Taschenbuch-Magazin Herbst/Winter 2018
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Titelgeschichte<br />
Im <strong>Herbst</strong> 1912 erlebt die 13-jährige Raquel in ihrem Heimatdorf<br />
in der Ukraine ein brutales Massaker: Russische Bauern und<br />
Soldaten erschlagen wahllos jüdische Frauen und Männer,<br />
darunter Raquels geliebten Vater. Geh fort“ flüstert er ihr mit<br />
”<br />
letzter Kraft zu, bevor er stirbt. Das Mädchen weiß: Ohne ihn wird<br />
sie der hartherzigen Stiefmutter schutzlos ausgeliefert sein und das<br />
Leben einer Sklavin führen. So flieht sie noch in derselben Nacht in<br />
eine ungewisse Zukunft. Die Worte ihres Vaters geben ihr die Kraft<br />
dafür.<br />
Historische Romane über Menschen, die ihren eigenen Weg<br />
gehen und unermüdlich für ihre Träume kämpfen, sind die Spezialität<br />
von Luca Di Fulvio. Der Junge, der Träume schenkte“ (2011)<br />
”<br />
über das Leben von Einwanderern im New York der 1920er-Jahre<br />
wurde ein Bestseller. Und auch Das Mädchen, das den Himmel<br />
”<br />
berührte“ (2013) über junge Menschen, die sich im Italien des 16.<br />
Jahrhunderts durchschlagen müssen, stand lange auf der SPIEGEL-<br />
Bestsellerliste – wie auch Das Kind, das nachts die Sonne fand“<br />
”<br />
(2015) über einen Jungen, der alles verliert und in einer unbekannten<br />
Umgebung seinen Platz finden muss. Nun legt der 1957 in Rom<br />
geborene Autor eine weitere fiktive Auswanderergeschichte vor, die<br />
den Leser nach Buenos Aires führt.<br />
Als Italiener spüre er eine besondere Verbindung zu Argentinien,<br />
erklärt er die Wahl seines Schauplatzes. Anfang des 20. Jahrhunderts<br />
seien viele Menschen aus seiner Heimat nach Buenos Aires emigriert,<br />
sodass 1913 rund eine Million Italiener in der Metropole lebten. Die ”<br />
Argentinier sagen, dass es unter ihnen keinen gibt, in dessen Adern<br />
nicht italienisches Blut fließen würde“, erzählt Di Fulvio. Und weiter:<br />
Sogar bei denjenigen von uns, die nicht ausgewandert sind, scheint<br />
”<br />
Emigration ein Bestandteil der DNA zu sein.“<br />
Hoffnung auf ein selbstbestimmtes Leben<br />
So schickt Di Fulvio außer seiner Protagonistin Raquel zwei weitere<br />
Hauptfiguren mit italienischen Wurzeln auf die Reise. Da ist einerseits<br />
der 20-jährige Rocco, der sich dagegen sträubt,<br />
der sizilianischen Mafia zu dienen und daher von<br />
dem Clan nach Argentinien geschickt wird. Er will<br />
sich aber auch den dortigen Mafiosi nicht unterordnen,<br />
sondern möchte als Auto mechaniker eine<br />
eigene Werkstatt gründen.<br />
Und andererseits gibt es die ebenfalls 20-jährige<br />
Rosetta, die sich nach dem Tod ihrer Eltern<br />
weigert, dem Großgrundbesitzer ihres Dorfes<br />
ihr Land zu verkaufen. Als sie nur knapp eine<br />
Vergewaltigung durch dessen Gefolgsmänner<br />
überlebt, willigt sie in den Verkauf ein, doch<br />
sie muss sich mit letzter Kraft gegen die<br />
Zudringlichkeiten des Barons wehren. Das<br />
Auswandererschiff nach Buenos Aires zu besteigen, scheint ihr die<br />
einzige Möglichkeit zu sein, seiner Rache zu entgehen.<br />
Unendliches Leid und sehnsuchtsvolle Liebe<br />
Aber auch das Leben in der neuen Welt ist alles andere als verheißungsvoll.<br />
Buenos Aires ist ein brodelnder Kessel, in dem unermesslicher<br />
Reichtum und bittere Armut nah beieinander liegen und<br />
kriminelle Banden blutige Kämpfe austragen. Raquel, die während<br />
ihrer Reise in die Finger von Menschenhändlern geraten ist,<br />
erlebt hier hautnah die brutale Ausbeutung von Frauen in Bordellen.<br />
Für ihre Geschichte hat Di Fulvio intensiv zu den Machenschaften<br />
der jüdischen Zuhälterorganisation Zwi Migdal recherchiert, die ab<br />
dem Ende des 19. Jahrhunderts fast 80 Jahre lang osteuropäische<br />
Jüdinnen nach Südamerika lockte, um sie dort als Prostituierte<br />
arbeiten zu lassen. Das verabscheuungswürdige Geschäft florierte<br />
”<br />
vor aller Augen“, empört sich der Autor.<br />
Di Fulvios Schilderungen von Gewalt und Leid sind mitunter<br />
drastisch, doch der umfangreiche Roman hält auch viele schöne<br />
Momente bereit. Denn die Protagonisten kämpfen auf sehr unterschiedliche<br />
Art gegen das Unrecht: Rocco mit Erfindergeist, Rosetta<br />
mit Empathie sowie Raquel mit ihrer wachen Intelligenz und Bildung.<br />
Nicht zuletzt ist es die zarte Liebe zwischen Rosetta und Rocco, die<br />
die Geschichte vorantreibt. Nach ihrer ersten Begegnung auf dem<br />
Schiff verhilft Rocco Rosetta nach der Ankunft im Hafen zur Flucht<br />
vor den Schergen des sizilianischen Barons. Bevor die beiden im<br />
Tumult der Straßen getrennt werden, verspricht er ihr: Ich werde dich<br />
”<br />
finden.“ Und wieder sind es nur wenige leise Worte, die eine große<br />
Wirkung entfalten.<br />
Luca Di Fulvio<br />
Als das Leben unsere Träume fand<br />
übersetzt von Barbara Neeb und Katharina Schmidt<br />
Bastei Lübbe, 765 Seiten, 12,- € (D), 12,40 € (A), 16,50 sFr<br />
ISBN 978-3-404-17600-7<br />
Hörbuch: Lübbe Audio<br />
8 CDs, Laufzeit 10 Std. 25 Min.<br />
16,- € (D), 18,- € (A), 22,50 sFr<br />
ISBN 978-3-7857-5553-2<br />
Sprecher: Philipp Schepmann<br />
<strong>Taschenbuch</strong>-<strong>Magazin</strong> 7