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Raumreiz – Zur Wirkungsweise architektonischer Räume

ISBN 978-3-86859-542-0 https://www.jovis.de/de/buecher/tendenzen/product/raumreiz.html

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Anna Kirstgen<br />

RAUM<br />

<strong>Zur</strong> <strong>Wirkungsweise</strong> <strong>architektonischer</strong> <strong>Räume</strong>


Abstract<br />

Many architects succeed in creating atmospheric spaces through their<br />

works. They understand working with the interaction of volumetrics,<br />

materials, light etc. in order to create special atmospheres. Thereby one<br />

can observe that some architects master the handling with corporal and<br />

non-corporal means. However, in other cases one can get the impression<br />

that the setting of atmospheric situations through means of architectural<br />

design could also be a matter of lucky coincidence.<br />

The main work of architects is to produce spaces. Reflections on how the<br />

created space later might be perceived by the community of observers<br />

are much rather considered as personal imagination already within the<br />

process of drafting. The debate on reflection of architectural impact has<br />

been held for decades. In this connection the main argument is based<br />

on personal theories built up on individual experience. These theories<br />

regarding the conception of space are often much rather related to practical<br />

means and thus can be named "Ad-hoc-Theories".<br />

In order to overcome this current status, this thesis contributes to the<br />

debate by primarily dealing with the topic of <strong>Raumreiz</strong>e — a neologism in<br />

the German language describing the phenomenon of sensing spaces —<br />

which is already mentioned above. <strong>Raumreiz</strong>e in this context are understood<br />

as special atmospheres and moods and their special means of<br />

perceptions by the individual human which are yet to be acounted for.<br />

The effect of space configurations on humans is one of the leading question<br />

which is dealt with in this thesis. By taking a closer look on which<br />

measures have to be taken into account in order to create atmospheric<br />

situations more targeted, this thesis contributes to a better comprehension<br />

of the initial process of architectural drafting.<br />

In order to achieve a more transparent process of applied design, a<br />

closer and more theoretical look on all involved parameters has to<br />

be taken. Deriving from the architectural practice, this thesis defines<br />

six different object-related concepts of space which help to structure<br />

the process of drafting. In a further step human individuals are implemented<br />

into these space conceptions evolving three further concepts<br />

which are subject-related. The dissection of the different approaches to<br />

space leads to the conclusion that the interaction between humans and<br />

architectural space is one of the most important parts of spatial perception.<br />

Only by understanding the complex interaction of all factors stated<br />

above can improvement of a more intentional way of creating spatial<br />

atmospheres be achieved.<br />

As a conclusion this thesis suggests a new scheme of drafting which is<br />

depicted as "spatial narrative".<br />

8


Zusammenfassung<br />

Vielen Architekten gelingt es, in ihren Werken stimmungsvolle <strong>Räume</strong> zu<br />

schaffen. Sie verstehen es, Volumetrien, Materialien, Licht etc. so einzusetzen,<br />

dass in ihrem Zusammenspiel besondere Atmosphären entstehen.<br />

Dabei ist zu beobachten, dass manche Architekten den Umgang<br />

mit körperlichen und nicht-körperlichen Mitteln gekonnt beherrschen —<br />

bei anderen hingegen entsteht der Eindruck, das Setzen entwerferischer<br />

Mittel zur Hervorbringung atmosphärischer Situationen komme einem<br />

Glücksspiel gleich.<br />

Aufgabe des Architekten ist es, Raum zu produzieren. Überlegungen<br />

dazu, in welcher Weise Raum auf die spätere Nutzerschaft wirkt, fließen<br />

dabei eher auf Basis persönlicher Vorstellungen in den Entwurfsprozess<br />

ein. Die Debatte zur Reflexion der Wirkung von Architektur wird zwar seit<br />

Jahrzehnten immer wieder geführt, argumentiert wird aber nicht selten<br />

mit Theorien, die auf eigenen Erfahrungen gründen. In diesem Zusammenhang<br />

werden Raumauffassungen von der Architektenschaft eher<br />

anhand praxisbezogener Erfahrung und als Ad-hoc-Theorie entwickelt.<br />

Um einen Beitrag zur Überwindung dieses Zustandes zu leisten, bildet<br />

die Auseinandersetzung mit <strong>Raumreiz</strong>en das Kernthema der vorliegenden<br />

Arbeit. Als <strong>Raumreiz</strong>e werden im Rahmen dieser Arbeit Atmosphären<br />

und Stimmungen verstanden, die in noch zu klärender Weise auf der<br />

Basis <strong>architektonischer</strong> Raumkonfigurationen entstehen und den erlebenden<br />

Menschen im Raum adressieren. Der Arbeit liegt daher die zentrale<br />

Fragestellung zugrunde, in welcher Weise architektonisch erzeugter<br />

Raum auf den Menschen wirkt. Sie versucht zu einem besseren Verständnis<br />

beizutragen, wie <strong>Räume</strong> in der Entwurfspraxis so gestaltet werden<br />

können, dass atmosphärische Situationen gezielt erzeugt werden.<br />

Dazu findet zunächst eine dezidierte und vom Entwerfer unabhängige<br />

Auseinandersetzung mit dem Entstehungsprozess von Raum in der<br />

architektonischen Praxis statt. Dies soll dazu beitragen, den Entwurfsprozess<br />

von Raum transparenter zu gestalten, und ermöglichen, sich theoretisch<br />

mit den am Entwurfsprozess beteiligten Parametern zu befassen.<br />

Darauf aufbauend werden sechs Raumbegriffe entwickelt, die sich aus<br />

der architektonischen Praxis herleiten lassen und eine Strukturierung des<br />

Entwurfsprozesses ermöglichen.<br />

In einem nächsten Schritt soll der Mensch als Komponente in die bis<br />

dato untersuchten, objektfixierten Raumbegriffe integriert werden. Dazu<br />

werden die bisher definierten Raumbegriffe durch drei weitere subjektbezogene<br />

Raumbegriffe erweitert. Denn die Interaktion zwischen<br />

erlebendem Menschen und Raum scheint maßgeblicher Teil räumlichen<br />

Erlebens zu sein. Der Frage nachgehend, wie räumliche Wirkungen<br />

gezielt hervorgerufen werden können, wird der individuelle Erfahrungsschatz<br />

der Architektenschaft durch eine theoretische Reflexion angereichert.<br />

Ziel ist es, auf diese Weise das bewusste Schaffen räumlicher<br />

Situationen zu erleichtern. Abschließend wird mit dem Entwurfsschema<br />

des „räumlichen Narrativs“ ein Vorschlag unterbreitet, wie es gelingen<br />

kann, atmosphärische Situationen in der architektonischen Praxis gezielter<br />

zu gestalten.<br />

9


INHALT<br />

Dank 7<br />

Abstract 8<br />

Zusammenfassung 9<br />

PROLOG 15<br />

Ziel der Arbeit 17<br />

Problemstellung und Thesen 17<br />

Methodik 19<br />

TEIL I RAUM ALS BEGRIFF<br />

Einleitung 25<br />

SPRACHE 26<br />

Das semiotische Dreieck 33<br />

Sprache und Zeichen 35<br />

Gegenstände und Ereignisse 41<br />

Konstrukte 43<br />

BEGRIFF44<br />

Propositionen 46<br />

Kontext 48<br />

Theorie 49<br />

Verbindungen im semiotischen Dreieck 49<br />

RAUM 52<br />

Topos 57<br />

Spatium 60<br />

Geometrische Raumkonzepte 63<br />

Raum als Darstellungsmedium 67<br />

RAUMBEGRIFFE FÜR DIE ARCHITEKTUR74<br />

Topos //Sachdimension 74<br />

Spatium [I] //Umfassen 78<br />

Spatium [II] //Abgrenzen 80<br />

Spatium [III] //Öffnen 84<br />

Spatium [IV] //Absolute Größen 87


Topos & Spatium //<br />

Raumverhältnis und Sachdimension 88<br />

Kartierungen und Zentralperspektiven 90<br />

Perspektiven als Darstellungsmedium<br />

in der Architektur 93<br />

Zwischenergebnis 93<br />

TEIL II RAUM ERLEBEN<br />

Einleitung 99<br />

Leibliche Anwesenheit 99<br />

Leibliche Anwesenheit und Raum 108<br />

Übergang zu einem Raumkonzept<br />

leiblicher Anwesenheit 114<br />

Der Raum leiblicher Anwesenheit 115<br />

Befindlichkeit 118<br />

Atmosphären 119<br />

Psychophysiologische Wahrnehmung vs.<br />

phänomenologische Wahrnehmung 124<br />

3 RÄUME LEIBLICHER ANWESENHEIT 128<br />

HANDLUNGSRAUM133<br />

Körper und Gegenstände im Handlungsraum 133<br />

Der Mensch im Handlungsraum 137<br />

Richtungen im Handlungsraum 142<br />

Richtungen und Wege im Handlungsraum 146<br />

WAHRNEHMUNGSRAUM151<br />

Körper und Gegenstände im Wahrnehmungsraum 152<br />

Der Mensch im Wahrnehmungsraum 153<br />

Richtungen und Ferne im Wahrnehmungsraum 154<br />

STIMMUNGSRAUM160<br />

Körper und Gegenstände im Stimmungsraum 163<br />

Der Mensch im Stimmungsraum 164<br />

Richtungen und Bewegungen im Stimmungsraum 166<br />

Zwischenergebnis 169


Raum erleben in Architekturpsychologie<br />

und Architektur — zwei Zugänge, eine Thematik 170<br />

Zwischenergebnis 182<br />

TEIL III RÄUMLICHKEIT ERZEUGEN<br />

Einleitung 187<br />

Entwicklung des Ästhetikbegriffs 187<br />

Neue Ästhetik 192<br />

Atmosphäre als produktionsästhetischer Begriff 194<br />

Ästhetisches Arbeiten 197<br />

Wodurch wirkt Raum? 200<br />

Atmosphärenerzeugende 203<br />

Atmosphärencharaktere 205<br />

Phantastike techne 208<br />

Zwischenergebnis 210<br />

TEIL IV RÄUMLICHE SITUATIONEN INSZENIEREN<br />

Einleitung 215<br />

Inszenierung 215<br />

Wirklichkeit und Realität 216<br />

Inszenierung durch Architektur 219<br />

Räumliches Narrativ 223<br />

Zwischenergebnis 224<br />

FAZIT227<br />

AUSBLICK230<br />

Literaturverzeichnis 234<br />

Internetquellen 243<br />

Abbildungsverzeichnis 244<br />

Impressum 247


PROLOG<br />

Kernaufgabe der Architektenschaft ist es <strong>Räume</strong> und Umwelten zu entwerfen.<br />

