufzuklären. Diese Pläne wurden vorerst wegen<br />
des Münchner Abkommens von 30. September 1938 verhindert, da Hitler Forderungen<br />
bezüglich des Abtretungsmodus durchsetzen konnte.<br />
In den folgenden drei Jahren geriet die militärische Widerstandsbewegung wegen der Siege<br />
der Wehrmacht in eine Krise; die Hoffnung auf Kriegsvermeidung war zerstört; ebenso<br />
die Aussicht, in der Bevölkerung Rückhalt zu gewinnen. Die nach Kriegsbeginn immer<br />
öfter verübten Untaten und Gräuel des NS-Regimes erforderten grundlegendes Umdenken<br />
in den Zielsetzungen dieser Widerstandsbewegung. Die Ziele der Gruppen um Stauffenberg<br />
und Oster waren demnach: die Beseitigung des Hitler-Regimes, Beendigung des<br />
Krieges, Wiederherstellung von Recht und Freiheit. 455 In den folgenden Jahren kam es innerhalb<br />
der Opposition zu Differenzen, da man unterschiedlicher Auffassung war, ob Gewalt<br />
einschließlich Tyrannenmord zulässig seien. Stauffenberg, dessen Einheit beim<br />
Überfall auf Polen zum Einsatz kam und der die Folgen der deutschen Politik im Osten<br />
realistisch einschätzen konnte, entschloss sich zur aktiven Gegnerschaft und rückte bald<br />
in den Mittelpunkt der militärischen Konspiration. Er pflegte die Verbindungen zu zivilen<br />
und politischen Widerstandsgruppen und koordinierte die Attentatspläne im militärischen<br />
Bereich. Mit der Überzeugung, dass durch die Beseitigung Hitlers der Krieg beendet und<br />
weiteres millionenfaches Sterben verhindert werden könnte, hatte sich Stauffenberg zum<br />
Handeln bereit erklärt. Dabei waren die Motive der am Umsturz Beteiligten vielfältig; neben<br />
moralisch-ethischen Gründen spielte der christliche Glaube eine wichtige Rolle. Bei<br />
den direkten Vorbereitungen zum Staatsstreich „stützte er sich auf Freunde aus dem zivilen<br />
Widerstand und Reste der Generalsopposition, vor allem aber auch auf eine Anzahl<br />
ihm persönlich verbundener jüngerer Offiziere (u.a. Mertz von Quirnheim), die nicht<br />
durch die Bedenken altgedienter Militärs oder Beamter behindert wurden.“ 456 Als Stauf-<br />
454 Bracher, Karl Dietrich (1997): Auf dem Wege zum 20. Juli 1944: 148<br />
455 Bracher, Karl Dietrich (1997): Auf dem Wege zum 20. Juli 1944: 152<br />
456 Bracher, Karl Dietrich (1997): Auf dem Wege zum 20. Juli 1944: 154<br />
244
fenberg mit der Beförderung und Versetzung seit Juni 1944 bei Generaloberst Fromm Zugang<br />
zu Hitlers Lagebesprechungen auf dem Obersalzberg beziehungsweise zum Führerhauptquartier<br />
in Rastenburg erhielt, entschloss er sich, das Attentat selbst auszuführen.<br />
Die Zeit vom 6. bis 20. Juli 1944<br />
Die erste Gelegenheit bot sich am 6. Juli während der Vorführung neuer militärischer Ausrüstungsgegenstände<br />
auf dem Obersalzberger „Berghof“. Stauffenberg hatte den Sprengstoff<br />
mitgeführt; den Anschlag sollte Generalmayor Stieff ausführen, der „dies aber nicht<br />
vermochte.“ 457 Die nächste Gelegenheit bot sich am 11. und 15. Juli auf Schloss Kleßheim,<br />
wo nach Ansicht der Mitverschwörer Himmler und Göring ebenfalls getötet werden<br />
sollten. Zu der Tat kam es nicht, da sich Himmler und Göring vertreten ließen. Dabei kam<br />
es am 15. Juli zu einer kritischen Situation, da bereits Oberst Ritter Mertz von Quirnheim<br />
im Berliner und Potsdamer Raum die Marschbereitschaft für die Heeresschulen angeordnet<br />
hatte. Diese unter dem Decknamen Operation „Walküre“ laufende Mobilisierung zum<br />
Putsch konnte noch als gewöhnliche „Übung“ kaschiert werden. „Danach waren Stauffenberg<br />
und Mertz von Quirnheim allerdings entschlossen, bei der nächsten Gelegenheit<br />
auf das Fehlen von Göring und Himmler keine Rücksicht mehr zu nehmen und ,auch ohne<br />
Zustimmung der Mitverschworenen zu handeln.“ 458<br />
Die Gelegenheit dazu kam am 20. Juli, als Stauffenberg in Hitlers Hauptquartier „Wolfsschanze“<br />
nahe Rastenburg den Stab über die Aufstellung von „Sperrdivisionen“ unterrichten<br />
sollte. Zusammen mit Oberleutnant Werner von Haeften traf er in einem Nebenraum<br />
die letzten Vorbereitungen für den Sprengstoffanschlag und setzte den Zeitzünder in<br />
Gang. Hier wurden sie jedoch gestört und konnten deshalb nur die Hälfte der Ladung verwenden:<br />
„Den Sprengstoff versteckte Stauffenberg in seiner Aktentasche und stellte sie<br />
beim Betreten der Besprechungsbaracke am Kartentisch in der Nähe Hitlers ab, der die<br />
Lagebesprechung seit 12.30 Uhr leitete. Danach verließ Stauffenberg wieder den Raum<br />
unter dem Vorwand, nochmals telefonieren zu müssen. Von General Fellgiebels Arbeitsraum<br />
beobachtete er die Zündung des Sprengstoffs ... Die Explosion war jedoch zu<br />
schwach, um Hitler zu töten. Der Diktator wurde nur leicht verletzt.“ 459 Stauffenberg und<br />
Haeften waren jedoch vom Erfolg ihrer Aktion überzeugt und traten die Rückreise nach<br />
Berlin an. Dort war nach ihrer Ankunft der gesamte „Walküre“-Mobilisierungsbefehl von<br />
General Olbricht und Oberst Mertz von Quirnheim ausgegeben worden und hatte auch die<br />
Kommandos in Paris, Prag, Stettin und Wien erreicht. Die Weisungen lauteten: „Über-<br />
457 Ueberschär, Gerd R. (1994): Der militärische Umsturzplan: Die Operation „Walküre“: 361<br />
458 Hoffmann, Peter (1992): Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Brüder: 419. Auch in: Ueberschär,<br />
Gerd R. (1994): Der militärische Umsturzplan: Die Operation „Walküre“: 361<br />
459 Ueberschär, Gerd R. (1994): Der militärische Umsturzplan: Die Operation „Walküre“: 362<br />
245
nahme sämtlicher Nachrichtenanlagen sowie Festsetzung sämtlicher NS-Funktionäre bis<br />
zum Kreisleiter sowie Minister, Oberpräsidenten, Polizeipräsidenten und Gestapoleiter.<br />
Ferner: sofortige Besetzung der Konzentrationslager, Verhaftung der Lagerleiter und Internierung<br />
der Wachmannschaften, Unterstellung der Waffen-SS (notfalls mit Gewalt),<br />
Besetzung des Gestapo- und SD-Dienststellen und Zusammenarbeit mit den vorgesehenen<br />
„politischen Beauftragten“ der künftigen Regierung.“ 460<br />
Inzwischen übernahm Generalfeldmarschall von Witzleben als zukünftiger Oberbefehlshaber<br />
der Wehrmacht das Kommando in der Bendlerstraße.<br />
Die in Gang gesetzte Operation „Walküre“ scheiterte auch daran, weil sie in Berlin<br />
„schleppend ablief und nach 20 Uhr noch nicht einmal die Ersatzziele, besonders die Besetzung<br />
des Rundfunks und des Propagandaministeriums sowie die Verhaftung wichtiger<br />
SS-Führer erreicht waren.“ 461 Zum weiteren Verhängnis wurde die personelle Entscheidung<br />
der Putschisten, den nicht in die Attentatspläne eingeweihten Major Remer mit der<br />
Aufgabe zu betrauen, das Regierungsviertel und das Propagandaministerium zu besetzen.<br />
Remer war nach einem Ferngespräch mit dem Führerhauptquartier von Hitler persönlich<br />
beauftragt worden, den Putsch niederzuschlagen. Mit einer schwer bewaffneten Mannschaft<br />
ließ er das Zimmer General Olbrichts stürmen und die Verschwörer überwältigen.<br />
Der militärische Kopf der Verschwörung, Generaloberst Ludwig Beck starb nach einem<br />
Suizidversuch unter den Schüssen eines Feldwebels. Generaloberst Fromm verkündet das<br />
Todesurteil über General Olbricht, Oberst von Stauffenberg, Oberst Mertz von Quirnheim<br />
und Oberleutnant von Haeften. Im Hof des Bendlerblocks wurden sie von einem Erschießungskommando<br />
exekutiert. Stauffenberg starb mit dem Ruf: „Es lebe das heilige<br />
Deutschland!“ 462 „Noch in derselben Nacht sind die Leichen der fünf Erschossenen verscharrt<br />
worden; Himmlers Sonderkommission hat sie später ausgegraben und verbrannt,<br />
ihre Asche in alle Winde verstreut.“ 463<br />
Beginn der Verfolgung<br />
Am 21. Juli begann die großangelegte Verfolgung der deutschen militärischen Widerstandsbewegung.<br />
Sie richtete sich gegen alle Verdächtigen, die in mittelbarem und unmittelbarem<br />
Zusammenhang mit der Aktion standen. Mit Hilfe des Kontrollnetzes der „Son-<br />
460 Bracher, Karl Dietrich (1997): Auf dem Wege zum 20. Juli. In: Löwenthal, Richard / Mühlen, Patrik von<br />
zur (Hrsg.): Widerstand und Verweigerung in Deutschland: 163<br />
461 Bracher, Karl Dietrich (1997): Auf dem Wege zum 20. Juli. In: Löwenthal, Richard / Mühlen, Patrik von<br />
zur (Hrsg.): Widerstand und Verweigerung in Deutschland: 163<br />
462 Walle, Heinrich (1994): Der 20. Juli 1944. In: Steinbach, Peter / Tuchel, Johannes (Hrsg.): Widerstand<br />
gegen den Nationalsozialismus: 376<br />
463 Bracher, Karl Dietrich (1997): Auf dem Wege zum 20. Juli. In: Löwenthal, Richard / Mühlen, Patrik von<br />
zur (Hrsg.): Widerstand und Verweigerung in Deutschland: 165<br />
246
derkommission 20. Juli“ 464 begann die Jagd auf alle Verdächtigen. Unterstützung fand das<br />
NS-Regime auch in der Bevölkerung, die in einer Atmosphäre des Misstrauens und der<br />
Angst zahlreiche Mitverschwörer verriet. Die Mitglieder oppositioneller Kreise wurden<br />
mit menschenverachtenden Methoden wie pausenlose Verhöre, Erpressung und Folter<br />
dazu gebracht, ihre Mitverschworenen zu nennen. Gefangene begingen unter diesem<br />
Druck Selbstmord. Betroffen waren Personen aller sozialer Schichten und verschiedenster<br />
weltanschaulicher und politischer Richtungen. Angehörige der Gefangenen und Verfolgten<br />
kamen in Sippenhaft. 465 Die Zahl der im Zusammenhang mit dem 20. Juli Verhafteten,<br />
Verurteilten und Verschleppten beziffert der Historiker Peter Hoffmann mit 600 bis 700<br />
Personen. In Berlin-Plötzensee sind in der Folge dieses Putschversuchs bis Kriegsende 86<br />
Menschen ermordet worden. 466<br />
Ein Erfolg des Umsturzplans hätte den Krieg vorzeitig beenden, weitere Zerstörungen und<br />
fortgesetztes Leid in Deutschland und Europa verhindern können. Das Leben vieler Menschen<br />
hätte gerettet werden können; vor allem wäre den Deutschen der erste Schritt gelungen,<br />
sich selbst vom Nationalsozialismus zu befreien. Die Schriftstellerin Ricarda Huch<br />
(siehe Band 1: Huch) plante kurz nach dem Scheitern des Putschversuchs, für die „Märtyrer<br />
der Freiheit“ ein Gedenkbuch zu verfassen. 467 In ihrem unvollendeten Werk hat sie etlichen<br />
Persönlichkeiten des 20. Juli wie Elisabeth von Thadden, Ernst von Harnack, Hans<br />
Bernd Nikolaus von Haeften, Nikolaus Christoph von Halem, Klaus Bonhoeffer, Julius<br />
Leber, Theodor Haubach und Jean Paul Oster ein literarisches Denkmal gesetzt. Die<br />
Hauptbeteiligten des Umsturzversuchs und die meisten der Mitwisser haben ihren Einsatz<br />
für Freiheit und Recht mit dem Leben bezahlt. „Die Toten des Widerstandes sind Märtyrer,<br />
Zeugen dieses Gedankens, auf dem abendländische Politik seit den Zeiten der griechischen<br />
Demokratie und des Aufstands gegen die Tyrannenmacht beruht. Sie führen<br />
Deutschland zurück in diese große internationale Tradition, aus der einst ein antiwestlicher<br />
deutscher Staatskult ausgebrochen ist.“ 468<br />
Unter den Münchner Bürgern, die im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944 ermordet<br />
wurden, befanden sich:<br />
464 Diese bestand aus 400 Mitarbeitern, dessen Chef der Reichskriminaldirektor und SS-Gruppenführer<br />
Heinrich Müller war. In: Hoffmann, Peter (1979): Widerstand, Staatsstreich, Attentat: 604ff<br />
465 In: Hett, Ulrike / Tuchel, Johannes (1994): Die Reaktion des NS-Staates auf den Umsturzversuch vom<br />
20. Juli 1944: 384<br />
466 Oleschinski, Brigitte (1994): Gedenkstätte Plötzensee: 34<br />
467 Huch, Ricarda: Brief an Maria Baum vom 4.3.1946. Briefe an die Freunde: 315, auch in: Schwiedrzik,<br />
Wolfgang Matthias: In einem Gedenkbuch sammeln: 27<br />
468 Bracher, Karl Dietrich (1997): Auf dem Wege zum 20. Juli 1944. In: Löwenthal, Richard / Mühlen,<br />
Patrik von zur (Hrsg.): Widerstand und Verweigerung in Deutschland: 172<br />
247
Friedrich Karl Klausing<br />
*24.5.1920 München †8.8.1944 Berlin-Plötzensee<br />
Friedrich Karl Klausing gehörte evangelischen Pfadfindern in München an, die 1933 der<br />
HJ einverleibt wurden. Nach dem Abitur absolvierte er den Reichsarbeitsdienst und ging<br />
danach als Berufssoldat zur Wehrmacht. Im Krieg diente er als Offizier im Polenfeldzug<br />
und an der Westfront. Nach seiner Beförderung zum Hauptmann kam Friedrich Karl Klausing<br />
im Oktober 1943 als Adjutant in den Generalstab zu Oberst Claus Graf Schenk von<br />
Stauffenberg. Diesen unterstützte er bei den fehlgeschlagenen Attentatsversuchen auf Hitler<br />
am 11. und 13. Juli 1944. Beim Staatsstreich war er als Übermittler der „Walküre-Befehle“<br />
im Berliner Bendler Block eingesetzt. Hier hielt sich Klausing am 20. Juli 1944 auf,<br />
konnte aber noch rechtzeitig fliehen. In einem Versteck rang der Hauptmann mit seinem<br />
Gewissen um die rechte Entscheidung. Seine Freunde konnten ihn nicht von der Sinnlosigkeit<br />
des Opfers überzeugen. 469 Am nächsten Tag stellte sich Klausing freiwillig der Gestapo<br />
und wurde im ersten Prozess gegen die Verschwörer vom 20. Juli am 8. August 1944<br />
vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und am gleichen Tag in Berlin-Plötzensee hingerichtet.<br />
ERINNERUNGSORTE<br />
Klausingweg in München, Schwabing-West<br />
M (1960)<br />
Klausingring in Berlin.<br />
Albrecht Haushofer<br />
*7.1.1903 München †23.4.1945 Berlin<br />
Der Sohn des einflussreichen Geopolitikers Karl Haushofer hatte Verbindungen zu den<br />
konservativen Widerstandskreisen und beteiligte sich an den Plänen für eine Reichs- und<br />
Verwaltungsreform. Nach dem 20. Juli verbarg sich Albrecht Haushofer in Bayern, wo er<br />
im Dezember 1944 aufgespürt wurde. Er kam in das Gefängnis Berlin-Moabit und wurde<br />
am 23. April 1945 auf dem Gelände des Lehrter Bahnhofes erschossen. Ein Freund fand<br />
beim Toten die im Gefängnis verfassten Moabiter Sonette, die ein eindrucksvolles Zeugnis<br />
des Widerstands gegen den Nationalsozialismus darstellen.<br />
Pater Alfred Delp SJ<br />
*15.9.1907 Mannheim †2.2.1945 Berlin-Plötzensee (siehe Band 1: Delp)<br />
469 Gostomski, Viktor von / Loch, Walter (1969): Der Tod von Plötzensee: 188<br />
248
Freiherr Ludwig von Leonrod<br />
*17.9.1906 München †25.8.1944 Berlin-Plötzensee (siehe Band 2: Leonrod)<br />
Pater Josef Wehrle<br />
*26.7.1899 †14.9.1944 Berlin-Plötzensee (siehe Band 3: Wehrle)<br />
Weitere Gedenkstätten<br />
1979 Gedenkstein auf dem Alten Sankt Matthäus-Kirchhof an der Großgörschenstraße,<br />
Berlin. 470<br />
1989 Gedenktafel und Ehrenhof, Stauffenbergstraße 13–14, Berlin, am authentischen Ort.<br />
1989 „Gedenkstätte Deutscher Widerstand Berlin“, Stauffenbergstraße 13–14, Berlin.<br />
Ausstellung<br />
24. Februar – 20. März 1993: Aufstand des Gewissens. Militärischer Widerstand gegen<br />
Hitler und das NS-Regime 1933–1945. Wanderausstellung des Militärgeschichtlichen<br />
Forschungsamts Potsdam. Gezeigt im Kulturzentrum der Landeshauptstadt München, am<br />
Gasteig.<br />
Literatur<br />
Aufstand des Gewissens (2000): Militärischer Widerstand gegen Hitler und das NS-Regime 1933–1945. Eine<br />
Publikation des Militärgeschichtlichen Forschungsamts Potsdam. Potsdam<br />
Bethge, Eberhard u. Renate (Hrsg.) (1984): Letzte Briefe im Widerstand. Aus dem Kreis der Familie Bonhoeffer.<br />
Chr. Kaiser Verlag, München<br />
Bracher, Karl Dietrich (1997): Auf dem Wege zum 20. Juli 1944. In: Löwenthal, Richard / Mühlen, Patrik von<br />
zur (Hrsg.): Widerstand und Verweigerung in Deutschland: 143–176<br />
Cartarius, Ulrich (1984): Opposition gegen Hitler. Deutscher Widerstand 1933–1945. Siedler Verlag, Berlin<br />
Endlich, Stefanie / Goldhagen, Nora / Herlemann, Beatrix / Kahl, Monika / Scheer, Regina (2001): Gedenkstätten<br />
für die Opfer des Nationalsozialismus. Eine Dokumentation. Band II. Hrsg. v. d. Bundeszentrale<br />
für politische Bildung, Bonn. Edition Hentrich, Berlin<br />
Gedenkstättenpädagogik (1997): Handbuch für Unterricht und Exkursion. Hrsg. v. Museums-Pädagogischen<br />
Zentrum München und der Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung Dillingen. Löwen<br />
Druck, München: 51–61<br />
