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Leseprobe "Der hungrige Migrant: Jugendroman" von Erdinç Aydın

Dies ist die Geschichte eines jungen Mannes, der sich Cem nennt und eigentlich Erdinç Aydın ist. Cem liebt zwei Dinge in seinem Leben ganz besonders: Das sind Bücher und Frauen. Er selber, oder der Leser, wird nicht wissen, was wichtiger und interessanter ist. Ist es die Bildung und die Begegnung mit Weltmännern? Ist es eine Frau oder alle Frauen, oder ist Sex wichtig, egal wo und wie? Wer ist Cem eigentlich? Cem ist ein Türke, der eigentlich nur ein Türke ist, weil er Cem heißt. Er hat eine große Verbundenheit zu Istanbul, liebt aber Siegburg als seine Heimatstadt, die er niemals verlassen wird. Berlin ist cool.

Dies ist die Geschichte eines jungen Mannes, der sich Cem nennt und eigentlich Erdinç Aydın ist.
Cem liebt zwei Dinge in seinem Leben ganz besonders: Das sind Bücher und Frauen.

Er selber, oder der Leser, wird nicht wissen, was wichtiger und interessanter ist.

Ist es die Bildung und die Begegnung mit Weltmännern?

Ist es eine Frau oder alle Frauen, oder ist Sex wichtig, egal wo und wie?

Wer ist Cem eigentlich?

Cem ist ein Türke, der eigentlich nur ein Türke ist, weil er Cem heißt.
Er hat eine große Verbundenheit zu Istanbul, liebt aber Siegburg als seine Heimatstadt, die er niemals verlassen wird.

Berlin ist cool.

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<strong>Leseprobe</strong><br />