Diese bilden dabei den Hintergrund, vor dem sich das alltägliche<br />

Leben von Menschen abspielt. Architekten sind jedoch häufig im<br />

Entwurfsprozess auf die Kubatur und die Funktion von <strong>Räume</strong>n fokussiert.<br />

Die räumliche Wirkung der Entwürfe in Bezug auf den Menschen<br />

und sein Verhalten basiert dabei eher auf subjektiven Theorien der<br />

Entwerfer. Gelingt es ihnen, durch die Formsprache ihrer Architekturen<br />

Menschen anzusprechen, sie Architektur erfahren zu lassen, so basiert<br />

dieses Ergebnis meist auf individuellen Erfahrungen der Architektenschaft<br />

oder unbeabsichtigten Raumkonstellationen. Wie es den Urhebern<br />

gelingt, räumliche Atmosphären systematisch zu generieren, ist in<br />

der Architektur eher selten Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion.<br />

Zentraler Ausgangspunkt für die vorliegende Arbeit war daher zunächst<br />

die recht allgemeine Frage nach der <strong>Wirkungsweise</strong> von Raum. So<br />

machte die Verfasserin während ihres Architekturstudiums mehrfach<br />

die Erfahrung, dass von einer <strong>Wirkungsweise</strong> von Raum in der architektonischen<br />

Praxis zwar ausgegangen wird, über die Art und Weise der<br />

Wirkung und dem potenziellen Zusammenhang zwischen Raum und<br />

Raumerleben jedoch meist nur vage und hauptsächlich auf individuellen<br />

Erfahrungen basierende Aussagen getroffen werden.<br />

Aus der architektonischen Praxis kommend, schien es zunächst sinnvoll,<br />

die Analyse von Raumproduktionen aus unterschiedlichen Disziplinen<br />

heraus zu betrachten, um daraus Rückschlüsse auf die Entstehung und<br />

praktische Erzeugung von Atmosphären, also räumliche Wirkungen,<br />

ziehen zu können. Es zeigte sich jedoch, dass eine alleinige Analyse von<br />

Praxisbeispielen nicht zielführend sein würde, dab der Rolle des Menschen<br />

im Entwurfsprozess dabei nicht hätte Rechnung getragen werden<br />

können. Auch die Befragung von Menschen im Raum in Bezug auf ihre<br />

räumlichen Erfahrungen mithilfe eines semantischen Differenzials entpuppte<br />

sich in diesem Zusammenhang als wenig erfolgsversprechend,<br />

da die Anzahl räumlicher Stimuli zu groß ist, um aus ihr konkrete beeinflussende<br />

Elemente herausfiltern zu können und diese für die architektonische<br />

Praxis nutzbar zu machen.<br />

In der Auseinandersetzung mit Raum und seinen <strong>Wirkungsweise</strong>n wurde<br />

hingegen deutlich, dass Raum als Begriff in der architektonischen Praxis<br />

nicht klar umrissen ist. Es sollte sich zeigen, dass Raum zwar ein Kernelement<br />

der architektonischen Arbeit ist, dass Definitionen vonseiten<br />

der Architektenschaft und in der Architekturtheorie jedoch schwierig<br />

zu finden sind. Dabei lag es nicht etwa daran, dass eine Vielzahl von<br />

Meinungen zum Thema so weit auseinandergingen, dass sie sich gegenseitig<br />

widerlegten, sondern vielmehr daran, dass eine Raumdefinition<br />

in der architektonischen Praxis eher unüblich ist. Zwar wird der Raum<br />

häufig verbal thematisiert und ist Zentrum <strong>architektonischer</strong> Arbeit, die<br />

zugrunde liegende Raumauffasssung bleibt jedoch oft Privatsache des<br />

Zuhörers und somit abhängig von der Brille des jeweiligen Betrachters.<br />

15


[760] [1] Hajos 1991, 1 f.<br />

(Begriffe müssen definiert werden, damit allen Beteiligten klar ist, wovon<br />

überhaupt die Rede ist. Ansonsten tragen alle Beteiligten unterschiedliche<br />

„Brillen“, durch die sie die Welt auf Basis ihrer Profession und Erfahrung<br />

unterschiedlich betrachten.)<br />

Als Reaktion darauf wurde die Thematisierung von Raumbegriffen zur<br />

Grundlage dieser Arbeit. Durch diese Auseinandersetzung bot sich die<br />

Aussicht, eine Annäherung an die Wirkung von Raum über den Aspekt<br />

der Raumwahrnehmung zu ermöglichen. Ein Exkurs in die Wahrnehmungspsychologie,<br />

die als Disziplin auch an der Wirkung von äußeren<br />

Reizen auf den Menschen interessiert ist, zeigte jedoch, dass <strong>architektonischer</strong><br />

Raum in seiner Beschaffenheit zu komplex ist, um nach einem<br />

einfachen Ursache-Wirkungs-Prinzip zu funktionieren. Denn Ziel der<br />

Wahrnehmungspsychologie ist oft nicht die inhaltliche Beschreibung<br />

der Wahrnehmungserlebnisse, sondern vielmehr die Beleuchtung der<br />

Funktionsweise, „der Sinneserlebnisse untereinander, der funktionelle<br />

Zusammenhang zwischen Reizen und Sinneserlebnissen sowie zwischen<br />

Erregungsprozessen im Nervensystem und [den] Sinneserlebnissen<br />

als Beschreibungsaufgabe“. [1] Dennoch leistete der „Abstecher“ in die<br />

Wahrnehmungspsychologie einen Beitrag zu dieser Arbeit, da der Disziplin<br />

der Begriff Reiz entnommen wird, um diesen für die vorliegende<br />

Untersuchung nutzbringend zu verwenden. <strong>Raumreiz</strong>e im Sinne der<br />

vorliegenden Untersuchung sind Stimmungen und Atmosphären, die in<br />

noch zu klärender Art und Weise auf der Basis <strong>architektonischer</strong> <strong>Räume</strong><br />

entstehen und sich an den erlebenden Menschen richten.<br />

Einen weiteren Zugang zum Feld der Wahrnehmung als zweitem Pol in<br />

der Wechselbeziehung von Mensch und Raum bot sich schließlich über<br />

philosophische Ansätze, wobei besonders die Überlegungen zur Wahrnehmung<br />

von Raum und zur Entstehung räumlicher Stimmungen bzw.<br />

Atmosphären von Ströker, Kruse und Böhme hilfreich waren und in diese<br />

Untersuchung eingeflossen sind.<br />

Obwohl das Resultat eine rein theoretische Untersuchung zur Erklärung<br />

der Wechselbeziehung zwischen Mensch und architektonischem Raum<br />

geworden ist, hofft die Verfasserin, dass die vorliegenden Ergebnisse<br />

eine Hilfestellung zur systematischen Erzeugung von Atmosphären, den<br />

<strong>Raumreiz</strong>en, für die architektonische Praxis sein mögen. Insofern bezieht<br />

sich diese Arbeit ausdrücklich auf die zu Beginn angeführte, Kurt Lewin<br />

zugeschriebene Sentenz, in der er darauf verweist, das nichts so praktisch<br />

sei, wie eine gute Theorie.<br />

16


Ziel der Arbeit<br />

Die Arbeit <strong>Raumreiz</strong> geht der Frage nach, wie atmosphärische Situationen<br />

in <strong>Räume</strong>n bewusst erzeugt werden können. Ziel der Arbeit ist es,<br />

einen Beitrag dazu zu leisten, den Entwurfsprozess in der architektonischen<br />

Praxis nicht als verstärkt auf persönlichen Theorien aufbauenden<br />

Prozess zu verstehen. Eine theoretische Auseinandersetzung mit der<br />

Thematik soll daher zu einem breiteren Verständnis des Entwurfsprozesses<br />

und den daran beteiligten Parametern beitragen. Dies ist gerade vor<br />

dem Hintergrund der Frage der Konstruktion räumlicher Atmosphären<br />

von Bedeutung, da es zur Kernkompetenz der Architektenschaft gehört,<br />

durch die Arbeit mit Materie Raum zu schaffen. Da sich das Ergebnis<br />

dieser Arbeit aber an den erlebenden Menschen richtet, muss es sich<br />

dementsprechend auch am Erleben, an der menschlicher Erfahrung<br />

messen lassen. Die vorliegende Arbeit geht daher der Frage nach, in<br />

welcher Weise architektonisch erzeugter Raum auf den Menschen wirkt.<br />

Sie versucht einen Beitrag zu der Diskussion leisten, ob und inwiefern<br />

<strong>Räume</strong> im Umkehrschluss in der architektonischen Praxis so gestaltet<br />

werden können, dass in ihnen bestimmte atmosphärische Situationen<br />

gezielt geschaffen werden.<br />

Problemstellung und Thesen<br />

Ein zentrales Element der architektonischen Praxis ist der Raum. Die<br />

Arbeit im Raum, mit Raum und das Schaffen von Raum sind wesentliche<br />

Betätigungsfelder in der Architektur. Besonders das Entwerfen neuer<br />

<strong>Räume</strong> gehört zur Kernkompetenz der Architektenschaft. Der Entwurfs<br />

prozess ist somit elementarer Bestandteil <strong>architektonischer</strong> Praxis. Die<br />

Entstehung eines Bauwerks ist durch die kreative Kompetenz der Entwerfer<br />

immer auch ein individueller Prozess, der innerhalb der Profession<br />

jedoch nicht selten weitgehend intransparent bleibt.<br />

Die Erzeugung atmosphärisch anspruchsvoller Architekturen basiert<br />

dabei auf der Erfahrung des Entwerfers — das Spiel mit der <strong>Wirkungsweise</strong><br />

von Raum beherrschen manche Vertreter der Profession virtuos,<br />

bei anderen hingegen wird die räumliche <strong>Wirkungsweise</strong> eher nur am<br />