Gostomski, Viktor von / Loch, Walter (1969): Der Tod von Plötzensee. Erinnerungen – Ereignisse – Dokumente<br />
1942–1945. Kyrios-Verlag, Meitingen-Freising<br />
470 Hier waren die Opfer zunächst bestattet. Am folgenden Tag wurden sie exhumiert, verbrannt und ihre<br />
Asche auf den Rieselfeldern bei Berlin verstreut. In: Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus,<br />
Band II: 157<br />
249
Hett, Ulrike / Tuchel, Johannes (1994): Die Reaktionen des NS-Staates auf den Umsturzversuch vom 20. Juli<br />
1944. In: Steinbach, Peter / Tuchel, Johannes (Hrsg.): Widerstand gegen den Nationalsozialismus: 377–<br />
389<br />
Hoffmann, Peter (1979): Widerstand – Staatsstreich – Attentat. Der Kampf der Opposition gegen Hitler.<br />
Frankfurt a. M.<br />
Hoffmann, Peter (1984): Widerstand gegen Hitler und das Attentat vom 20. Juli 1944. Probleme des Umsturzes.<br />
Piper Verlag, München, Zürich<br />
Hoffmann, Peter (1992): Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Brüder. Stuttgart<br />
Hoffmann, Peter (1994): Widerstand gegen Hitler und das Attentat vom 20. Juli 1944. Universitätsverlag,<br />
Konstanz<br />
Holmstein, Georg (1983): 20. Juli 1944. Personen und Aktionen. Beiträge zum Widerstand. Heft 5. Hrsg. v.<br />
d. Gedenkstätte Deutscher Widerstand Berlin<br />
Huch, Ricarda (1998): In einem Gedenkbuch sammeln. Bilder deutscher Widerstandskämpfer. Hrsg. v. Wolfgang<br />
Matthias Schwiedrzik. Leipziger Universitätsverlag, Leipzig<br />
Kirst, Hans Hellmut (1998): Aufstand der Soldaten. Das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944. Kaiser Verlag,<br />
Klagenfurt<br />
Steinbach, Peter / Tuchel, Johannes (Hrsg.) (1994): Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Sonderauflage<br />
der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit. Bonn<br />
Oleschinski, Brigitte (1994): Gedenkstätte Plötzensee. Hrsg. v. d. Gedenkstätte Deutscher Widerstand Berlin<br />
Ueberschär, Gerd R. (1994): Der militärische Umsturzplan: Die Operation „Walküre“. In: Steinbach, Peter /<br />
Tuchel, Johannes (Hrsg.): Widerstand gegen den Nationalsozialismus: 353–363<br />
Walle, Heinrich (1994): Der 20. Juli 1944. Eine Chronik der Ereignisse von Attentat und Umsturzversuch. In:<br />
Steinbach, Peter / Tuchel, Johannes (Hrsg.): Widerstand gegen den Nationalsozialismus: 364–389<br />
Weger-Korfes, S. (1986): Realpolitische Haltungen bei Offizieren der Familien Mertz von Quirnheim, Korfes<br />
und Dieckmann. In: Zeitschrift für Militärgeschichte. Band 25 (1986): 226ff<br />
Zeller, Eberhard (1963): Geist der Freiheit. Der zwanzigste Juli. München<br />
Zeller, Eberhard (1994): Oberst Claus Graf Stauffenberg. Ein Lebensbild. Schöningh Verlag, Paderborn<br />
250
Moltke, Helmuth James Graf von<br />
*11.3.1907 Kreisau (heute Krzyzowa, Polen) †23.1.1945 Berlin-Plötzensee<br />
„Seitdem der Nationalsozialismus zur Macht gekommen ist, habe ich mich bemüht, seine<br />
Folgen für seine Opfer zu mildern und einer Wandlung den Weg zu bereiten. Dazu<br />
hat mich mein Gewissen getrieben –<br />
und schließlich ist das eine Aufgabe für einen Mann.“<br />
Helmuth James Graf von Moltke in einem Abschiedsbrief<br />
an seine Söhne im Oktober 1944. 471<br />
Helmuth James Graf von Moltke<br />
vor dem Volksgerichtshof<br />
Foto: Süddeutscher Verlag<br />
Gedenktafel am Berchmanskolleg<br />
Foto: H. Engelbrecht<br />
471 Zitiert in: Winterhager, Wilhelm Ernst (1988): Der Kreisauer Kreis: 16<br />
251
I. Moltkestraße, Schwabing<br />
M (1897)<br />
II. Gedenktafel Berchmanskolleg, Kaulbachstraße 31a<br />
Giselastraße U3/U6<br />
Katholische Kirche (1997)<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Die Gedenktafel am Berchmanskolleg erinnert neben den Jesuiten, die Widerstand gegen<br />
das nationalsozialistische Regime geleistet haben, auch an Helmuth James Graf von<br />
Moltke.<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
Die mit integrierten Texten und Reliefmedaillons gestaltete Gedenktafel (0,5 m × 1,9 m)<br />
am Hauseingang trägt folgenden Text: „Dieses Haus war unter der Gewaltherrschaft des<br />
Nationalsozialismus ein Zentrum des katholischen Widerstands. Hier trafen sich mit dem<br />
Jesuitenprovinzial Augustinus Rösch die Patres Rupert Mayer, Lothar König, Alfred<br />
Delp. Hier fanden 1942–1943 mit Helmut J. Graf Moltke geheime Treffen des Kreisauer<br />
Kreises statt. Alle riskierten ihr Leben, viele verloren es.“<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Helmuth James Graf von Moltke wurde auf dem Gut Kreisau als erstes Kind von Dorothy<br />
Rose (geb. Innes) und Helmuth von Moltke am 11. März 1907 geboren. Seine Geschwister<br />
waren: Wilhelm-Viggo (*1909), Joachim-Wolfgang (*1911), Carl-Bernhard (*1913) und<br />
Asta (*1915). Die Mutter Dorothy Rose war die Tochter eines aus Schottland stammenden<br />
obersten Richters der Südafrikanischen Union. Die Kinder verbrachten daher abwechselnd<br />
ihre Kindheit in Kreisau und Südafrika. James Erziehung war geprägt durch die starke<br />
Persönlichkeit und die liberalen, weltoffenen Anschauungen der Mutter sowie vom Lebensstil<br />
auf dem Kreisauer Landgut. Nach dem Schulabschluss in Potsdam entschied sich<br />
Moltke für das Studium der Rechts- und Staatswissenschaften. Sein politisches Interesse<br />
entwickelte sich während der Studienjahre in Breslau, Berlin und Wien, wo er in einem<br />
der Sozialarbeit zugewandten Kreis mit Fragen der Sozialpolitik in Berührung kam. Im<br />
Jahre 1929 lernte er die Kölner Bankdirektorstochter und angehende Jurastudentin Freya<br />
Deichmann (*1911), kennen, die er am 31. Oktober 1931 heiratete. Ihre beiden Söhne Helmuth<br />
Caspar und Konrad kamen 1937 und 1941 zur Welt.<br />
252
Inzwischen geriet das väterliche Gut Kreisau in finanzielle Schwierigkeiten. Helmuth James<br />
wurde noch vor Abschluss seines Studiums zurückgerufen. Er brachte nach intensiver<br />
jahrelanger Bemühung die wirtschaftliche Konsolidierung des Gutes zustande. Als Moltke<br />
1934 das Assessorexamen ablegte, hatte sich die politische Lage völlig verändert. Deshalb<br />
lehnte er ein staatliches Richteramt ab und beschloss, als Anwalt auf dem Gebiet Völkerrecht<br />
und Internationales Recht tätig zu werden. Zwischen 1935 und 1938 hielt er sich<br />
in London und Oxford auf, um die Ausbildung zum britischen Anwalt zu absolvieren, da<br />
er beabsichtigte, in einer Londoner Anwaltskanzlei mitzuwirken. Dies wurde jedoch<br />
durch den Kriegsbeginn verhindert.<br />
Moltke trat im September 1939 als Sachverständiger für Kriegs- und Völkerrecht in das Oberkommando<br />
der Wehrmacht (Amt Ausland/Abwehr in Berlin) ein. Als entschiedener Gegner<br />
des Nationalsozialismus verfasste Moltke die ersten Denkschriften. Zuvor hatte er alte Freunde<br />
und Bekannte mit einbezogen, deren Ziel es war, das Dritte Reich durch eine neue Staatsform<br />
abzulösen, deren Struktur sie gerade entwarfen. Im Januar 1940 lernten sich Moltke und<br />
Peter Graf Yorck von Wartenberg 472 kennen. Diese Freundschaft bildete die Basis des Widerstandskreises,<br />
der von Vertretern des NS-Regimes als „Kreisauer Kreis“ bezeichnet wurde;<br />
benannt nach dem heimatlichen Landgut von Helmuth James Graf von Moltke.<br />
Der „Kreisauer Kreis“<br />
Der „Kreisauer Kreis“ war eine weitverzweigte Widerstandsgruppe; zu ihren Anhängern<br />
zählte sie Vertreter verschiedener christlicher Konfessionen ebenso wie Sozialdemokraten.<br />
Seit 1940 erarbeitete die Gruppe oppositionell gesonnener Männer und Frauen an<br />
„Grundsätzen für die Neuordnung Deutschlands“, die nach dem Kriegsende wirksam werden<br />
sollen. Auf den im Berghaus in Kreisau abgehaltenen Tagungen wurden Gespräche<br />
geführt und Denkschriften verfasst. Moltke hatte bereits im Sommer 1942 von den Vernichtungslagern<br />
und von den Morden der Einsatzgruppen erfahren. Die nationalsozialistischen<br />
Gewalttaten veranlassten die Kreisauer Freunde, die Bestrafung der „Rechtsschänder“<br />
in ihr Programm aufzunehmen. Die Wiederherstellung des Rechts war für die Vertreter<br />
dieses Kreises eine Voraussetzung für die Errichtung einer neuen menschenwürdigen<br />
Ordnung. Das Programm des „Kreisauer Kreises“ war von christlich-ethischen und sozialreformerischen<br />
Aspekten bestimmt, mit dem Ziel einer indirekten Demokratie und einer<br />
Einbindung in die europäische Ordnung. Seit 1943 waren die circa 40 Mitglieder entschlossen,<br />
sich an der aktiven Verschwörung zu beteiligen.<br />
472 (1904–1944). Er war Referent für Grundsatzfragen beim Reichskommissar für die Preisbildung in Berlin.<br />
Weil er der NSDAP nicht beitrat, erhielt er keine Beförderung. 1940 übernahm er zusammen mit Helmuth<br />
James Graf von Moltke die Führung des „Kreisauer Kreises“. Nach erfolgreichem Staatsstreich<br />
sollte er das Amt eines Staatssekretärs übernehmen. Im ersten Prozess nach dem 20. Juli 1944 wurde er<br />
zum Tode verurteilt und am gleichen Tag in Berlin-Plötzensee hingerichtet.<br />
253
Nach der Verhaftung von Helmuth James Graf von Moltke<br />
Die Führungsrolle des Widerstandskreises hatte inzwischen Peter Graf Yorck von Wartenberg<br />
übernommen. Am Tag der Verhaftung Moltkes trafen sich Graf Yorck und von<br />
Stauffenberg (Band 3, Stauffenberg) in der Berliner Hortensienstraße. Es ging darum, die<br />
„Kreisauer“-Gruppe von der Notwendigkeit eines Attentats zu überzeugen, da die Mehrzahl<br />
ihrer Mitglieder vor allem wegen ethisch-moralischer Bedenken dagegen war. Es gab<br />
aber auch Mitglieder wie Trott, Gerstenmaier, Leber, Delp (Band 1, Delp) und König, die<br />
schon frühzeitig das Attentat als notwendig ansahen. Auf der Ablehnung des Tyrannenmordes<br />
bestanden weiterhin Moltke, Gablentz, Steltzer und Rösch. Es gab aber auch eine<br />
Mehrheit, die sich vor allem angesichts der Gräueltat des NS-Regimes dazu durchrang,<br />
den Attentatsplan zu billigen. Aufschlussreich hierzu ist das Standardwerk des Historikers<br />
Ger van Roon Neuordnung im Widerstand, in dem der Aufbau des Widerstandskreises sowie<br />
das Wirken von Yorck und Moltke dargestellt werden.<br />
Grund des Prozesses gegen Moltke<br />
Moltke hatte erfahren, dass gegen seinen Kollegen in der Abwehr, Otto Carl Kiep, Ermittlungen<br />
wegen regimefeindlicher Äußerungen liefen. Dies war bekannt geworden, nachdem<br />
die Gestapo Spitzel in den so genannten „Solf-Kreis“ 473 eingeschleust hatte. Moltke<br />
kam nach seiner Verhaftung am 19. Januar 1944 ins KZ Ravensbrück. Im September wurde<br />
er in das Gefängnis Berlin-Tegel eingeliefert. Ihm konnte jedoch nichts von der Gestapo<br />
und vom Sicherheitsdienst nachgewiesen werden, was mit seiner Widerstandstätigkeit<br />
zusammenhing. Dies änderte sich jedoch nach dem fehlgeschlagenen Attentatsversuch<br />
vom 20. Juli 1944. Auch von Moltke wurde wiederholt verhört. Der Prozess vor dem Berliner<br />
Volksgerichtshof fand am 10. Januar 1945 statt, wo er zum Tode verurteilt wurde.<br />
Am 23. Januar 1945 wurde Helmuth James Graf von Moltke in Berlin-Plötzensee gehängt.<br />
Gleichzeitig mit ihm starben: Eugen Bolz, ehemaliger Staatspräsident von Württemberg;<br />
Nikolaus Gross, Industrieller; Theodor Haubach, sozialdemokratischer Leiter; Hermann<br />
Kaiser, Student; Erwin Planck, Staatssekretär, Sohn des Physikers Max Planck; Frank<br />
Reinhold, Richter, Ludwig Schwamb, ehemaliger Staatsrat von Hessen; Franz Sperr, Gesandter<br />
(siehe Band 3: Sperr); Busso Thoma, Major. 474<br />
In seinem letzten Brief an seine Frau schrieb Helmuth James Graf von Moltke: „Und dann<br />
bleibt übrig ein Gedanke: Womit kann im Chaos das Christentum ein Rettungsanker sein.<br />
473 Im Rahmen einer Tee-Gesellschaft trafen sich Oppositionelle; zu ihnen gehörten u. a.: Elisabeth von<br />
Thadden, Dr. Otto Carl Kiep, Johanna Solf, Richard Kuenzner, Dr. Artur Zarden und Albrecht Graf von<br />
Bernsdorf.<br />
474 Malvezzi, Piero / Pirelli, Giovanni (Hrsg.) (1955): Letzte Briefe zum Tode Verurteilter aus dem europäischen<br />
Widerstand: 138<br />
254
Dieser einzige Gedanke fordert wahrscheinlich morgen fünf Köpfe, später noch den von<br />
Steltzer und Haubach ...“ 475 Von Moltke hatte in einem Brief an Lionel Curtis vom 15.<br />
Februar 1939 seine Einstellung klargelegt, es sei seine „Pflicht und Schuldigkeit, den Versuch<br />
zu unternehmen, auf der richtigen Seite zu sein, was immer es für Unannehmlichkeiten,<br />
Schwierigkeiten und Opfer mit sich bringen mag.“ 476<br />
Ein Mitstreiter im „Kreisauer Kreis“ war Professor Albrecht Haushofer (siehe Band 2: S.<br />
248), der aus dem Berliner Gefängnis in der Lehrterstraße am 24. April 1945 geholt und<br />
auf dem nahen Trümmergelände von einem SS-Mann ermordet wurde. Von Haushofer<br />
stammen folgende Zeilen:<br />
„Als ich in dumpfen Träumen heut versank,<br />
sah ich die ganze Schar vorüberziehn:<br />
Die Yorck und Moltke, Schulenburg, Schwerin,<br />
die Hassel, Popitz, Helfferich und Planck –<br />
nicht einer, der des eignen Vorteils dachte,<br />
nicht einer, der gefühlter Pflichten bar,<br />
in Glanz und Macht, in tödlicher Gefahr,<br />
nicht um des Volkes Lebens sorgend wachte.<br />
Den Weggefährten gilt ein langer Blick:<br />
Sie hatten alle Geist und Rang und Namen,<br />
die gleichen Ziels in diese Zelle kamen –<br />
und ihrer aller wartete der Strick.<br />
Es gibt wohl Zeiten, die der Irrsinn lenkt,<br />
Dann sind´s die besten Köpfe, die man henkt.“ 477<br />
Gedenkorte in Berlin<br />
1988 Gedenktafel in der Hortensienstraße 50 in Berlin-Steglitz<br />
Helmuth-James-von-Moltke-Grundschule<br />
Literatur<br />
Bleistein, Roman (1993/94): Topographie des Widerstands in München – Weiße Rose – Kreisauer Kreis.<br />
Hochschule für Philosophie München<br />
Dönhoff, Marion Gräfin von (1976): Menschen, die wissen worum es geht. Hamburg<br />
475 IfZ-Archiv München, ZS/A, 26/1<br />
476 Mommsen, Hans (1985): Die künftige Neuordnung Deutschlands und Europas aus der Sicht des<br />
Kreisauer Kreises: Anm. 4<br />
477 Albrecht Haushofer Moabiter Sonette. In: Schwerin, Detlef Graf von (1994): 428<br />
255
Dönhoff, Marion Gräfin von (1996): „Um der Ehre willen“. Erinnerungen an die Freunde vom 20. Juli. Siedler<br />
Verlag, Berlin<br />
Gollwitzer, Helmut / Kuhn, Käthe / Schneider, Reinhold (Hrsg.) (1959): Du hast mich heimgesucht bei Nacht.<br />
Abschiedsbriefe und Aufzeichnungen des Widerstands 1933–1945. München<br />
Gostomski, Viktor von / Loch, Walter (1969): Der Tod von Plötzensee. Erinnerungen, Ereignisse, Dokumente<br />
1942–1945. Kyrios Verlag, Meitingen, Freising<br />
Graml, Hermann (Hrsg.) (1995): Widerstand im Dritten Reich. Probleme, Ereignisse, Gestalten. Frankfurt a.<br />
M.<br />
Lautarchiv des Deutschen Rundfunks (Hrsg.) (1961): Volksgerichtshofprozesse zum 20. Juli 1944. Transkripte<br />
von Tonbandaufnahmen. Frankfurt a. M.<br />
Moltke, Freya von (1946): Brief an Ricarda Huch v. 7.6.1946. In: Huch, Ricarda (1998): In einem Gedenkbuch<br />
sammeln. Bilder deutscher Widerstandskämpfer. Leipziger Universitäts Verlag, Leipzig: 202–206<br />
Moltke, Freya von (1961): Die letzten Monate in Kreisau. H. Henssel Verlag, Berlin<br />
Moltke, Freya von (1997): Erinnerungen an Kreisau 1930–1945. C. H. Beck Verlag, München<br />
Moltke, Helmuth James Graf von (1955): Letzte Briefe aus dem Gefängnis Tegel. H. Henssel Verlag, Berlin<br />
Moltke, Helmuth James Graf von (1999): Briefe an Freya: 1939–1945. Hrsg. v. Beate Ruhm von Oppen. C.<br />
H. Beck Verlag, München<br />
Moltke, Freya von / Balfour, Michael / Frisby, Julian (Hrsg.) (1975): Helmuth James von Moltke 1907–1945,<br />
Anwalt der Zukunft. Stuttgart<br />
Mommsen, Hans (1985): Der Widerstand gegen Hitler und die deutsche Gesellschaft. In: Jürgen Schmädecke<br />
und Peter Steinbach (Hrsg.): Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. München<br />
Mommsen, Hans (2000): Alternative zu Hitler. Studien zur Geschichte des deutschen Widerstands. München<br />
Oppen, Beate Ruhm von (1988): Helmuth James von Moltke. Briefe an Freya. München<br />
Roon, Ger van (1967): Neuordnung im Widerstand. Der Kreisauer Kreis innerhalb der Deutschen Widerstandsbewegung.<br />