Taschenbuch<br />

12,5 x 19 cm<br />

284 Seiten<br />

ISBN folgt<br />

1


Vorwort<br />

Hängen bleiben tun sie...die Bilder der Kindheit und der<br />

Jugend.<br />

Manche dieser Bilder<br />

verwelken...verblühen...verschwommen.<br />

Keine der Figuren in der Erzählung ist erfunden. Sie<br />

haben alle gelebt...sie hat es wirklich gegeben. Wir haben<br />

alle gelebt...uns gab es wirklich.<br />

Kein Mensch kann die Zukunft sehen.<br />

Nun lebt der Autor irgendwo im Lande der Denker...der<br />

Dichter und aber auch der bösen Männer.<br />

Er glaubt, dass der Ertrag des Lebens...dass die Früchte<br />

des Lebens...schon in der Kindheit und der Jugend<br />

sichtbar werden.<br />

Die Erzählung ist ein Teil der Jugend des Autors. Und...?<br />

Was kann man sich für einen Menschen denken, der die<br />

Geschichte schon vor 25 Jahren niedergeschrieben hat,<br />

und sie aber eher als ein Mann in doch älteren Jahren<br />

veröffentlicht.<br />

Es kann nicht darum gehen, sich etwas erzählen zu<br />

lassen. Es kann nur darum gehen, etwas wissen zu<br />

wollen.<br />

2


Nun...es wird hier eine Geschichte erzählt, wo der Held<br />

der Erzählung...nur einigen wenigen Sachen nachgeht.<br />

Wollen Sie ihn denn nicht mal kennen lernen? Und<br />

wollen Sie nicht wissen, warum er und wonach er Hunger<br />

verspürt?<br />

Gelegentlich Opfer bringen müssen wir alle...sollten<br />

zumindest wir alle. Das Buch ist die Opfergabe des<br />

Autors...für all das...was ihm die Jugend gebracht hat.<br />

Und für all das, was ihm die Zukunft bringen wird.<br />

<strong>Erdinç</strong> <strong>Aydın</strong><br />

3


Kapitel I<br />

-Noch ein Knabe, spielt aber den Mann<br />

Im Jahr 1983 besuchte ich die 10. Klasse der Hauptschule<br />

in Siegburg und wusste genau, dass ich an der<br />

weiterführenden Schule, sprich in die Fachoberschule,<br />

dann in Köln an der Fachhochschule studieren wollte.<br />

Ich war als Kind einer türkischen Gastarbeiterfamilie<br />

nach der 5. Klasse aus Istanbul in die BRD gebracht<br />

worden. Obwohl ich in der fünften Klasse ein sehr gutes<br />

Zeugnis besaß, wurde ich wegen mangelnder<br />

Deutschkenntnissen in die Hauptschule eingeschrieben<br />

und in den ersten Jahren, also in der sechsten, siebten und<br />

der achten Klasse immer aus pädagogischen Gründen<br />

versetzt. Als ich in der neunten Klasse war, sprach ich so<br />

viel Deutsch, dass ich mich am Unterricht aktiv<br />

beteiligen konnte und dadurch verbesserten sich meine<br />

Noten, so, dass ich Typ B der 10. Klasse besuchen<br />

konnte. Damit wurde der Weg für den Besuch der<br />

weiterführenden Schule frei. Schon zu Beginn der 10.<br />

Klasse war ich über den Aufbau der Fachoberschule<br />

informiert, genauer gesagt, dass in der 11. Klasse ein<br />

einjähriges Praktikum absolviert werden musste, und<br />

zwar vier Tage die Woche. Freitags und samstags musste<br />

man in die Schule.<br />

Im zweiten Halbjahr der 10. Klasse machten sich alle<br />

meiner Kameradinnen und Kameraden auf die Suche<br />

nach einem Ausbildungsplatz. Nur ich suchte einen<br />

4


Praktikumsplatz, hatte aber noch nie eine Bewerbung<br />

geschrieben, meine Mitschüler auch nicht. Daher hatte<br />

sich das Bewerbungstraining fast zum Hauptziel des<br />

Unterrichts entwickelt. Einige bewarben sich als Kfz-<br />

Mechaniker, einige als Bäcker, einige als Elektriker,<br />

Schlosser, Maler, die anderen als Erzieherin oder<br />

Arzthelferin. Nur ich musste mich als Praktikant<br />

bewerben und das war doch wieder etwas anderes. Ein<br />

entfernter Verwandter väterlicherseits kam ungefähr zu<br />

dieser Zeit aus Istanbul, um in der BRD zu studieren.<br />

Doch sein türkisches Abitur wurde hier nicht anerkannt<br />