Rande berücksichtigt. Die Vermittlung entwerferischer Kompetenzen<br />

geschieht häufig durch ein Meister-Schüler-Verhältnis, [2] die so weitergegebenen<br />

Kenntnisse basieren auch hier auf Erfahrungswerten und<br />

Ad-hoc-Theorien der Vermittelnden. Diese Theorien gründen auf erfahrungsbasiertem<br />

Wissen und subjektiven Ansichten und sind individuell.<br />

Ihre Richtigkeit kann in dieser Arbeit nicht ergründet werden, denn für<br />

den jeweiligen Entwerfer mögen diese Theorien sinnvoll und zur Lösung<br />

von Aufgaben auch wirksam sein. <strong>Zur</strong> Kommunikation über räumliche<br />

<strong>Wirkungsweise</strong>n und zur Vermittlung, wie diese erzeugt werden können,<br />

eignen sich diese Ad-hoc-Theorien jedoch nur bedingt.<br />

[1] Hajos 1991, 1 f.<br />

[2] Vgl. Gänshirt 2011, 14.<br />

17


TEIL I<br />

// RAUM ALS<br />

BEGRIFF


Einleitung<br />

Worüber wir reden, wenn wir über Raum reden<br />

oder<br />

Worüber reden wir, wenn wir über Raum reden?<br />

Zentrales Arbeitsfeld und zugleich Werkzeug in der architektonischen<br />

Praxis ist Raum. Die Architektenschaft arbeitet im Raum, gliedert und<br />

strukturiert, setzt Baukörper und trennt oder verbindet <strong>Räume</strong>. Raum ist<br />

nicht nur Arbeitsfeld, sondern auch einer der wesentlichen Begriffe in<br />

der Architektur. Auch für die Untersuchung von <strong>Raumreiz</strong>en bzw. den<br />

Entstehungsprozessen atmosphärischer <strong>Räume</strong> ist eine Auseinandersetzung<br />

mit der Raumthematik notwendig. Anders als in der Praxis jedoch,<br />

ist für diese Untersuchung eine theoretische Auseinandersetzung mit<br />

der <strong>Wirkungsweise</strong> von Raum und der Erzeugung von Atmosphären<br />

unvermeidlich. Daher bildet eine klare Strukturierung der relevanten<br />

Begriffe die Grundlage der Betrachtung. Der Problematik wird sich also<br />

hier nicht wie in der Praxis üblich, über Zeichnungen, Modelle oder<br />

Perspektiven genähert, sondern über die Bearbeitung relevanter Raumbegriffe.<br />

Und, obwohl eine Definition von Raumbegriffen in der Praxis<br />

weniger häufig vorgenommen wird, ist sie auch außerhalb der Grenzen<br />

des theoretischen Arbeitens für die Profession sinnvoll und notwendig,<br />

wie sich in diesem Teil der Arbeit zeigen wird.<br />

Zunächst soll dargelegt werden, welche Bedeutung der Sprache im<br />

Entwurfsprozess zukommt und warum es für Praxis und Theorie notwendig<br />

ist, problemadäquate Begriffe zu definieren. Darauf folgend wird am<br />

Beispiel Raum — als dem zentralen Forschungsgegenstand dieser Arbeit<br />

— dargelegt, weshalb eine Auseinandersetzung mit Raumbegriffen in<br />

der Architektur hilfreich sein kann. Denn die freizügige Verwendung des<br />

Raumbegriffs stiftet zuweilen Verwirrung im architektonischen Diskurs.<br />

Als Konsequenz daraus setzt sich die Arbeit mit unterschiedlichen<br />

Raumbegriffen für die Architektur auseinander und setzt diese in Bezug<br />

zur architektonischen Praxis. Theoretische Überlegungen und einzelne<br />

Arbeitsphasen des Entwurfsprozesses werden übereinandergelegt und<br />

zusammengedacht.<br />

Damit wird zum einen eine gemeinsame begriffliche Ausgangssituation<br />

geschaffen, auf der die weitere Untersuchung fußt, und die dazu<br />

beitragen soll, begriffliche Missverständnisse zu vermeiden. Zum<br />

anderen trägt die Zuordnung von Raumbegriffen zu den unterschiedlichen<br />

Stadien des Entwurfsprozesses zur transparenteren Gestaltung<br />

der entwerferischen Tätigkeit bei, indem sie klare Fokussierungen in den<br />

unterschiedlichen Phasen benennt. Zusammen ermöglicht dies eine<br />

dezidierte Auseinandersetzung mit dem Entstehungsprozess von Raum<br />

und dessen Wirkung in der architektonischen Praxis.<br />

25


enennen<br />

und Zeichen eine weitere, aktive Verbindung zu Gegenständen und<br />

Ereignissen aufrechterhalten. Bezüglich der Relevanz der Sprache wird<br />

auf die oben gemachten Ausführungen verwiesen. Ihre exponierte Stellung<br />

im Dreieck wird auch dadurch deutlich, dass sie als einzige Komponente<br />

zwei Verbindungen aufrechterhält. Darüber hinaus ermöglichen<br />

alleine Sprache und Zeichen die Benennung von Konstrukten.<br />

Abb. 1<br />

Das semiotische Dreieck<br />

SPRACHE<br />

ZEICHEN<br />

bezeichnen<br />

KONSTRUKTE<br />

verweisen auf<br />

GEGENSTÄNDE<br />

EREIGNISSE<br />

Im Folgenden wird genauer auf die einzelnen Eckpfeiler des Dreiecks<br />

eingegangen. Eine Auseinandersetzung mit den einzelnen Komponenten<br />

soll zunächst einem besseren Verständnis dienen und ist im weiteren<br />

Verlauf der Arbeit hilfreich für die Herausarbeitung potenzieller Fehlerquellen<br />

bei der Definition und dem Verständnis des zu erarbeitenden<br />

Raumbegriffs.<br />

Wie bereits oben angedeutet, benötigt die Architektur zur Vermittlung<br />

ihrer Inhalte unterschiedliche Kommunikationsmittel. Eine zweckgerichtete<br />

und sinnstiftende Verknüpfung möglichst vieler Ebenen ist für<br />

die Vermittlung von Entwürfen und den dahinterstehenden Gedanken<br />

unerlässlich. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem semiotischen<br />

Dreieck erhellt die bestehende Grauzone. Sprachliche Unsicherheiten<br />

und deren bereits beschriebene Folgen können anhand des semiotischen<br />

Dreiecks sichtbar gemacht und somit zukünftig leichter vermieden<br />

werden. Im folgenden befasst sich diese Arbeit zunächst mit dem<br />

Eckpfeiler Sprache und Zeichen.<br />

34


Sprache und Zeichen<br />

„Language a Concept System of signs serving to<br />

communicate and think. Wether natural (historical),<br />

artificial (designed) or mixed, a language is made<br />

up of conventional signs.“ [25]<br />

Der Philosoph Mario Bunge beschreibt Sprache als Zeichensystem, welches<br />

das Kommunizieren und das eigene Denken unterstützt. Sprachliche<br />

Äußerungen beschreiben dabei Sachverhalte mithilfe von Zeichen.<br />

Zeichen sind die Basis der Sprache, unter deren Einsatz eine Verständigung<br />

möglich wird, mit deren Hilfe etwas zum Ausdruck gebracht<br />

werden kann. [26] Beim Gebrauch des Wortes Sprache ist der Gedanke an<br />

die gesprochene und geschriebene Sprache natürlich naheliegend. [27]<br />

„Sie, [die Sprache, A. d. V.], gilt als das Kommunikationswerkzeug<br />

schlechthin.“ [28]<br />

War bisher von Sprache im Sinne eines Oberbegriffs die Rede, soll die<br />

Sprache nun etwas detaillierter betrachtet werden. Trotz der unzähligen<br />

Menge an Sprachen, lassen sich Typisierungen verschiedener<br />

Spracharten vornehmen. Bußmann arbeitet anhand der Verwendung<br />

unterschiedlicher Zeichensysteme eine Kategorisierung von Sprachtypen<br />

heraus. Dazu unterscheidet sie zwischen natürlicher und künstlicher<br />

Sprache, sowie zwischen symbolischer und nicht-symbolischer Sprache.<br />

Natürliche Sprachen sind Landessprachen und Dialekte. Zu den künstlichen<br />

Sprachen zählen zum Beispiel Programmiersprachen wie Java.<br />

Aber auch Grundrisse und Schnitte, wie sie zum Handwerkszeug des<br />

Architekten gehören, werden als „Zeichen zur Darstellung logischer<br />

Operationen“ zu den künstlichen Sprachen gezählt. [29] Signer weist darauf<br />

hin, dass die Ausdrucksvielfalt der künstlichen Sprache zwar geringer ist<br />

als die der natürlichen, sie aber durch das Ausschließen einer Mehrdeutigkeit<br />

umso expliziter wird. [30] Die Beschreibung eines Grundrisses<br />

mit natürlicher Sprache wäre viel komplizierter und ungenauer als eine<br />

Skizze.<br />

Denn wird Sprache als Zeichensystem verstanden, sind selbstverständlich<br />

auch Zeichnungen und schematische Darstellungen Sprache. Zu den<br />

symbolischen Sprachen gehören alle Sprachen, die auf Zeichen beruhen,<br />

dazu zählen die bereits eingangs erwähnten natürlichen und künstlichen<br />

Sprachen. Nicht-symbolische Sprache kann Körpersprache, ein<br />

Austausch von Blicken, ein Handschlag sein. Zusammengefasst gehört<br />

zum Beispiel auch die nonverbale Kommunikation zu diesem Sprachtypus.<br />

Bei der enormen Vielzahl an Sprachen ist es deshalb von großer<br />

Bedeutung, dass die zur Kommunikation gewählte Sprache von allen<br />

Akteuren gesprochen wird, oder zumindest das Wissen darüber besteht,<br />

dass unterschiedliche Sprachen verwendet werden. Wenn man sich eine<br />

Unterhaltung vorstellt, in der der eine Teilnehmer Englisch spricht, der<br />

andere aber gar kein Englisch versteht, mag diese Erkenntnis selbstverständlich<br />

