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Muehl-Funkenflug-Leseprobe

Novellen des Alltags »Es blieb das Gefühl, dass wir alle im Unbestimmten Segelnde sind« Begegnungen sind oft mehr als zufällige Treffen. Wieviel mehr darin enthalten sein kann und welche Macht und Faszination, welche Intensität der Gefühle sich daraus entwickeln, das zeigt Karl Otto Mühl in diesen einfühlsamen Novellen des Alltags, in dem ja immer schon das wahre Leben steckt, wie alle wissen, die vergeblich in den »großen« Momenten die Erfüllung ihres Glücks erhofften.

Novellen des Alltags

»Es blieb das Gefühl, dass wir alle
im Unbestimmten Segelnde sind«


Begegnungen sind oft mehr als zufällige Treffen.
Wieviel mehr darin enthalten sein kann und welche Macht und Faszination, welche Intensität der Gefühle sich daraus entwickeln, das zeigt Karl Otto Mühl in diesen einfühlsamen Novellen des Alltags, in dem ja immer schon das wahre Leben steckt, wie alle wissen, die vergeblich in den »großen« Momenten die Erfüllung ihres Glücks erhofften.

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alle auf den Heimweg, der eine hierhin, der andere<br />

dorthin, zurück blieben Tatjana und Georg. Dann<br />

brachen auch sie auf. Tatjana fand einen kleinen<br />

Umweg, der angeblich schöner war, und der führte<br />

durch ein kleines Wäldchen.<br />

Sie hatte nichts Herausforderndes gesagt, Georg<br />

nichts Ungewöhnliches, aber plötzlich ahnte er aus<br />

ihrem Blick, dass er sie hier zwischen den Bäumen<br />

küssen durfte. Es war nicht der erste Kuss in seinem<br />

Leben, aber dieser hier war so saugend und stark, ihre<br />

Arme, mit denen sie ihn umschlang, so kraftvoll, ihr<br />

Körper presste sich so unmissverständlich gegen ihn,<br />

dass Georg aufhörte, irgendetwas zu denken. Es war<br />

Abend, aber noch taghell, und zerrissene hellgraue<br />

Himmelsfetzen hingen zwischen den Bäumen, die<br />

jetzt befriedigt vor sich hinbrummten, während die<br />

beiden eingehakt zwischen den gutmütigen Riesen<br />

den Waldhang hinunter stapften.<br />

Bis heute, ein Zeitalter später, hat Georg diesen<br />

ersten Kuss unter einem Baum auf raschelndem<br />

Laub stehend, nicht vergessen. Ein flammendes<br />

Gefühl packte ihn damals von oben bis unten oder<br />

umgekehrt, und es ließ den Rest von Gehirn, den er<br />

besaß, schmelzen.<br />

Für den nächsten Abend verabredeten sie sich in<br />

der Gartenlaube ihrer Eltern. Der Regen prasselte<br />

auf die Holzhütte, die Welt vor dem kleinen Fenster<br />

war grau und nass, die Bank in der Hütte war hart<br />

und nur mit einer Wolldecke bedeckt, aber Tatjanas<br />

Körper war hell, weich und warm.<br />

Am nächsten Abend könne er bei ihr zu Hause<br />

übernachten, sagte sie, ihr Vater habe Nachtschicht.<br />

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