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„Die Leute haben zunehmend Schwierigkeiten, <br />

Realität von Satire zu unterscheiden“ <br />

<br />

Jan Böhmermann<br />

Dezember 2018, Michael Eder, Darmstadt<br />

Kontakt: kackgans@gmail.com / www.facebook.com/kackgans<br />

Illustrationen: shutterstock, Julian Bock; Fotos Michael Eder<br />

Druck: wirmachendruck, Backnang<br />

„Wie Dagobert Kackgans Bürgermeister von Darmstadt wurde“<br />

finden Sie in den gut sortierten Darmstädter Buchhandlungen <br />

und bei Amazon: ISBN 978-3-00-061011-0


#1 : Vita contemplativa<br />

Wie wird man eigentlich Bürgermeister? Was muss man können? Nun, ob Professor,<br />

Busfahrer, Müllmann oder Höhlenforscher: Für jeden Beruf benötigt man besondere<br />

Fähigkeiten, auch eine spezifische Ausbildung kann nicht schaden. Doch wir alle<br />

können Oberbürgermeister werden wie Jochen Platsch. Oder Bürgermeister wie Rafael<br />

Beißer.<br />

2017, elf Jahre ist es her, da war Jochen Platsch ein zufriedener Mann. Sein Verwaltungsleben<br />

plätscherte, wie sein Leben im Allgemeinen, dahin. Er war Oberbürgermeister<br />

von Darmstadt, einer hessischen Kommune mit 160 000 Einwohnern ein<br />

paar Kilometer südlich von Frankfurt, und er wusste selbst nicht so recht, warum.<br />

2011 hatten ihn die Darmstädter gewählt, ihn den Grünen, in der Stichwahl gegen<br />

Walter Koffmann, einen Sozialdemokraten, der den Niedergang seiner Partei in beispielhafter<br />

und allumfassender Weise vorweg genommen hatte.<br />

2011 bis 2017, die ersten Amtsjahre – ein einziger Traum. Morgens ließ sich<br />

Platsch von seinem E-Bike ins Büro radeln. Die immer gute Laune konnte ihm auch<br />

Beißer nicht verderben. Ihn hatte ihm die CDU zur Seite gestellt – aus Rache, weil<br />

Platsch die OB-Wahl 2011 gewonnen hatte. Beißer wurde Bürgermeister, Ordnungsdezernent,<br />

Schuldezernent, Sportdezernent und was sonst noch alles. Afrika-Experten<br />

erinnerte seine beeindruckende Kompetenz- und Ämterfülle an den ugandischen Politiker<br />

Moses Ali, der im Kabinett Museveni bekanntlich Minister für Tourismus, Wildleben,<br />

Altertümer, Jugend, Kultur, Sport, Rechnungswesen und Katastrophenprävention<br />

war.


Beißer hatte sich über Darmstadt hinaus einen Namen gemacht, als er im April<br />

2016 vor dem Spiel des damals erfolgreichen Fußballklubs Darmstadt 98 gegen Eintracht<br />

Frankfurt den Frankfurter Anhängern per Allgemeinverfügung das Betreten der<br />

Darmstädter Kernstadt verbot. Eine geradezu phantastische Idee, um übertriebene<br />

Fanaktivitäten aus der Nachbargemeinde zu unterbinden. Unglücklicherweise stellten<br />

mehrere Eintracht-Fans beim Verwaltungsgericht Eilanträge gegen die Verfügung. Die<br />

Richter, offenbar notorische Fans der Frankfurter Kicker, erklärten die Verfügung für<br />

rechtswidrig. Beißer, der Ordnungsdezernent, scherte sich nicht drum, missachtete den<br />

Gerichtsbeschluss und blieb dabei: Die Frankfurter müssen draußen bleiben! Die<br />

Antwort kam in Form von 300 weiteren Eilanträgen von Eintracht-Anhängern. Am<br />

Spieltag hob Beißer das Einreiseverbot auf, was ein wenig spät war. Seine Aktion<br />

kostete die Stadt 165 000 Euro an Gerichts- und Anwaltskosten. Das war die Gaudi<br />

natürlich wert, sagte sich die CDU, auch wenn SPD und die kleine Wählervereinigung<br />