C. H. Beck Verlag, München<br />
Roon, Ger van (1971): Resistance to Hitler. Count von Moltke and the Kreisau Circle. London<br />
Roon, Ger van (1979): Widerstand im Dritten Reich. Ein Überblick. C. H. Beck Verlag, München<br />
Roon, Ger van (Hrsg.) (1986): Helmuth James Graf von Moltke. Völkerrecht im Dienste der Menschen. Berlin<br />
Schmädecke, Jürgen / Steinbach, Peter (Hrsg.) (1985): Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die<br />
deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hitler. Piper Verlag, München, Zürich: 639–651<br />
Schwerin, Detlef Graf von (1994): „Dann sind´s die besten Köpfe, die man henkt“. Die junge Generation im<br />
Deutschen Widerstand. Piper Verlag, München, Zürich<br />
Steinbach, Peter (1994): Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Akademie Verlag, Berlin<br />
Steinbach, Peter / Tuchel, Johannes (1995): Der Kreisauer Kreis. Gedenkstätte Deutscher Widerstand Berlin,<br />
Blatt 15.1<br />
Strebel, Bernhard (1998): Das Männerlager im KZ Ravensbrück 1941–1945. In: Dachauer Hefte 14/1998:<br />
Verfolgung als Gruppenschicksal: 141–174<br />
Weisenborn, Günther (Hrsg.) (1953): Der lautlose Aufstand. Bericht über die Widerstandsbewegung des<br />
Deutschen Volkes 1933–1945. Hamburg.<br />
Weizsäcker, Ernst von (1950): Erinnerungen. München<br />
Winterhager, Wilhelm Ernst (1988): Der Kreisauer Kreis. Porträt einer Widerstandsgruppe. Begleitband zu<br />
einer Ausstellung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Hase & Köhler Verlag, Mainz<br />
Yorck von Wartenberg, Marion Gräfin von (1984): Die Stärke der Stille. Erzählung eines Lebens aus dem<br />
deutschen Widerstand. Köln<br />
256
Grabmal von Dr. Emil Muhler<br />
Foto: Dr. Otto Gritschneder, Archiv<br />
478 Staatsarchiv München, Staatsanwaltschaften Nr. 5860, S. 33<br />
Muhler, Emil Dr. oec. publ.<br />
*21.4.1892 München †19.2.1963 München<br />
„Ich befinde mich seit 2.4.40 wieder in Polizeihaft ...<br />
Über die Dauer meiner Haft wurde mir nichts gesagt.“<br />
Dr. Emil Muhler am 16. September 1940 478<br />
Emil Muhler<br />
Foto: Dr. Otto Gritschneder, Archiv<br />
257
I. Emil-Muhler-Torweg, Isarvorstadt<br />
M (1969)<br />
II. Emil-Muhler-Torbogen, Isarvorstadt<br />
Katholische Kirche (1963)<br />
III. Grabmal, Waldfriedhof<br />
(1963)<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Der in München geborene Sohn eines Kaufmanns war 1919 nach dem Theologiestudium<br />
zum Priester geweiht worden. Anschließend schloss er ein Studium der Nationalökonomie<br />
mit der Promotion ab. 1924 übernahm er die Münchner Pfarrei St. Andreas in der Zenettistraße.<br />
Als Stadtrat gehörte er der Bayerischen Volkspartei von 1930–33 an, für seine<br />
Kirche leitete er die Katholische Aktion.<br />
Verhaftung des Stadtpfarrers Muhler<br />
Wie es zur Verhaftung von Stadtpfarrer Muhler kam, ist im Verhörprotokoll bei der Bayerischen<br />
Politischen Polizei festgehalten: Dr. Emil Muhler besuchte Einwohner seiner Pfarrei,<br />
die in den vergangenen Jahren aus der Kirche ausgetreten waren, um sie zum Wiedereintritt<br />
zu bewegen. Aus diesem Grund sprach er mit einem Kommunisten über die unmenschliche<br />
Behandlung der Schutzhäftlinge im KZ-Dachau. „Dieses Gesprächsthema<br />
gab dem betr. Kommunisten Anlass mir zu erzählen, dass ein aus dem Konzentrationslager<br />
Dachau entlassener Kommunistenführer ihm gesagt habe, dass ihm, (dem Kommunistenführer)<br />
in seine Zelle ein Strick und ein Rasiermesser hineingeworfen wurde. Ob er<br />
auch etwas von einer Leiche mit einem durchgeschnittenen Hals gesagt hat, weiß ich heute<br />
nicht mehr ..., dass irgend ein Häftling aus der Umfriedung des Lagers hinausgeschickt<br />
wird und dass er dann, wenn er ausserhalb des Lagers ist, plötzlich erschossen wird.“ 479<br />
Über dieses Gespräch beriet Dr. Muhler sich mit seinen Kaplänen, gab aber den Namen<br />
des Kommunisten nicht preis; dieser wurde jedoch später herausgefunden. Durch Denunziation<br />
erfuhr die Gestapo davon; Verhöre folgten. In einem Sondergerichtsverfahren gegen<br />
Muhler und seine Kapläne wurde am 24. Januar 1934 wegen eines Vergehens nach<br />
der „Verordnung des Reichspräsidenten zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die<br />
479 Staatsarchiv München, Staatsanwaltschaften Nr. 7669<br />
258
Regierung der nationalen Erhebung vom 21. März 1933“ folgende Strafe verhängt: Dr.<br />
Emil Muhler erhielt vier Monate Gefängnis, Oskar Thaler drei Monate und Georg Solacher<br />
fünf Monate Gefängnis. 480 Muhler blieb jedoch bis zum 24. Mai 1934 im Gefängnis<br />
Landsberg am Lech in Haft.<br />
Nach seiner Freilassung begann er seine Erlebnisse vor dem Sondergericht und die Verhör-Techniken<br />
der Gestapo unter dem Titel Erlebtes und Erlittenes aufzuzeichnen. Nachdem<br />
diese Schriftstücke in die Hände der Gestapo gelangten, erfolgte seine erneute Festnahme<br />
am 2. April 1940. In dem Verhörprotokoll vom 9. Mai 1940 legte er die Gründe<br />
dar, die zu dieser Niederschrift führten: „Weihnachten 1936 hat mir die mit Kardinal<br />
Faulhaber geführte Korrespondenz gezeigt, daß eine mündliche Aussprache mit dem Kardinal<br />
nicht mehr zu erwarten sei. Daraufhin habe ich den Entschluß gefaßt, meine Erinnerungen<br />
schriftlich niederzulegen und begann damit im Sommer 1937. An dem Entwurf<br />
der Denkschrift habe ich mit Unterbrechungen etwa 1 Jahr gearbeitet.“ 481<br />
Im Gefängnis des Wittelsbacher Palais’, (siehe Band 3: Wittelsbacher Palais’) blieb er bis<br />
zum 31. Dezember 1940 inhaftiert. Zu der nächsten Verhaftung und Einweisung in das<br />
Konzentrationslager Dachau 482 kam es auf Grund der am 18. September 1944 erlassenen<br />
„Himmler-Aktion“.<br />
Während der Evakuierung des KZ Dachau trat Dr. Emil Muhler am 26. April 1945 zusammen<br />
mit vielen anderen Gefangenen den Todesmarsch (siehe Band 3: Todesmarsch) in<br />
Richtung Süden an. Unterwegs gelang ihm die Flucht.<br />
Nach dem Krieg kehrte er in seine Pfarrei St. Andreas zurück. Seit 1947 war er Mitglied<br />
des Bayerischen Senats. Hier zählte Dr. Muhler zu den Mitbegründern der CSU und wurde<br />
1947 in deren Vorstand gewählt. 1948 erhielt er einen Lehrauftrag für Sozialethik an der<br />
Münchner Ludwig-Maximilians-Universität. Ab 1959 war er dort als Honorarprofessor<br />
tätig.<br />
Ehrungen<br />
1952 Verleihung des Verdienstkreuzes der Bundesrepublik Deutschland.<br />
1959 Bayerischer Verdienstorden, Ernennung zum päpstlichen Hausprälaten.<br />
480 Staatsarchiv München, Staatsanwaltschaften Nr. 7669<br />
481 Staatsarchiv München, Staatsanwaltschaften Nr. 5860, S. 25<br />
482 Im KZ Dachau waren 387 katholische Priester inhaftiert. In: München. Schicksal einer Großstadt 1900–<br />
1950: 136<br />
259
Literatur<br />
Bauer, Richard / Stölzl, Christoph / Broszat, Martin / Prinz, Friedrich (Hrsg.) (1986): München. Schicksal einer<br />
Großstadt 1900–1950. Langen Müller Verlag, München, Wien<br />
Buchheim, Hans (1953): Glaubenskrise im Dritten Reich. Religionspolitik. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart<br />
Dörner, Bernhard (1988): „Heimtücke“: Das Gesetz als Waffe. Kontrolle, Abschreckung und Verfolgung in<br />
Deutschland 1933–1945. Paderborn<br />
Gritschneder, Otto (1975): Die Akten des Sondergerichts über Stadtpfarrer Dr. Emil Muhler. In: Gessel, Wilhelm<br />
/ Bornhard, Peter von (Hrsg.): Beiträge zur altbayerischen Kirchengeschichte. Band 29. Verlag Verein<br />
für Diözesangeschichte von München u. Freising<br />
Kempner, B. M.: Priester vor Hitlers Tribunalen. Kirchengeschichte. Deutingers Beiträge, Band 29, München<br />
Muhler, Emil: Staatsanwaltschaften (Nr. 7669, 1934 und Nr. 5860, 1940) Polizeidirektion (Nr. 15569). Bayer.<br />
Staatsarchiv<br />
Muhler, Emil (1958): Die Idee des gerechten Lohnes. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. München<br />
Muhler, Emil (1958): Die Soziallehre der Päpste. München<br />
Pfister, Peter (1987): Dr. Emil Muhler (1892–1963). Seelsorger und Politiker. In: Schweiger, Georg (Hrsg.):<br />
Lebensbilder aus der Geschichte des Erzbistums München und Freising. Band 2: 388–407<br />
Vieregg, Hildegard (1992): Wächst Gras darüber? München: Hochburg des Nationalsozialismus und Zentrum<br />
des Widerstands. Universitätsdruckerei u. Verlag Dr. C. Wolf & Sohn, München: 180–183<br />
Weiler, Eugen (1971): Die Geistlichen im KZ Dachau sowie in anderen Konzentrationslagern und in Gefängnissen.<br />
Nachlass von Pfarrer Emil Thomas, erweitert und hrsg. v. E. Weiler. Missionsdruckerei Nördlingen<br />
260
Neumeyer, Karl Prof. Dr. jur.<br />
*19.9.1869 München †17.7.1941 München<br />
„Hier bin ich geboren, hier bin ich aufgewachsen, hier habe ich meine Arbeit geleistet,<br />
und hier werde ich sterben.“<br />
Karl Neumeyer 483<br />
Grabstätte auf dem Neuen<br />
Israelitischen Friedhof<br />
Foto: H. Engelbrecht<br />
Gedenktafel für Karl und Anna<br />
Neumeyer, Königinstraße 35a.<br />
Foto: A. Olsen<br />
261<br />
Professor Karl Neumeyer<br />
Foto: Stadtarchiv<br />
München<br />
Gedenktafel im<br />
„Neumeyer-Saal“<br />
Foto: H. Engelbrecht
I. Gedenktafel, Königinstraße 35a, Schwabing<br />
Giselastraße U3/U6<br />
II. Gedenktafel, Veterinärstraße 5, Schwabing<br />
Universität U3/U6<br />
Institut für Rechtsvergleichung, I. Stock<br />
III. Neumeyer-Saal<br />
Veterinärstraße 5, Schwabing<br />
Institut für Internationales Recht der Universität München, Instituts- und Seminar-Raum,<br />
Zimmer 107<br />
LMU München (1970)<br />
IV. Neumeyerstraße, Allach, Untermenzing<br />
M (1962)<br />
V. Grabstätte<br />
Neuer Israelitischer Friedhof, Garchinger Straße 37<br />
Studentenstadt U6<br />
Zu I. Gedenktafel, Königinstraße 35a, Schwabing<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
An der Nordfassade neben dem Haupteingang befindet sich eine Gedenktafel mit der Aufschrift:<br />
„Karl und Anna Neumeyer zum Gedächtnis.“<br />
Zu II. Gedenktafel und III. Neumeyer-Saal<br />
Institut für Internationales Recht der Universität München, Veterinärstraße 5<br />
Juristische Fakultät der Universität München<br />
483 In: Cahnmann, Werner J. (1958): Juden in München 1918–1943. In: Lamm, Hans (1982). Vergangene<br />
Tage. Jüdische Kultur in München: 64<br />
262
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Auf Antrag der juristischen Fakultät der Münchner Universität bekam ein Hörsaal den Namen<br />
des bedeutenden Wissenschaftlers.<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
Die in diesem Raum an der Fensterwand angebrachte bronzene Gedenktafel (0,59 m ×<br />
0,97 m) mit dem Porträt von Professor Dr. Karl Neumeyer ist mit folgender Inschrift (Gravur)<br />
versehen:<br />
„Geheimrat Prof. Dr. Karl Neumeyer hat dieses Institut im Jahre 1916 mitbegründet. Sein<br />
Wirken war bahnbrechend für die Gesamtheit des internationalen Rechts. Die Barbarei<br />
des Unrechtsstaats hat ihn und seine Frau im Jahre 1941 in den Tod getrieben. Der Saal<br />
trägt seinen Namen ihm zu Ehre und zu steter Mahnung an schmachvolles Unrecht. Juristische<br />
Fakultät der Universität München.“<br />
Zu V. Grabstätte auf dem Neuen Israelitischen Friedhof, Sekt. 16<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
Auf zwei, circa 2,20 Meter hohen Grabstelen befinden sich folgende Inschriften:<br />
„Karl Neumeyer ord. Professor der Universität München, geb. 19. Sept. 1869 in München,<br />
gest. 17. Juli 1941. Anna Neumeyer, geb. Hirschhorn, geb. 14. Nov. 1879 in Mannheim,<br />
gest. 17. Juli 1941.“<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Karl Neumeyer wurde als zweiter Sohn des Kaufmanns Leopold Neumeyer in München<br />
geboren. Die Familie des Vaters stammte aus dem Nördlinger Ries, wo die Verwandten<br />
seit Jahrhunderten ansässig waren. Zusammen mit seinem zwei Jahre älteren Bruder Alfred<br />
wächst er mit den Traditionen des jüdischen Glaubens auf. Nach dem erfolgreichen<br />
Besuch des humanistischen Maximiliansgymnasiums in München blieb ihm der Militärdienst<br />
aus gesundheitlichen Gründen erspart. Als sich die Frage nach dem Einstieg ins elterliche<br />
Geschäft stellte, entschied sich Karl Neumeyer für das Studium der Rechtswissenschaften,<br />
das er von 1887 bis 1891 in München, Berlin und Genf absolvierte. Eine von der<br />
Juristischen Fakultät gestellte Preisaufgabe zum Thema „Historische und dogmatische<br />
Darstellung des strafrechtlichen Bankerotts“, die er als Bester bearbeitete, wurde als<br />
schriftliche Doktorarbeit akzeptiert. 484 Dem Entschluss, die Wissenschafts- und Universitätslaufbahn<br />
zu wählen, folgte die Arbeit an seiner Habilitationsschrift. Als Thema wählte<br />
263
er: Die frühe Entwicklung des Internationalen Privatrechts. Mit dieser Schrift konnte er<br />
sich habilitieren und wurde am 4. Mai 1901 von der Juristischen Fakultät der Universität<br />
München als Privatdozent für die Fächer „Internationales Privat-, Straf-, Prozess- und<br />
Verwaltungsrecht“ aufgenommen. 485<br />
Karl Neumeyer befasste sich bereits als Privatdozent mit Rechtsvergleichung. Als er den<br />
Begriff des Internationalen Verwaltungsrechts prägte, formulierte er dessen Aufgabe:<br />
„Die Grenzen der öffentlichen Gewalt in Verwaltungssachen gegenüber der öffentlichen<br />
Gewalt anderer Gemeinschaften zu ziehen, nicht anders, wie es Aufgabe der internationalen<br />
Zivilrechts ist, diese Grenzen für das Zivilrecht zu bestimmen.“ 486<br />
Professor Karl Neumeyer war es gelungen, das Privatrecht an der Münchner Universität<br />
als neues Fach zu integrieren. Den Titel eines außerordentlichen Professors erhielt er am<br />
1. Januar 1908.<br />
Über den Band 1 des Internationalen Verwaltungsrechtes im Jahre 1910 urteilte die Wissenschaft,<br />
dass Karl Neumeyer „mit ungewöhnlichem Scharfblick und mit seltener Produktionskraft<br />
in Gebiete des Rechtslebens hineinleuchtet, welche für die Wissenschaft geradezu<br />
entdeckt zu haben des Verfassers bleibender Verdienst ist“. 487<br />
Am 1. April 1900 heirateten Karl Neumeyer und Anna Hirschhorn, die aus einer Mannheimer<br />
Familie stammte. 488 Ihr erster Sohn Alfred wurde 1901 geboren, ihr zweiter Sohn<br />
Fritz 1905. Karl Neumeyers Bruder Alfred (1867–1944) war Gründer des Verbandes der<br />
„Bayerischen Israelitischen Gemeinden“, deren Leiter er bis zu seiner Emigration 1941<br />
blieb.<br />
1913 erhielt er einen Ruf auf ein Ordinariat für Internationales Recht und Völkerrecht an<br />
der Universität Zürich. „Mit der Professur wäre jedoch die Verpflichtung zur Mitarbeit<br />
an verschiedenen in der Schweiz ansässigen internationalen Instituten verbunden gewesen.<br />
Das habe Karl Neumeyer weniger gelegen; er habe sich ausschließlich seiner wissenschaftlichen<br />
Arbeit und seinem Lehrberuf widmen und vor allem in Ruhe das große ’Internationale<br />
Verwaltungsrecht’ fortsetzen wollen; deshalb habe er den Ruf nach Zürich<br />
abgelehnt.“ 489 In den folgenden Jahren erhielt Neumeyer zahlreiche wissenschaftliche<br />
484 Vogel, Klaus (1993): Karl Neumeyer (1869–1941): 533<br />
485 Vogel, Klaus (1993): Karl Neumeyer (1869–1941): 533<br />
486 Aus der Vorrede des I. Bandes 1910. In: Werner, Alfred (1958): Jüdische Juristen. In: Lamm, Hans<br />
(Hrsg.) (1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München: 324<br />
487 Niemeyer: Zeitschrift für Internationales Recht, Band XX, S. 606f. In: Werner, Alfred (1958): Jüdische<br />
Juristen: 324<br />
488 Weber, Marianne (1948): Lebenserinnerungen: 409ff. In: Vogel, Klaus (1993): Karl Neumeyer (1869–<br />
1941): 533<br />
264
Auszeichnungen. Als zwölf Jahre später der zweite Band zum Internationalen Verwaltungsrecht<br />
erschien, wurde das Werk wieder mit großem Lob aufgenommen und etablierte<br />
sich als Standardwerk. 490 Als allgemein geachtete Kapazität entwickelte er einen Grundriss<br />
des Internationalen Privatrechts. An der Münchner Universität hatte er der juristischen<br />
Fakultät diese Disziplin Privatrecht als neues Fach erschlossen, dessen Ordinariat ihm<br />
1929 zuerkannt wurde; zwei Jahre später wählte die Fakultät ihn zu ihrem Dekan. Seine<br />