und trivial erscheinen. Nicht anders verhält es sich auch, wenn<br />

zwei Menschen aus unterschiedlichen Teilen Deutschlands in ihre auf<br />

hochdeutsch geführte Unterhaltung regionale Sprechweisen einfließen<br />

[25] Bunge 2003, 158.<br />

[26] Vgl. Schönwandt 2002, 69.<br />

[27] Vgl. Signer 1994, 49.<br />

[28] Signer 1994, 49.<br />

[29] Schönwandt 2002, 71.<br />

[30] Vgl. Signer 1994, 56.<br />

35


Bewertung der sprachlichen Grundlage kann also nicht ohne die Hinzuziehung<br />

des jeweiligen inhaltlichen Kontextes erfolgen. Als weiteren<br />

Bestandteil der vierteiligen Untergliederung von Konstrukten befasst<br />

sich diese Arbeit nun mit der Aufarbeitung des Problemfeldes der<br />

Kontexte. Hierbei kann eine Auseinandersetzung nicht ohne die Zuhilfenahme<br />

der bereits diskutierten Bestandteile Begriffe und Propositionen<br />

auskommen.<br />

Kontext<br />

[87] Vgl. ebd., 77.<br />

Ein Kontext besteht aus einer Vielzahl von Propositionen, die aus Begriffen<br />

zusammengesetzt sind, welche sich auf ein gemeinsames Objekt (fiktiv<br />

oder real) beziehen. Ohne die Benennung des Kontextes, vor dessen<br />

Hintergrund Propositionen gebildet werden, sind diese nicht präzise.<br />

Sie sind losgelöst, entrückt und lassen sich unter Umständen auch<br />

in anderen, nicht beabsichtigten Kontexten verwenden. Nur in einen<br />

expliziten Kontext eingebettet wird es möglich, die Verlinkungen der<br />

Propositionen herauszuarbeiten und damit ihren Inhalt zu benennen. [87]<br />

So lassen sich die oben genannten Publikationen häufig erst durch ihren<br />

Untertitel einem präzisen Kontext zuordnen. Beispielsweise wird der Titel<br />

Raum auf Zeit etwa erst durch seinen Untertitel in den Kontext Temporäre<br />

Interventionen im öffentlichen Raum gestellt. Auch Raum und Macht<br />

könnte ohne weitere Erläuterung beispielhaft sowohl Titel für Bücher<br />

über Bauten in Diktaturen, die Ausbreitung des Römischen Reiches unter<br />

Cäsar oder Thronsäle im Mittelalter sein. Hier verortet ebenfalls erst der<br />

Untertitel: Die Stadt zwischen Vision und Wirklichkeit, Leben und Wirken<br />

von Lucius und Annemarie Burckhardt die Publikation im Fachbereich<br />

Architektur und gibt darüber hinaus Auskunft, unter welchen Aspekten<br />

das Lebenswerk der beiden Stadt- und Landschaftsplaner in diesem<br />

Werk beleuchtet wird.<br />

Die Notwendigkeit der hinreichenden Präzisierung wird bereits an den<br />

konkretisierenden Ausführungen der Buchuntertitel veranschaulicht.<br />

Ohne einen Blick auf den Inhalt geben die Untertitel einen anschaulichen<br />

Eindruck über die vielfältigen Interpretationsspielräume von<br />

Kontexten, die ohne hinreichende Konkretisierung uferlos würden. Der<br />

allgegenwärtigen Gefahr der Konturlosigkeit wird unter dem Punkt Theorie<br />

Rechnung getragen.<br />

48


Theorie<br />

Der letzte Bestandteil der vierteiligen Konstruktgliederung ist die Theorie.<br />

Sie unterscheidet sich von den Kontexten durch ihre Begrenzbarkeit.<br />

Bunge definiert die Theorie in diesem Zusammenhang wie folgt:<br />

„Eine Theorie ist ein hinsichtlich der logischen Operation<br />

geschlossener Kontext. Mit anderen Worten<br />

ist eine Theorie eine Menge von Propositionen, die<br />

logisch miteinander verknüpft sind und die gemeinsame<br />

Referenten besitzen. Beispiel: die Theorie der<br />

Evolution durch natürliche Selektion.“ [88]<br />

Nicht nur in der Biologie, sondern auch in der Architektur gibt es Theorien,<br />

also „geschlossene Kontexte“. Diese bestehen aus einer Anzahl<br />

logisch verlinkter Propositionen, die die gleichen Bezugspunkte aufweisen.<br />

So gibt es in vielen Curricula der Architekturfakultäten den Block<br />

„Architekturtheorie“. Der Frage, ob in diesem Zusammenhang Theorien<br />

im strengen Sinn vermittelt werden, wird nicht nachgegangen werden.<br />

Isoliert betrachtet kommt den Theorien an dieser Stelle lediglich die<br />

Funktion der Eingrenzung zu. Die Theorie erfüllt in diesem Sinne eine<br />

Rahmenfunktion für die anhand von Propositionen beschriebenen<br />

Kontexte. Im weiteren Verlauf der Arbeit gilt es nach der sprachlichen<br />

Betrachtung unter anderem unterschiedliche Raumtheorien und ästhetische<br />

Theorien als Rahmenwerk zur Konturierung des Kontextes zu<br />

beleuchten.<br />

Verbindungen im semiotischen Dreieck<br />

Weiter oben wurde bereits im Rahmen des Schaubildes kurz auf die<br />

Verbindungen im semiotischen Dreieck eingegangen. Ohne die Verbindung<br />

der Eckpfeiler wäre das Schema mit seinen drei Komponenten nur<br />

schwer als Dreieck zu identifizieren. An dieser Stelle soll nun explizit auf<br />

die Pfeile zwischen den Eckpunkten eingegangen werden. Wobei in der<br />

unten dargestellten Form des semiotischen Dreiecks von Schönwandt [89]<br />

zwei Erweiterungen, in Form von „Rückwegen“ [90] hinzugefügt wurden.<br />

Sprache und Zeichen halten zwei Verbindungen aufrecht. Die erste führt<br />

zum Punkt Gegenstände und Ereignisse. Hier benennt Sprache, indem<br />

sie Dinge mithilfe einer Bezeichnung zuordnet. Die zweite Verbindung<br />

führt zu Konstrukten. In diesem Zusammenhang bezeichnet Sprache.<br />

Bezüglich der Unterschiede zwischen Gegenständen und Konstrukten<br />

wird auf die oben gemachten Ausführungen verwiesen. Die unterschiedliche<br />

Bewertung der sprachlichen Art und Weise (bezeichnen<br />

vs. benennen) trägt der Unterscheidung Rechnung. Konstrukte werden<br />

bezeichnet, weil sie fiktive Objekte sind, die ihrerseits auf Gegenstände<br />

verweisen.<br />

[88] Bunge 1983, 44.<br />

[89] Schönwandt bezieht sich hier<br />

auf Bunge, für Details vgl. dazu<br />

S. 125 bzw. Bunge, 1974: Treatise<br />

on Basic Philosophy I + II.<br />

[90] Schönwandt 2002, 125.<br />

49


Abgelöst von der sinnlichen Wahrnehmung — denn dazu müsste man<br />

sich im Raum befinden und somit vom individuellen Raumerleben<br />

getrennt, verkörpern die geometrischen Konzepte ein gedachtes Raumkonstrukt,<br />

