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Bote aus der Buckligen Welt Juni 2018 - Nr 196

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SERIE<br />

Auf den Spuren <strong>der</strong> jüdischen Geschichte in <strong>der</strong> <strong>Buckligen</strong> <strong>Welt</strong> und im Wechselland<br />

Bad Erlach und das Museum – ein Ort<br />

In Bad Erlach entsteht <strong>der</strong>zeit nicht nur das Museum für Zeitgeschichte<br />

mit einer Ausstellung zu den jüdischen Familien in <strong>der</strong><br />

Region, Bad Erlach selbst hat auch eine beson<strong>der</strong>s reichhaltige<br />

jüdische Vergangenheit aufzuweisen. Mit Werner Sulzgruber hat sich<br />

ein absoluter Experte auf Spurensuche in die Thermengemeinde<br />

begeben. Seit vielen Jahren erforscht er die jüdische Geschichte in<br />

und rund um Wiener Neustadt. Der „<strong>Bote</strong>“ darf einen Einbick in die<br />

wichtigsten Ergebnisse seiner Forschungsarbeit geben.<br />

Der wissenschaftliche Leiter<br />

des Forschungsprojekts „Die<br />

jüdische Bevölkerung <strong>der</strong> Region<br />

Bucklige <strong>Welt</strong> – Wechselland“,<br />

Werner Sulzgruber, betreibt<br />

seine Forschungen über<br />

die Zeitgeschichte seit den<br />

1990er-Jahren. Dar<strong>aus</strong> ist eine<br />

höchst umfassende Sammlung<br />

über Wiener Neustadt und das<br />

südliche Nie<strong>der</strong>österreich hervorgegangen.<br />

Von Anfang an waren Interviews<br />

mit Zeitzeugen ein<br />

wichtiger Bestandteil seiner<br />

Forschungsarbeiten, in denen<br />

sich <strong>der</strong> Fokus zunehmend auf<br />

die Zeit des Nationalsozialismus<br />

und die jüdische Bevölkerung<br />

richtete. „Der außerordentliche<br />

Reiz dieses Projekts liegt darin,<br />

dass zum ersten Mal eine<br />

so große Forschergruppe die<br />

sogenannten ‚Landjuden‘ einer<br />

Region beleuchtet hat. In dieser<br />

Form und in diesem Umfang<br />

gab es bislang für eine Region<br />

österreichweit kein Projekt dieser<br />

Art“, so <strong>der</strong> Historiker, <strong>der</strong> in<br />

Bad Erlach eine Fülle an Informationen<br />

fand.<br />

Hacker-H<strong>aus</strong>, Erlach 28 / Foto: Bad Erlach, Sammlung Jeitler<br />

6 <strong>Bote</strong> <strong>aus</strong> <strong>der</strong> <strong>Buckligen</strong> <strong>Welt</strong> | April <strong>2018</strong><br />