Übersicht, die er 1929 verfasste, begrüßte die Fachwelt mit folgenden Worten: „Dieses<br />
äußerlich anspruchslose Stück enzyklopädischer Wissenschaftsdarstellung ist ein klassischer<br />
Katechismus aus der Feder eines oberpriesterlichen Pflegers und meisterlichen<br />
Lehrers der Wissenschaft.“ 491 Professor Dr. Klaus Vogel schrieb über Neumeyers Werk:<br />
„Zu seiner Zeit war das Internationale Recht hierfür indes noch nicht weit genug. Neumeyers<br />
Fragestellung ging in diesem Sinn, wie es bei großen Wissenschaftlern manchmal<br />
so gewesen ist, ihrer Zeit voraus.“ 492<br />
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten begann für Karl und Anna Neumeyer<br />
ein Leidensweg. Die Vorlesungen von Karl Neumeyer wurden anfangs boykottiert und<br />
gestört. 1934 versetzte man Neumeyer vorzeitig in den Ruhestand und es wurde ihm zugleich<br />
das Betreten der Universität und der öffentlichen Bibliotheken verboten. Trotzdem<br />
gelang es ihm noch – in dieser Zeit der Bedrängnis – den vierten Band seines Internationalen<br />
Verwaltungsrechts 1936 zu vollenden und in einem Schweizer Verlag zu publizieren;<br />
ebenso veröffentlichte er zwei weitere Abhandlungen zur Entwicklung des Internationalen<br />
Privatrechts. 493<br />
Den Söhnen von Karl und Anna Neumeyer gelang die Ausreise. Sein Bruder Alfred Neumeyer<br />
konnte nach Argentinien auswandern. Doch Karl Neumeyer selbst wollte Deutschland<br />
nicht verlassen. „Er liebte Deutschland zu sehr, und wollte auch niemanden zur Last<br />
fallen.“ 494 Dr. Werner Cahnmann, der bis 1933 Syndikus des Central-Vereins deutscher<br />
Staatsbürger jüdischen Glaubens war, berichtete über ein Treffen mit Professor Karl Neumeyer:<br />
„Er sagte, er sei froh, seine beiden Söhne im Ausland zu wissen. Auf meine Frage:<br />
489 Neumeyer, Alfred (1944): Erinnerungen: 88. In: Vogel, Klaus (1993): Karl Neumeyer (1869–1941): 535<br />
490 Drews: Juristische Wochenschrift, 1923, S. 483. In: Werner, Alfred (1958): Jüdische Juristen in München:<br />
324<br />
491 Niemeyers: Zeitschrift für Internationales Recht, Band 47, S. 376/7. Auch in: Werner, Alfred (1958):<br />
Jüdische Juristen in München: 324<br />
492 Vogel, Klaus (1993): Karl Neumeyer (1869–1941): 539<br />
493 Bartolus Sassoferrato (bei Sassoferrato, Prov. Ancona) vermutlich geb. 1314, †Perugia 10.7.1357; kommentierte<br />
das „Corpus Iuris Civilis“ (Brockhaus 2000: 355). Karl Neumeyer schickte das Manuskript an<br />
Max Gutzwiller; es wurde 1965 in den Niederlanden veröffentlicht. In: Vogel, Klaus (1993): Karl Neumeyer<br />
(1869–1941): 540<br />
494 Neumeyer, Alfred (1944): 233. Weber, Marianne (1948): Lebenserinnerungen: 441. In: Vogel, Klaus<br />
(1993): Karl Neumeyer (1869–1941): 540<br />
265
,Und was tun Sie, Herr Professor?‘ antwortete er: ,Hier bin ich geboren, hier bin ich aufgewachsen,<br />
hier habe ich meine Arbeit geleistet, und hier werde ich sterben.‘“ 495<br />
Als die Ankündigung kam, sein Haus an der Königinstraße müsse geräumt und seine Bibliothek<br />
versteigert werden, entschieden er und seine Frau Anna, aus dem Leben zu gehen.<br />
Dabei war alles geplant und wohl überlegt, wie die Worte, die Anna Neumeyer an eine<br />
Freundin schrieb, zeigen: „Der stärkste Freundschaftsdienst für uns wäre, wenn Du ohne<br />
Betrübnis aufatmetest: Gottseidank, sie haben es durchlitten.“ 496 In der Nacht vom 16. auf<br />
den 17. Juli 1941 wählten sie den Freitod.<br />
Ehrungen 497<br />
1918 Vortrag auf der 2. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht über die<br />
Staatsangehörigkeit Juristischer Personen.<br />
1923 Vorträge im Jahr der Eröffnung der Haager Académie de Droit International.<br />
1923 Associé d’Institut de Droit International.<br />
1926 Vollmitglied des Institut de Droit International. Persönlicher Ordinarius der Münchner<br />
Juristischen Fakultät. Vorläufige Vorstandschaft des Instituts für Rechtsvergleichung.<br />
1928 Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht. Leiter der Kommission<br />
für Internationales Privatrecht; Geheimer Justizrat.<br />
1929 Ordentlicher Professor der Juristischen Fakultät.<br />
1931 Dekan der Juristischen Fakultät.<br />
Literatur<br />
Benz, Wolfgang (1993): Von der Entrechtung zur Verfolgung und Vernichtung. In: Heinrichs, H. C. / Franzkis,<br />
H. / Schmalz, K. / Stolleis, M. (Hrsg.) (1993): Deutsche Juristen jüdischer Herkunft. C. H. Beck Verlag,<br />
München: 813–854<br />
Bonhorst, Heinrich von (1988): Karl Neumeyer (1869–1941) Jurist. In: Geschichte und Kultur der Juden in<br />
Bayern. Lebensläufe, Band 18. Hrsg. v. Manfred Treml et al., Kastner & Callwey, München: 235–242<br />
Cahnmann, Werner J. (1958): Juden in München 1918–1943. In: Lamm, Hans (1982): Vergangene Tage. Jüdische<br />
Kultur in München. Langen Müller Verlag, München, Wien: 31–78<br />
Gutzwiller, Max (1962/63): Karl Neumeyers Persönlichkeit und Werk. Rabels Z 27: 402ff<br />
Heinrichs, H. C. / Franzkis, H. / Schmalz, K. / Stolleis, M. (Hrsg). (1993): Deutsche Juristen jüdischer Herkunft.<br />
C. H. Beck Verlag, München<br />
495 Cahnmann, Werner J. (1958): Juden in München 1918–1943. In: Lamm, Hans (Hrsg.) (1982): Vergangene<br />
Tage. Jüdische Kultur in München: 64<br />
496 Weber, Marianne (1948): Lebenserinnerungen. In: Vogel, Klaus (1993): Karl Neumeyer (1869–1941):<br />
443<br />
497 Zitiert nach Vogel, Klaus (1993): Karl Neumeyer (1869–1941): 535<br />
266
Neumeyer, Alfred (1944): Erinnerungen, niedergeschrieben in der Kolonie Avigdor 1941–1944. Manuskript<br />
im Leo Baeck Institut, New York (Kopie im Stadtarchiv und in der Bayer. Staatsbibliothek München)<br />
Neumeyer, Alfred (Sohn von Karl Neumeyer) (1967): Lichter und Schatten. Eine Jugend in Deutschland<br />
Neumeyer, Karl (1891): Historische und dogmatische Darstellung des strafbaren Bankerotts, München;<br />
(1910) Internationales Verwaltungsrecht, Band 1, München und Berlin; (1911) Grundlinien des Internationalen<br />
Verwaltungsrechts. Berlin; (1913) Vom Recht der auswärtigen Verwaltung und verwandten<br />
Rechtsgebieten; (1914) Internationales Finanzrecht; (1918) Staatsangehörigkeit der juristischen Personen;<br />
(1922); Der Fall Mumm; (1923) Internationales Privatrecht. Berlin; (1924) Internationales Privatrecht,<br />
völkerrechtliche Grundlage. In: Strupp (Hrsg.): Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie, Band<br />
1; (1930) Internationales Privatrecht, 2. Aufl., München, Berlin, Leipzig; (1969) Die gemeinrechtliche<br />
Entwicklung des Internationalen Privat- und Strafrechts bis Bartolus. Berlin<br />
Vogel, Klaus (1993): Karl Neumeyer (1869–1941) Ein Lebenswerk: Das Internationale Verwaltungsrecht. In:<br />
Heinrichs, H. C. / Franzkis, H. / Schmalz, K. / Stolleis, M. (Hrsg.) (1993): Deutsche Juristen jüdischer Herkunft.<br />
C. H. Beck Verlag, München: 531–541<br />
Weber, Marianne (1948): Lebenserinnerungen. In: Vogel, Klaus (1993): Karl Neumeyer (1869–1941). Ein<br />
Lebenswerk: Das Internationale Verwaltungsrecht. In: Heinrichs, H. C. / Franzkis, H. / Schmalz, K. / Stolleis,<br />
M. (Hrsg.) (1993): Deutsche Juristen jüdischer Herkunft. C. H. Beck Verlag, München: 531–541<br />
Wehberg (1941): Karl Neumeyer zum Gedächtnis. Friedenswarte 41. Jahrgang. Zürich<br />
Werner, Alfred (1958): Jüdische Juristen in München. In: Lamm, Hans (1982): Vergangene Tage. Jüdische<br />
Kultur in München. Langen Müller Verlag, München, Wien: 323–327<br />
267
Olschewski, Wilhelm / Olschewski, Willy jun. / Binder, Otto<br />
Grabstätte von Wilhelm<br />
Olschewski, Willy Olschewski<br />
und Otto Binder auf dem<br />
Münchner Nordfriedhof<br />
Foto: A. Olsen<br />
I. Olschewskibogen, Feldmoching<br />
M (1987)<br />
II. Grabmal von Wilhelm Olschewski, Willy Olschewski und Otto Binder,<br />
Sekt. 117/13/3 Nordfriedhof<br />
Ungererstraße 130, Alte Heide<br />
Nordfriedhof U 6<br />
268
Olschewski, Wilhelm sen.<br />
*18.8.1871 Lyk, Ostpreußen †30.4.1943 München-Stadelheim<br />
„Liebe Freunde, Ihr sollt nicht klagen, liebe Kinder weinet nicht, wenn von unserem<br />
Opfertode diese Tafel zu Euch spricht. Wir fanden hier als Freiheitskämpfer unsere<br />
letzte Ruhestatt. Wir mußten unser Leben lassen, daß Krieg und Mord ein Ende hat.<br />
Wilhelm Olschewski, Otto Binder, Willy Olschewski.“<br />
Inschrift an der Grabstätte auf dem Nordfriedhof.<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Wilhelm Olschewski hatte in Berlin den Handlungsgehilfenverband mitgegründet. Im Ersten<br />
Weltkrieg war er an der Westfront eingesetzt; seine Dienstzeit beendete er als Leutnant.<br />
Als Teilnehmer bei den Kämpfen der revolutionären Rätebewegung erhielt er 1919 eine siebenjährige<br />
Haftstrafe. Durch eine Amnestie kam er 1924 frei. Ein Jahr später übernahm er<br />
als Geschäftsführer und Funktionär der KPD in Südbayern zusammen mit Franziska Kaspeier<br />
die Redaktion der „Neuen Zeitung“. 498 Olschewski baute eine reichsweite kommunistische<br />
Widerstandsorganisation auf und leitete den so genannten „Aufbruch-Kreis“.<br />
Bereits im März 1933 fand seine erste Verhaftung statt. Dabei versuchten die Nationalsozialisten<br />
ihn für Spitzeldienste zu gewinnen. Seit 1939 existierte eine Verbindung des Olschewski-Kreises<br />
zur Widerstandsgruppe um Beppo Römer. Am 4. Februar 1942 wurde<br />
Wilhelm Olschewski zusammen mit seinem Sohn Willi, seinem Schwiegersohn Otto Binder<br />
und weiteren Mitgliedern der Widerstandsgruppe verhaftet. In der Untersuchungshaft<br />
wurde Wilhelm Olschewski in der Nacht vom 30. April zum 1. Mai 1943 im Gefängnis<br />
München-Stadelheim ermordet. 499<br />
Olschewski, Willy jun.<br />
*7.2.1902 Berlin †28.06.1944 München-Stadelheim<br />
„Der Verurteilte weiß lange Zeit im voraus, daß er getötet werden soll und daß nur eine<br />
Gnade ihn zu retten vermag, die in seinen Augen den Ratschlüssen des Himmels sehr<br />
ähnlich ist ... Er ist kein Mensch mehr, sondern ein Ding, das darauf wartet, von den<br />
Henkersknechten ergriffen zu werden ... Von dem Augenblick an, da das Urteil verlesen<br />
498 Die 1919 in Berlin gegründete Zeitung war das „Organ der Kommunistischen Partei Deutschlands“.<br />
499 Antoni, Ernst (1998): Subversion für den Frieden. In: Kommunistische Partei München (Hrsg.): Die wieder<br />
gefundene Liste: 66<br />
269
wurde, gerät der Verurteilte in ein unbeirrbares Räderwerk. Etliche Wochen lang wird<br />
er durch das Getriebe gedreht, das alle seine Bewegungen bestimmt, bis es ihn schließlich<br />
den Händen ausliefert, die ihn unter die Hinrichtungsmaschine legen.“<br />
Albert Camus 500<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Willy Olschewski, der Sohn von Wilhelm Olschewski, war Maschinenschlosser. Der 23-<br />
Jährige trat 1925 in die KPD ein. Wegen seiner Beteiligung an Widerstandsaktionen war<br />
Willy Olschewski bereits vom Juni bis 11. September 1933 im KZ Dachau inhaftiert. Seit<br />
1939 beteiligte er sich aktiv an den Widerstandsaktionen der KPD und an dem Aufbau der<br />
Gruppe um seinen Vater. Der Gestapo gelang es Anfang des Jahres 1942, den kommunistischen<br />
Widerstandskreis aufzudecken. Am 4. Februar 1942 wurden die meisten Mitglieder<br />
in München verhaftet. Der Prozess vor dem VGH am 20. April 1944 endete mit dem<br />
Todesurteil für folgende Personen: Otto Binder, Raimund Gstür, Hans Hartwimmer (siehe<br />
Band 2: S. 164), Michael Hammer, Karl Huber, Simon Hutzler, Engelbert Kimberger,<br />
Willy Olschewski jun., Hans Reisinger, Beppo Römer, Willy Sachse, Gustav Straub. 501<br />
Willy Olschewsky wurde am 28. Juni 1944 hingerichtet.<br />
Sein Leichnam kam in das Anatomische Institut der Universität Würzburg. Nach Kriegsende<br />
fand seine Einäscherung statt. Die feierliche Bestattung der Gedenkurne fand am 13.<br />
September 1947 auf dem Münchner Nordfriedhof im Beisein des bayerischen Ministerpräsidenten<br />
Hans Ehard statt. 502<br />
Binder, Otto<br />
*27.10.1904 München †28.6.1944 München-Stadelheim<br />
„Nun lb. Rosa u. Erika ein letztes Lebewohl von eueren Papa und tausend Grüße u.<br />
Küsse. Ich und Willy sind beisammen u. sind auch sehr gefaßt. Lebewohl mein Kind u.<br />
Kindl, Euer Papa. Lebt wohl u. letzte Grüße v. Eueren Bruder u. Onkel Willy!“<br />
Schlussworte Otto Binders in seinem Abschiedsbrief an seine Frau und Tochter. 503<br />
500 Zitiert in: Die Zeit: Betrachtungen zur Todesstrafe v. 23.5.2001: 13<br />
501 Antoni, Ernst (1998): Subversion für den Frieden. In: Kommunistische Partei München (Hrsg.): Die wieder<br />
gefundene Liste: 62<br />
502 Antoni, Ernst (1998): Subversion für den Frieden. In: Kommunistische Partei München (Hrsg.): Die wieder<br />
gefundene Liste: 66<br />
503 Dokument in: Antoni, Ernst (1998): Subversion für den Frieden: 67<br />
270
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Der gelernte Former und Eisengießer war der Schwager von Willy Olschewski junior.<br />
Wegen seiner Mitgliedschaft in der KPD war er mehrmals in Haft. Im Zusammenhang mit<br />
der Entdeckung der Olschewski-Gruppe wurde Otto Binder ebenfalls am 4. Februar 1942<br />
festgenommen. Das vor dem VGH am 20. April 1944 verhängte Todesurteil wurde am 28.<br />
Juni 1944 in München-Stadelheim vollstreckt. Erst 1947 entdeckte man seinen Leichnam<br />
im Anatomischen Institut der Universität Würzburg. Seine sterblichen Überreste kamen<br />
in einer Urne nach München zurück, wo auf dem Nordfriedhof eine feierliche Bestattung<br />
im Beisein des damaligen Ministerpräsidenten Hans Ehard stattfand. 504<br />
Ausstellung<br />
9. Oktober – 9. November 1998: Widerstand, Verweigerung und Protest gegen das<br />
NS-Regime in München. Konzipiert vom Kulturreferat der Landeshauptstadt München.<br />
Gezeigt im Neuen Münchner Rathaus.<br />
Literatur<br />
Altmann, Peter / Bräutigam, Heinz / Mausbach-Bromberger, Barbara / Oppenheimer, Max (Hrsg.) (1975): Der<br />
deutsche antifaschistische Widerstand 1933–1945 in Bildern und Dokumenten. Frankfurt a. M.<br />
Antonie, Ernst (1998): Subversion für den Frieden. In: Kommunistische Partei München (Hrsg.) (1998): Die<br />
wieder gefundene Liste. Porträts Münchner Kommunistinnen und Kommunisten, die im antifaschistischen<br />
Widerstandskampf ihr Leben ließen. Entdeckt von Resi Huber. Verlag Otto Barck, München: 62–67<br />
Bindrich, Oswald / Römer, Susanne (1991): Beppo Römer. Ein Leben zwischen Revolution und Nation. Verfolgung<br />
und Widerstand, Band 49. Edition Hentrich, Berlin<br />
Bretschneider, Heike (1968): Widerstand gegen den Nationalsozialismus in München 1933–1945. Miscellanea<br />
Bavarica Monacensia, Band 4. München<br />
Detjen, Marion (1998): „Zum Staatsfeind ernannt“. Widerstand, Resistenz und Verweigerung gegen das NS-<br />
Regime in München. Hrsg. v. d. Landeshauptstadt München. Buchendorfer Verlag, München<br />
Institut für Zeitgeschichte (Hrsg.) (1994): Mikrofiche-Edition, Widerstand als „Hochverrat“ 1933–1945. Die<br />
Verfahren gegen deutsche Reichsangehörige vor dem Reichsgericht, dem Volksgerichtshof und dem<br />
Reichskriegsgericht. München<br />
Huber, Resi (Hrsg.) (1994): Eine Dokumentation zur Otto-Huber-Hütte in Breitbrunn am Ammersee. Vorgelegt<br />
zum 50. Todestag von vier Mitgliedern der antifaschistischen Widerstandsgruppe Olschewski. Breitbrunn<br />
Mehringer, Hartmut (1983): Die KPD in Bayern 1919–1945. Vorgeschichte, Verfolgung und Widerstand. In:<br />
Bayern in der NS-Zeit, Band 5. München<br />
Mehringer, Hartmut (1997): Widerstand und Emigration. Das NS-Regime und seine Gegner. Deutscher Taschenbuch<br />
Verlag, München<br />
Olschewski, Wilhelm, Akten im Staatsarchiv, Staatsanwaltschaften 12 888, OJs 28/29<br />
504 Antoni, Ernst (1998): Subversion für den Frieden: In: Kommunistische Partei München (Hrsg.): Die wieder<br />
gefundene Liste: 66<br />
271
Pechmann, Wilhelm Freiherr von<br />
*10.6.1859 Memmingen †10.2.1948 München<br />
„Von Pechmann hat sich dadurch in den schwarzen Tagen der deutschen Geschichte<br />
als Zeuge des anderen, des besseren Deutschlands, des der Menschlichkeit und Gerechtigkeit<br />
bewährt. Zugleich ist er ein glaubwürdiger Zeuge gewesen für die Kirche, wie sie<br />