und so musste er die Fachoberschule noch einmal<br />

besuchen und auch an der Abschlussprüfung teilnehmen.<br />

Auch musste er ein einjähriges Praktikum absolvieren,<br />

was er in einer Landmaschinenfabrik in Hennef vor zwei<br />

Jahren auch gemacht hatte. <strong>Der</strong> Geschäftsführer der<br />

Fabrik war mit ihm äußerst zufrieden gewesen, und<br />

würde ich mit meinem Verwandten bei ihm vorsprechen,<br />

so würde er mir bestimmt einen Praktikumsplatz zur<br />

Verfügung stellen.<br />

In der zweiten Hälfte des Schuljahres rief mein<br />

Verwandter, er heißt übrigens Ilker, bei der<br />

Landmaschinenfabrik an und fragte für mich nach einem<br />

Praktikumsplatz. <strong>Der</strong> Geschäftsführer hörte ihm<br />

aufmerksam zu und sagte ihm, dass ich mal<br />

vorbeikommen solle und ein Bewerbungsschreiben wäre<br />

nicht notwendig.<br />

Wir wohnten in Siegburg-Brückberg und hatten vor, in<br />

Kürze nach Siegburg-Zentrum umzuziehen. Hennef lag<br />

nur ein paar Kilometer <strong>von</strong> uns entfernt. Ich brauchte für<br />

5


die Strecke <strong>von</strong> der neuen Wohnung bis zum<br />

Praktikumsplatz nicht mehr als eine halbe Stunde. Und<br />

dies konnte ich durchaus in Kauf nehmen. Die<br />

Fachoberschule war in Troisdorf-Sieglar und lag <strong>von</strong> uns<br />

auch nur ein paar Kilometer entfernt. Ich konnte also<br />

problemlos mit dem Bus zum Praktikumsplatz und auch<br />

zur Schule kommen.<br />

Kurz nachdem Ilker mit seinem ehemaligen Chef<br />

gesprochen hatte, sprach ich vor und bekam auch eine<br />

Zusage. <strong>Der</strong> Geschäftsführer erklärte mir, dass er mir für<br />

die Arbeit auch Geld geben wolle, dass ich aber dafür<br />

fleißig zu sein habe und so wenig wie möglich ausfallen<br />

dürfe. Ich sollte <strong>von</strong> sieben Uhr bis sechzehn Uhr<br />

arbeiten, müsste alle anfallenden Arbeiten erledigen, d.h.<br />

bohren, schleifen, sägen, fräsen, polieren, drehen,<br />

stanzen, etwas schweißen usw., würde dafür 20,- DM pro<br />

Tag bekommen und das theoretische Wissen würde ich in<br />

der Schule vermittelt bekommen. <strong>Der</strong> Meister des<br />

Betriebes würde für Fragen jederzeit zur Verfügung<br />

stehen und an seine Anweisungen hätte ich mich zu<br />

halten. Ich würde in diesem einen Jahr einiges lernen und<br />

würde das Ganze später, während des Studiums, ganz gut<br />

gebrauchen können. Das Geld sollte pro Woche, und<br />

zwar jeden Donnerstag, ausbezahlt werden und würde im<br />

Monat 320,-DM betragen. Er fragte mich, wie ich zum<br />

Betrieb kommen würde. Ich sagte, mit dem Bus und ab<br />

und zu, wenn es passte, würde mein Vater, der in der<br />

Nähe bei Coca-Cola arbeitete, mich fahren. Das<br />

Gespräch dauerte fast eine ganze Stunde und während<br />

6


dieser Zeit lernten wir uns etwas kennen. Zum Schluss<br />

des Gesprächs, bevor wir den Vertrag unterzeichneten,<br />

zeigte er mir ganz oberflächlich den Betrieb und die<br />

Maschinen; beginnen sollte ich nach den Sommerferien<br />

am 18. September. Ich verabschiedete mich <strong>von</strong> ihm,<br />

seinem Assistenten, einem circa 35 Jahre alten und sehr<br />

dicken Mann, der einen sehr ungepflegten und dreckigen<br />

Eindruck auf mich machte und dem Lehrling im Büro,<br />

der im Gegensatz zum Assistenten, sehr gepflegt und<br />

athletisch gebaut war. Als ich die Firma verließ, war ich<br />

sehr erleichtert, denn ich hatte mir bis dahin Sorgen<br />

darüber gemacht, ob es mir gelingen würde, einen<br />

Praktikumsplatz überhaupt zu finden. Vielleicht handelte<br />

ich mit etwas Schwermut und Trübseligkeit. Doch die<br />

Erleichterung tat mir sehr gut. Nun konnte ich nach den<br />