Uwiga im Stadtparlament die Abwahl Beißers beantragten. Grüne, CDU und Uffbasse<br />

schmetterten den Antrag ab … Beißer blieb im Amt, und passenderweise lieferte Sozialdezernentin<br />

Okdeniz von den Grünen die Begründung dafür: Fehler könnten passieren,<br />

sagte sie. Als lebender Beweis für diese ewig gültige These hatte Beißer seinen<br />

Job in den folgenden Jahren sicher. ….<br />

In den guten, alten Zeiten kam Beißer meist etwas später ins Büro als Platsch, so<br />

gegen Mittag. Man trank eine Kleinigkeit. Platsch gern einen wohltemperierten Cappuccino,<br />

äthiopische Hochlandbohnen, fair trade. Beißer ein kühles Braustübl Pils<br />

oder eine Tasse Rotwein aus der Pfalz, und man überlegte, was man denn so machen<br />

könnte den ganzen Tag. Einen Radweg bauen? Nun ja, sagte Platsch, da wollen wir<br />

jetzt mal nichts überstürzen. So was will durchdacht sein. Ein paar Leihradstationen<br />

einrichten? Ach du lieber Gott, sagte Platsch, weißt du, was sowas kostet, da sind<br />

schnell mal 165 000 Euro weg. Dann vielleicht mal eine Straße sanieren? Um Himmels<br />

willen, sagte Beißer, was das für ein Chaos gibt, der ewige Baulärm und der<br />

ganze Schutt, den man wegräumen muss, das geht noch ein paar Jahre mit den Straßen.<br />

Außerdem haben sich alle daran gewöhnt, dass man die Hälfte des städtischen<br />

Straßennetzes nur noch mit Geländewagen und Vierradantrieb passieren kann. Aber<br />

vielleicht mal eine der maroden Grundschulen sanieren? Mein Gott, sagte Platsch,<br />

man kann ja alles über-treiben, in Afrika unterrichten sie in Bambushütten, da braucht<br />

sich hier mal überhaupt keiner zu beschweren. Das geht noch ein paar Jahre.<br />

So plätscherte die Zeit dahin.<br />

Alles lief ganz entspannt, vita contemplativa. Dann, 2015 muss es gewesen sein,<br />

fielen in Darmstadt die ersten Nilgänse auf. Erst zwei, dann drei, dann eine kleine<br />

Familie mit Küken, sie alle watschelten am Woog herum – wie süß, dachten alle. Das<br />

sollte sich ändern, das war der Anfang vom Ende.


#2 : Am Woog<br />

2017 war der Woog, dieser wunderschöne Badesee, bereits arg in Mitleidenschaft<br />

gezogen. Die Gänse machten sich auf den Liegewiesen breit, ihre Kackhaufen waren<br />

nicht mehr zu übersehen. Auch im Stadion am Böllenfalltor gab es Probleme. Die<br />

Nilgänse zogen Ende 2018 in Mannschaftsstärke im Stadion ein. Wer befürchtet hatte,<br />

dass dies an Zweitligaspieltagen zu Problemen führte, sah sich getäuscht. Zwar ließen<br />

sich Dutzende Kackgänse im Bereich der Mittellinie nieder, aber das hatte keinerlei<br />

Auswirkungen auf das Spiel der „Lilien“, was daran lag, dass das Mittelfeld bei<br />

Heimspielen nicht benötigt wurde. Die Taktik des Darmstädter Erfolgstrainers Dirk<br />

Suster sah nämlich vor, dass dieser Teil des Platzes für ein Fußballspiel nicht vonnöten<br />

sei. Die Taktik sah so aus: Wurde in der Abwehr ein Ball erkämpft, meist von<br />

Kapitän Schulu, so drosch er denselben möglichst weit nach vorn. Der Ball flog flugzeughoch<br />

über das Mittelfeld hinweg in den Angriff, wo es zwei Optionen gab. Entweder<br />

der hünenhafte Mittelstürmer, der wahlweise Sandro Sagner, Terence Loyd<br />

oder Serdar Tursun hieß, ließ den Ball abprallen und warf sich sodann bei der geringsten<br />