das nicht erfahren werden kann. Durch die Verortung der<br />

Betrachter außerhalb des Raumes werden geometrische Raumkonzepte<br />

zur abstrakten Grundlage von Raum als Darstellungsmedium und damit<br />

zum wichtigen Werkzeug für die architektonische Praxis.<br />

Jeder Architekt, dessen Ziel es ist, Raum zu schaffen oder zu gestalten,<br />

kommt unweigerlich an den Punkt, an dem er seine Gedanken in Zeichnungen<br />

und Modelle übersetzen muss. Nach dem Schritt des „gedanklichen<br />

Entwerfens“ erfolgt eine Transformation in Form (entweder durch<br />

Zeichnungen oder durch Modelle). [194] An diesem Punkt fließen Erwägungen<br />

über Größenverhältnisse, Formen, Volumina in den Arbeitsprozess<br />

ein. Hier beginnt der Architekt in einem geometrischen Raum als<br />

Darstellungsmedium (euklidisch, topologisch oder metrisch basiert) zu<br />

arbeiten.<br />

Raum als<br />

Darstellungsmedium<br />

in der Architektur<br />

[194] An dieser Stelle wird der<br />

Begriff Form an Stelle des üblicheren<br />

Terminus Gestalt verwendet.<br />

Im weiteren Verlauf der Arbeit wird<br />

auch von nicht-körperlichen Mitteln<br />

zur Erzeugung räumlicher Stimmung<br />

werden. Um beide Gestaltungsmöglichkeiten<br />

begrifflich<br />

zu trennen wird bei körperlicher<br />

Gestaltung von Form gesprochen.<br />

[195] Böhme 2006, 16 (Hervorhebung<br />

übernommen).<br />

„Obgleich die Architektur natürlich seit je <strong>Räume</strong> für<br />

die Anwesenheit von Menschen geschaffen hat, so<br />

war sie doch fixiert auf den Raum als Medium von<br />

Darstellung. Das ist eine Art déformation professionelle:<br />

Architekten zeichnen, sie bauen Modelle,<br />

dann lassen sie zwar noch in der Wirklichkeit ihre<br />

Bauten ausführen, aber sie selbst fotografieren<br />

dann zum Schluss. Was sie tun, vollzieht sich immer<br />

im Raum als Medium von Darstellung. Erwägungen<br />

über Größenverhältnisse, Formen, Volumina<br />

beherrschen ihr Denken. Der Raum, in den sie ihre<br />

Entwürfe einzeichnen, ist der euklidische Raum,<br />

metrisch, homogen, nahezu isotrop — nur die Richtung<br />

oben/unten spielt wegen der Schwerkraft eine<br />

Rolle.“ [195]<br />

Mit dem Beginn der Arbeit an einem konkreten Entwurf werden die<br />

Gedanken in einen Raum als Darstellungsmedium transferiert, also in<br />

ein gedachtes Ordnungsschema auf Papier oder dem Rechner. Diese<br />

Übertragung von gedanklichen Entwurfsüberlegungen auf ein extern<br />

gelagertes Medium, beispielsweise auf eine Skizzenrolle, übersetzt<br />

gleichzeitig auch eine vom Entwerfer subjektiv empfundene Räumlichkeit<br />

in ein vom Betrachter losgelöstes, abstraktes, geometrisch basiertes<br />

Schema. Dadurch wird die Entwurfsidee zum einen mit anderen Menschen<br />

teilbar, aber gleichzeitig auch von den Empfindungen des Urhebers<br />

separiert. Diese Trennung von Subjektivität und Objekt ermöglicht<br />

der Architektenschaft einen distanzierten Umgang mit der Setzung von<br />

Körpern im Raum.<br />

Der Mensch kommt in dieser Phase des Entwurfs in den verwendeten<br />

Raumbegriffen in aller Regel höchstens als Körper, nicht aber mit seiner<br />

Subjektivität vor, er ist nicht im Raum verortet.<br />

72


Die geometrischen Raumbegriffe schaffen als gedachte Ordnungsschemata<br />

eine Abstraktionsebene für den Entwurf. Der Architekt nimmt einen<br />

neuen, ins Außen, verlegten Blickwinkel ein. Dies gibt ihm einerseits die<br />

Möglichkeit, auch komplexe Entwurfsaufgaben zu überblicken, distanziert<br />

ihn aber zur selben Zeit auch von seinem Entwurf, da die Subjektivität<br />

in einem Ordnungsschema keinen Platz finden kann. Der Architekt<br />

nimmt also eine auktoriale Perspektive ein, indem er das gesamte<br />

Gefüge, beispielsweise die Gesamtheit des Grundrisses mit all seinen<br />

<strong>Räume</strong>n, übersieht, selbst aber nicht erlebender Teil dieses Gefüges<br />

werden kann.<br />

Abb. 10<br />

Mensch im Raum —<br />

als Körper<br />

Die Transformation der Gedanken in den Darstellungsraum geschieht<br />

zunächst über das Medium der Kartografie: Lagepläne, Grundrisse aber<br />

auch Schnitte sind Kartierungen von Körpern im Raum.<br />

Kartografierung findet in unterschiedlichen Maßstäben und mit unterschiedlichen<br />

Problemfokussierungen statt. Die Beschreibung als geometrische<br />

Raumbegriffe ist zwar zutreffend, sollte aber als Oberbegriff<br />

für weitere Spezifizierungen und als Grundbedingung für den Raum als<br />

Darstellungsmedium verstanden werden.<br />

73


RAUMBEGRIFFE FÜR DIE ARCHITEKTUR<br />

Um auf die unterschiedlichen Bedeutungen der in den Plänen dargestellten<br />

<strong>Räume</strong> einzugehen, und die Kommunikation über den Kern ihrer<br />

jeweiligen Aussage zu erleichtern, werden im Folgenden sechs Raumbegriffe<br />

eingeführt, die Raum der Architekten in ihrer praktischen Arbeit<br />

spezifischer benennen und ihn damit unterscheidbar machen. Der Raum<br />

in der Architektur wird hier also genauer beleuchtet.<br />

Im Zuge des Detaillierungsprozesses erfolgt eine Konzeption auf der<br />

Grundlage eines topologischen, eines metrischen, sowie drei euklidisch<br />

basierten Raumbegriffen. Des Weiteren erfolgt die Darstellung eines<br />

Raumbegriffs-Konzept auf Grundlage der Wechselbeziehungen einer<br />

topologischen auf der einen und einer metrischen Raumanschauung auf<br />

der anderen Seite. Durch die Verbindung beider Paradigmen erhält der<br />

bisher oft vernachlässigte Themenbereich Raum in der Architektur eine<br />

weitere Dimension.<br />

Topos //Sachdimension<br />

[196] Bezüglich eines Bildbeispiels<br />

wird auf das oben dargestellte Diagramm<br />

von Raumlabor verwiesen<br />

[Abb. 9, 78]<br />

[197] Vgl. Institut für Grundlagen<br />

der Planung, o. J.<br />

Ausgangspunkt <strong>architektonischer</strong> Entwürfe sind erste Überlegungen,<br />

festgehalten auf Skizzenrollen. Manche Überlegungen spiegeln dabei<br />

keine Entwurfsideen im Sinne von Körpern oder einer Form wider,<br />

sondern gleichen eher Diagrammen oder Mindmaps, die Abläufe<br />

oder Funktionsnachbarschaften darstellen. So werden beispielsweise<br />

Nutzungen ihrer Reihenfolge nach sortiert und in eine für das spätere<br />

Gebäude sinnvolle Anordnung gebracht. Solche Diagramme oder Organigramme,<br />

[196] die beispielsweise Lagebeziehungen von Funktionsräumen<br />

thematisieren, können dem Architekten helfen, zu Beginn des Entwurfs<br />

eine Organisationsstruktur herauszuarbeiten, die den Entwurf eines Baukörpers<br />

gerade bei komplexen Bauaufgaben erleichtert.<br />

Eine Möglichkeit zur Ermittlung von Funktionsanordnungen innerhalb<br />

eines Grundrisses bietet beispielsweise die Zellkonfiguration Cellcon. [197]<br />

Bei dieser Vorgehensweise wird zunächst ein Raumprogramm erarbeitet.<br />

Kernfrage ist hierbei beispielsweise wie viele Schlafzimmer, Bäder,<br />

etc. ein Einfamilienhaus braucht. Auf der Basis des Raumprogramms<br />

wird dann eine Nachbarschafts- oder Beziehungsmatrix erstellt, in der<br />

ermittelt wird, welche <strong>Räume</strong> eine funktionale Einheit bilden, also beieinander<br />

liegen sollten, und bei welchen <strong>Räume</strong>n eine Nachbarschaft nicht<br />

bedeutend oder sogar nicht wünschenswert ist.<br />

Sind die Beziehungen der <strong>Räume</strong> untereinander klar, geht es darum,<br />

diese Lagebeziehungen in ein topologisches System zu überführen. Mit<br />

einem Dualgraphen werden funktionale Verbindungen zwischen den<br />

<strong>Räume</strong>n hergestellt. Dies geschieht so lange bis ein kreuzungsfreier<br />