Sommerferien mit der Vorstufe des Studiums beginnen.<br />

Die Firma befand sich in dem neuen Industriegebiet in<br />

Hennef. Bis jetzt hatten sich nur vereinzelt Firmen<br />

angesiedelt und viele waren noch im Bau. Die Strecke bis<br />

zu der Hauptstraße betrug circa 600 Schritte und war<br />

frisch geteert. An der Hauptstraße hielt der Bus, mit dem<br />

ich bis zum Siegburger Hauptbahnhof fahren konnte. Ich<br />

war sehr froh, dass ich in der Klasse nun zu denen<br />

gehörte, die das kommende Jahr sinnvoll verbringen<br />

würden. Ich ging zu der Hauptstraße und wartete<br />

fünfzehn Minuten auf den Bus, stieg ein und fuhr<br />

glücklich nach Hause.<br />

Meine Mutter war zu Hause und beschäftigte sich gerade<br />

mit dem Kochen. Sie wusste, dass ich ein<br />

Vorstellungsgespräch hatte und fragte mich daher, wie es<br />

7


verlaufen war. Sie und mein Vater waren stolz darauf,<br />

dass ich innerhalb <strong>von</strong> ein paar Jahren so viel Deutsch<br />

gelernt hatte, dass ich Typ B der Hauptschule und<br />

anschließend die Fachoberschule und dann die<br />

Fachhochschule besuchen konnte. Mein Vater vor allem,<br />

der in der Türkei nur fünf Jahre die Schule besucht hatte,<br />

legte viel Wert auf eine gute Ausbildung. Auch war er es,<br />

der mir durch intensive Gespräche den Maschinenbau<br />

nahe legte. Ich selbst schwebte noch in der Luft und hatte<br />

mich durch seine Ratschläge für ein Studium<br />

entschieden. Erst in der zehnten Klasse, als die<br />

Schwierigkeiten und Probleme mit der deutschen Sprache<br />

größtenteils behoben waren, gelangte ich zu der<br />

Überzeugung, dass ich eine weiterführende Schule<br />

besuchen könnte. Ich erzählte meiner Mutter kurz und<br />

bündig den Verlauf des Vorstellungsgesprächs und<br />

erfreute sie, in dem ich ihr sagte, dass ich den<br />

Praktikumsplatz bekommen hätte.<br />

Sie sagte lächelnd: „Hoffentlich geht das gut. Jetzt musst<br />

Du uns einen Kaffee ausgeben", und rührte die<br />

Kohlsuppe auf dem Herd. Ich hatte das Gefühl, als wäre<br />

ich eine sehr schwere Last losgeworden. Mein Bruder,<br />

meine Schwester und mein Vater waren außer Haus. Ich<br />

ging in mein Zimmer, schlug mein Englischbuch auf und<br />

lernte für den morgigen Vokabeltest. Es waren circa<br />

dreißig Vokabeln, die gelernt werden sollten. Nach einer<br />

halben Stunde verließ ich das Zimmer, welches ich mit<br />

meinem Bruder teilte, und unterhielt mich mit meiner<br />

Mutter. Sie erzählte, wie schwer sie es hatten, als sie neu<br />

in der BRD waren. Nicht einmal ein Kopfkissen hätten<br />

8


sie besessen und mussten dieses <strong>von</strong> einem Verwandten<br />

ausleihen. Sie fragte mich, ob ich einen Teller <strong>von</strong> der<br />

Kohlsuppe essen mochte. Ich bejahte und aß die Suppe.<br />

Meine Mutter zündete sich eine Zigarette an und sagte,<br />

bevor sie einen Zug da<strong>von</strong> nahm: „Ich finde es toll, dass<br />

Du nicht trinkst und rauchst.“<br />

„Wozu trinken und rauchen?”<br />

„Sag das nicht. Nicht alles, was wir tun, hat auch einen<br />

Sinn.“<br />

„Mag ja sein. Doch als Nichtraucher und Nichttrinker<br />

fühle ich mich ganz wohl. Außerdem kann ich<br />

Alkoholgeruch nicht ausstehen und rauchen ist<br />

schädlich.“<br />

Wir unterhielten uns noch etwas über die Schule, meine<br />

Zukunft, über meinen Bruder, meine Schwester und über<br />

unseren diesjährigen Urlaub, der bald kommen sollte.<br />

Die Teekanne war bei uns immer voll und es gab zu fast<br />

jeder Stunde frischen Tee. Ich trank noch ein Glas und<br />

ging aus der Wohnung, stieg in den Bus und fuhr in die<br />

Stadt.<br />

<strong>Der</strong> Marktplatz war <strong>von</strong> dem Geschrei und Rufen der<br />

