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Franziska von Pfr. Ernst Sieber +Eine wahre ... - Viertelstunde.ch

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<strong>Franziska</strong><br />

<strong>von</strong> <strong>Pfr</strong>. <strong>Ernst</strong> <strong>Sieber</strong><br />

<strong>+Eine</strong> <strong>wahre</strong> Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te, die si<strong>ch</strong> in Züri<strong>ch</strong> zugetragen hat.+<br />

Es war im bitterkalten „Seegfröri-Winter“ 1963, als si<strong>ch</strong> Pfarrer<br />

<strong>Ernst</strong> <strong>Sieber</strong> mit seinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen aufma<strong>ch</strong>te,<br />

die Obda<strong>ch</strong>losen <strong>von</strong> Züri<strong>ch</strong> aufzusu<strong>ch</strong>en, um sie vor dem<br />

Erfrierungstod zu retten. Im ehemaligen Militärbunker unter dem<br />

Helvetiaplatz konnte er den Ärmsten der Stadt einen warmen Ort zum<br />

Überleben bieten. Aber sie sollten dort mehr bekommen als ein Bett<br />

und eine heiße Suppe. Das zeigt die folgende Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te <strong>von</strong> Mi<strong>ch</strong>ael:<br />

Er sitzt in der hintersten Ecke der „Räuberhöhle“, einem düsteren<br />

Wirtshaus an der Neufrankengasse. Seine knorrigen Finger klammern<br />

si<strong>ch</strong> krampfhaft am leeren Bierglas fest, so, als wäre es sein<br />

letzter Halt an diesem trostlosen 24. Dezember. Sein Gesi<strong>ch</strong>t wirkt<br />

wie versteinert, sein Blick leer und ausdruckslos.<br />

Mi<strong>ch</strong>ael denkt wütend zurück an den vergangenen Vormittag auf der<br />

Baustelle. Si<strong>ch</strong>er, er ist dort nur ein gewöhnli<strong>ch</strong>er Handlanger, aber<br />

an seiner Arbeit gibt es wirkli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>ts auszusetzen. Bis eben an<br />

diesem Morgen na<strong>ch</strong> der 9-Uhr-Pause, wo ihm ein ganz dummer Fehler<br />

passiert ist. „Saumi<strong>ch</strong>el!“ hat ihn sein Vorarbeiter bes<strong>ch</strong>impft. Und<br />

das war zu viel für ihn. Da sitzt er nun und versu<strong>ch</strong>t, seinen Ärger<br />

hinunterzuspülen. – „Saumi<strong>ch</strong>el!“ So eine Gemeinheit. Seine Mutter<br />

hat ihm immer wieder erklärt, was sein Name Mi<strong>ch</strong>ael eigentli<strong>ch</strong><br />

bedeutet: „Wer ist wie Gott?“ Und nun wieder dieses verni<strong>ch</strong>tende<br />

„Saumi<strong>ch</strong>el“.<br />

Da kommt in ihm alles wieder ho<strong>ch</strong> <strong>von</strong> damals. Vor etwa 15 Jahren war<br />

es.<br />

Mi<strong>ch</strong>ael war Kne<strong>ch</strong>t bei einem Bauern. Die ganze Na<strong>ch</strong>t musste er im<br />

Stall bei einer Kuh wa<strong>ch</strong>en, die kalbte. Erst gegen Morgen kam das<br />

Kalb. Ohne S<strong>ch</strong>laf musste er glei<strong>ch</strong> weiterarbeiten und mit Holz in<br />

die Stadt fahren.<br />

Auf dem Rückweg war es dann passiert, das s<strong>ch</strong>reckli<strong>ch</strong>e Unglück, das<br />

sein ganzes Leben kaputt gema<strong>ch</strong>t hat. Die Pferde kannten den Heimweg<br />

bestens, und er konnte die Zügel locker lassen. Das eintönige<br />

Rattern der Räder ließ ihn s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> eins<strong>ch</strong>lafen. Er erwa<strong>ch</strong>te erst<br />

wieder, als der Wagen umstellt war <strong>von</strong> neugierigen Leuten, einem<br />