sich nach unserer heutigen Überzeugung verstehen und wie sie handeln muß. Das läßt<br />
uns in aller Betroffenheit dankbar sagen: Gut, daß es von Pechmann gegeben hat. Wir<br />
wollen ihm ein ehrendes Gedenken bewahren.“<br />
Bundesminister a. D. Dr. Jürgen Schmude,<br />
Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland. 505<br />
Freiherr-von-Pechmann-<br />
Weg<br />
Foto: epd-bild<br />
Grabstätte des Freiherrn von Pechmann<br />
Foto: H. Engelbrecht<br />
Wilhelm Freiherr von Pechmann<br />
Foto: epd-bild<br />
272
I. Freiherr-von-Pechmann-Weg, Maxvorstadt<br />
M (2000)<br />
II. Gedenktafel im Landeskirchenamt der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern,<br />
Meiserstraße 11, Maxvorstadt<br />
Königsplatz U2/U8<br />
Evangelisch-Lutherische Kirche (2001)<br />
III. Grabstätte auf dem Nordfriedhof, Gf 73<br />
Nordfriedhof U6<br />
Zu I. Freiherr-von-Pechmann-Weg, Maxvorstadt<br />
M (2000)<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Auf Initiative des Bezirksausschusses Maxvorstadt kam es zu dieser Namengebung, um<br />
an den Freiherrn Wilhelm von Pechmann zu erinnern. Die Einweihung fand am 29. Januar<br />
2000 im Beisein des bayerischen Finanzministers Kurt Faltlhauser statt.<br />
Zu II. Gedenktafel im Landeskirchenamt der Evangelisch-Lutherischen Kirche in<br />
Bayern, Meiserstraße 11, Maxvorstadt<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Die leitenden Organe der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Bayern haben für<br />
Wilhelm von Pechmann einen Erinnerungsort ins Leben gerufen. Am 12. Januar 2001<br />
fand die Einweihung im Beisein von Landesbischof Johannes Friedrich, Regionalbischof<br />
und Oberkirchenrat Dr. Martin Bogdahn und Mitgliedern der Familie von Pechmann statt.<br />
Beim Festakt waren Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde<br />
München und Engelbert Siebler, Weihbischof der römisch-katholischen Kirche, anwesend.<br />
Der Präsident der Landessynode, Dieter Haack, nahm die Enthüllung vor.<br />
505 Das Unrecht bahnt sich nicht im Verborgenen an. In: Breit, Dieter (Hrsg.) (1998): Aufstand des Gewissens.<br />
Erinnerung an Wilhelm von Pechmann 1859–1948: 40<br />
273
KURZBESCHREIBUNG<br />
In der Eingangshalle im Evangelischen Landeskirchenamt befindet sich neben der Pförtnerloge<br />
eine Aluminiumgusstafel (0,91 m × 1,40 m) mit folgendem Text:<br />
„Zum Gedenken an D. Wilhelm Freiherr von Pechmann 1859–1948, Präsident der Landessynode<br />
und Inhaber zahlreicher kirchlicher Ehrenämter. Mit seinem eindringlichen<br />
Protest gegen die Judenverfolgung ab 1933 war er Stimme des Gewissens in unserer Kirche.“<br />
INFORMATION ÜBER DIE KÜNSTLER<br />
Die Gedenktafel hat der Münchner Architekt Tobias Köhler entworfen; der Metallkünstler<br />
Jürgen Trapp führte den Entwurf in Aluminiumguss aus.<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Wilhelm von Pechmann wurde am 10. Juni 1859 als Sohn des Staatsanwaltes Adalbert<br />
Freiherr von Pechmann und seiner Ehefrau Ida (geb. Petersen) in Memmingen geboren.<br />
Der Vater entstammte einer katholischen, die Mutter einer evangelischen Familie. Pechmann<br />
schloss mit dem Abitur am Augsburger Realgymnasium im Jahre 1877 ab. An der<br />
Münchner Universität studierte er Philosophie und Rechtswissenschaften. Es folgten Militärdienst<br />
und Assessorexamen. Auf eine akademische Laufbahn verzichtete er, weil er es<br />
als seine Pflicht gegenüber seiner Mutter und seinen jüngeren Geschwistern sah, 506 sobald<br />
wie möglich Geld zu verdienen. 1886 begann Pechmann seine berufliche Laufbahn als<br />
Rechtskonsulent bei der Bayerischen Handelsbank. Ein Jahr später ging er die Ehe mit<br />
Emma Freiin von Feilitzsch ein. 1898 wurde er zum Ersten Direktor der Bayerischen Handelsbank<br />
ernannt. Neben zahlreichen Aufgaben, die er im Bankwesen übernahm, setzte<br />
sich Pechmann für soziale und kulturelle Einrichtungen ein. Sein politisches Wirken begann<br />
bereits vor dem Ersten Weltkrieg als Mitbegründer und Vorsitzender der Deutschen<br />
Reichspartei in Bayern. „Nach dem Krieg, den er von Anfang bis zum Ende als Freiwilliger<br />
im Schützengraben mitmachte, kam er 1918 zur Bayerischen Volkspartei, die ihn in<br />
den Landtag entsandte.“ 507 Pechmann trat bereits 1919 wieder aus dieser Partei aus, da er<br />
ihren Eintritt in die Nationalversammlung und ihre Haltung zum Versailler Vertrag ablehnte.<br />
In der Revolution hatte der national-monarchistisch eingestellte von Pechmann<br />
eine Zerstörung der alten Ordnung gesehen. Ebenso war „seine Einstellung gegenüber der<br />
506 Sommer, Wolfgang (1998): Widerstand gegen offenkundiges Unrecht. In: Breit, Dieter (Hrsg.) (1998):<br />
Aufstand des Gewissens. Erinnerung an Wilhelm von Pechmann: 13<br />
507 Sommer, Wolfgang (1998): Widerstand gegen offenkundiges Unrecht. In: Breit, Dieter (Hrsg.) (1998):<br />
Aufstand des Gewissens. Erinnerung an Wilhelm von Pechmann: 14<br />
274
Demokratie von tiefem Mißtrauen, ja von Verachtung geprägt. Seine deutsch-nationale<br />
Gesinnung wußte jedoch zwischen Person und Sache genau zu unterscheiden.“ 508<br />
Wirken in Kirche und Gesellschaft<br />
Als Gründungsmitglied des Christlichen Vereins Junger Männer (CVJM) in München engagierte<br />
sich Pechmann schon früh in seiner Kirchengemeinde. Seit 1905 war er Mitglied<br />
des Kirchenvorstandes der Münchner Kirche St. Johannes. Vor dem Ersten Weltkrieg<br />
stand er als Präsident der so genannten „Steuersynode“ vor. Seit 1919 war von Pechmann<br />
als Leiter des Deutschen Evangelischen Kirchenbundes tätig. In der Weimarer Republik<br />
entwickelte sich von Pechmanns kirchliches Wirken. So nahm er die Herausforderungen<br />
des politischen und gesellschaftlichen Umfeldes an und half am Aufbau und Zusammenschluss<br />
der evangelischen Landeskirchen mit. Dabei galt seiner bayerischen Heimatkirche<br />
„stets seine besondere Arbeitskraft, Aufmerksamkeit und Liebe.“ 509 Die Evangelisch-Lutherische<br />
Bayerische Generalsynode wählte ihn 1919 zu ihrem Präsidenten. Es folgten<br />
weitere leitende kirchliche Ämter (siehe Ehrungen für Freiherr Wilhelm von Pechmann).<br />
Von 1929 bis 1933 war von Pechmann Mitglied des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses.<br />
Vertreter der christlichen Lehre<br />
Nach der Machtergreifung wurde der totale Herrschaftsanspruch der Nationalsozialisten<br />
Realität. Hitler hatte in Bezug auf das Christentum verlauten lassen: „Eine deutsche Kirche,<br />
ein deutsches Christentum ist Krampf. Man ist entweder Christ oder Deutscher. Beides<br />
kann man nicht sein.“ 510 Freiherr Wilhelm von Pechmann nahm zur politischen Herrschaft<br />
des neuen Regimes Stellung. Er vertrat den Standpunkt, dass die Kirche ihre Unabhängigkeit<br />
vom Staat bewahren müsse, um nicht vom nationalsozialistischen Regime unterjocht<br />
zu werden. Er lehnte die Pläne strikt ab, die eine Verfassungsänderung der bayerischen<br />
Landeskirche im Sinne des nationalsozialistischen Führerprinzips vorsahen.<br />
„Trotzdem konnten sich die Kirchenleitungen nicht zu einer Distanzierung von der judenfeindlichen<br />
Politik durchringen.“ 511 In einer Sitzung des Kirchenausschusses forderte er<br />
Hilfe für die verfolgten jüdischen Glaubensbrüder und -schwestern, denn: „Er sei davon<br />
durchdrungen, daß er diesen Gliedern unserer Gemeinde und unserer Kirche Schutz<br />
508 Sommer, Wolfgang (1998): Widerstand gegen offenkundiges Unrecht. In: Breit, Dieter (Hrsg.) (1998):<br />
Aufstand des Gewissens. Erinnerung an Wilhelm von Pechmann: 14<br />
509 Sommer, Wolfgang (1998): Widerstand gegen offenkundiges Unrecht. In: Breit, Dieter (Hrsg.) (1998):<br />
Aufstand des Gewissens: 15<br />
510 Zitiert nach: Klinger, Rudolf (1998): Abschied vom Untertanengehorsam. In: Breit, Dieter (Hrsg.)<br />
(1998): Aufstand des Gewissens: 26<br />
511 Klinger, Rudolf (1998): Abschied vom Untertanengehorsam: In: Breit, Dieter (Hrsg.) (1998): Aufstand<br />
des Gewissens: 27<br />
275
schuldig sei. Wir dürfen sie nicht dem Gefühl überlassen, daß sie von der Kirche, der sie<br />
seit langem angehören, in der Zeit der fürchterlichsten Not wort- und lautlos in Stich gelassen<br />
werden ...“ 512 Reden alleine genügte ihm nicht; so wandte er sich in einem Brief<br />
vom 15. Juli 1933 an den damaligen Landesbischof Hans Meiser und forderte die Landeskirche<br />
zum baldigen Handeln auf. Auch die folgenden Worte zeugen von Pechmanns moralisch-ethisch<br />
unbeugsamer Haltung: „... Wenn Gott uns offenes Unrecht in den Weg treten<br />
läßt, so ist es sein heiliger Wille nicht, daß wir solchem Unrecht uns beugen, sondern<br />
daß wir ihm auf Leben und Sterben widerstehen. Widerspruch und Widerstand gegen das<br />
Unrecht, Bekenntnis zum Recht ... als Christen sollen und dürfen wir nicht daran mitwirken,<br />
auch nicht unterlassend und schweigend, daß das Unrecht zunehme und erstarke, das<br />
Recht aber vergessen werde und verkümmere. Wenn wir beten ,Dein Wille geschehe ...‘,<br />
dürfen wir nie vergessen: Gott will nicht das Unrecht, sondern das Recht.“ 513 Außerdem<br />
forderte er nach dem Judenboykott vom 1. April 1933, die Kirche möge gegen die Entrechtung<br />
der Juden protestieren. Wieder forderte er im Kirchenausschuss eine öffentliche<br />
Kundgebung, seine Kirche möge sich „zu ihren eigenen Angehörigen jüdischer Abstammung<br />
bekennen, aber auch für unsere jüdischen Glaubensgenossen Gerechtigkeit und<br />
christliche Liebe verlangen.“ 514 Von Pechmanns Appelle waren jedoch vergeblich: Die<br />
evangelischen Bischöfe bekannten sich im Januar 1934 zum Dritten Reich und seinem<br />
Führer. Seit 1932 gab es eine „Glaubensbewegung Deutscher Christen“ (DC), die einen<br />
völkischen Protestantismus in Anlehnung an die Weltanschauung der NSDAP propagierte.<br />
Die Entscheidung<br />
Freiherr Wilhelm von Pechmann erklärte im April 1934 offiziell seinen Austritt aus der<br />
Kirche. Vergeblich hatten Landesbischof Hans Meiser und Reichsbischof Ludwig Müller<br />
versucht, von Pechmann umzustimmen. Er klagte über die „unfassbare Engherzigkeit,<br />
Kurzsichtigkeit und Verblendung“ seiner „engeren Glaubensgenossen, der ,Lutheraner‘“.<br />
515 Er protestierte gegen die „Vergewaltigung der Kirche“, gegen ihren „Mangel an<br />
Widerstandskraft“, aber „auch gegen ihr Schweigen zu viel Unrecht und all’ dem Jammer<br />
und Herzeleid, das man in ungezählte nichtarische Herzen und Häuser – christliche und<br />
jüdische – hineingetragen hat.“ 516 Von Pechmann, sah wie die nationalsozialistische Ge-<br />
512 Zitiert nach: Klinger, Rudolf (1998): Abschied vom Untertanengehorsam. In: Breit, Dieter (Hrsg.)<br />
(1998): Aufstand des Gewissens: 27<br />
513 Sommer, Wolfgang (1998): Widerstand gegen offenkundiges Unrecht. In: Breit, Dieter (Hrsg.) (1998):<br />
Aufstand des Gewissens: 18<br />
514 Sommer, Wolfgang (1998): Widerstand gegen offenkundiges Unrecht. In: Breit, Dieter (Hrsg.) (1998):<br />
Aufstand des Gewissens: 16<br />
515 Reindl, Peter (1996): Der einsame Widerstand eines alten Edelmannes. In: Sonntagsblatt Nr. 22 v.<br />
22.12.1996: 8<br />
276
waltherrschaft als antichristliche Macht die Kirchen ausschalten wollte. Deshalb sollten<br />
nach seiner Meinung die christlichen Kirchen gemeinsam Widerstand leisten.<br />
Von Pechmann wurde 1936 Mitglied der evangelischen „Bekennenden Kirche“. In der<br />
evangelisch-lutherischen Kirche war es durch gegensätzliche Auffassungen über das Verhalten<br />
zum NS-Staat zu einer Spaltung gekommen, aus der sich die „Bekennende Kirche“<br />
formierte. 1935 wandte sich die „Bekennende Kirche“ gegen die „völkisch-rassische“<br />
Weltanschauung der Nationalsozialisten. Sie protestierte besonders gegen die Ausgrenzung<br />
von Protestanten jüdischer Herkunft. In ihren Predigten erklärten die Vertreter der<br />
„Bekennenden Kirche“, dass Menschen als Menschen zu sehen sind, Gott aber Gott sei.<br />
Deshalb sei der Jude ebenso Mensch und als Mensch zu behandeln. Im März 1935 kam es<br />
zu Massenverhaftungen von 715 Geistlichen der „Bekennenden Kirche“.<br />
Nach dem Kriegsende entschied sich der 87-jährige von Pechmann zur Konversion. Im<br />
Mai 1946 wurde er in die römisch-katholische Kirche aufgenommen. Am 10. Februar<br />
1948 starb von Pechmann in München. An seinem Begräbnis auf dem Nordfriedhof nahm<br />
kein einziger leitender evangelischer Theologe teil. Der Kirchenhistoriker Professor Dr.<br />
Wolfgang Sommer spekulierte über die Gründe: „Wollte man in der bayerischen Landeskirche<br />
nicht wahrhaben, daß man als grundkonservativer Lutheraner energischen Widerstand<br />
leisten konnte?“ 517<br />
„Nicht das Beliebige, sondern das Rechte tun und wagen, nicht im Möglichen Schweben,<br />
das Wirkliche tapfer ergreifen, nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die<br />
Freiheit.“ Dies schrieb im August 1944 im Gefängnis Berlin-Tegel der Theologe Dietrich<br />
Bonhoeffer 518 , ein Vertreter der evangelischen „Bekennenden Kirche“.<br />
Ehrungen<br />
1913 Ehrendoktorwürde der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität<br />
Erlangen.<br />
1920–1922 Präsident der Bayerischen Generalsynode der Evangelisch-Lutherischen<br />
Landeskirche.<br />
1921 Präsident des Stuttgarter verfassunggebenden Kirchentages.<br />
1924 Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages in Bethel.<br />
1925 Mitglied der Stockholmer Weltkirchenkonferenz.<br />
516 Zitiert in: Sommer, Wolfgang (1998): Widerstand gegen offenkundiges Unrecht. In: Breit, Dieter (Hrsg.)<br />
(1998): Aufstand des Gewissens: 19<br />
517 Zitiert in: Reindl, Peter (1996): Der einsame Widerstand eines alten Edelmannes. In: Sonntagsblatt Nr. 22<br />
v. 22.12.1996: 8<br />
518 Zitiert in: Bethge, Eberhard (1984): Letzte Briefe im Widerstand: 126<br />
277
1927 Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages in Königsberg.<br />
1929–1933 Mitglied im Deutschen Evangelischen Kirchenausschuss.<br />
1930 Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages in Nürnberg.<br />
1998 Gedenkveranstaltung der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche<br />
Bayerns in Memmingen.<br />
29. Januar 2000 Festakt im Prinz-Carl-Palais in München.<br />
12. Januar 2001 Festakt im Bayerischen Landeskirchenamt in München.<br />
Ausstellung<br />
9. Oktober – 8. November 1998: Widerstand, Verweigerung und Protest gegen das<br />
NS-Regime in München. Konzipiert vom Kulturreferat der Landeshauptstadt München.<br />
Gezeigt im Neuen Münchner Rathaus.<br />
Literatur<br />
Bethge, Eberhard (1984): Dietrich Bonhoeffer. Theologie, Christ, Zeitgenosse. 5. Auflage, München<br />
Bogdahn, Martin (1998): Die Stimme des Gewissens. In: Aufstand des Gewissens: 42–47<br />
Breit, Dieter (Hrsg.) (1998): Aufstand des Gewissens. Erinnerung an Wilhelm von Pechmann 1859–1948.<br />
Texte und Bilder der Gedenkveranstaltung der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in<br />
Bayern in Memmingen. Hrsg. 1998 im Auftrag des Präsidenten der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen<br />
Kirche in Bayern. Hans Venus Verlag, München<br />
Brock, Edna (1998): Die Frage nach der eigenen Identität. In: Breit, Dieter (Hrsg.) (1998): Aufstand des Gewissens:<br />
31–33<br />
Detjen, Marion (1998): Die evangelische Kirche. In: Detjen Marion: „Zum Staatsfeind ernannt“: 272–273<br />
Detjen, Marion (1998): „Zum Staatsfeind ernannt“. Widerstand, Resistenz und Verweigerung gegen das NS-<br />
Regime in München. Hrsg. v. d. Landeshauptstadt München. Buchendorfer Verlag, München<br />
Diem, Hermann (1974): Ja oder nein. Theologie in Kirche und Staat. Stuttgart, Berlin<br />
Elias, O. L. (1961): Der evangelische Kirchenkampf und die Judenfrage. In: Informationsblatt für die Gemeinden<br />
in den niederdeutschen lutherischen Landeskirchen. Hamburg<br />
Gailus, M. (Hrsg.) (1987): Kirchengemeinden im Nationalsozialismus. Sieben Beispiele aus Berlin. Verfolgung<br />
und Widerstand, Band 38. Edition Hentrich, Berlin<br />
Haack, Dieter (1998): Ein klares Signal gegen Vergessen und Verdrängen. In: Breit, Dieter (Hrsg.) (1998):<br />
