Rundbrief der Emmausgemeinschaft - Ausgabe 04|18

Emmaus | 5
Paris, Dezember 1953
Abbé Pierre und die Anfänge von Emmaus
von Martin Stern
Ein Austauschprogramm zwischen
den Universitäten Basel und Paris ermöglichte
mir 1953 den Aufenthalt
in der Seine-Stadt. Meine Frau und ich
wohnten in einer kleinen Parterre-Wohnung
im 17. Arrondissement. Ein kalter
Winter stand bevor. Wir schützten uns
vor der Kälte, die aus dem Keller durch
die Ritzen im Boden aufstieg, indem wir
diesen mit Zeitungen belegten und sie
mit einem billigen Teppich bedeckten.
Obdachlose durchsuchten frühmorgens
die Abfalleimer nach Essbarem. In den
besseren Quartieren war es Brauch, für
sie das Brot vom Vortag zuoberst unter
den Deckel der Abfalleimer zu legen. Die
meisten waren Alkoholiker und lebten von
Brot und billigem Wein. Nachts schliefen
sie unter Brücken und als es kalt wurde
auf den eisernen Gittern für die Abluft
der Métro-Bahn, auf Zeitungen, Säcken
und Kartons. Im Dezember aber wurde
es so kalt, dass das nicht mehr genügte.
Es kam zu Todesfällen durch Erfrieren.
Die Notschlafstellen waren überfüllt, die
Stadt Paris war überfordert.
Spontane Hilfe für die Ärmsten
Da begann Abbé Pierre mit seinen Mitbrüdern
eine Rettungsaktion: Auf der
Place du Panthéon im 5. Arrondissement
errichteten sie ein großes Zelt. Der Boden
wurde mit Strohballen gedeckt. Im
Innern standen auf Eisengestellen Becken
mit Kohlen, die nachts zum Glühen gebracht
wurden und so die nötige minimale
Wärme im Zelt erzeugten. Auch eine
einfache Mahlzeit wurde täglich gereicht.
Das sprach sich rasch herum, und die
Obdachlosen ohne andere Unterkunft
versammelten sich abends dort und fanden
Schutz vor der ungewöhnlichen, lang
andauernden Kälte. Die Spontanität und
Großzügigkeit dieser wahrhaft christlichen
Aktion begeisterte ganz Paris.
Die Bruderschaft der „Frères d'Emmaüs“
besteht noch heute und dient den Ärmsten.
Mittlerweile gibt es in 37 Ländern
weltweit 350 Emmaus-Einrichtungen –
Emmaus St. Pölten ist eine davon.
Dr. Martin Stern ist Germanist.
Bis zu seiner Emeritierung 1997 war er
o. Univ.-Prof. am Deutschen Seminar der
Universität Basel.
Fotos: Emmaus Archiv