Dualgraph entsteht. Ein Graph also, dessen Struktur sich in einer gebauten<br />

Anordnung realisieren ließe.<br />

74


KÜCHE<br />

FLUR<br />

WOHNEN<br />

ESSEN<br />

BADEZIMMER<br />

X<br />

X<br />

X<br />

O<br />

X<br />

O<br />

X<br />

O<br />

O<br />

X<br />

X<br />

O<br />

O<br />

X<br />

O<br />

Abb. 11<br />

Nachbarschaftsgrafik<br />

funktionaler<br />

Zusammenhänge nach<br />

Cellcon<br />

SCHLAFEN<br />

In diesem ersten Arbeitsschritt spielen Größe und Form der einzelnen<br />

Funktionsträger im späteren Gebäude noch keine Rolle. Der Fokus der<br />

Darstellung liegt auf Nachbarschafts- und Lagebeziehungen.<br />

Alle Bauaufgaben, vom Einfamilienhaus über Fabriken, Labore, Theater,<br />

Museen, Krankenhäuser bis hin zu Bibliotheken, erfordern vom Architekten<br />

eine Analyse der Arbeitsabläufe. Als Architekt ist er zunächst<br />

kein Spezialist für die Abläufe in Krankenhäusern oder Theatern. Dieses<br />

Wissen muss er sich durch Beobachtungen, Referenzprojekte, Gespräche,<br />

Fachliteratur etc. aneignen. Diagramme und Mindmaps, in denen<br />

die Ergebnisse der Recherche festgehalten werden, können die spätere<br />

Gebäudeorganisation und Entwurfsarbeit erleichtern. Hierbei stellen<br />

sich grundlegende Fragen zu Abläufen wie etwa: Wo befindet sich was?<br />

Welche Funktionen müssen nahe beieinanderliegen? Was wird wohin<br />

weitergereicht oder transportiert? Diese und ähnliche Fragen finden<br />

zunächst weder in einem euklidischen noch in einem metrischen Raumkonzept<br />

Beachtung. [198]<br />

2 3 4 4 5<br />

Abb. 12<br />

Möglichkeiten eines<br />

Dualgraphs in Bezug auf<br />

die Zimmeranordnung<br />

nach Cellcon<br />

x<br />

Es handelt sich um abstrakte Mengen, deren Masse nicht benannt werden<br />

kann oder deren Benennung nicht relevant ist. In diesem Entwurfsstadium<br />

ist die Größe der einzelnen Segmente nicht ausschlaggebend.<br />

Der Fokus liegt in diesem Stadium auf den Lage- und Umgebungsbeziehungen.<br />

Ein Beispiel für die Auseinandersetzung mit Lagebeziehungen<br />

in einer Wohnung, einem Gebäude oder einem Quartier, sind Überle-<br />

[198] Vgl. als praktisches Beispiel<br />

die bahnbrechenden Optimierungen<br />

von Arbeitsabläufen in der<br />

Küche durch Christine Frederick<br />

und Margarete Schütte-Lihotzky,<br />

der Entwerferin der Frankfurter<br />

Küche.<br />

75


wir in diesem Falle als ‚Wirklichkeit‘ den tatsächlichen,<br />

subjektiven Seheindruck bezeichnen dürfen).<br />

Denn die Struktur eines unendlichen, stetigen und<br />

homogenen, kurz rein mathematischen Raumes ist<br />

derjenigen des psychophysiologischen geradezu<br />

entgegengesetzt.“ [205],[206]<br />

Auch Cassirer verweist im letzten Satz des oben angeführten Zitats auf<br />

die Differenz von geometrischem Raum als abstraktes Ordnungsschema<br />

und räumlichem Erleben, welches er als psychophysischen Raum<br />

beschreibt.<br />

Diese aufkommenden subjektiven Anmutungen, bei der Betrachtung<br />

solcher Abstraktionen räumlicher Gefüge, die Cassirer kühne Abstraktion<br />

von Wirklichkeit nennt, zeigt, wie sehr die metrische Raumkonstruktion<br />

in der europäischen Kultur verankert ist.<br />

Abb. 25<br />

Albertis Sehpyramide<br />

[205] Cassirer 1925,107 f. zit nach<br />

Panofsky 1964, 101.<br />

[206] „Die Wahrnehmung kennt<br />

den Begriff des Unendlichen nicht;<br />

sie ist vielmehr von vornherein an<br />

bestimmte Grenzen der Wahrnehmungsfähigkeit<br />

und somit an<br />

bestimmtes abgegrenztes Gebiet<br />

des Räumlichen gebunden. Und<br />

sowenig wie von einer Unendlichkeit<br />

des Wahrnehmungsraums<br />

lässt sich von einer Homogenität<br />

sprechen. Die Homogenität des<br />

geometrischen Raumes beruht<br />

letzten Endes darauf, daß alle seine<br />

Elemente, daß die ‚Punkte’ die sich<br />

in ihm zusammenschließen, nichts<br />

als einfache Lagebestimmungen<br />

sind, die aber außerhalb dieser<br />

Relation, dieser ‚Lage’, in welcher<br />

sie sich zueinander befinden, nicht<br />

noch einen eigenen selbstständigen<br />

Inhalt besitzen. Ihr Sein geht<br />

in ihrem wechselseitigen Verhältnis<br />

auf: Es ist ein rein funktionales, kein<br />

substanzielles Sein.<br />

In einem Bildausschnitt wird ein scheinbar frei gewählter subjektiver<br />

Blick eines Menschen eingefangen, der die Arrangements der Gegenstände<br />

im Körper und Raum wiedergibt. [207]<br />

Perspektivische Darstellungen, die ein etabliertes Mittel der architektonischen<br />

Praxis sind, dienen hier zur Vermittlung räumlicher Qualitäten.<br />

In ihnen werden die bisher abstrakt mathematisch dargestellten Grundrisse,<br />

Ansichten, Schnitte etc. visualisiert.<br />

92


Perspektiven als Darstellungsmedium in der<br />

Architektur<br />

Eine Aufgabe der perspektivischen Darstellung ist es, den bisher<br />

nüchtern daherkommenden Zeichnungen Leben einzuhauchen, durch<br />

Texturen, Sonnenstrahlung und beispielsweise eine Blumenwiese, die<br />

das ländliche Idyll unterstreicht oder auch einen dramatisch wirkenden<br />

Himmel, der den Eindruck einer toughen urbanen Umgebung unterstützen<br />

soll. Solche perspektivischen Darstellungen dienen zur Erzeugung<br />

und Vermittlung von Emotionen. In diesen Bildern wird eine Geschichte<br />

erzählt, in die der Baukörper eingebettet wird. Abstrakt gehaltene Silhouetten<br />

von spazierenden Menschen und spielenden Kindern (damit<br />

die Darstellung nicht zum Kitsch verkommt) unterstützen die Storyline.<br />

Architekten machen sich die Suggestion erlebter Räumlichkeit als Merkmal<br />

der Perspektive zunutze, indem sie die Perspektive emotionalisieren<br />

und zu einer Szene ausschmücken. Die Grundlage solcher Bildgeschichten<br />

bildet allerdings auch hier weiterhin ein metrisch basierter Raum.<br />

Das bisherige Arsenal an Raumbegriffen ließe sich also noch durch den<br />

Begriff Spatium [IV] erweitern. Dieser basiert auf der Verschneidung<br />

von absoluten Größen in Grundriss- und Schnittebenen und bezeichnet<br />

somit einen Raum für perspektivische Darstellungen.<br />

Perspektiven dienen der Darstellung von Körpern im Raum in einer für<br />

den Menschen gewohnten Weise, die seiner alltäglichen Wahrnehmung<br />

mit der Einschränkung auf eine zweidimensionale Ebene sehr nahe<br />

kommt. Neben dieser Darstellungsweise werden Perspektiven in der<br />

architektonischen Praxis aber auch zur Erzeugung emotionalisierter<br />

Betrachtung von Raum verwendet. Obwohl sie den Menschen mit seiner<br />

Subjektivität ansprechen, setzen auch sie sich nicht mit dem Subjekt als<br />

Bezugsgröße im Raum auseinander. Denn auch in der Perspektive bleibt<br />

der Blick des Betrachters stets außerhalb des dargestellten Raumes<br />

verortet. Auch wenn seine Blickachse festgelegt ist, kann er dennoch<br />

auktorial über die Bildbegrenzung hinaus schauen. Er befindet sich<br />

nicht im dargestellten Raum und kann diesen daher auch nicht erleben.<br />

Die perspektivische Darstellung ahmt einen Bereich des menschlichen<br />

Sehens lediglich nach und vermittelt einen optischen Eindruck der Szenerie.<br />

Damit wird eine Eingrenzung der Sinneswahrnehmungen auf das<br />

Sehen vorgenommen, leibliches Spüren kann durch sie, wie durch alle<br />

Aspekte des Raums, als Darstellungsmedium nicht vermittelt werden.<br />

Zwischenergebnis<br />

Um einen Beitrag zu einer transparenteren entwerfersischen Praxis<br />

leisten zu können, musste zunächst ein Rahmen geschaffen werden, der<br />

eine fundierte Diskussion über Raum in der Architektur möglich macht.<br />

Dazu war es notwendig, begriffliche Definitionen festzulegen, denn nur<br />

so kann gewährleistet werden, dass Verfasserin und Leser bei den Überlegungen<br />

das gleiche Raumverständnis zugrunde legen — die gleiche<br />

Sprache sprechen.<br />

761.<br />

Weil diese Punkte im Grunde<br />

überhaupt von allem Inhalt leer, weil<br />

sie zu bloßen Ausdrücken ideeller<br />

Beziehungen geworden sind,<br />

darum kommt für sie auch keinerlei<br />

Verschiedenheit des Inhalts in Frage.<br />

Ihre Homogenität besagt nichts<br />

anderes als jene Gleichartigkeit ihrer<br />

Struktur, die in der Gemeinsamkeit<br />

ihrer logischen Aufgabe, ihrer<br />

ideellen Bestimmung und Bedeutung<br />

gegründet ist. Der homogene Raum<br />

ist daher niemals der gegebene,<br />

sondern der konstruktiv-erzeugte<br />

Raum — wie denn der geometrische<br />

Begriff der Homogenität geradezu<br />

durch das Postulat ausgedrückt<br />

werden kann, daß von jedem<br />

Raumpunkte aus nach allen Orten<br />

und nach allen Richtungen gleiche<br />

Konstruktionen vollzogen werden<br />

können. Im Raum der unmittelbaren<br />

Wahrnehmung ist dieses Postulat<br />

nirgends erfüllbar. Hier gibt es keine<br />

strenge Gleichartigkeit der Orte und<br />

Richtungen, sondern jeder Ort hat<br />

seine Eigenart und seinen eigenen<br />

Wert. Der Gesichtsraum wie der<br />

Tastraum kommen darin überein, daß<br />

sie im Gegensatz zum metrischen<br />

Raum der Euklidischen Geometrie<br />

„anisotrop“ und „inhomogen“ sind:<br />

die Hauptrichtung der Organisation:<br />

vorne-hinten, oben-unten, rechtslinks,<br />

sind in beiden <strong>Räume</strong><br />

übereinstimmend ungleichwertig.“<br />

Ebd.101f.<br />

[762] [207] <strong>Zur</strong> Differenz von Kartographie<br />

und Perspektive siehe auch<br />

Rodatz 2010, 117 ff.<br />

93


Einleitung<br />

Bisher wurde mit dem Raum als Darstellungsmedium ein Raumkonzept<br />

beleuchtet, das sich für die architektonische Praxis besonders in Bezug<br />

auf die Darstellung als nützlich erwiesen hat. Aufbauend auf geometrischen<br />

Konzepten wurden Raumbegriffe unterschieden, die verschiedene<br />

Aspekte der architektonischen Praxis akzentuieren. Sie alle lassen sich<br />

zur Klasse des Raumes als Darstellungsmedium zusammenfassen. Der<br />

Mensch wird jedoch im Raum als Darstellungsmedium als Körper unter<br />

Körpern betrachtet. Für eine Untersuchung, die der Frage nachgeht, wie<br />

Raum Verhalten beeinflussen kann, sind die bisher benannten Raumbegriffe<br />

allerdings nicht zielführend.<br />

„Jedoch Körper unter Körpern, ist der Mensch<br />

immer nur als Gegenstand betrachtet, und sei es,<br />

dass er sich selbst als Gegenstand betrachtet. Dann<br />

allerdings wird für ihn auch der Raum durch andere<br />

Körper als Topos oder Spatium strukturiert. Dann<br />

sind auch für ihn die Strukturen des Raumes die<br />

Strukturen der Geometrie.“ [208]<br />

Denn der Mensch ist zwar auch ein Körper unter anderen Körpern im<br />

Raum und unterliegt den Prinzipien der Körperlichkeit: Zwei Körper<br />

können nie zur gleichen Zeit am selben Ort sein und auch menschliche<br />

Körper bewegen sich nach den Regeln der Mechanik im Raum etc. Was<br />

ihn jedoch von den Körper-Dingen unterscheidet ist seine Subjektivität.<br />

[209] Dieser Subjektivität kann ein geometrisches Raumkonzept, das<br />

sich nur auf Lagebeziehungen und Abstände im Raum bezieht, nicht<br />

gerecht werden. Denn das Individuum wird hier nur auf seine Körperlichkeit<br />

reduziert. Sobald sich aber ein Individuum auf seine Subjektivität<br />

bezieht, es wahrnimmt und Raum erfährt, lassen sich diese Prozesse und<br />

Emotionen in einem geometrischen Raumkonzept nicht mehr darstellen<br />

bzw. gar nicht erst erleben. Denn räumliche Erfahrung lässt sich nur erleben,<br />