Aufstand des Gewissens: 7–10<br />
Kantzenbach, Friedrich Wilhelm (1968): Der Weg der evangelischen Kirche vom 19. zum 20. Jahrhundert.<br />
Gütersloh<br />
Kantzenbach, Friedrich Wilhelm (1971): Wilhelm Freiherr von Pechmann: Briefe 1931–1947. Degener Verlag,<br />
Neustadt/Aisch<br />
Katzenbach, Friedrich Wilhelm (1971): Widerstand und Solidarität der Christen in Deutschland 1933–1945.<br />
Eine Dokumentation zum Kirchenkampf aus den Papieren des D. Wilhelm Freiherr von Pechmann. Degener<br />
Verlag, Neustadt/Aisch<br />
Kantzenbach, Friedrich Wilhelm (1980): Evangelischer Geist und Glaube im neuzeitlichen Bayern. München<br />
Klinger, Rudolf (1998): Abschied vom Untertanengehorsam. In: Breit, Dieter (Hrsg.) (1998): Aufstand des<br />
Gewissens: 25–30<br />
Meier, Kurt (1976): Der evangelische Kirchenkampf. Gesamtdarstellung in drei Bänden. Göttingen<br />
278
Niemöller, Wilhelm (1956): Die Evangelische Kirche im Dritten Reich. Bielefeld<br />
Nowak, Kurt (1997): Kirchen und Religion. In: Benz, W. / Graml, H. / Weiß, H. (Hrsg.) (1997). Enzyklopädie<br />
des Holocaust. dtv, München: 187–202<br />
Schmude, Jürgen (1998): Das Unrecht bahnt sich nicht im Verborgenen an. In: Breit, Dieter (Hrsg.) (1998):<br />
Aufstand des Gewissens: 35–40<br />
Scholder, Klaus (1970): Die Kapitulation der Kirche vor dem nationalsozialistischen Staat. In: ZKG, Band 81:<br />
182–206<br />
Scholder, Klaus (1985): Die Kirchen und das Dritte Reich. 2 Bände. Frankfurt a. M., Berlin, Wien<br />
Sommer, Wolfgang (1997): Wilhelm von Pechmann und die bayerische Landeskirche zur Zeit des Nationalsozialismus<br />
in München. Dokumentation des Evangelischen Pressedienstes Bayern, Ausgabe 1. München<br />
Sommer, Wolfgang (1998): Wilhelm von Pechmann. In: Profile des Luthertums. Biographien zum 20. Jahrhundert.<br />
Gütersloh: 541–558<br />
Sommer, Wolfgang (1998): Widerstand gegen offenkundiges Unrecht. In: Breit, Dieter (Hrsg.) (1998): Aufstand<br />
des Gewissens: 11–20<br />
Winter, Helmut (1998): „Zur Judenverfolgung darf die Kirche nicht schweigen“. In: Sonntagsblatt – Evangelische<br />
Wochenzeitung für Bayern (1998) Nr. 6: 20<br />
279
Pfülf, Toni<br />
*14.12.1877 Metz †8.6.1933 München<br />
„Sie hat das Leben und ihre Freunde geliebt und war ihnen dankbar.<br />
Sie ging mit dem sicheren Wissen von dem Sieg der großen Sache des Proletariats,<br />
der sie dienen durfte. München, 17. Februar 1933 Toni Pfülf.“ 519<br />
Denkmal für Toni Pfülf auf dem<br />
Nordfriedhof<br />
Foto: H. Engelbrecht<br />
519 Selbst verfasste Todesanzeige von Toni Pfülf.<br />
Toni Pfülf<br />
Foto: Süddeutscher Verlag<br />
Gedenktafel in der<br />
Leopoldstraße 77<br />
Foto: H. Pfoertner<br />
280
I. Toni-Pfülf-Straße, Fasanerie-Nord<br />
M (1963)<br />
II. Gedenktafel, Grund- und Hauptschule an der Toni-Pfülf-Straße 30, Feldmoching<br />
Fasanerie S1<br />
M (1985)<br />
III. Toni-Pfülf-Denkmal Nordfriedhof, Sekt. 73 Ungererstraße 130, Schwabing<br />
Nordfriedhof U6<br />
M (1993)<br />
IV. Gedenktafel, Leopoldstraße 77, Schwabing<br />
Münchner Freiheit U3/U6<br />
M (2001)<br />
Zu II. Gedenktafel, Toni-Pfülf-Straße 30, Hauptschule an der Toni-Pfülf-Straße<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Auf Antrag der Stadtratsmitglieder Inge Deckert und Gertraud Schmidt, gestellt am 30.<br />
Juni 1983, sollte eine Gedenktafel für die ehemalige Reichstagsabgeordnete Toni Pfülf angebracht<br />
werden. Als Erinnerungsort wurde die Hauptschule an der Toni-Pfülf-Straße<br />
ausgewählt. Dort fand die Enthüllung der Gedenktafel im Rahmen einer Gedenkfeier am<br />
11. Dezember 1984 durch Stadtschulrat Albert Loichinger statt.<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
In der Schuleingangshalle befindet sich eine Metalltafel aus Kupfer (0,92 m × 1,27 m) mit<br />
folgendem Text: „Toni Pfülf 1877–1933. Als sozialdemokratische Abgeordnete des Deutschen<br />
Reichstages hat sich die Münchner Lehrerin für Gleichberechtigung der Frauen,<br />
für die Bildungschancen von Arbeiterkindern und die Abschaffung der Todesstrafe eingesetzt.<br />
Politische Verfolgung trieb sie in den Freitod. Ihr Wirken ist unvergessen.“<br />
INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER<br />
Die Gedenktafel schuf der Graphiker Eugen Weiß.<br />
281
Zu III. Toni-Pfülf-Denkmal<br />
Nordfriedhof, Ungererstraße 130, Sekt. 73, Alte Heide<br />
Nordfriedhof U6<br />
M (1993)<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Das Grab von Toni Pfülf auf dem Nordfriedhof wurde 1970 aufgelassen. Am 15. Mai<br />
1992 machte der Münchner Bürgermeister Christian Ude den Vorschlag, dort eine Gedenktafel<br />
oder einen Gedenkstein für Toni Pfülf zu errichten. Dieser konnte zum 60. Todestag<br />
von Antonie Pfülf eingeweiht werden. Die bayerische SPD-Vorsitzende Renate<br />
Schmidt, der damals 92-jährige Genosse Josef Felder und Christian Ude waren bei dieser<br />
Zeremonie anwesend.<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
Eine runde, zwei Meter hohe Muschelkalksäule mit pyramidenförmigem Abschluss trägt<br />
die bronzene Aufschrift: „Toni Pfülf“<br />
Die Gedenkstätte auf Sektion 73 ist von Hecken und Bäumen gesäumt.<br />
INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER<br />
Den Gedenkstein schuf der Architekt Herbert Temesl.<br />
Zu IV. Gedenktafel Leopoldstraße 77, Schwabing<br />
M (2001)<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Dr. Hans-Jochen Vogel, Altbürgermeister von München und Berlin und Vorsitzender des<br />
Vereins „Gegen Vergessen – Für Demokratie“, schlug am 13. Juni 2000 die Schaffung einer<br />
Gedenktafel für Antonie Pfülf vor. Die Einweihung fand am 22. Mai 2001 im Beisein<br />
von Münchens Oberbürgermeister Christian Ude statt.<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
Am Haus in der Leopoldstraße 77 befindet sich eine Bronzetafel mit einem Porträt von<br />
Antonie Pfülf und folgendem Text: „Antonie Pfülf, 1877–1933 Reichstagsabgeordnete,<br />
besonders engagiert im Schulwesen, Vorkämpferin für die Rechte der Frauen, wohnte von<br />
282
1915–1927 in diesem Hause.“<br />
INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER<br />
Die Gedenktafel schuf der Münchner Bildhauer Toni Preis.<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Als zweites Kind der Familie Pfülf wurde Antonie in Metz geboren. Der Vater Emil Pfülf<br />
war Offizier und stammte aus Speyer; die Mutter Justine kam aus einer Aschaffenburger<br />
Juristenfamilie. Antonie widersetzte sich dem Wunsch der Eltern nach einer standesgemäßen<br />
Heirat; stattdessen entschied sie, einen Beruf zu erlernen und selbstständig zu werden.<br />
In München besuchte sie die Lehrerinnen-Bildungsanstalt. Nach absolvierter Prüfung arbeitete<br />
sie als Hilfslehrerin in Oberammergau, Lechhausen und Peiting. Später wirkte sie<br />
als Aushilfslehrerin und an der Fortbildungsschule für Kaufleute. Schließlich bekam Antonie<br />
Pfülf 1910 in München eine Anstellung als Lehrerin; dieser Beruf galt damals noch<br />
als Männerdomäne. 1902 trat sie in die SPD ein. Während des Ersten Weltkrieges übernahm<br />
Toni Pfülf eine ehrenamtliche Tätigkeit als Armen- und Waisenrätin. Sie half damit<br />
zahlreichen im Elend lebenden Familien oftmals auch mit eigenen Mitteln.<br />
Im November 1918 trat sie – ohne auf der Liste zu stehen – auf einer Sitzung des Arbeiterund<br />
Soldatenrates 520 im Münchner Mathäser-Festsaal vor das Rednerpult. Die Aufforderung<br />
des Sitzungsleiters Erich Mühsam, die Versammlung zu verlassen, kommentierte sie wie<br />
folgt: „Man kann mich nur mit Gewalt aus dem Sitzungssaal befördern, denn ich habe hier<br />
im Arbeiter- und Soldatenrat die Interessen der Frauen zu vertreten.“ 521 Mit Unterstützung<br />
des Kultusministers Johannes Hoffmann erhielt sie eine Kandidatur im Wahlkreis Oberbayern-Schwaben<br />
und wurde 1919 Abgeordnete in der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung.<br />
Besonders hervorzuheben ist ihr Einsatz für das Frauenwahlrecht und die<br />
Gleichberechtigung: auf einer Sitzung des Arbeiter- und Soldatenrates vertrat sie die Belange<br />
der Frauen (gerechter Lohnausgleich, Anpassung der Sozialhilfe) und mahnte die<br />
schlechte Versorgung von Kriegswaisen und Kriegsversehrten an. 1920 erhielt sie ein<br />
Reichstagsmandat; damit war Toni Pfülf die erste bayerische Reichstagsabgeordnete neben<br />
36 Frauen, die von anderen Ländern in die Nationalversammlung gewählt wurden.<br />
In der Zeit der Weimarer Republik von 1920–1933 wirkte sie als Reichstagsabgeordnete,<br />
engagierte sich beim Entwurf eines neuen Parteiprogramms, arbeitete am neuen Reichsschulgesetz<br />
mit und setzte sich für die Verbesserung der Bildungsmöglichkeiten von Arbeiterkindern<br />
ein. Die Gleichberechtigung der Frau in Ehe, Beruf und Politik durchzuset-<br />
520 Gegründet 1918, um die provisorische Regierung von Kurt Eisner zu stützen.<br />
521 Volland, Eva Maria / Bauer, Reinhard (Hrsg.) (1991): München Stadt der Frauen: 120<br />
283
zen, war eines ihrer weiteren Hauptziele. Schon Anfang der zwanziger Jahre erkannte sie<br />
die Gefahren des aufkommenden Nationalsozialismus.<br />
Toni Pfülfs politische Laufbahn<br />
Von 1919–1924 vertrat die Sozialdemokratin den Wahlkreis Oberbayern-Schwaben und<br />
ab der dritten Wahlperiode den Wahlkreis Niederbayern-Oberpfalz, den sie bis zur 8.<br />
Wahlperiode 1933 inne hatte. Weil sie die Arbeiterschaft zum Widerstand gegen das NS-<br />
Regime aufforderte, wurde Toni Pfülf verhaftet. 522 Als Antwort auf den überraschenden<br />
Zuwachs der NSDAP-Wähler, die 1930 die stärkste Fraktion nach der SPD wurde, erschien<br />
ihre Broschüre: Die politische Wirksamkeit der Frau. Sie setzte sich auch für den<br />
„Weltfriedensbund der Mütter und Erzieherinnen“ ein. Eines ihrer politischen Anliegen<br />
war eine gebildete und politisch aufgeklärte Bevölkerung.<br />
In der Berliner Kroll-Oper nahm Toni Pfülf bei der Abstimmung über das „Gesetz zur Behebung<br />
der Not von Volk und Reich vom 24. März 1933“ – des so genannten Ermächtigungsgesetzes<br />
– teil, dem die meisten SPD-Parlamentarier (94 von 120) im Gegensatz zu<br />
Vertretern der anderen Fraktionen nicht zustimmten. Der Vorsitzende der SPD Otto Wels<br />
hielt dort eine engagierte Rede; doch zur gleichen Zeit hatten bereits einige Parteigenossen<br />
in Gefängnissen und Konzentrationslagern ihre bürgerlichen Rechte verloren. Ende März<br />
1933 brachte Toni Pfülf die polizeilich gesuchten Berliner Parteigenossen Rudolf Hilferding<br />
und Tony Breitscheid über die Grenze in die Schweiz. Sie selbst kehrte jedoch wieder<br />
nach Deutschland zurück. 523 Während ihres letzten Berlin-Aufenthaltes sollte auch über<br />
die „Friedensresolution“ des Reichstags vom 17. März 1933 abgestimmt werden. Toni<br />
Pfülf wollte ihre Fraktion davon überzeugen, dass eine Teilnahme an der Reichstagssitzung<br />
verantwortungslos und unangemessen sei, weil Hitler dem Ausland deutsche Friedfertigkeit<br />
vortäusche. Sie konnte sich aber damit nicht durchsetzen und rief ihre Partei<br />
dazu auf, „... den Widerstand zu organisieren. Das ist es, was die Arbeiterklasse von uns<br />
erwartet!“ 524 Einem jungen Abgeordneten vertraute sie an: „Der mich aufwühlende Gedanke,<br />
daß die große Partei und das Millionenheer der Gewerkschaftler, daß ihr Männer<br />
nicht auf jedes Risiko hin Widerstand geleistet habt – der läßt mir keine Ruhe mehr.“ 525<br />
Den Ratschlag des Parteivorsitzenden Paul Löbe (1875–1967) zu emigrieren, verwarf sie:<br />
„Ich bin nicht der Mensch, der sich versteckt. Ich habe immer offen gekämpft. Aber nun<br />
ist es sinnlos geworden. Und den Weg, den Ihr jetzt geht, mag ich nicht mitgehen.“ 526 Toni<br />
522 Dertinger, Antje (1984): Dazwischen liegt nur der Tod: 155<br />
523 Dertinger, Antje (1984): Dazwischen liegt nur der Tod: 90f<br />
524 Dertinger, Antje (1984): Dazwischen liegt nur der Tod: 117<br />
525 Bayerisches Seminar für Politik e.V. (1988): Toni Pfülf 1877–1933: 12. Auch in: Vieregg, Hildegard<br />
(1992): Wächst Gras darüber?: 110<br />
526 Dertinger, Antje (1984): Dazwischen liegt nur der Tod: 119<br />
284
Pfülf setzte ihrem Leben am 8. Juni 1933 selbst ein Ende.<br />
Am 12. Juni 1933 fand ihre Bestattung auf dem Nordfriedhof statt. Das Grab wurde 1970<br />
aufgelassen.<br />
Ausstellung<br />
18. Juni – 11. Oktober 1998: Geschichte der Frauen in Bayern. Von der Völkerwanderung<br />
bis heute. Landesausstellung des Hauses der Bayerischen Geschichte in den Ausstellungshallen<br />
im Klenzepark in Ingolstadt.<br />
Ehrungen<br />
1986 Gedenktafel am Gewerkschaftshaus in Regensburg, Richard-Wagner-Straße.<br />
1988 „Antonie-Pfülf-Haus“, Geschäftsstelle der SPD in Regensburg.<br />
Antonie-Pfülf-Preis wird von den Bayerischen Sozialdemokraten alle zwei Jahre für<br />
„Verdienste um die Förderung der politischen Mitwirkung von Frauen in der SPD“<br />
verliehen.<br />
Literatur<br />
Bayerisches Seminar für Politik e.V. (1988): Toni Pfülf 1877–1933. München<br />
Bracher, Karl Dietrich (1955): Die Auflösung der Weimarer Republik. Ring Verlag, Stuttgart<br />
Bracher, Karl Dietrich (1987): Die Weimarer Republik 1918–1933. Droste Verlag, Düsseldorf<br />
Dertinger, Antje (1984): Dazwischen liegt nur der Tod. Leben und Sterben der Sozialistin Antonie Pfülf. Verlag<br />
J. H. W. Dietz, Berlin, Bonn<br />
Felder, Josef (1982): Mein Weg – Buchdrucker, Journalist, SPD-Politiker. In: Abgeordnete des Deutschen<br />
Bundestages. Aufzeichnungen und Erinnerungen. Band I. Boppard<br />
Felder, Josef (Hrsg.) (2000): Warum ich Nein sagte. Erinnerungen für ein langes Leben für die Politik. Pendo<br />
Verlag, München<br />
Hoegner, Wilhelm (1959): Der schwierige Außenseiter. Erinnerungen eines Abgeordneten, Emigranten und<br />
Ministerpräsidenten. Isar Verlag, München<br />
Hoegner, Wilhelm (1979): Die verratene Republik. Deutsche Geschichte 1919–1933. Nymphenburger Verlag,<br />
München<br />
Mommsen, Hans (1989): Die verspielte Freiheit. Der Weg der Republik von Weimar in den Untergang 1918–<br />
1933. Propyläen Verlag, Berlin<br />
Niggemann, Heinz (Hrsg.) (1981): Frauenemanzipation und Sozialdemokratie, Frankfurt a. M.<br />
Pfülf, Antonie (1922): Kultur- und Schulpolitik. Erläuterungen zum Görlitzer Programm. Berlin<br />
Pfülf, Toni. In: ED 106 Walter Hammer, Band 55. IfZ-Archiv München<br />
Sontheimer, Kurt (1999): Die kurze Demokratie. In: Der Spiegel 1999 Nr. 33 v. 16.8.99: 64–73<br />
Specht, Annette von (1998): Geschichte der Frauen in Bayern: von der Völkerwanderung bis heute. Veröffentlichung<br />
zur bayerischen Geschichte und Kultur, Band 39. Friedrich Pustet Verlag, Regensburg<br />
Vieregg, Hildegard (1993): Wächst Gras darüber? MPZ-Themenhefte zur Zeitgeschichte. Universitätsdruckerei<br />
u. Verlag Dr. C. Wolf & Sohn, München<br />
285
Volland, Eva Maria (1988): Frauenleben und Frauenbewegung. Hrsg. v. DGB-Bildungswerk München<br />
Volland, Eva Maria (1992): Antonie Pfülf „... Die Interessen der Frauen vertreten.“ In: Mehringer, Hartmut<br />
(Hrsg.) (1992): Von der Klassenpartei zur Volkspartei. München: 187–191<br />
Volland, Eva Maria / Bauer, Richard (Hrsg.) (1991): München. Stadt der Frauen. Kampf für Frieden und<br />
Gleichberechtigung. 1800–1945. München, Zürich<br />
Winkler, Heinrich August (1993): Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie. C.<br />
H. Beck Verlag, München<br />
286
Denkmal am Platz der Freiheit<br />
Foto: Andreas Olsen<br />
287<br />
Platz der Freiheit<br />
„Sie schrien vor dem Tod und ihre Leiber krallten sich an<br />
nassen, sturmgepeitschten Tauen und ihre Blicke schauten<br />
voller Grauen das Meer im Aufruhr, jäh entfesselter Gewalten.<br />
,Ihr ewigen, ihr guten, ihr erzürnten Götter,<br />
helft oder gebt ein Zeichen, das uns künde<br />
den, der euch kränkte mit geheimer Sünde,<br />
den Mörder oder Eidvergessnen oder Spötter,<br />
der uns zum Unheil seine Missetat verbirgt<br />
um seines Stolzes ärmlichen Gewissens!’<br />
So flehten sie. Und Jona sprach: ,Ich bin es!<br />
Ich sündigte vor Gott. Mein Leben ist verwirkt.