Berührung durch einen Gegenspieler zu Boden. Oder aber Außenstürmer Marcel<br />

Schneller sprintete dem Ball hinterher und überschlug sich beim ersten Gegnerkontakt<br />

wie ein vom Lkw gerammter Porsche auf der Autobahn. In beiden Fällen gab es Freistoß.<br />

Den schoss Mempe mit Karacho in den Strafraum, wo – wenn alles gut ging –<br />

Schulu, der Verteidiger, der gerade noch den Ball nach vorn gebrettert hatte, ihn nun<br />

per Brummschädel ins Tor beförderte. Was auch immer passierte: Das Mittelfeld wurde<br />

in Darmstadt nicht benötigt, der Ball überflog es im Minutentakt, und die Nilgänse<br />

konnten dort während der Spieltage ungestört ihrem Tagwerk nachgehen, das hernach<br />

von Helfern mit Eimern und Schaufeln beseitigt wurde. Auch beim ehrwürdigen Golfclub<br />

Traisa spitzte sich die Lage zu. Die Damen und Herren des Clubs hatten sich<br />

angesichts der stetig wachsenden Kackhaufen auf ihren Grüns angewöhnt, in Gummistiefeln<br />

über den Platz zu schreiten. Als ein Mitglied im Sommer 2018 die Nerven


verlor und eine der Gänse, die gerade einen Haufen ins siebte Loch gesetzt hatte, mit<br />

einem Fünfer Eisen in die ewigen Jagdgründe beförderte, kam es zu Tumulten zwischen<br />

Golfern und herbeigeeilten Tierschützer …<br />

Die Stadt reagierte. Am 11. Juli 2018 bauten Mitarbeiter des städtischen Eigenbetriebs<br />

Bäder im Woog-Bad einen Zaun auf. 600 Euro hatte die Stadt dafür ausgegeben,<br />

beste Baumarkt-Qualität. 150 Meter lang war der Zaun, 80 Zentimeter hoch. Mit<br />

Sichtschutzzäunen im Kampf gegen Nilgänse hatten schon die Nachbarn in Frankfurt<br />

experimentiert. „Vergrämungsmaßnahme“ hieß das im Amtsdeutsch, die Zäune sollten<br />

den Gänsen die Sicht auf mögliche Feinde nehmen, sie verunsichern und dadurch<br />

hinter der Absperrung halten. Dummerweise war der Darmstädter 600-Euro-Sichtschutzzaun<br />

ein durchsichtiger Plastikmaschenzaun, ergo ein Sichtschutzzaun ohne<br />

Sichtschutz. Kleiner Fehler, aber was soll’s, sagten sich die Experten im Darmstädter<br />

Eigenbetrieb, hat ja nicht viel gekostet, und den superschlauen Frankfurtern hat ihr<br />

Sichtschutzzaun mit Sichtschutz auch nichts genutzt, die Nilgänse dort hatten sich<br />

beim Dauerkacken nicht weiter stören lassen. Sie sind einfach über die Zäune drüber<br />

geflogen, womit natürlich nicht zu rechnen war. Auch in Darmstadt wurde man vor<br />

der Tatsache, dass Nilgänse fliegen können, überrascht. Im Eigenbetrieb war man<br />

davon ausgegangen, dass die Tiere mit Maschinen des irischen Billiganbieters Ryanair<br />

aus Ägypten nach Europa eingeflogen waren. Oder aber durchs Mittelmeer geschwommen.<br />

Damals, im Juli 2018, zu Zeiten der Sichtschutzzäune, gab es erste<br />

Stimmen, die zu bedenken gaben, dass Nilgänse manchen Menschen im Hinblick auf<br />

den Intelligenzquotienten womöglich überlegen sein könnten, eine Einschätzung, die<br />

seinerzeit noch als skurril abgetan wurde, sich später aber in geradezu dramatischer<br />

Weise bestätigen sollte …<br />

Im Spätherbst 2019 kam es am Woog zu einer fast schon verzweifelt zu nennenden<br />

Aktion. Der Eigenbetrieb Bäder hatte nach der missglückten Abschussaktion im<br />

Jahr zuvor weder Kosten noch Mühen gescheut und diesmal einen hochprofessionellen<br />

Jäger damit beauftragt, den Nilgänsen endgültig den Garaus zu machen. Diese<br />

Aktion gilt heute, Stadthistoriker sind sich einig, als Anfang vom Ende des Darmstädter<br />