Textilindustrie<br />

und Handel<br />

In Erlach lebten seit <strong>der</strong> zweiten<br />

Hälfte des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

Juden. Die Anfänge stehen mit<br />

dem Ausbau <strong>der</strong> Textilindustrie,<br />

die von Leopold Abeles vorangetrieben<br />

wurde, in Zusammenhang.<br />

Die „Wollwarenfabrik<br />

Erlach“ (Heinrich Chaimowicz)<br />

und die Kunstwollreißerei und<br />

Putzwollefabrik „S. Wolf & Co“<br />

(Samuel und Stella Wolf) befanden<br />

sich noch in den 1930er-<br />

Jahren in jüdischem Eigentum.<br />

Der Weingroßhandel, <strong>der</strong> von<br />

<strong>der</strong> Familie Simon Hacker (Erlach<br />

69) betrieben wurde, sollte<br />

<strong>der</strong> erste jüdische Handelsbetrieb<br />

des Ortes sein, <strong>der</strong> allerdings<br />

bald von weiteren, wie<br />

dem Schlachtviehhandel des<br />

Fleischhauers Max Brückner<br />

(Erlach 27) und dem Gemischtwarenhandel<br />

von Max Hacker<br />

(Erlach 28), ergänzt wurde.<br />

„Die Forschungsergebnisse<br />

zu Erlach sind so vielfältig, dass<br />

es unzureichend wäre, um nur<br />

ein Beispiel zu bringen. Allerdings<br />

ist für Erlach jedenfalls<br />

die jüdische Familie Simon ‚Jesaja‘<br />

Hacker, die <strong>aus</strong> Kobersdorf<br />

stammte, hervorzuheben.<br />

War er es doch, <strong>der</strong> mit seiner<br />

Frau Rosalie ‚Sarl‘ spätestens<br />

ab den 1860er-Jahren in Erlach<br />

lebte und dort einen Weinhandel<br />

betrieb. 1875 erwarb Simon<br />

– inzwischen Vater von drei Kin<strong>der</strong>n,<br />

Berta, Leopold und Karoline<br />

– das H<strong>aus</strong> Nummer 69 in<br />

Erlach“, so Sulzgruber<br />

1895/96 errichte Simon eine<br />

Synagoge an dieser Adresse.<br />

Dadurch entstand ein reges<br />

religiöses Leben in Erlach. Die<br />

jüdischen Bewohner <strong>der</strong> Region<br />

mussten nicht mehr den beschwerlichen<br />

Weg in die Synagoge<br />

von Wiener Neustadt o<strong>der</strong><br />

Neunkirchen auf sich nehmen,<br />

son<strong>der</strong>n kamen zum Gottesdienst<br />

o<strong>der</strong> zu den Festen nach<br />

Erlach. Wie überliefert ist, trug<br />

Simons Sohn Leopold Hacker<br />

die Verantwortung für die organisatorische<br />

Arbeit, er hatte die<br />

Rolle des Vorbeters und blies<br />

beispielsweise zum jüdischen<br />

Neujahrsfest das Schofar.<br />

Nachdem Simon 1907 „nach<br />

einem arbeitsreichen, wahrhaft<br />

frommen Leben im Alter von 75<br />

Jahren“, wie es in einer Todesanzeige<br />

heißt, verstorben war,<br />

führte sein Sohn Leopold – <strong>der</strong><br />

mit Franziska Wolf verheiratet<br />

war – die Firma „Simon Hacker<br />

& Sohn“ weiter. Leopold Hacker<br />

und seine Frau wurden 1942 in<br />

Innenhof des Hacker-H<strong>aus</strong>es,<br />

Erlach 69<br />

Theresienstadt bzw. Treblinka<br />

ermordet und somit Opfer <strong>der</strong><br />

Shoah.<br />

Wirtschaftlicher Aufbau<br />

Die Geschichte <strong>der</strong> Ortsgemeinde<br />

und ihr wirtschaftlicher<br />

Aufbau hängen untrennbar mit<br />

dem Namen Leopold Abeles<br />

zusammen. Der <strong>aus</strong> Böhmen<br />

stammende Industrielle hatte<br />

1841 in Rothkosteletz (Červený<br />

Kostelec) ein Textilunternehmen,<br />

eine mechanische Baumwollspinnerei,<br />

gegründet. Er kaufte<br />

in weiterer Folge die bestehende<br />

Erlacher Spinnerei auf und baute<br />

sie in <strong>der</strong> zweiten Hälfte des<br />

19. Jahrhun<strong>der</strong>ts als Baumwollspinnerei,<br />

Weberei (mit mehreren<br />

hun<strong>der</strong>t Webstühlen) und<br />

Textildruckerei <strong>aus</strong>. In späterer<br />

Zeit war die Erlacher Textilindustrie<br />

im Eigentum <strong>der</strong> jüdischen<br />

Familien Wolf und Chaimowicz.<br />

Die jüdischen Industriellen versuchten,<br />

nach dem „Anschluss“<br />

ihr Eigentum nicht zu verlieren.<br />

Heinrich Chaimowicz, <strong>der</strong> 1938<br />

nach Kolumbien <strong>aus</strong>gereist war,<br />

gelang es, ein ungewöhnliches<br />

„Gentlemen’s Agreement“ mit<br />

<strong>der</strong> Gestapo zu arrangieren. Außerdem<br />

ist für Erlach <strong>der</strong> außergewöhnliche<br />

Fall dokumentierbar,<br />

dass sich ein Mitglied <strong>der</strong><br />

Familie Wolf, Franz Georg Wolf,<br />

im <strong>Juni</strong> 1938 mit einem Brief von<br />

Erlach <strong>aus</strong> nach Berlin wandte,<br />

sogar direkt an den Sekretär von<br />

Adolf Hitler, um den Eigentumsverlust<br />

durch die „Arisierung“ zu<br />

verhin<strong>der</strong>n. Dies sind Fälle von<br />

Seltenheitswert.<br />

Forschung geht weiter!<br />

Sollten Sie Informationen<br />

über die jüdische Bevölkerung<br />

in Bad Erlach, Katzelsdorf, Lanzenkirchen,<br />

Schwarzenbach<br />

o<strong>der</strong> Walpersbach haben, wenden<br />

Sie sich bitte an Dr. Werner<br />

Sulzgruber, Tel.: 0676/7366121<br />

o<strong>der</strong> werner_sulzgruber@hotmail.com.<br />

Cornelia Rehberger

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