wenn das Subjekt, und das nicht nur in Form seines bloßen Körpers,<br />

im Raum anwesend ist.<br />

Leibliche Anwesenheit<br />

Mit einer endgültigen Abkehr vom Prinzip des Raumes als Behälter zu<br />

Beginn des 20. Jahrhunderts, bedingt durch die Errungenschaften der<br />

Physik, entsteht unter Einfluss der Quantentheorie und des Elektromagnetismus<br />

die Vorstellung eines Raumgefüges abhängig vom Faktor Zeit<br />

und dem veränderlichen Zustand der Materie. In der Abkehr von dem<br />

auf Kant basierenden Ausdehnungsapriori entsteht eine Raumvorstellung,<br />

die sich über Relationalitäten, im Raum herrschende Kräfte und<br />

eigene Dynamik konstituiert.<br />

[208] Ebd.<br />

[209] Vgl. Böhme 2006, 119.<br />

99


Wright wurde von der traditionell japanischen Architekturauffassung<br />

inspiriert. Wright unternahm in seinem Leben mehrere Japanreisen,<br />

die erste 1905, baute von 19161922 das Imperial Hotel in Tokyo und<br />

verbrachte in diesen Jahren die meiste Zeit in Japan.<br />

Auch das international wachsende Interesse an moderner Architektur<br />

ist ein Zeichen dafür, dass sich eine außereuropäische Auffassung zur<br />

Raumgestaltung aktueller Beliebtheit erfreut. Die Popularität der Arbeiten<br />

von Kazuyo Sejima und Ryūe Nishizawa als Architektenduo SANAA,<br />

Shigeru Ban, Sou Fujimoto oder Tadao Andō sind ein Beleg dafür.<br />

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich zwar alle drei Linien<br />

auf eigene Weise mit der Thematik menschlicher Erfahrung im Raum<br />

auseinandersetzen, das Potenzial der Thematik jedoch bis heute nicht<br />

ausgeschöpft. [276]<br />

Übergang zu einem Raumkonzept<br />

leiblicher Anwesenheit<br />

Die Veränderungen des Blickwinkels bei Wölfflin, Schmarsow und Endell<br />

bedeuten zwar eine große Neuerung im Architekturverständnis, dennoch<br />

weist Böhme zu Recht darauf hin, dass hier nur eine Umkehr der<br />

Verhältnisse stattgefunden habe, die räumliche Dimension aber nicht<br />

angetastet worden sei. Die Frage nach einem neuen Raumkonzept, das<br />

den Leib miteinbezieht, kam nicht auf. Gedanklich wurde allerdings<br />

der Weg dazu bereitet. Diese bloße Umkehrung der Verhältnisse wird<br />

anhand des folgenden Zitats von Endell deutlich:<br />

„Wer an Architektur denkt, versteht darunter zunächst<br />

immer die Bauglieder, die Fassaden, die Säulen,<br />

die Ornamente, und doch kommt das alles nur<br />

in zweiter Linie. Das wirksamste ist nicht die Form,<br />

sondern ihre Umkehrung, der Raum, das Leere, das<br />

sich rhythmisch zwischen den Mauern ausbreitet,<br />

von ihnen begrenzt wird, aber dessen Lebendigkeit<br />

wichtiger ist als die Mauern.“ [277]<br />

[276] Vgl. Böhme 2006, 118.<br />

[277] Endell 2014, 75<br />

(Hervorhebungen hinzugefügt).<br />

Denn bei dem von Endell beschriebenen Raum handelt es sich immer<br />

noch um denselben Raum, der durch Gebäude begrenzt und durch<br />

deren Lage strukturiert wird. Der bisher übliche Blick in den städtischen<br />

Raum wird lediglich invertiert.<br />

Häuser, die früher als Baukörper wahrgenommen wurden, werden jetzt<br />

als Raumbegrenzung gesehen. Der Raum zwischen diesen Begrenzungen<br />

wird priorisiert. Der Raumbegriff selbst wird dennoch nicht infrage<br />

gestellt. Alle Überlegungen finden weiterhin auf einem geometrisch<br />

basierten Raumbegriff statt. Die Thematik des Raumes leiblicher Anwesenheit,<br />

die sich vom geometrischen Raumverständnis abhebt und in<br />

groben Zügen bereits bei Wölfflin angedeutet wird, findet in Endells<br />

Ausführungen keinen Anklang.<br />

114


Abb. 26<br />

Umkehrung der Raumverhältnisse<br />

nach Endell<br />

Der Raum leiblicher Anwesenheit<br />

„<strong>Räume</strong> entstehen als geistiges Konzept schon in<br />

frühen Entwicklungsphasen in der Kindheit. Sie<br />

schaffen als Träger von Emotionen, Werten und<br />

Normen eine lebenslange soziale Identität.“ [278]<br />

Rump und Richter verweisen in diesem Zusammenhang auf den Psychoanalytiker<br />

Bachelard und seine Poetik des Raumes. Bachelard beschreibt<br />

in seiner Monographie eine ganz bestimmte Türklinke oder das Knarren<br />

einer Stiege und schon fühlen wir uns wieder wie im Elternhaus. [279]<br />

Der Entwicklungspsychologe Piaget fand in seinen Studien zum<br />

Kennenlernen des Raumes bei Kindern heraus, dass sich Realitätskonstruktion<br />

bei Raumvorstellungen in drei Entwicklungsstufen vollzieht.<br />

Dabei ist das erste Stadium einer topologischen Raumvorstellung von<br />

besonderer Bedeutung. Denn bis zum Alter von vier Jahren sind Kinder<br />

nicht fähig eine Synthese mehrerer Elemente im Raum als räumliches<br />

Arrangement darzustellen.<br />

Abb. 27<br />

Kinderzeichnung im<br />

Stadium topologischer<br />

Raumvorstellung nach<br />

Rump/Richter 2008<br />

Die Verwendung metrischer Beziehungen zur Darstellung räumlicher<br />

Arrangements findet erst später statt, etwa zwischen dem siebten bis<br />

vierzehnten Lebensjahr. [280]<br />

[278] Rump/Richter 2008, 293.<br />

[279] Bachelard 1957, 46 f.<br />

[280] Vgl. ebd.<br />

115


Von einem Blickpunkt, der außerhalb des Raumes liegt, lassen sich<br />

Atmosphären nicht erfahren. Zwar gibt es Anzeichen dafür, dass es auch<br />

dingliche Komponenten zur Erzeugung bestimmter Atmosphären gibt,<br />

dennoch lassen sich Atmosphären als quasi objektive Wahrnehmungsgegenstände<br />

in ihrem Was-Sein erst durch einen erlebenden Menschen<br />

vollständig erfassen.<br />

„In dem, was Atmosphären sind, ist immer ein<br />

subjektiver Anteil und sie sind überhaupt nur in<br />

aktueller Erfahrung. Zwar kann man in Atmosphären<br />

hineingeraten und sie auch in Diskrepanz zur<br />

eigenen Stimmung erfahren, gleichwohl muss man<br />

sagen, daß auch hier die Atmosphäre erst in der<br />

Konfrontation mit einem erfahrenden Ich zu dem<br />

wird, was sie ist.“ [336]<br />

Dementsprechend ist es nur bedingt möglich, sich Atmosphären auf<br />

abstrakter Ebene zu nähern, da zur völligen Entfaltung ihrer Existenz ein<br />

wahrnehmendes Subjekt gegeben sein muss. Wahrnehmung gestaltet<br />

sich in diesem Prozess allerdings nicht derart, dass sich ein wahrnehmendes<br />

Subjekt auf ein Wahrnehmungsobjekt bezieht. Hier, das heißt<br />

im Raum leiblicher Anwesenheit, handelt es sich um ein Wahrnehmungsereignis,<br />

das vor jeder Subjekt-Objekt-Spaltung liegt. [337] In diesem Sinne<br />

muss zwischen zwei Arten von Wahrnehmung unterschieden werden,<br />

die für den Raum leiblicher Anwesenheit von grundlegender Bedeutung<br />

sind: zwischen der psychophysiologischen Wahrnehmung einerseits und<br />

der phänomenologischen Wahrnehmung andererseits.<br />

Psychophysiologische Wahrnehmung vs.<br />

phänomenologische Wahrnehmung<br />

[336] Ebd. (Hervorhebung übernommen).<br />

[337] Vgl. ebd., 45.<br />

[338] Rodatz 2014, 205 f.<br />

Die oben angeführte Beschreibung von Atmosphären als unbestimmt,<br />

nicht greifbar und nicht sagbar, verweist noch einmal auf die Schwierigkeit<br />