Kampfes gegen die gemeine Kackgans. Der Jäger schlich im Morgengrauen mit<br />

schwerster Bewaffnung auf das Woogsgelände. Dann fielen die ersten Schüsse, von<br />

denen zwei ihr Ziel nicht verfehlten. Zwei Nilgänse starben den Heldentod, die restlichen<br />

gingen zum Gegenangriff über. Die Gänse jagten den Jäger weit weg von seinen<br />

Waffen, bis er schutzlos mitten auf der Wiese stand. Den armen Mann ergriff die Panik,<br />

er floh Hals über Kopf in Richtung Ausgang, blieb dort für einen langen Moment<br />

im Drehkreuz stecken, und die Gänse ließen ihre ganze Wut noch einmal an ihm aus.<br />

Mit letzter Kraft und furchtbar zugerichtet erreichte der Jäger das nahegelegene Gelände<br />

der Turn- und Sportgemeinde von 1848, wo er sich in einem Geräteschuppen<br />

verschanzte und erst Stunden später von einem Spezialeinsatzkommando der Hessischen<br />

Landespolizei befreit werden konnte. Seine Waffen, sechs Pistolen, Kaliber 45,<br />

sowie eine Flugabwehrkanone vom Typ A-MIG 23, hatte der Jäger auf dem Woogsgelände<br />

zurücklassen müssen. Die Nilgänse, das machte die Situation nicht einfacher,<br />

waren von nun an bewaffnet …


#4 : Besuch im OB-Büro<br />

… Der 21. September 2022 gilt in der Darmstädter Stadtgeschichte als Tag der dramatischen<br />

Wende. Als Beginn der Ära Gans. Während Platsch seinen Gedanken nachhing,<br />

hörte er gegen 11.20 Uhr ungewöhnliche Geräusche vor der Tür. Kratzgeräusche,<br />

eine Art Schnattern, dann ein leiser, kaum hörbarer Hilferuf seiner Sekretärin. Er<br />

sprang auf, eilte zur Tür, riss sie auf – und blickte in ein Rohr. Er wusste sofort, um<br />

was es sich handelte. Es gab keinen Zweifel. Er blickte in das Rohr einer Flugabwehrkanone,<br />

Typ A-MIG 23. Eine der Waffen, die der unglückliche Jäger vor Jahren bei<br />

den Gänsen am Woog hatte zurücklassen müssen und die seither verschwunden waren.<br />

Zwei muskulöse Gänse hielten sie Platsch nun vors Gesicht, sechs weitere Gänse<br />

hielten Pistolen, Kaliber 45, im Anschlag, zwischen ihnen stand Dagobert Kackgans.<br />

Er schaute Platsch an, sein Blick war kühl und von großer Entschlossenheit.<br />

Platsch wusste im selben Augenblick, dass er verloren hatte. Schweiß trat ihm auf die<br />

Stirn. Sein Leben begann an ihm vorbeizuziehen: Die glückliche, unbeschwerte Kindheit<br />

in Oberfranken. Die Schulzeit bis zum Abitur am Fresenius-Gymnasium in<br />

Hummelberg. Das Studium der Sozialwissenschaften an der Uni Köttingen. Der Zivildienst<br />

an der Uniklinik ebenda. Sein erster Job als Fabrikarbeiter bei Kugelfisch in<br />

Schweinfurt. Die Station im Marketing der Firma Ixtaylor in Suttgart. Das Referat für<br />

soziale Beschäftigungsförderung bei der Landesarbeitsgemeinschaft lokale Brennpunkte<br />

Hessen, die Dozentenstelle für wesensgemeinorientierte Beschäftigungsförderung<br />

in benachteiligten Stadtteilen an der Sachhochschule Darmstadt, und schließlich<br />

die politische Karriere. Der Job als Oberbürgermeister. Ein schönes Leben, dachte er.<br />

Und nun würde es enden. Hier im Rathaus. In seinem Büro.<br />

Dagobert Kackgans trat einen Schritt nach vorn. „Sie, Herr Platsch, und Sie, Herr<br />

Beißer, haben am Woog auf uns schießen lassen“, sagte er. „Ihr Handlanger, der sich<br />