Gemüse- und Obstverkäufer so erfüllt, dass ich es<br />

beinahe schon unangenehm fand. Ich ging direkt in das<br />

„Jump". Unseren Treffpunkt. <strong>Der</strong> Besitzer, Michael, mit<br />

langen, lockigen Haaren, blauen Augen und schlankem<br />

Körper kannte uns alle. Er sagte auch nichts, wenn wir<br />

kein Geld hatten und nichtstrinkend nur dasaßen. Ömer<br />

und Hamdi saßen schon da und tranken Cola. Ich grüßte<br />

sie und gesellte mich zu ihnen und bestellte ein Glas<br />

9


Wasser. Ömer und Hamdi waren in der neunten Klasse<br />

und strebten ebenfalls Typ B der Klasse 10 an. Auch sie<br />

waren vor fünf Jahren aus der Türkei, Ömer aus Trabzon<br />

und Hamdi aus Kırşehir, in die BRD gekommen und<br />

wurden in der Schule drei Jahre lang aus pädagogischen<br />

Gründen versetzt. Ich erzählte ihnen, dass ich für die elfte<br />

Klasse der Fachoberschule einen Praktikumsplatz<br />

gefunden hätte und darüber sehr froh war und fühlte, dass<br />

beide mich aus diesem Grund beneideten. Ömer und<br />

Hamdi waren Klassenkameraden und ich kannte sie seit<br />

meiner Ankunft in Deutschland. Wir verbrachten viel<br />

Zeit miteinander, vor allem hier im „Jump". Ömer klopfte<br />

auf meine Schulter und sagte: „Hoffentlich schaffen wir<br />

auch Typ B und können später studieren. Ich habe<br />

meinen Klassenlehrer darauf angesprochen und ihn<br />

gefragt, ob ich Typ B schaffen kann. Er sagte, wenn ich<br />

so weiter mache, könnte ich es durchaus schaffen.“<br />

Ich spürte wie Hamdi dabei leicht bedrückt und<br />

schwermütig wurde. Schließlich bemerkte er, dass er<br />

Schwierigkeiten in Deutsch habe und nur Fünfen<br />

schreiben würde. Aber er würde nicht traurig werden,<br />

wenn er Typ B nicht schaffen sollte. Wenn er nicht<br />

studieren könnte, so wolle er eine Lehre, wie sein Cousin<br />

in Australien, als Friseur machen.<br />

Michael ließ in seinem Jugendcafe gute Musik laufen.<br />

Ich hatte keine Ahnung <strong>von</strong> dem, was lief. Aber es gefiel<br />

mir sehr. Ich ging gerne ins „Jump". <strong>Der</strong> Zwang der<br />

Umstände trieb uns hierher, und der Zwang der<br />

Umstände ließ uns Freundschaften schließen. Ömer war<br />

der Meinung, dass wir uns in einer Leidenszeit befanden,<br />

10


doch dass dies in ein paar Jahren beendet sein würde.<br />

Unsere Leidenszeit würde sich aus der Pubertät, der<br />

Jugend und der Integration zusammensetzen. Nach<br />

Ömers Auffassung waren wir alle Leidensgenossen und<br />

dies würde uns in gewissem Maße hochherzig, aber auch<br />

einfältig machen. Später unterhielten wir uns über Gül,<br />

eine Klassenkameradin <strong>von</strong> Ömer und Hamdi, die vor<br />

drei Tagen aus dem Elternhaus weggelaufen war und<br />

überlegten, warum sie weggelaufen sein und wo sie sich<br />

aufhalten könnte. <strong>Der</strong> Drang der Neugier veranlasste uns,<br />

die ganze Zeit nur über Gül und ihrer Familie zu<br />

sprechen. Ömer, der dünnste und magerste <strong>von</strong> uns<br />

dreien lächelte plötzlich auf, als er David zur Tür<br />

hereinkommen sah. David war schon über zwanzig Jahre<br />

alt und war genau so oft im „Jump" wie wir drei. Er<br />

grüßte uns alle, in dem er jedem <strong>von</strong> uns nacheinander<br />

die Hand gab und setzte sich an unseren Tisch.<br />

„Ich habe mir ein Auto gekauft", sagte er, sehr stolz.<br />

„Was für ein Auto?", fragte ich.<br />

„Einen Opel. Opel Ascona. 120 PS. Fährt fast 200<br />

Kilometer die Stunde. Tausend Mark.“<br />

„Toll", sagte Hamdi, und fügte hinzu, „damit müssen wir<br />

unbedingt eine Tour machen.“<br />

„Warum nicht" ‚ sagte David, „ für eine Tour bin ich<br />

immer zu haben. Am liebsten nach Berlin, denn da wollte<br />