Polizisten und seinem Meister, der ihn lautstark bes<strong>ch</strong>impfte. Na<strong>ch</strong><br />

und na<strong>ch</strong> musste er si<strong>ch</strong> zusammenreimen, was ges<strong>ch</strong>ehen war: Ein Kind<br />

war unter die Räder gekommen. Die blonde, hübs<strong>ch</strong>e <strong>Franziska</strong>. Sie<br />

musste s<strong>ch</strong>wer verletzt ins Spital gebra<strong>ch</strong>t werden. Und dann kam der<br />

verni<strong>ch</strong>tende S<strong>ch</strong>lag. Sein Meister s<strong>ch</strong>rie ihn an: „Saumi<strong>ch</strong>el, du –<br />

elender Saumi<strong>ch</strong>el! Ma<strong>ch</strong>, dass du fortkommst!“<br />

Verzweifelt hatte Mi<strong>ch</strong>ael das Dorf verlassen und war in die Stadt<br />

geflohen. Dort wurde er ein Niemand, einer <strong>von</strong> der großen Masse.<br />

Niemand wusste um seine s<strong>ch</strong>were S<strong>ch</strong>uld. Niemand interessierte si<strong>ch</strong><br />

für ihn.<br />

Aber er wurde immer unglückli<strong>ch</strong>er. Er begann, seine Sorgen mit<br />

Alkohol hinunterzuspülen. Aber eben: Sorgen ertrinken ni<strong>ch</strong>t im<br />

Alkohol – sie s<strong>ch</strong>wimmen obenauf. Mit der Zeit konnte Mi<strong>ch</strong>ael die<br />

Miete ni<strong>ch</strong>t mehr zahlen. Er landete auf der Straße – einer <strong>von</strong><br />

vielen in Züri<strong>ch</strong>, die ihr Na<strong>ch</strong>tquartier im Freien su<strong>ch</strong>en müssen. Zum<br />

Glück hatte er wenigstens einen festen Job bei einer Baufirma. Aber<br />

jetzt dieses „Saumi<strong>ch</strong>el“ <strong>von</strong> seinem Vorarbeiter!<br />

Plötzli<strong>ch</strong> wird Mi<strong>ch</strong>ael <strong>von</strong> einer Riesenwut gepackt. Er fasst den<br />

Tis<strong>ch</strong> mit den leeren Gläsern und brüllt wie ein wildes Tier:<br />

„Saumi<strong>ch</strong>el, ma<strong>ch</strong>, dass du wegkommst! Ihr könnt mi<strong>ch</strong> do<strong>ch</strong> alle<br />

miteinander ...!“ – In diesem Moment packt ihn eine starke Hand und<br />

setzt ihn vor die Tür der „Räuberhöhle“. Da steht er wie ein<br />

begossener Pudel. Die eisig kalte Na<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>lägt ihm entgegen. Der<br />

Wind fau<strong>ch</strong>t um seine Ohren und einige S<strong>ch</strong>neeflocken fallen. Es sind<br />

fast 20 Grad unter Null. Aber das kümmert Mi<strong>ch</strong>ael ni<strong>ch</strong>t. Er lässt<br />

si<strong>ch</strong> auf eine leere Bank auf dem Helvetiaplatz fallen. Er zieht si<strong>ch</strong><br />

den Hut übers Gesi<strong>ch</strong>t. Er will ni<strong>ch</strong>ts mehr zu tun haben mit dieser<br />

Welt. Eine elende S<strong>ch</strong>wermut hüllt ihn ein. So s<strong>ch</strong>läft er ein. Es<br />

sollen ihn ja alle in Ruhe lassen.