Wildbeauftragter zu nennen pflegt, hat unseren Bruder und unsere Schwester im Morgengrauen<br />

abgeschlachtet. Sie, meine Herren, haben versucht, uns auszurotten. Und<br />

Sie würden es wieder tun, wenn Sie die Möglichkeit dazu hätten. Wir wissen, dass


Ihre sogenannten Jäger nur darauf warten, ihre Schrotflinten wieder laden zu dürfen,<br />

um uns. Aber damit ist Schluss. Nie wieder wird eine Gans in Darmstadt von Menschenhand<br />

sterben.“<br />

Aus den Gesichtern von Platsch und Beißer war jede Farbe gewichen. Platsch<br />

holte tief Luft, und gerade, als er erwidern wollte, dass er vorschlage, sich in der<br />

Stadtgesellschaft darauf zu verständigen, an einer klugen und respektvollen Entscheidungsfindung<br />

festzuhalten, sagte Kackgans:<br />

„Auch wenn die aufrechten Tierrechtler und Tierfreunde dafür gesorgt haben, dass<br />

wir nicht mehr beschossen werden, so müssen wir uns doch weiterhin jeden Tag<br />

schief ansehen und beleidigen lassen. Tag für Tag müssen wir uns von Ihnen und Ihresgleichen<br />

als dumme Gänse verhöhnen lassen. … Wir werden von Politikern als<br />

dumm und unnütz beschimpft, die selbst nicht auf drei zählen können, die nicht ausrechnen<br />

können, was der Bau eines Schwimmbades kostet, die Radwege so bauen,<br />

dass Radfahrer sie nur unter Lebensgefahr benutzen können, die für die Aktion<br />

„Mama ist die Beste“ bei Klarstadt an der Kasse sitzen, die die Schulen ihrer Kinder<br />

und Lehrer – im Gegensatz zu ihrem Rathaus – in einem Zustand belassen, der nicht<br />

in Worte zu fassen ist, die den Menschen aus der Nachbarstadt den Zutritt zur Stadt<br />

verbieten, die Sichtschutzzäune ohne Sichtschutz aufstellen, die Worte wie ,Vergrämung’<br />

und ,Eigenbetrieb’ benutzen. Diese Menschen nennen uns ,dumme Gänse’. Hat<br />

man jemals Dümmeres gehört?“<br />

„Ich nicht“, wollte Beißer sagen, doch er brachte keinen Ton heraus.<br />

„Wir sind heute hierher gekommen“, fuhr Kackgans fort, „um Sie von unserer<br />

Absicht zu unterrichten, mit Ihnen, Ihrem Unvermögen und Ihren Unverschämtheiten<br />

ein für alle Mal Schluss zu machen … Platsch schloss die Augen. Das war’s, dachte<br />

er. Sekunden vergingen. Vollkommene Stille.<br />

„Auch wenn Sie beide die Verantwortung für den Mordbefehl tragen, mit dem die<br />

Jäger zu uns kamen“, rief Kackgans, „auch wenn Sie, Herr Platsch, in einem Interview<br />

sagten, da wo Sie herkämen, würde man kurzen Prozess mit so jemandem wie<br />

uns machen – trotz all dieser Niedertracht konnten wir den militanten Flügel der Nilgans-Bewegung,<br />

dessen Existenz wir nicht bestreiten, davon überzeugen, auf Gewalt<br />

zu verzichten.“<br />

Ein tiefes Seufzen füllte den Traum. Platsch und Beißer atmeten auf. Ihr Leben<br />

würde weitergehen.<br />

„Und weil wir auf Gewalt verzichten“, sagte Kackgans, „bringen wir Ihnen heute<br />

die erbeuteten Waffen zurück. Wir brauchen sie nicht. Machen Sie damit, was Sie<br />

wollen. Sie werden Ihnen nichts nutzen, denn der Kampf zwischen Ihnen und uns<br />

wird nicht mit Waffen entschieden, sondern mit Klugheit, Fleiß, Sachkunde, Phantasie,<br />

und durch eine demokratische Wahl. Wir sind gekommen, um Ihnen zu sagen: Ich,<br />