ich schon immer hin.“<br />

David stammte aus Ghana und hatte nur noch ein paar<br />

Monate bis zu seiner Prüfung als Kfz-Mechaniker. Er war<br />

durch und durch ein Afrikaner. Sehr stolz und sehr<br />

bemerkenswert und burschikos den Deutschen<br />

11


gegenüber, bis auf Michael. Michael konnte er gut leiden<br />

und Vertrauen schenken. Er war sehr belesen und uns<br />

gegenüber immer wohlgesinnt. Er legte viel Wert auf<br />

freundliche Gesichter. Ömer erzählte ihm <strong>von</strong> Gül. David<br />

hörte aufmerksam zu und sagte leise, kaum hörbar: „Kein<br />

Wunder. Statt jeden Abend mit dem Vater Koran lesen,<br />

lieber mit dem Freund ausgehen.“<br />

„Hälst Du den Koran für so schlecht?", fragte ihn Hamdi<br />

gelassen.<br />

„Nicht schlecht, aber auch nicht originell. Wir wollen<br />

doch alle nur das Originelle.“<br />

Ich versuchte mich, am Gespräch zu beteiligen, blieb<br />

jedoch still. Ich gehörte zwar dem islamischen Glauben<br />

an, aber kannte mich im Islam nicht gut aus, was ich<br />

übrigens sehr bedauerte. Wir hatten alle unsere Getränke<br />

ausgetrunken. Hamdi, Ömer und David redeten noch eine<br />

Weile über den Koran und über den Islam. Das Wissen<br />

über den Islam und das Wissen über den Koran war<br />

meine verwundbare Stelle. Auch mein Allgemeinwissen<br />

war aussichtslos. Meine Mutter las jeden Donnerstagabend<br />

aus dem Koran in arabischer Sprache und kannte<br />

sogar einige Suren auswendig. Mein Vater versuchte so<br />

oft wie möglich zu beten, blieb jedoch meistens beim<br />

Abendgebet und beim Nachtgebet. Meine Schwester<br />

Hager fastete im Ramadan und auch ich hatte schon mal<br />

im Ramadan gebetet. David bestellte einen Kaffee und<br />

sagte Michael, er möchte doch Reggae-Musik auflegen.<br />

„Reggae", diesen Begriff hatte ich schon mal gehört,<br />

wusste auch, dass dies eine Musikrichtung war, war mir<br />

aber nicht im geringsten klar, was für eine Richtung.<br />

12


Michael legte eine Platte auf und sagte: „Bob Marley.<br />

Gut so?"<br />

David lächelte ihm zu und nickte bejahend mit dem<br />

Kopf. Ich beschloss David zu fragen, was Reggae<br />

bedeutete, fasste mich ans Herz und stellte meine Frage:<br />

„Hey David, was ist eigentlich Reggae?"<br />

David trank ein Schluck <strong>von</strong> seinem Kaffee und sah mich<br />

erstaunt an.<br />

„Du weißt nicht, was Reggae ist?"<br />

„Schon gehört, könnte es aber nicht beschreiben.“<br />

David drehte sich zu Ömer und Hamdi hin und fragte sie:<br />

„Wisst ihr, was Reggae bedeutet?"<br />

Beide schüttelten verneinend die Köpfe.<br />

„Hab ich mir schon gedacht. Meine türkischen Freunde<br />

wissen nicht, wie man Reggae-Musik beschreibt.“<br />

Er setzte einen sehr kenntnisreichen Blick auf und<br />

versuchte, kurz gefasst, uns Reggae zu beschreiben:<br />

„Also, Reggae ist eine aus Jamaika stammende<br />

Stilrichtung der Popmusik, deren Rhythmus durch<br />

Hervorhebung unbetonter Taktteile gekennzeichnet ist.<br />

Verstanden?"<br />

Ich glaubte, nicht verstanden zu haben, was die<br />

unbetonten Taktteile sind. Also fragte ich noch einmal,<br />

diesmal aber nach den unbetonten Taktteilen. David war<br />

kein Musiker, doch Reggae war seine Lieblingsmusik. Er<br />

überlegte eine kurze Weile und trank noch ein Schluck<br />

<strong>von</strong> seinem Kaffee und versuchte, vor allem mir, die<br />

unbetonten Taktteile zu erklären: „Takt ist der Tonabstand<br />

und es gibt fast ein Dutzend Takte.<br />

Zweiachteltakt, Zweihalbetakt, Vierachteltakt,<br />

13


Dreivierteltakt usw. Und Tonabstand ist ein Intervall<br />

zwischen zwei Tönen. Auch da gibt es ein Dutzend<br />

Möglichkeiten.“<br />

Mir hatte es gereicht. Nun wusste ich, dass Reggae eine<br />

