Der Kamm der Hexe - Reckless

Weitere Magazine

Empfehlungen

Info

Verdammt. Jacob verfluchte Chanute mit jedem Schimpfnamen, den er je vor oder hinter dem Spiegel aufgeschnappt hatte. Aber er würde dem Alten nicht den Triumph gönnen, seine Angst zu sehen. O nein. „Falls du irgendwas hörst, während du nach dem Kamm suchst, versteck dich nicht unter dem Bett!“, raunte Chanute. „Das ist so beliebt bei ihren Opfern, dass sie die Unterseiten der Matratzen mit Augen spicken.“ Na bestens. Jacob zog die alte Pistole, die Chanute ihm gekauft hatte. Der Lauf war so krumm, dass man eine Handbreit daneben zielen musste. „Ich will auch was von der präparierten Munition.“ Chanute drückte ihm mit mürrischer Miene zwei Patronen in die Hand. „Lass die Finger von den Kuchen.“ Jacob warf ihm zur Antwort nur einen verächtlichen Blick zu. Er war es so leid, wie ein Kind behandelt zu werden, obwohl er dem Alten schon mehrmals den Hals gerettet und unzählige Nächte irgendwo Wache gestanden hatte, während Chanute seinen Rausch ausschlief. Eines Tages … eines Tages würde er all die Schätze finden, nach denen Chanute vergeblich gesucht hatte, und sie ihm vor die Stiefel werfen. Nein, besser! Er würde sie der Kaiserin verkaufen und ihr berühmtester Schatzjäger werden. Er würde so berühmt werden, dass niemand sich mehr an Albert Chanute erinnern würde. Er wandte sich um und ging auf die Eingangstür zu. Sie duftete nach Marzipan. Bevor er die Hand um die Klinke schloss, blickte er sich noch einmal zu Chanute um. Die Grimasse, die er zog, sollte wohl ermutigend sein, aber Jacob sah den Blick, den der Alte auf die dunklen Fenster warf. Die Wachsamkeit darin gefiel ihm nicht, aber es war schon zu spät. Die Tür öffnete sich, kaum dass Jacob die Klinke berührte. Ihr Knarren ließ ihn zusammenfahren, als hätte er von innen den Schrei eines Kindes gehört. Ein Kamm, der in eine Krähe verwandelte. Das klang für ihn nicht, als wäre es das Risiko wert, in einem Ofen zu landen. Chanute vermutete, dass die Kaiserin den Kamm für ihren Spionagedienst wollte. Jacob schob sich durch die Tür. Der Geruch im Inneren war noch stärker als im Freien. Jacob presste die Hand vor Nase und Mund, aus Angst, das Betäubungsmittel könnte schon beim Einatmen wirken. Der Raum mit dem Ofen lag gleich hinter der Tür. Er warf nur einen schnellen Blick © Cornelia Funke | Dressler Verlag GmbH 2012 | www.funke-reckless.de � Illustration: Marion Hirsch/Dressler Verlag © Cornelia Funke | Dressler Verlag GmbH 2012 | www.funke-reckless.de Illustration: Marion Hirsch/Dressler vVrlag
hinein. Denk an den Kamm, Jacob. Nur an den Kamm. Die Küche. Eine Abstellkammer ... Er blieb abrupt stehen. Eine Katze stand vor ihm auf dem Flur. Die dunklen Lebkuchenwände ließen ihr Fell wie frisch gefallenen Schnee leuchten. Alle Kinderfresserinnen hielten sich weiße Katzen – als könnten sie so die eigene Dunkelheit aufhellen. Wie sie ihn anstarrte. Mach, dass du hier rauskommst, Jacob. Sie wird ihre Herrin rufen. Aber durch die offene Tür, vor der sie stand, sah er ein Bett und einen Tisch mit einer Waschschüssel. Er würde sich schämen, zu Chanute zurückzukehren und ihm zu gestehen, dass er vor einer Katze davongelaufen war. Du musst es ihm ja nicht erzählen, Jacob. Tue es ihm nach und lüg ihm etwas vor. Aber er zögerte nicht nur wegen Chanute. Die Jagdlust hatte ihn gepackt. „Jacob Reckless hat einer Kinderfresserin den Zauberkamm vom Nachttisch gestohlen.“ Es klang zu gut. Er lauschte. Alles, was er hörte, war das Ticken einer Uhr und sein eigenes Atmen. Als er sich an der Katze vorbeischob, war er für einen Augenblick versucht, ihr das weiße Fell zu streicheln, aber zum Glück erinnerte er sich rechtzeitig daran, dass dunkle Hexen ihre Zauber manchmal im Fell ihrer Katzen versteckten. Wie sah das aus? Nisteten die Flüche wie Flöhe in dem weichen Fell? Das Schlafzimmer roch nicht nach Zimt und Zucker, sondern nach getrockneten Kräutern. Sie hingen in Büscheln von der Decke. Eisenhut, Belladonna, Spinnenbeeren … Jacob ging an dem schmalen Bett vorbei. Neben dem einzigen Fenster stand ein Tisch mit einem Spiegel. Auch Kinderfresserinnen waren eitel. Sie konnten sich, wie alle Hexen, das Gesicht geben, das sie tragen wollten, und jung und schön bleiben, solange sie es wünschten. Aber sie verloren diese Fähigkeit, wenn sie den Fehler machten, ein Kind zu töten, dessen Körper bereits erwachsen wurde. Chanute besaß eine der Porzellanmasken, die sie über den verfallenen Gesichtern trugen. Die Geschichte, wie er sie bekommen hatte, wechselte je nachdem, wie betrunken er war. Die Kinderfresserin vom Schwarzen Wald hatte ihr Gesicht offenbar noch. Vor dem Spiegel standen eine Puderdose, ein kristallener Parfümflakon, eine Schatulle mit Schmuck. © Cornelia Funke | Dressler Verlag GmbH 2012 | www.funke-reckless.de Illustration: Marion Hirsch/Dressler vVrlag © Cornelia Funke | Dressler Verlag GmbH 2012 | www.funke-reckless.de � Illustration: Marion Hirsch/Dressler Verlag
Seite 1 und 2: Der Kamm der Hexe Jacob roch den Zi
Seite 3: Das kuchenbeklebte Haus duftete aus
Seite 7 und 8: Er stolperte zurück, als sie einen

Der Kamm der Hexe - Reckless

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Template löschen?

Als Template speichern?