Dagobert Kackgans, werde bei der Oberbürgermeisterwahl gegen Sie, Herr Platsch,<br />

und gegen Sie, Herr Beißer, sollte Ihre Partei Sie nominieren, antreten …


#4 : San Remo<br />

Eines schönen Tages wurde es den Gänsen zu dumm, und sie machten sich im<br />

Stadtgebiet breit. Ihr besonderes Interesse galt zunächst der Grafenstraße. Bürgermeister<br />

Beißer warnte in seiner Funktion als Ordnungsdezernent sogleich vor No-Go-Areas<br />

wie in Berlin, wo Clans arabischer Herkunft seit Anfang des Jahrhunderts ganze<br />

Straßenzüge kontrollierten. In Darmstadt besetzten die Gänse in der Grafenstraße<br />

zunächst das Parkhaus hinter dem Kult-Friseur kpOchs, wo der Frauen- und Frisurenversteher<br />

Davide, Maserati-Fahrer und mit Abstand bester Coiffeur der Stadt, die<br />

Schere und die Geschäfte mit sizilianischem Humor führte.<br />

Nach dem Parkhaus bevölkerten die Gänse die Shisha-Bar gegenüber, wo sehr<br />

breite, sehr schwere Jungs vor sich hin dampften. Ihnen traute man zu, den Eindringlingen<br />

Herr zu werden. Doch auch sie waren bald damit beschäftigt, Kothaufen vor<br />

ihrem Lokal in Eimer zu schippen, sie in tiefgelegte Limousinen zu verladen und irgendwo<br />

vor der Stadt zu entsorgen. Nach und nach übernahmen die Kackgänse die<br />

Kontrolle in der Grafenstraße, mit Ausnahme des Ristorante San Remo, deren Kellner<br />

ein derart eisgekühltes Selbstbewusstsein ausstrahlten, dass selbst die Gänse erschauderten<br />

und einen Bogen um das coolste Lokal der Stadt machten. Das San Remo war<br />

der einzige Ort, an dem die Vergrämung wirklich funktionierte. Nur Dagobert Kackgans<br />

scherte sich nicht drum. Er war Stammgast im San Remo.<br />

Die Vergrämungskellner hatten Kackgans längst ins Herz geschlossen. Ihnen gefiel<br />

seine Art, sein Interesse, seine Wachheit, seine Energie, sein Mitgefühl, sein<br />

Gleichmut alter Schule. Das San Remo war für Kackgans ein Fundort für Gesprächs-


partner, entweder drinnen, oder wenn er im Mai wieder an der Straße sitzen konnte,<br />

draußen. Was er lustig fand, waren kleine Markierungen auf dem Gehweg, und als er<br />

einen der Kellner einmal fragte, was es damit auf sich habe, sagte er, dies seien die<br />

Grenzanlagen. Stünde ein Stuhl oder ein Tisch einen Zentimeter außerhalb der Markierung,<br />

mache man sich strafbar. Kackgans, der fand, das sei ein guter Witz, lachte,<br />

doch der Kellner hob seine Augenbrauen einen Millimeter und sagte mit sonst unbewegter<br />

Miene, das sei kein Witz. Er hatte recht. Die Gehweg-Markierungen zählten zu<br />

den wichtigsten Aufgaben des städtischen Ordnungsamtes. Für jeden Tisch, den ein<br />

Restaurationsbetrieb auf den öffentlichen Gehweg stellte, wurde von der Stadt eine<br />

Gebühr in Rechnung gestellt. Eigenartig, dachte Kackgans, er hatte gerade gelesen,<br />

dass es zum Beispiel in Kopenhagen genau umgekehrt ist. Dass dort die Gastronomen,<br />

die mit ihren Tischen Leben auf die Straßen bringen, in diesem Bemühen finanziell<br />

gefördert werden. Komisch, dachte Kackgans, dass Platsch davon nichts mitbekommen<br />

hat, wo er doch gern in Kopenhagen ist, aber das dortige Radwegekonzept hat er<br />

ja auch nicht mitbekommen, so gesehen kann man es verstehen.<br />

Im San Remo saß ein Querschnitt durch die Darmstädter Bevölkerung. Schauspieler,<br />

Ärzte, Dirigenten, Professoren, Radrennfahrer, Unternehmer, Müllmänner, Vermieter,<br />