Tut mich von euch! Mein ist die Schuld. Gott zürnt mir sehr.<br />
Der Fromme soll nicht mit dem Sünder enden!‘<br />
Sie zitterten. Doch dann mit starken Händen<br />
verstießen sie den Schuldigen. Da stand das Meer.“<br />
Gedicht Jona von Dietrich Bonhoeffer, das er in Haft in Berlin-Tegel geschrieben und am<br />
8. Oktober 1944 an Eberhard Bethge übergeben hatte. 527<br />
I. Platz der Freiheit, Neuhausen<br />
Rotkreuzplatz U1 und Tram 12<br />
M (1962)<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Laut Stadtratsbeschluss vom 5. Februar 1946 erfolgte die Umbenennung des Hindenburg-<br />
Platzes am 12. Februar 1946 in Platz der Freiheit.<br />
II. Denkmal am Platz der Freiheit<br />
Rotkreuzplatz U1 und Tram 12<br />
M (1985)<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Auf Initiative der Gruppe Neuhausen stellte die SPD-Fraktion im 28. Stadtbezirk am 13.<br />
Mai 1985 den Antrag, anlässlich des 40. Jahrestag des Kriegsendes auf dem Platz der Freiheit<br />
eine Gedenktafel aufzustellen. Der neu gestaltete Gedenkstein, – der sich bisher auf<br />
dem Platz der Opfer des Nationalsozialismus befand – wurde am 16. November 1985 vom<br />
Münchner Bürgermeister Dr. Klaus Hahnzog der Öffentlichkeit übergeben.<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
Ein behauener Steinblock aus Flossenbürger Granit (2,6 m Höhe × 1,10 m Breite) steht<br />
auf einen von Bäumen und Hecken gesäumten Platz und trägt die Inschrift: „Den Opfern<br />
im Widerstand gegen den Nationalsozialismus“.<br />
527 Bethge, Eberhard u. Renate (Hrsg.) (1984): Letzte Briefe im Widerstand: 125–126<br />
288
INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER<br />
Gedenkstein und Schrift schuf der akademische Bildhauer Karl Oppenrieder.<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Im Jahre 1890 wurde die an der westlichen Peripherie Münchens gelegene Gemeinde<br />
Neuhausen eingemeindet. Heute bezieht der Stadtteil Neuhausen die Ortsteile Nymphenburg<br />
und Gern mit ein. An die Opfer des Widerstands erinnert das Denkmal auf dem im<br />
Jahre 1946 umbenannten Platz der Freiheit. Im Jahre 1992 informierte eine von der Landeshauptstadt<br />
angeregte Ausstellung mit dem Titel: „Hitler war kein Betriebsunfall! Die<br />
,Hauptstadt der Bewegung´ im Stadtteil Neuhausen“ über diese Zeit. Die Mitglieder der<br />
„Geschichtswerkstatt Neuhausen e. V.“ publizierten dazu ein Begleitbuch.<br />
Literatur<br />
Geschichtswerkstatt Neuhausen e.V. (Hrsg.) (1993): Zum Beispiel Neuhausen 1918–1933. Die nationalsozialistische<br />
„Kampfzeit“ in einem ehemaligen Stadtteil der „Hauptstadt der Bewegung“. Buchendorfer Verlag,<br />
München<br />
Horn, Heinrich / Karl, Willibald (1989): Neuhausen, Geschichte und Gegenwart. Hrsg. v. Richard Bauer, Hugendubel<br />
Verlag, München<br />
Mehringer, Helmut (1985): Bayern in der NS-Zeit, Band 5. München, Wien<br />
289
Platz der Opfer des Nationalsozialismus, Maxvorstadt<br />
Odeonsplatz U3/U6 und Bus 53<br />
M (1965 und 1985)<br />
Platz der Opfer des Nationalsozialismus<br />
290<br />
Denkmal am Platz der Opfer des Nationalsozialismus<br />
Foto: A. Olsen
I. Denkmal<br />
M (1965)<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Laut Stadtratsbeschluss erfolgte am 9. September 1946 die Benennung des Rondells am<br />
Schillerdenkmal an der Brienner Straße in „Platz der Opfer des Nationalsozialismus“. Am<br />
3. November 1964 beantragte die SPD-Fraktion im Stadtrat der Landeshauptstadt München,<br />
dort ein Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus zu errichten. Es konnte am<br />
8. November 1965 vom Münchner Oberbürgermeister Dr. Hans-Jochen Vogel enthüllt<br />
werden.<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
Der zweieinhalb Meter hohe Gedenkstein aus Flossenbürger Granit trug die Inschrift:<br />
„Den Opfern des Nationalsozialismus“. Dieser Gedenkstein wurde im Jahre 1985 an den<br />
Platz der Freiheit (siehe Band 2: Platz der Freiheit) verlagert.<br />
INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER<br />
Den Gedenkstein schuf der akademische Bildhauer Karl Oppenrieder.<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Nach der Errichtung des Denkmals war eine Gedenkstätte auf dem Gelände des im Jahre<br />
1949/50 abgerissenen Wittelsbacher Palais geplant.<br />
II. Denkmal<br />
M (1985)<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Die Anträge der Fraktionen der FDP und CSU vom 8. Januar 1980 beziehungsweise vom<br />
31. Januar 1983 im Münchner Stadtrat auf Errichtung eines Denkmals am Platz der Opfer<br />
des Nationalsozialismus wurden genehmigt.<br />
Oberbürgermeister Georg Kronawitter übergab am 8. November 1985 das Denkmal der<br />
Öffentlichkeit.<br />
291
KURZBESCHREIBUNG<br />
Auf einer Basaltsäule ruht ein aus Stahl geschmiedetes Kerkergitter, in dem eine Gasflamme<br />
brennt. Das sechs Meter hohe Denkmal trägt die Inschrift: „Den Opfern der Nationalsozialistischen<br />
Gewaltherrschaft“.<br />
INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER<br />
Der Entwurf des Bildhauers Andreas Sobeck wurde aus hundert eingereichten Arbeiten<br />
ausgewählt. „Eine einfache Säule trägt einen zeichenhaften Kerker, in dem ein Feuer<br />
brennt. Das Feuer als Zeichen des Lebendigen gegenüber der starren Struktur der Ideologie.<br />
Feuer als Fackel der Freiheit – als ewiges Licht des Gedenkens – als Funken der<br />
Hoffnung – als Lebenselement, das es zu bewahren gilt.“ Andreas Sobeck (1984)<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Das Denkmal hat einen unmittelbaren Ortsbezug zur ehemaligen Gestapo-Zentrale, die<br />
auf dem Gelände der heutigen Bayerischen Landesbank eingerichtet war. Dort stand damals<br />
das Wittelsbacher Palais (siehe Band 3: Wittelsbacher Palais), in dem von Herbst<br />
1933 bis Kriegsende die Bayerische Politische Polizei (PolP) und die Geheime Staatspolizei<br />
(Gestapo) ihren Sitz hatten.<br />
292
293<br />
Politische Opfer<br />
Gedenkstätte für politische Opfer auf dem Ostfriedhof<br />
Foto: A. Olsen
Gedenkstätte<br />
Ostfriedhof, Gräberfeld 148a, Obergiesing<br />
St. Martinstraße S1/S2<br />
M (1958)<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Die Gedenkstätte wurde laut Stadtratsbeschluss vom 22. April 1958 errichtet.<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
Die Urnenanlage ist mit einer zweieinhalb Meter hohen, aus dunklem Wölsauer Syenit bestehenden<br />
Gedenkstele gekennzeichnet; sie trägt die Inschrift: „Für ihre Überzeugung haben<br />
unter der politischen und geistigen Unterdrückung der Jahre 1933–1945 tapfere<br />
Frauen und Männer ihr Leben geopfert. Ehre ihrem Andenken.“<br />
Die Stele wurde im Jahre 1997 von der Landeshauptstadt München restauriert.<br />
INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER<br />
Diesen Gedenkstein schuf der Bildhauer Konstantin Frick.<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Hier befinden sich die Urnen der im Zusammenhang mit dem so genannten „Röhm-<br />
Putsch“ von Ende Juni bis Anfang Juli 1934 von SS-Offizieren auf Befehl Hitlers ermordeten<br />
Konkurrenten und Gegner des Nationalsozialismus. 528<br />
Unter ihnen befand sich der im KZ Dachau erschossene Fritz Gerlich (siehe Band 1: Gerlich),<br />
Herausgeber der Zeitschrift Der gerade Weg. In Berlin zählten General Kurt Schleicher<br />
und dessen Ehefrau zu den Opfern. Die Gesamtzahl der Ermordeten betrug 87 Männer<br />
und drei Frauen. 529 Diese Morde ließ Hitler per „Gesetz über Maßnahmen zur Staatsnotwehr<br />
vom 30. Juli 1934“ für rechtens erklären. Mit diesem Gesetz wurde Hitler zum<br />
„obersten Gerichtsherrn des deutschen Volkes“. Die Diktatur war gefestigt, als nach dem<br />
Tod des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg am 2. August 1934 die Offiziere und<br />
Soldaten den Führereid schwören mussten.<br />
528 Unter dem Vorwand eines geplanten Putsches ließ Hitler den SA-Chef Ernst Röhm und andere SA-Führer<br />
festnehmen und ermorden.<br />
529 Gritschneder, Otto (1993): Der Röhmputsch am 30. Juni 1934. In: München – „Hauptstadt der Bewegung“:<br />
228<br />
294
Literatur<br />
Aretin, Otmar von / Cartarius, Ulrich (1994): Opposition gegen Hitler. Bilder, Texte, Dokumente. Sammlung<br />
Siedler, Berlin<br />
Gritschneder, Otto (1993): „Der Führer hat Sie zum Tode verurteilt ...“. Hitlers „Röhm-Putsch“-Morde vor<br />
Gericht. C. H. Beck Verlag, München<br />
Gritschneder, Otto (1993): Der „Röhm-Putsch“ am 30. Juni 1934. In: München – „Hauptstadt der Bewegung“.<br />
Ein Projekt des Münchner Stadtmuseums. Klinkhardt & Biermann, München: 228<br />
Detjen, Marion (1998): „Zum Staatsfeind ernannt ...“ Widerstand, Resistenz und Verweigerung gegen das NS-<br />
Regime in München. Landeshauptstadt München (Hrsg.). Buchendorfer Verlag, München<br />
Richardi, Hans-Günter / Schumann, Kurt (1993): Geheimakte Gerlich / Bell. Röhms Pläne für ein Reich ohne<br />
Hitler. Ludwig Verlag, München<br />
295
Grabanlage<br />
Friedhof Perlacher Forst, Gräberfeld 112, Giesing<br />
Stadelheimer Straße 240<br />
Schwanseestraße Tram 27<br />
M (1998)<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
296<br />
Polnische Kriegsopfer<br />
Grabanlage für polnische Kriegsopfer<br />
Foto: A. Olsen<br />
Die in Metallsärgen bestatteten polnischen Kriegsgefangenen waren 1947 in der Krypta<br />
des Westfriedhofes beigesetzt worden. Nach 50-jähriger Ruhefrist wurde eine Rückfüh-
ung nach Polen in Erwägung gezogen. Nach einem Stadtratsbeschluss von 1997, die Opfer<br />
hier zu bestatten, setzten sich der Volksbund für Kriegsgräberfürsorge, das polnische<br />
Konsulat und die Landeshauptstadt München dafür ein, sie auf dem Friedhof Perlacher<br />
Forst zu bestatten. Dieser Ort steht im räumlichen Bezug zur Displaced-Persons-Grabanlage<br />
(siehe Band 1: Displaced Persons), in der polnische Zwangsarbeiter ihre letzte Ruhestätte<br />
haben. Die Einweihung fand im Beisein des polnischen Generalkonsuls Dariusz<br />
Laska am 10. Mai 1998 statt.<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
Auf einer Fläche von 9 m × 4,2 m sind die neun Gräber mit pultförmigen Steinplatten<br />
(0,4 m × 0,42 m) gekennzeichnet, in die Namen und Lebensdaten eingraviert wurden. Ergänzt<br />
wird die Grabreihe durch eine quadratische Steinplatte mit den Maßen 1,5 m ×<br />
1,5 m × 0,35 m. In sie ist das Nationalsymbol Polens eingraviert. Unter dem Adler ist folgende<br />
Inschrift in polnischer und deutscher Sprache zu lesen:<br />
„Diese Soldaten konnten nicht heimkehren. Heimaterde aus Polen deckt ihr Grab.“<br />
Stanislaw Pilch *30.4.1925 †22.4.1947<br />
Dr. Marian Dembinski *? †1.1947<br />
Marian Wisniewski *1908 †7.1946<br />
Jan Mroczek *10.7.1927 †23.4.1947<br />
Wladyslaw Niezgoda *5.4.1922 †22.4.1947<br />
Zdzislaw Sowa *1921 †8.1946<br />
Wiktor Kubata *1923 †11.1946<br />
Prof. Dr. Wladyslaw Radwanowicz *1891 †7.1947<br />
Tadeusz Szszap *1920 †6.1947<br />
Weitere Recherchen waren zum Zeitpunkt der Bearbeitung (Februar 2003) noch nicht abgeschlossen.<br />
INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER<br />
Das Mahnmal hat ein Warschauer Künstler geschaffen.<br />
297
Inschrift der Gedenktafel für<br />
die Süddeutsche Zeitung<br />
Foto: H. Engelbrecht<br />
Gedenktafel für Fritz Gerlich<br />
Foto: H. Engelbrecht<br />
Inschrift auf der Gedenktafel für den<br />
„Geraden Weg“, die „Münchner Post“ und<br />
die „Münchner Neueste Nachrichten“<br />
Foto: H. Engelbrecht<br />
298<br />
Presse
I. Gedenktafel<br />
Hofstatt<br />
Marienplatz U3/U6 und S1-S 8<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
An der linken Gebäudewand vor dem Eingang zum Süddeutschen Verlag befindet sich<br />
eine Bronzegusstafel (0,75 m × 0,60 m) mit dem Text: „Am 9. und 13. März 1933 wurden<br />
Der gerade Weg, Münchner Post, Münchner Neueste Nachrichten zerstört, entmachtet,<br />
enteignet.“<br />
II. Gedenktafel<br />
„Süddeutsche Zeitung“<br />
KURZBESCHREIBUNG<br />
An der linken Gebäudewand vor dem Eingangstor zum Süddeutschen Verlag befindet sich<br />
eine weitere Gedenktafel (0,75 m × 0,66 m) mit folgendem Text: „Das freie Wort überlebte:<br />
Süddeutsche Zeitung. Durch keine Zensur gefesselt, durch keinen Gewissenszwang<br />
geknebelt Nr. 1 vom 6. Oktober 1945. Für Freiheit Wahrheit und Recht.“<br />
Zu I. Gedenktafel<br />
„Der gerade Weg“<br />
Fritz Gerlich (siehe Band 1: Gerlich), der gegen die Nationalsozialisten kämpfte, gründete<br />
mit finanzieller Unterstützung des Fürsten Erich von Waldsburg zu Zeil die Wochenzeitschrift<br />
„Illustrierter Sonntag“. Zum politischen Organ umgestaltet, trug sie den Titel „Der<br />
gerade Weg“. Als Redakteur der Zeitschrift nahm Gerlich den Kampf gegen die nationalsozialistischen<br />
Machthaber auf, die er als „verbrecherische Hetzer“ und die neue Bewegung<br />
als „Pest“ verurteilte.<br />
Am 9. März 1933 überfielen die SA-Trupps die Redaktionsräume und zerstörten Archive<br />
und Inventar. Fritz Gerlich, der es abgelehnt hatte, zu fliehen, kam in Haft und wurde<br />
schwer misshandelt. Er konnte es nicht fassen und rief seinen Peinigern zu: „Mich schlagen!<br />
Mich! Einen Gründer der Vaterlandsbewegung.“ 530 Seit Juni 1933 war er im Ge-<br />
530 Large, David Clay (1998): Hitlers München: 308<br />
299
fängnis München-Stadelheim inhaftiert. Im Zusammenhang mit dem „Röhmputsch“ verschleppten<br />
ihn SA-Trupps in das KZ Dachau und ermordeten ihn dort.<br />
„Münchner Post“<br />
Die „Münchner Post“ war die Parteizeitung der Münchner SPD, die das Gebäude am Altenheimer<br />
Eck 19 (heute 13) am 1. Januar 1890 erworben hatte. Es beherbergte Parteileitung,<br />
Druckerei und Verlag. Ab 1910 war Kurt Eisner, der erste bayerische Ministerpräsident<br />
in spe, Redakteur bei der „Münchner Post“. In der Weimarer Republik verhielt sich<br />
die „Münchner Post“ regierungskonform und vertrat die politischen Interessen der Arbeiterklasse.<br />
Die klare Gegnerschaft zu den Nationalsozialisten führte bereits im November<br />
1923 im Zusammenhang mit dem Hitlerputsch zur Zerstörung der Druckerei- und Redaktionsräume<br />
durch Hitleranhänger. Trotz des erlittenen Unrechts ließen sich die Verantwortlichen<br />
dieser Zeitung nicht von ihrer antinationalsozialistischen Haltung abbringen.<br />
So konnte man am 6. März 1933 noch in der „Münchner Post“ lesen, sie stehe trotz eines<br />
vorausgegangenen Verbots „unerschüttert“ zu ihrer Haltung.<br />
Als am Abend des 9. März 1933 auf Befehl des neuen Reichskommissars von Epp SA-<br />
Trupps das Haus überfielen, die Räume demolierten, das Inventar auf die Straße warfen<br />
und verbrannten, war Wilhelm Hoegner (siehe Band 1: Hoegner) Augenzeuge dieses Verbrechens.<br />
531 Einige Tage später übernahmen die neuen Machthaber das Gebäude der<br />
„Münchner Post“ als SA-Heim.<br />
Als Entschädigung für das Gebäude der „Münchner Post“, das Eigentum der SPD war, erhielt<br />
im Herbst 1947 der Landesverband der SPD Bayern das Schloss Aspenstein am Kochelsee<br />
zugesprochen, in dem sich heute die „Georg-von-Vollmar-Akademie“ befindet.<br />
„Münchner Neueste Nachrichten“ (MNN)<br />
Die während der Revolution von 1848 gegründete Zeitung vertrat eine liberale und aufgeklärte<br />
Haltung. Politisch unterstützten die MNN die Käfte der Republik nach Ablösung<br />
der Monarchie. Ein programmatischer Wandel folgte aus der Übernahme der Zeitschrift<br />
durch Industrielle, Aristokraten und Politiker der Bayerischen Volkspartei. Mit<br />
dem 31. Mai 1920 schloss sich die Redaktion der „Dolchstoßlegende“ an, unterstützte<br />
politisch rechts gerichtete Kreise und trug damit zur Etablierung des Nationalsozialismus<br />
bei. Der politische Leiter der Zeitung Nikolaus Cossmann (1869–1942) war vom<br />
jüdischen zum katholischen Bekenntnis konvertiert und galt als fanatischer Nationalist.<br />
Fritz Gerlich war bei den MNN Chefredakteur und propagierte bis 1928 antidemokratische<br />
und nationalistische Ziele. Obwohl die MNN den Aufstieg der NSDAP zunächst<br />
531 Hoegner, Wilhelm (1979): Flucht vor Hitler: 105<br />
300
mit getragen hatte, distanzierte sie sich zunehmend Ende der dreißiger Jahre vom sich<br />
ausbreitenden Rechtsterror.<br />
Am 13. März 1933 verhaftete die Münchner Polizei alle Mitglieder der Redaktion der<br />