Musikrichtung aus Jamaika war und sie durch die<br />

Hervorhebung der unbetonten Taktteile gekennzeichnet<br />

war. Ich fühlte mich in Sachen Wissen so wüst und so<br />

leer. Gerne hätte ich das geändert, wusste aber nicht wie.<br />

Lesen wäre wohl sehr wichtig und auch Unterhaltungen<br />

mit Weltmännern. Doch welche Bücher sollte ich lesen<br />

und wo finde ich die Weltmänner? Ich hörte auch gern<br />

Reggae und war nun froh, den Namen des Sängers zu<br />

kennen und auch die Musik beschreiben zu können.<br />

Zu Hause hatte ich einen kleinen Kassettenspieler und<br />

hörte türkische Musik. Doch, obwohl ich erst vor fünf<br />

Jahren aus der Türkei gekommen war, erschien mir die<br />

türkische Musik <strong>von</strong> Tag zu Tag einfach, banal und arm.<br />

Wenn ich türkische Musik hören wollte, so hörte ich<br />

Volksmusik oder Arabesk. Sie zerriss mir aber nicht das<br />

Herz und ich wurde das Gefühl nicht los, als fehlte der<br />

türkischen Musik, die ich hörte, die Einsicht in die<br />

Zusammenhänge. Meine Musik musste mir die Seele<br />

streicheln. Reggae hörte ich im „Jump" zwar gerne, aber<br />

sie zerriss mir weder das Herz, noch streichelte sie mir<br />

die Seele. Musik müsste ein Zündstoff sein, mit dem man<br />

die Mauern um das Herz und um die Seele sprengen<br />

kann. Kurz, ich hörte zwar gerne Musik, wusste aber<br />

nicht, welche Musik und welche Gruppen meine waren.<br />

Wir hörten Bob Marley und unterhielten uns über die<br />

verschiedensten Themen. Vor allem aber über Gül, die<br />

14


Beweggründe ihres Weglaufens und ihren eventuellen<br />

momentanen Aufenthaltsort. Inzwischen wurde innerhalb<br />

kurzer Zeit das Jugendcafe proppenvoll.<br />

Die Altersgenossen drängten und zwängten sich in das<br />

Cafe. Einige setzten sich auf die Hocker, die sich um die<br />

Theke befanden und einige setzten sich auf die Stühle um<br />

die Tische. Es war jetzt aussichtslos, einen freien Platz zu<br />

finden. Auch Martin, mein Klassenkamerad, war<br />

gekommen. Er gehörte zu den wenigen, die im Mai schon<br />

eine Lehrstelle gefunden hatten. Ich empfand das „Jump"<br />

als sehr gemütlich. <strong>Der</strong> Sinn unseres Beisammenseins<br />

war nicht das Trinken, sondern die Unterhaltung. Bei<br />

guter Musik, einer gemütlichen und bescheidenen<br />

Atmosphäre, konnte man sich nur wohl fühlen.<br />

David sah uns drei an und schlug vor, bald eine Tour<br />

nach Berlin zu machen. Wir waren überrascht und<br />

schwiegen eine Weile. Nach kurzer Zeit brach Ömer das<br />

Schweigen und fragte: „Wann denn?"<br />

„Wann ihr wollt. Vielleicht in den Sommerferien?"<br />

Ich redete dazwischen und sagte: „Ich habe kein Geld.“<br />

David beruhigte mich, in dem er sagte, dass wir fast gar<br />

kein Geld brauchen würden. Er würde die Benzinkosten<br />

übernehmen, übernachten würden wir im Auto und essen<br />

und trinken müssten wir ja nicht im Hilton oder in einem<br />

Luxusrestaurant. Wir würden am Freitag losfahren und<br />

wären am Sonntagabend wieder zurück. Hamdi sagte,<br />

dass er erst mit seinen Eltern sprechen müsse. Ömer und<br />

ich schlossen uns Hamdi an.<br />

„Ihr müsst es wissen. Das wäre mal was anderes als<br />

immer nur im „Jump.“<br />

15


„Und wir könnten die Mauer sehen", sagte David, „ich<br />

muss weg. Habe noch einen Termin beim Zahnarzt", und<br />

erhob sich <strong>von</strong> seinem Stuhl.<br />

Ich sah auf meine Uhr und sagte: „Wir haben fast<br />

sechzehn Uhr.“<br />

„Macht nichts. Die Praxis hat bis neunzehn Uhr<br />

geöffnet.“<br />

Er ging auf Michael zu, der hinter der Theke stand,<br />

bezahlte die Getränke und winkte uns zu, als er aus der<br />

Tür ging. Wir drei schwiegen eine Weile. Die Gespräche<br />