Mieter, Makler, Rentner, Studenten, es gab so gut wie niemanden von Interesse,<br />

den Kackgans dort nicht fand, wenn er lange genug auf seinem Stuhl saß. Als er im<br />

San Remo einmal mit einer klugen Frau über Gott und die Welt philosophierte und auf<br />

die Darmstädter Lokalpolitik und ihren 700-Millionen-Euro-Haushalt zu sprechen<br />

kam, zog sie den Vergleich zu einem Land, von dem er noch nie zuvor gehört hatte, zu<br />

einer „Bananenrepublik“. Wo sie auf dem Globus zu finden sei, wollte Kackgans wissen,<br />

in Europa doch sicherlich nicht. Die Frau lachte. Nein, sagte sie, nicht in Europa,<br />

obwohl, so sicher sei sie auch wieder nicht. Bananenrepubliken seien weiter verbreitet,<br />

als man denke, man verstehe darunter Staaten, in denen die politischen Verhältnisse<br />

von Ineffizienz und Inkompetenz geprägt seien. Und wenn sie es recht überlege, so<br />

sei Großbritannien geradezu ein Musterbeispiel für eine postkoloniale Bananenrepublik,<br />

denn war es nicht so, dass der damalige britische Minister für den Austritt aus<br />

der EU, ein gewisser Duminic Raab, Mister Brexit himself also, Anfang November<br />

2018 erklärte, er habe nicht gewusst, was es für den Handel bedeute, dass England<br />

eine Insel ist.<br />

„Der Brexit-Minister hat nicht gewusst, dass England eine Insel ist?“, fragte<br />

Kackgans.<br />

„Man kann nicht alles wissen als Politiker“, sagte die Frau und lächelte.<br />

„Können eigentlich nur Staaten Bananenrepubliken sein?“, fragte Kackgans.<br />

„Oder auch Städte? Bananenstädte?“<br />

Die Frau musste wieder lachen.<br />

„Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht“, sagte sie. „Aber klar, es gibt auch<br />

Bananenstädte. Eine Stadt ist ja nichts anderes als eine kleine Republik. Mit Wahlen,<br />

Parlament, Koalitionen, Opposition, Regierungschef und Ministerien, die Dezernate<br />

heißen, und machmal auch Eigenbetriebe“ …


#6 : 2028<br />

Unter Oberbürgermeister Kackgans läuft heute, 2028, vieles, fast alles besser in<br />

Darmstadt. Kein Vergleich zur Platsch-Beißer-Ära. Der SV Darmstadt 98 spielt im<br />

Böllenfalltorstadion. Zwar nur in der Kreisoberliga gegen den FC 2024 Nilgans oder<br />

die Thekenmannschaft der Grohe-Brauerei, doch ist Trainer Dirk Suster zuversichtlich,<br />

mit kontrolliertem Defensivfußball schon bald die Rückkehr in die Gruppenliga<br />

schaffen zu können. Der 2017 angekündigte Stadionumbau ist 2020 vorläufig auf Eis<br />

gelegt worden, weil das 28,5-Millionen-Budget für Gutachten, Machbarkeitsstudien,<br />

Architekten, Berater, Ausschreibungen, Verwaltungskosten und Sonstiges aufgebraucht<br />

war. Immerhin, und das wertet Vereinspräsident Zitsch als „großartigen Fortschritt“,<br />

ist das Stadion mittlerweile überdacht. Dies war möglich, weil der Eigenbetrieb<br />

Bäder in einer Lagerhalle die Traglufthalle gefunden hatte, mit der von 2018 bis<br />

2024 während der Bauarbeiten am Nordbad das Freibecken überdacht worden war.<br />

Die Traglufthalle wurde 2025 im Stadion aufgeblasen und mit Fassanstich und Butterbrezeln<br />

feierlich eröffnet. Man hat sie blau-weiß angestrichen, sieht super aus. Ein<br />

bisschen wie die Allianz-Arena in München, aber nur, wenn die Abendsonne drauf<br />

scheint und man in der Lilienschänke vorher ein paar Bier getrunken hat.<br />

Was ist aus den einstigen Stars der Darmstädter Lokalpolitik geworden? Nun, der<br />

frühere Bürgermeister Beißer betreibt mit überschaubaren Erfolg einen Fotoladen in<br />

der Grafenstraße. Er hat …

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