Plötzli<strong>ch</strong> spürt er eine Hand auf seinem Gesi<strong>ch</strong>t. Jemand hebt den<br />

Hut. Als er die Augen aufs<strong>ch</strong>lägt, sieht er vor si<strong>ch</strong> ein freundli<strong>ch</strong>es<br />

Frauengesi<strong>ch</strong>t. „Was ma<strong>ch</strong>st du denn hier in dieser Kälte – und no<strong>ch</strong><br />

dazu am Heiligen Abend? Komm, wir gehen in den Bunker. Dort ist es<br />

s<strong>ch</strong>ön warm.“<br />

Mi<strong>ch</strong>ael wehrt si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t. Er folgt der Frau die dunkle Treppe<br />

hinunter. Sie stößt eine s<strong>ch</strong>were Eisentür auf. Der Geru<strong>ch</strong> <strong>von</strong><br />

würziger Suppe s<strong>ch</strong>lägt ihm entgegen. Dann stehen sie in einem Raum<br />

mit unzähligen Mens<strong>ch</strong>en, Mens<strong>ch</strong>en wie Mi<strong>ch</strong>ael: heruntergekommen,<br />

verwahrlost, mit harten, bitteren Gesi<strong>ch</strong>tern. Sie reden und<br />

s<strong>ch</strong>lürfen Suppe. Keiner dreht si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> ihm um. Keine neugierigen<br />

Blicke treffen ihn. Mi<strong>ch</strong>ael fühlt si<strong>ch</strong> frei und irgendwie wohl. Er<br />

löffelt s<strong>ch</strong>weigend seine Suppe und will si<strong>ch</strong> dann wieder<br />

verabs<strong>ch</strong>ieden. Aber da hält ihn einer zurück, Werner. „He, musst<br />

do<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t gehen. Bist do<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> einer <strong>von</strong> uns. Hier unten haben<br />

wir’s gut. Und morgen ist Weihna<strong>ch</strong>ten. Da gibt’s den besten Fraß vom<br />

ganzen Jahr.“ – „Pah“, entgegnet Mi<strong>ch</strong>ael grimmig, „Weihna<strong>ch</strong>ten gibt<br />

es ni<strong>ch</strong>t für mi<strong>ch</strong>!“ – „Wenn kein Weihna<strong>ch</strong>ten, dann wenigstens ein<br />

Bett!“, redet ihm Werner zu und zeigt ihm eine Nis<strong>ch</strong>e mit einer<br />

Wolldecke. Dorthin zieht si<strong>ch</strong> Mi<strong>ch</strong>ael zurück und s<strong>ch</strong>läft bis zum<br />

anderen Abend.<br />

Ein Gewirr <strong>von</strong> Stimmen weckt ihn auf, und die freundli<strong>ch</strong>e Frau <strong>von</strong><br />

gestern holt ihn zu den anderen. Wieder steht ein feines Essen<br />

bereit. Jemand murmelt ein Tis<strong>ch</strong>gebet. Mi<strong>ch</strong>ael blickt in die Runde.<br />

Da sind sie wieder, diese steinernen Gesi<strong>ch</strong>ter der Clo<strong>ch</strong>ards. Aber<br />

dazwis<strong>ch</strong>en entdeckt er junge, strahlende Gesi<strong>ch</strong>ter. Das sind wohl<br />

die Betreuer. Hinten im Raum steht ein Christbaum.<br />

Hier sagt niemand „Saumi<strong>ch</strong>el“ zu ihm. Er fühlt si<strong>ch</strong> angenommen.<br />

Jetzt beginnt jemand, die Weihna<strong>ch</strong>tsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te zu lesen – mit rauer,<br />

stockender Stimme:<br />

„... es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde und hielten<br />

Na<strong>ch</strong>twa<strong>ch</strong>e über ihre Herde. Da trat ein Engel des Herrn zu ihnen,<br />

und Li<strong>ch</strong>terglanz umleu<strong>ch</strong>tete sie. Und sie für<strong>ch</strong>teten si<strong>ch</strong> sehr ...<br />

Für<strong>ch</strong>tet eu<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t, i<strong>ch</strong> verkündige eu<strong>ch</strong> große Freude, eu<strong>ch</strong> ist<br />

heute der Heiland geboren, wel<strong>ch</strong>er der Christus ist, der Herr ...“<br />

Mi<strong>ch</strong>ael denkt an seine Mutter, an Weihna<strong>ch</strong>ten in seiner Kindheit, an<br />

die s<strong>ch</strong>önen Weihna<strong>ch</strong>tsgottesdienste in der Kir<strong>ch</strong>e mit dem großen<br />