der Altersgenossen schwebten im Raum. Ab und zu<br />

konnte ich in dem Chaos Martins raue Stimme<br />

wahrnehmen.<br />

„Wieso sagte er, der Koran wäre nicht originell?", fragte<br />

Ömer arglos und brach das Schweigen.<br />

„Für einen Christen oder Juden ist der Koran eben nicht<br />

originell", antwortete ich.<br />

„Für mich schon.“<br />

„Du bist ja auch ein Muslim. Hast Du den Koran schon<br />

gelesen?"<br />

„Nein"› sagte Ömer, „wir haben einen Koran zu Hause,<br />

der ist aber in arabische Schrift, daher kann ich ihn nicht<br />

lesen."<br />

„Wir auch", fügte Hamdi hinzu, „wenn ich noch einmal<br />

in die Türkei fahre, werde ich die türkische Übersetzung<br />

kaufen."<br />

„Ich auch", sagte ich, bestätigend.<br />

Keiner <strong>von</strong> uns dreien hatte Zweifel daran, dass der Islam<br />

die einzig richtige Religion war. Das wurde uns durch<br />

unsere Eltern und die Älteren in der Verwandtschaft<br />

beigebracht. Es wäre fatal anzunehmen, dass der Islam<br />

16


nicht die richtige Religion wäre. Aber irgendwo hatte<br />

David mit seiner These auch Recht, als er sagte, dass der<br />

Koran nicht originell sei. Denn das Buch war immerhin<br />

fast fünfzehnhundert Jahre alt. Uns war auch klar, dass<br />

wir zwar Muslime waren, aber kompetent waren wir mit<br />

Sicherheit nicht. Es war zwingend notwendig, dass wir<br />

<strong>von</strong> unserem Glauben überzeugter sein mussten.<br />

„Wir müssen mehr lesen", sagte Ömer, „denn des<br />

Menschen Wille ist sein Himmelreich."<br />

„Ja, sicher. Du hast Recht. Wir müssen mehr lesen",<br />

bemerkte Hamdi und lächelte unergründlich, ja sogar<br />

rätselhaft.<br />

„Aber was?", fragte ich etwas oberflächlich.<br />

Dann fiel mir ein, dass mein Vater einige Bücher besaß,<br />

die sich gescheit mit dem Islam beschäftigten.<br />

„Ich weiß schon. Mein Vater hat ein Buch <strong>von</strong> Ghasali.<br />

Kennt ihr Ghasali?"<br />

Beide schüttelten verneinend ihre Köpfe.<br />

„Ich kenne ihn auch nicht, aber mein Vater ist der<br />

Meinung, dass es ein wertvolles Buch ist. Ich werde es<br />

lesen."<br />

Hamdi lächelte anspruchsvoll und sagte: „Mein Bruder<br />

hat über zwanzig Playboy-Zeitschriften zu Hause. Ich<br />

sehe mir lieber die Bilder dort an."<br />

Ömer und ich lachten aus vollem Halse.<br />

In der Tat, die Bilder in den Playboy-Zeitschriften<br />

dienten als gute Vorlagen bei der Masturbation. Wir alle<br />

drei waren dem Irdischen verfallen, das war uns klar.<br />

Aber ich glaubte, dass wir die Einzigen waren. Und da<br />

das Irdische <strong>von</strong> ausnehmender Schönheit war, fiel es uns<br />

17


umso schwerer, da<strong>von</strong> abzulassen, was wir, so glaube ich<br />

heute noch, auch gar nicht wollten. Zugleich wollten wir<br />

aber auch nicht in Gottes Ungnade fallen.<br />

Hamdi kratzte mit seinen dünnen Fingern in seinem<br />

wirren und krausen Haar und erzählte <strong>von</strong> den Büchern<br />

seines älteren Bruders, der in Bonn Turkologie studierte<br />

und sich inzwischen zum Atheismus bekannte. Sein<br />

Bruder war der Meinung, dass nicht Gott uns erschaffen,<br />

sondern wir ihn erschaffen hätten und mit rituellen<br />

Praktiken hätte er nichts am Hut. Wir kannten Hamdis<br />

Bruder, wussten aber auch, dass er sich zum Atheismus<br />

bekannte. Für mich war der Atheismus die größte Sünde,<br />

die ein Muslim je begehen könnte. Auch Hamdi empfand<br />

seinen Bruder als ein verlorenes Kind, das in der Welt nur<br />

herumirrte und es peinigte ihn sogar, dass sein Bruder<br />

verloren war. Für Hamdi musste das irdische Dasein<br />

überwunden werden.<br />

18

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