MNN. Der innenpolitische Redakteur Erwein von Aretin und der Chefredakteur Paul Nikolaus<br />
Cossmann blieben bis Mai 1934 im Gefängnis München-Stadelheim in Haft. Cossmann<br />
kam in das KZ Theresienstadt, wo er am 19. Oktober 1942 starb.<br />
Zu II. Gedenktafel<br />
„Süddeutsche Zeitung“<br />
Die erste Ausgabe der „Süddeutschen Zeitung“ ging am 6. Oktober 1945 in den Räumen<br />
der ehemaligen „Münchner Neuesten Nachrichten“ in Druck. Als Druckplatten wurden<br />
die neu eingeschmolzenen Bleiplatten verwendet, mit denen vordem Hitlers Mein Kampf<br />
gedruckt wurde. Nun konnte die „Süddeutsche Zeitung“ zunächst zweimal wöchentlich<br />
erscheinen. 532 Die Auflage für München und Umgebung betrug 300000. Die Herausgeber<br />
waren Edmund Goldschagg, Franz Joseph Schöning und August Schwingenstein. Die<br />
Zensur oblag dem Kommandeur der amerikanischen Nachrichtenkontrolle, Oberst<br />
McMahon. Mit dem Aufbau einer demokratischen Presse im Nachkriegsdeutschland<br />
konnte wesentlich zur Demokratisierung beigetragen werden.<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
In Bayern eroberten die Nationalsozialisten am 9. März 1933 die Macht. Voraus ging der<br />
vergebliche Versuch des bayerischen Ministerpräsidenten Heinrich Held, mit der NSDAP<br />
eine Regierungskoalition zu bilden. Vom Reichsinnenminister Wilhelm Frick war Franz<br />
Ritter von Epp zum Reichskommissar für Bayern ernannt worden; die Chefposten im Justiz-<br />
und Innenministerium wurden an Hans Frank und Adolf Wagner vergeben. Die bestehende<br />
Regierung musste am 16. März 1933 zurücktreten. Das Münchner Rathaus besetzte<br />
die SA und hisste dort die Hakenkreuzfahne. Der seit 1925 amtierende Oberbürgermeister<br />
Karl Scharnagl räumte vier Tage später seinen Platz.<br />
Für die deutsche Presse war der Pressechef der NSDAP Otto Dietrich zuständig. Eine zentrale<br />
Rolle nahm Max Amann ein, der in Personalunion Präsident der Reichskammer und<br />
zudem Leiter des Eher-Verlags war. Damit kontrollierte er auch den in dem Verlag erscheinenden<br />
„Völkischen Beobachter“. Diese Zeitung, die im Jahre 1887 unter dem Namen<br />
„Münchener Beobachter“ gegründet wurde – war nach NSDAP-Angaben das<br />
532 Bauer, Richard et al. (1986): München. Schicksal einer Großstadt: 146<br />
301
„Kampfblatt der nationalsozialistischen Bewegung“. Dieses Massenblatt diente nach der<br />
Machtergreifung – neben Rundfunk und Film – als Zentralorgan der Partei der Medien<br />
und verbreitete die offiziellen Verlautbarungen der neuen Machthaber. Die letzte Ausgabe<br />
erschien am 30. April 1945.<br />
Literatur<br />
Aretin, Erwein Freiherr von (1983): Fritz Michael Gerlich. Lebensbild eines Publizisten und christlichen Widerstandskämpfers.<br />
München<br />
Eiber, Ludwig, (1993): Konzentrationslager Dachau – verfolgte Opposition. In: München – „Hauptstadt der<br />
Bewegung. Ein Projekt des Münchner Stadtmuseums. Klinkhardt & Biermann, München: 245–246<br />
Hess, Herbert (1995): 50 Jahre Süddeutsche Zeitung. Süddeutscher Verlag, München<br />
Hess, Herbert (1997): Eine Zeitung entsteht. In: Münchner Nachkriegsjahre. Lesebuch zur Geschichte des<br />
Münchner Alltags. Geschichtswettbewerb 1995/96. Hrsg. v. d. Landeshauptstadt München. Buchendorfer<br />
Verlag, München: 141–147<br />
Hoegner, Wilhelm (1979): Flucht vor Hitler. Erinnerungen an die Kapitulation der ersten deutschen Republik<br />
1933. Nymphenburger Verlag, München<br />
Hoegner, Wilhelm (1979): Die verratene Republik. Deutsche Geschichte 1919–1933. Nymphenburger Verlag,<br />
München<br />
Large, David Clay (1998): Hitlers München. Aufstieg und Fall der Hauptstadt der Bewegung. C. H. Beck Verlag,<br />
München<br />
Schönhoven, Klaus / Vogel, Hans-Jochen (Hrsg.) (1998): Frühe Warnungen vor dem Nationalsozialismus. Ein<br />
historisches Lesebuch. Dietz Verlag, München<br />
Ulbricht, Justus, H. (1993): Völkische Publizistik in München. Verleger, Verlage und Zeitschriften im Vorfeld<br />
des Nationalsozialismus. In: München – „Hauptstadt der Bewegung“. Ein Projekt des Münchner Stadtmuseums.<br />
Klinkhardt & Biermann, München: 131–136<br />
Weidisch, Peter (1993): Der „Völkische Beobachter“. Zentralorgan der NSDAP. In: München – „Hauptstadt<br />
der Bewegung“. Ein Projekt des Münchner Stadtmuseums. Klinkhardt & Biermann, München: 139–140<br />
Weyerer, Benedikt (1996): München 1919–1933. Stadtrundgänge zur politischen Geschichte. Buchendorfer<br />
Verlag, München<br />
302
Probst, Hermann Christoph Armando<br />
*6.11.1919 Murnau †22.2.1943 München-Stadelheim<br />
„Sollen dem Sendboten des Hasses und des Vernichtungswillens alle Deutschen geopfert<br />
werden! ... Hitler und seine Regime muß fallen, damit Deutschland weiter lebt.“<br />
Aus dem Entwurf zum siebten Flugblatt der „Weißen Rose“, das Christoph Probst am 28./<br />
29. Januar 1943 entworfen hatte. 533<br />
Christoph Probst<br />
Foto: Süddeutscher Verlag<br />
Gedenktafel im Justizpalast,<br />
Prielmayerstraße 3<br />
(„Weiße Rose“)<br />
Foto: A. Olsen<br />
533 Vieregg, Hildegard (1993): Wächst Gras darüber?: 234<br />
303
I. Gedenktafel im Lichthof der Ludwig-Maximilians-Universität, II. Stock<br />
(„Weiße Rose“)<br />
Universität U3/U6<br />
M (1946)<br />
II. Christoph-Probst-Straße, Freimann<br />
M (1947)<br />
III. Mahnmal im Lichthof der Ludwig-Maximilians-Universität („Weiße Rose“)<br />
Universität U3/U6<br />
M u. LMU (1958)<br />
IV. Bodendenkmal am Haupteingang der Ludwig-Maximilians-Universität<br />
(„Weiße Rose“)<br />
Universität U3/U6<br />
M (1988)<br />
V. Gedenktafel im Justizpalast, Prielmayerstraße 3 („Weiße Rose“)<br />
Karlsplatz (Stachus)<br />
S1–S8 und Tram 19/20/27<br />
M (1993)<br />
VI. Christoph-Probst-Gymnasium Gilching<br />
Gilching-Argelsried S5<br />
KM (1992)<br />
VII. DenkRaum in der Ludwig-Maximilians-Universität („Weiße Rose“)<br />
Universität U3/U6<br />
M u. Weiße Rose Stiftung (1997)<br />
304
VIII. Grabmal auf dem Friedhof Perlacher Forst 73/1/18<br />
Schwanseestraße Tram 27<br />
M (1943, 1992)<br />
IX. Christoph-Probst-Straße in Murnau am Staffelsee, Oberbayern<br />
Murnau (1983)<br />
X. Gedenksäule im Staffelsee-Gymnasium Murnau, Oberbayern<br />
Murnau (1993) 534<br />
XI. Gedenktafel am Ehrenmal der Universität Innsbruck<br />
Innsbruck (1985)<br />
Zu VI. Christoph-Probst-Gymnasium Gilching<br />
Talhofstraße 7, 82205 Gilching<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Auf Initiative der Schulleitung erhielt das Christoph-Probst-Gymnasium am 1. August<br />
1992 diesen Namen. Die Namengebungsfeier fand am 16. Februar 1993 im Beisein der<br />
Witwe Herta Siebler-Probst und der beiden Söhne Sebastian und Dr. Michael Probst statt.<br />
DENKMAL<br />
In der Schulaula steht seit dem 21. November 1994 eine von der Kunsterzieherin Brigitte<br />
Renner geschaffene Bronze-Porträtbüste von Christoph Probst.<br />
SCHULINTERNE SCHRIFTEN<br />
Christoph-Probst-Gymnasium (Hrsg.) (1993): Wir müssen es wagen. Christoph Probst<br />
1919–1943.<br />
534 Markt-Archiv Murnau<br />
305
INITIATIVEN<br />
Die Gymnasiumsanfänger bekommen am ersten Schultag Informationen über den Namen<br />
ihrer Schule; ein Schülervater verteilt weiße Rosen. Außerdem findet jährlich am 27. Januar<br />
ein Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus statt. Referate, Vortrags- und<br />
Diskussionsveranstaltungen mit prominenten Persönlichkeiten werden organisiert, ebenso<br />
Zeitzeugen-Gespräche.<br />
Zu IX. Christoph-Probst-Straße in Murnau am Staffelsee<br />
Murnau (1983)<br />
ANLASS UND ENTSTEHUNG<br />
Auf Initiative des Murnauer Bürgers Jakob Thannhuber wurde in der Nähe des heute noch<br />
erhaltenen Geburtshauses von Christoph Probst, der „Leitner-Buck-Villa“ an der Kohlgruberstraße<br />
20, eine Straße nach ihm benannt.<br />
Zu X. Gedenksäule im Staffelsee-Gymnasium Murnau , Oberbayern<br />
Murnau (1993) 535<br />
Anlass und Entstehung<br />
Die Bildhauerin Renate Deck schuf für Christoph Probst drei Gedenksäulen. Eine dieser<br />
Säulen befindet sich im Murnauer Staffelsee-Gymnasium. Ihre Enthüllung fand im Rahmen<br />
einer Feier im Beisein der Witwe Herta Siebler-Probst und seinem Sohn Dr. Michael<br />
Probst am 2. März 1993 statt.<br />
GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG<br />
Christoph Probst wurde am 6. November 1919 als Sohn von Hermann Probst und seiner<br />
Frau Ruth (geb. von der Bank) in Murnau geboren. Sein Vater war Privatgelehrter, der<br />
sich mit Philosophie und Religionen des Orients beschäftigte. Zusammen mit seiner älteren<br />
Schwester Angelika (*7. April 1918 in München) erhielt er von seiner Mutter bis zum<br />
Eintritt ins Gymnasium Unterricht. Die Geschwister waren nicht getauft worden, da sie<br />
nach Ansicht ihres Vaters darüber selbst entscheiden sollten. Der Vater vermittelte den<br />
beiden Kindern Angelika und Christoph, genannt Christel, beim Wandern das Verständnis<br />
535 Markt-Archiv Murnau<br />
306
für die Natur und brachte ihnen Mystik und Philosophie nahe. Während seiner Gymnasialzeit<br />
in München lernte Christoph Alexander Schmorell kennen, mit dem ihm eine „unzerreißbare“<br />
Freundschaft verband. Von seinen Lehrern wurde er, in einem Gutachten<br />
zum Reifezeugnis, das er 17-jährig erhielt, wie folgt charakterisiert: „... Die Erwachsenen<br />
schätzten vom ersten Tage an sein vornehmes Wesen, während manche Kameraden erst<br />
später die Vorzüge seiner geistig ausgeprägten, gelegentlich lehrhaften, doch stets bescheidenen<br />
Art erkannten und anerkannten ... Mit echter geistiger Lebendigkeit nahm er<br />
im Gespräch wie im Unterricht an allen Fragen der Wissenschaft und des Lebens verständigen<br />
Anteil und überraschte uns oft durch sein selbständiges und reifes Urteil. Seine besondere<br />
Neigung gehörte den Naturwissenschaften, vor allem der Astronomie; hier verstand<br />
er sich auf eigene Faust systematisch fortzubilden.“ 536<br />
Nach der Scheidung der Eltern und der Wiederverheiratung des Vaters schloss sich Probst<br />
noch mehr seiner Schwester Angelika an, mit der er in einem Landschulheim in Schondorf<br />
am Ammersee aufwuchs. Vor dem Beginn des Medizinstudiums leistete er seinen Arbeitsund<br />
Wehrdienst. Sein besonderes Interesse galt neben den Naturwissenschaften der Literatur<br />
und Musik. Die Meinung über die „existentielle Bedeutung“ dieser Interessen beschrieb<br />
er in einem Brief an seinen Halbbruder so: „... daß gerade der geistige Mensch<br />
mehr ertragen kann, da er – wenn er physisch behindert ist und leidet – gerade ja das<br />
Reich des Geistes besitzt, in dem er noch voll leben kann.“ 537 Christoph Probst begann ab<br />
dem Sommersemester 1939 mit dem Studium der Medizin in München und lernte dabei<br />
Hans Scholl und später Sophie Scholl (siehe Band 3: Scholl) kennen. Er nahm im Atelier<br />
des Architekten Eickemeyer an den literarischen Abenden teil, schloss sich den Aktionen<br />
der „Weißen Rose“ an und half beim Vervielfältigen und Verteilen der Flugblätter. Im Alter<br />
von 21 Jahren heiratete er Herta Dohrn, die Tochter des regimekritischen Privatgelehrten<br />
Harald Dohrn (siehe Band 1: Dohrn), mit der er drei Kinder hatte. Wegen seiner familiären<br />
Verpflichtungen sollte er nicht in gefährliche Aktionen der „Weißen Rose“ verwickelt<br />
werden. Während seine übrigen Freunde zur Famulaturzeit nach Russland geschickt<br />
wurden, diente er in einem Luftwaffenlazarett am Eibsee bei Garmisch-Partenkirchen und<br />
in Innsbruck. Von dort aus konnte er seine Familie besuchen, die in Lermoos in Tirol<br />
wohnte. An den Aktionen der „Weißen Rose“ wirkte er weiter mit und bekam von Hans<br />
Scholl die Anregung, ein neues Flugblatt (das siebte) zu verfassen.<br />
Februar 1943<br />
Nach der Verhaftung der Geschwister Scholl fand die Gestapo dieses von Christoph<br />
Probst verfasste siebte Flugblatt bei Hans Scholl. Die Gestapo konnte den Verfasser er-<br />
536 Schmorell, Erich (1994): Ansprache zur Feier der Enthüllung der Büste von Christoph Probst: 15–16<br />
537 Der deutsche Widerstand. Informationen zur politischen Bildung (1987) Nr. 160: 21<br />
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mitteln. Seine Verhaftung erfolgte am 20. Februar, als er einen Urlaubsschein zum Besuch<br />
seiner Frau holen wollte, die gerade ihr drittes Kind geboren hatte. Zusammen mit Hans<br />
und Sophie Scholl wurde er am 22. Februar 1943 zum Tode verurteilt und am gleichen<br />
Tag in München-Stadelheim mit dem Fallbeil hingerichtet. Im Angesicht des Todes hatte<br />
er sich noch taufen lassen. Im Abschiedsbrief an seine Schwester hieß es: „Vergiß nicht,<br />
daß das Leben nichts anderes ist als das Wachsen in der Liebe und eine Vorbereitung auf<br />
die Ewigkeit.“ 538<br />
Ehrungen<br />
Anfang November findet ein jährlicher Gedenktag für die Mitglieder der „Weißen Rose“<br />
in der Ludwig-Maximilians-Universität München statt.<br />
Filme<br />
1980 Rückkehr nach Murnau. Regie Pierre Guy.<br />
1982 Die weiße Rose. Regie Michael Verhoeven.<br />
1982 Die letzten fünf Tage. Regie Percy Adlon<br />
Literatur<br />
Breyvogel, Wilfried (1991): Die Gruppe „Weiße Rose“. Anmerkungen zur Rezeptionsgeschichte und kritische<br />
Rekonstruktion. In: Breyvogel, Wilfried (Hrsg.) (1991): Piraten, Swings und Junge Garde. Jugendwiderstand<br />
im Nationalsozialismus. Bonn: 159–200<br />
Dohrn, Klaus (1983): Von Bürgern und Weltbürgern. Eine Familiengeschichte. Verlag Günther Nerke,<br />
Pfullingen: 256–259<br />
Drobitsch, Klaus / Fischer, Gerhard (Hrsg.) (1980): Ihr Gewissen gebot es. Christen im Widerstand gegen den<br />
Hitlerfaschismus. Berlin<br />
Haberl, Gerhard (1993): Christoph Probst und die „Weiße Rose“. In: Jahresbericht 1992/93 des Staffelsee<br />
Gymnasiums Murnau: 6-10<br />
Hamm-Brücher, Hildegard (1997): „Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit“. Die „Weiße Rose“ und unsere<br />
Zeit. Aufbau Verlag, Berlin<br />
Huch, Ricarda (1998): In einem Gedenkbuch sammeln. Bilder deutscher Widerstandskämpfer. Hrsg. v. Wolfgang<br />
Matthias Schwiedrzik. Leipziger Universitäts Verlag, Leipzig<br />
Der deutsche Widerstand 1933–1945. Information für politische Bildung (1987) Nr. 160. Hrsg. v. d. Bundeszentrale<br />
für politische Bildung, Bonn, Franzis-Verlag, München: 18–21<br />
Jens, Inge (Hrsg.) (1984): Hans Scholl, Sophie Scholl. Briefe und Aufzeichnungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt<br />
a. M.: 298<br />
Knoop-Graf, Anneliese (1993): Literatur zur „Weißen Rose“. Beiträge zur Spurensicherung des Jugendwiderstands.<br />
In: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung (1982/83) Nr. 14: 323–327<br />
538 Huch, Ricarda (1998): In einem Gedenkbuch sammeln ...: 113<br />
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Maier, Hans (1988): Christlicher Widerstand im Dritten Reich. Gedächtnisvorlesung „Weiße Rose“. In: Chronik<br />
der Ludwig-Maximilians-Universität 1986/88. München: 108–116<br />
Probst, Michael (1984): Zuversicht und Klarheit. Der Widerstand der „Weißen Rose“. In: Deutscher Katholikentag<br />
München 4.–8. Juli 1984: Dem Leben trauen, weil Gott es mit uns lebt: 347–358<br />
Schmorell, Erich (1994): Ansprache zur Feier der Enthüllung der Büste von Christoph Probst. In: Christoph-<br />
Probst-Gymnasium, Jahresbericht 1994/95: 15–21<br />
Scholl, Inge (1993): Die Weiße Rose. Fischer Verlag, Frankfurt a. M.<br />
Siefken, Hinrich (Hrsg.) (1991): Die „Weiße Rose“. Student Resistance to National Socialism 1942/43. Forschungsergebnisse<br />
und Erfahrungsberichte, University of Nottingham. Nottingham<br />
Siefken, Hinrich (1993): Die „Weiße Rose“ und ihre Flugblätter. Dokumente, Texte, Lebensbilder, Erläuterungen.<br />
Manchester University Press, Manchester, New York<br />
Steinbach, Peter (1993): Der Widerstand gegen die Diktatur. Hauptgruppen und Grundzüge der Systemopposition.<br />
In: Bracher, K. D. / Funke, M. / Jacobson, H. A. (Hrsg.) (1993): Deutschland 1933–1945. Neue Studien<br />
zur nationalsozialistischen Herrschaft. Hrsg. v. d. Bundeszentrale f. politische Bildung, Bonn, Band<br />
314. Graphischer Großbetrieb Pößneck (Thüringen): 452–473<br />
Weiße Rose ZS/A 26/4. In: IfZ-Archiv München: 100–107<br />
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