Christbaum. An das gemeinsame Vaterunser ... Seine Gedanken tragen<br />

ihn weit weg. Da hört er auf einmal ganz deutli<strong>ch</strong> die Worte: „Und<br />

vergib uns unsere S<strong>ch</strong>uld, wie au<strong>ch</strong> wir vergeben unsern S<strong>ch</strong>uldigern<br />

...“ Im Bunker wird gebetet, tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>, hier wird gebetet!<br />

Dann setzt si<strong>ch</strong> ein blondes Mäd<strong>ch</strong>en ans Klavier. Die Melodien<br />

dringen in Mi<strong>ch</strong>aels Herz. Selbst eine Weihna<strong>ch</strong>tsbes<strong>ch</strong>erung ist<br />

vorbereitet. Die jungen Leute verteilen allen Bunkerbesu<strong>ch</strong>ern kleine<br />

Ges<strong>ch</strong>enke. Au<strong>ch</strong> das blonde Mäd<strong>ch</strong>en am Klavier steht auf. Bevor es<br />

auf jemanden zugehen kann, holt es seine Krücken hinter dem Klavier<br />

hervor. Obwohl es behindert ist, bewegt es si<strong>ch</strong> elegant und flink.<br />

Das Mäd<strong>ch</strong>en hat ein fris<strong>ch</strong>es, fröhli<strong>ch</strong>es Gesi<strong>ch</strong>t. Als es si<strong>ch</strong><br />

Ri<strong>ch</strong>tung Tür bewegt, ruft ihm eine Kollegin na<strong>ch</strong>: „Warte, Fränzi!<br />

I<strong>ch</strong> bringe di<strong>ch</strong> do<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Hause!“<br />

Plötzli<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong>fährt es Mi<strong>ch</strong>ael siedend heiß. Fränzi! Er geht zur<br />

Tür und folgt dem blonden Mäd<strong>ch</strong>en. „<strong>Franziska</strong>!“ – Das Mäd<strong>ch</strong>en bleibt<br />

erstaunt stehen. „<strong>Franziska</strong>, bist du vor 15 Jahren <strong>von</strong> einem<br />

Fuhrwerk überfahren worden?“<br />

Nun staunt das Mäd<strong>ch</strong>en no<strong>ch</strong> mehr. „Woher wissen Sie denn das?“<br />

Mi<strong>ch</strong>ael bedeckt sein Gesi<strong>ch</strong>t mit beiden Händen. „I<strong>ch</strong> bin jener<br />

Fuhrkne<strong>ch</strong>t. Kannst du ... weißt du ... kannst du mir verzeihen?“<br />

Da steht er mit flehendem Blick, Tränen rollen ihm übers Gesi<strong>ch</strong>t.<br />

<strong>Franziska</strong> s<strong>ch</strong>aut ihn mit großen, warmen Augen an. Na<strong>ch</strong> einer Weile<br />

sagt sie langsam: „Wir tragen gemeinsam an der glei<strong>ch</strong>en Last. So<br />

will es Christus. Aber er will sie mittragen, damit wir ni<strong>ch</strong>t daran<br />

zerbre<strong>ch</strong>en müssen. – Sag mir deinen Namen. Wie heißt du?“ –<br />

„Mi<strong>ch</strong>ael!“ – „Also, Mi<strong>ch</strong>ael, wir sehen uns wieder.“ Sie dreht si<strong>ch</strong><br />

um und geht langsam die vielen Treppenstufen ho<strong>ch</strong>.<br />

Mi<strong>ch</strong>ael kehrt in den Raum zurück. Er weiß, dass er sie wiedersehen<br />

wird. An seinem Platz liegt ein kleines Paket, liebevoll eingehüllt<br />

mit blauem Seidenpapier. Darin findet er zwei Paar Socken.<br />

Selbstgestrickte Socken. Er probiert sie sofort. Sie passen ganz<br />

genau – weder zu groß no<strong>ch</strong> zu klein. Einfa<strong>ch</strong> wie angegossen.

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