der Bestimmung von Atmosphären. Denn wahrnehmungsphysiologisch<br />

betrachtet lassen sich Atmosphären weder riechen, noch hören<br />

oder ertasten und sind aus dieser Perspektive nicht existent. Unter Bezug<br />

darauf beschreibt Rodartz Atmosphären „im herkömmlichen Sinne [als]<br />

abwesend anwesend […]. Abwesend, weil Atmosphären weder riechnoch<br />

hörbar, weder sichtbar noch sensorisch spürbar usw. sind. Anwesend,<br />

weil sie eben doch quasi objektiv im Raum vorliegen und quasi<br />

subjektiv erfahren werden.“ [338]<br />

Eine Annäherung an den Atmosphärenbegriff aus wahrnehmungspsychologischer<br />

Perspektive gestaltet sich insofern schwierig, als dass<br />

die hier im Zentrum stehende Atmosphäre als Wahrnehmungsereignis<br />

vor jeder Subjekt-Objekt-Spaltung liegt. Denn das Spüren leiblicher<br />

Anwesenheit ist ein grundlegendes Wahrnehmungsereignis. In ihm sind<br />

Subjekt und Objekt miteinander verbunden. In diesem Stadium ist eine<br />

124


separierende Zuschreibung von Atmosphäre zum Wahrnehmungssubjekt<br />

oder -objekt nicht möglich. In diesem Sinne betont Böhme:<br />

„Subjekt und Objekt verschmelzen in ihrer Wahrnehmung.<br />

Sie werden zu einem System, nicht aber<br />

in der Art, daß sie sich dadurch verändern, sondern<br />

in der Art, daß sie neue gemeinsame Zustände<br />

haben.“ [339]<br />

Eine aufspaltende Betrachtungsweise von Subjekt und Objekt, wie sie<br />

in der psychophysiologischen Wahrnehmung vertreten wird, wird erst in<br />

der Ausdifferenzierung und Distanzierung vom Wahrnehmungsereignis<br />

erkennbar. Die psychophysiologische Wahrnehmung folgt damit der<br />

klassischen europäischen Auffassung der Substanzontologie, in der das<br />

Seiende in Substanz fundiert sein muss. [340]<br />

„Das ontologische Problem kann man kurz mit dem<br />

Grundsatz bezeichnen, daß nur die Substanz im<br />

eigentlichen Sinne ist. Was zwischen Substanz ist,<br />

z. B. die Relation, ist nur, insofern die Substanzen<br />

sind. Man hat das auch so formuliert: Die Relation<br />

müßte ein fundamentum in re haben. Das heißt,<br />

wenn zwischen zwei Substanzen A und B eine Relation<br />

(A, B) besteht, so muß irgendetwas an A und an<br />

B sein, irgendeine Beschaffenheit, die die Relation<br />

fundiert.“ [341]<br />

Die Betrachtung des Wahrnehmungsereignisses vom phänomenologischen<br />

Zugang her distanziert sich hingegen von dieser Ansicht. In ihr<br />

wird das Scheinen als gegeben und daher ohne Bezug auf ein konkretes<br />

Wahrnehmungsobjekt betrachtet. Dies ermöglicht eine Auseinandersetzung<br />

mit komplexen räumlichen Arrangements, in denen sich nicht ohne<br />

Weiteres einzelne Komponenten benennen lassen, die so und so zusammengefügt<br />

für die Erzeugung bestimmter Atmosphären verantwortlich<br />

sind. In diesem Zusammenhang ist ein phänomenologisch basiertes<br />

Wahrnehmungsphänomen das Spüren von Anwesenheit als ein grundlegendes<br />

Wahrnehmungsereignis. [342] Dahingehend ist die Atmosphäre im<br />

Raum leiblicher Anwesenheit, in dem das Spüren als „Spüren von Anwesenheit<br />

[…] zugleich und ungeschieden das Spüren von mir als Wahrnehmungssubjekt<br />

wie auch das Spüren der Anwesenheit von etwas“ [343]<br />

ist, der erste Gegenstand der Wahrnehmung. [344] Kruse beschreibt diesen<br />

Umstand folgendermaßen:<br />

[339] Böhme 2001a, 56.<br />

„Die Gestimmtheit ist ein Grundzug jeden Raumes,<br />

[340] Vgl. ebd.<br />

Gestimmtheit bzw. Befindlichkeit die ursprüngliche<br />

Weise des Daseins, Grundart der Erschlossenheit<br />

von Welt. Sie bildet die Grundlage für jedes weitere<br />

[343] Ebd.<br />

Sich-richten-auf, sei es als umsichtiges Besorgen, als<br />

[344] Vgl. ebd.<br />

Wahrnehmen und Erkennen”. [345] [345] Kruse 1974, 77.<br />

[341] Böhme 1998b, 235 (Hervorhebungen<br />

übernommen).<br />

[342] Vgl. Böhme 2001a, 45.<br />

125


Bewegungsraum als unzentriert, nicht-orientiert<br />

und damit richtungslos. Im gestimmten Raum, der<br />

dadurch charakterisiert ist Ausdrucksgestalt zu sein,<br />

kommt dem Leib kein ausgezeichneter Ort als Zentrum<br />

zu, von dessen Hier sich der Ort der Dinge als<br />

Dort bestimmte.“ [376]<br />

Nachdem hier eine Differenzierung von orientiertem Raum und Stimmungsraum<br />

stattgefunden hat, wird nun spezifisch auf den Handlungsraum<br />

eingegangen. Eine Trennung von Handlungsraum und dem später<br />

folgenden Wahrnehmungsraum ist im Alltag in dieser Form nicht möglich.<br />

So bemerkt Kruse:<br />

[376] Kruse 1974, 77 (Hervorhebungen<br />

übernommen).<br />

[377] Ebd., 79.<br />

„Eine solche Unterscheidung läßt sich lediglich als<br />

analytisch zweckmäßig, nicht aber als durch die<br />

Sache selbst diktiert, rechtfertigen. Als handelndes<br />

Subjekt, im tätigen Umgang mit den Dingen, als<br />

Subjekt, das Wege zurücklegt und Orte aufsucht, ist<br />

es immer auch wahrnehmendes Subjekt.“ [377]<br />

132


HANDLUNGSRAUM<br />

Kruse beschreibt den Handlungsraum als Aktionsfeld des aktuellen<br />

Handelns des Subjekts, das gleichzeitig auch das Feld potenzieller<br />

Handlungsmöglichkeiten absteckt. [378] Böhme spricht von einer sphaera<br />

activitatis, als Spielraum individueller Handlungs- und Bewegungsmöglichkeiten.<br />

[379] Rump und Richter konstatieren in diesem Zusammenhang:<br />

„Im Handlungsraum sind Orte, Gegenstände oder<br />

andere Personen Ausgangspunkt, Mittel und Ziel<br />

von Handlungen.“ [380]<br />

In der Phänomenologie und in der phänomenologischen Psychologie<br />

wird unter dem Handlungsraum meist der unmittelbare und aktuelle<br />

Handlungsraum verstanden. Denn neben dem aktuellen Handlungsraum<br />

lassen sich auch abstrakte Handlungsräume untersuchen — wie<br />

beispielsweise hierarchisch strukturierte Handlungen in einem gesellschaftlichen<br />

Gefüge, potenzielle Handlungsräume, die in Reichweite<br />

liegen, in denen sich das Subjekt aber nicht befindet sowie fiktive<br />

Handlungsräume, die sich zum Beispiel in individuellen Traumwelten<br />

aufspannen.<br />

Auch in dieser Untersuchung steht der aktuelle Handlungsraum im<br />

Mittelpunkt. In diesen Sinne wird der Handlungsraum mit Kruse als ein<br />

Handlungsbereich definiert, der Teil der Außenwelt ist. Dieser Bereich<br />

umfasst dabei alle vom Menschen handhabbaren Gegenstände in Hörund<br />

Sehweite und darüber hinaus auch solche Bereiche, die das Subjekt<br />

durch Körperbewegungen oder mit Geräten erreichen bzw. verändern<br />

kann. [381]<br />

Körper und Gegenstände im Handlungsraum<br />

Im Handlungsraum als Feld menschlichen Handelns ist der darin<br />

verortete Mensch immer auch mit Gegenständen konfrontiert. Handeln<br />

definiert Ströker als Verwirklichung eines Entwurfs mit dem Leib<br />

und seinen Gliedern. Dabei ist der Leib kein Werkzeug zur Erfüllung<br />

der Handlungsintention, sondern ein zur Handhabung der Werkzeuge<br />

fähiger Leib. [382] Solche Werkzeuge sind Gegenstände mit denen ein<br />

Subjekt etwas zu realisieren gedenkt. Sie werden von Kruse als Zeug<br />

bezeichnet, die sich damit auf Heidegger bezieht. Dieser begreift Dinge<br />

mit denen besorgend umgegangen wird als pragmata. [383] Pragmata oder<br />

Zeug verweisen dabei immer auf etwas anderes. Als Zeug bezeichnet<br />

Heidegger die Dinge des um-zu, so etwa das Näh-Zeug, das Werk-Zeug,<br />

das Strick-Zeug etc. In diesem Zusammenhang verweist das Zeug immer<br />

auf etwas anderes. So braucht man Werk-Zeug, um etwas zu reparieren,<br />

oder Strick-Zeug, um einen Schal zu stricken. Zeug steht dabei dem<br />

Subjekt im Handlungsraum innerhalb einer Verweisungsganzheit [384] zur<br />

Verfügung und ist „mit seinen Eigenschaften der Dienlichkeit, Verfüg-<br />

[378] Vgl. ebd., 81.<br />

[379] Böhme 2004, 134.<br />

[380] Rump/Richter 2008, 296.<br />

[381] Vgl. Kruse 1974, 82.<br />

[382] Vgl. Ströker 1965, 55.<br />

[383] Heidegger 1967, 68 f.<br />

[384] Kruse 1974, 83.<br />

133


Ein solcher Raum als aisthetischer Wahrnehmungsraum entsteht etwa<br />

dann, wenn das wahrnehmende Subjekt ganz in der Betrachtung von<br />

Form und Farbe aufgeht. Als Beispiele nennt Kruse hier „die verschwimmenden<br />

Konturen einer Hügelkette während der fortschreitenden<br />

Dämmerung [...] oder die in der Ferne bläulich werdende Landschaft“. [473]<br />

Damit steht der aisthetisch betrachtete Wahrnehmungsraum zwar dem<br />

Stimmungsraum nahe, bleibt aber dennoch von ihm unterschieden.<br />

Denn während es im Wahrnehmungsraum um Beschaffenheit von<br />

Gegenständen und Körpern im Sinne von Farbe, Form und Materialität<br />

geht, sind im Stimmungsraum die Ausdruckscharaktere zentrales<br />

Moment der Raumerfahrung. Eine weitere Abgrenzung lässt sich auch in<br />

Bezug auf den Handlungsraum treffen. Denn anders als dort haben die<br />

Gegenstände keine Handlungsvalenz im Sinne eines Aufforderungscharakters,<br />

sondern sind einfach nur vorhanden. In diesem Zusammenhang<br />

„erscheint der Wahrnehmungsraum daher auch sehr viel weniger als<br />

ein potenzieller Handlungsraum als dies bei der alltäglichen Wahrnehmungseinstellung<br />

der Fall ist“, wie Kruse festhält. [474]<br />

Bereits jetzt lässt sich feststellen, dass besonders dem Sehsinn im Wahrnehmungsraum<br />

eine herausragende Stellung zukommt. Ströker spricht<br />

daher in ihrer Publikation sogar von einem Anschauungsraum.<br />

Diese Arbeit bezieht sich hier auf Kruse, die den Wahrnehmungsraum<br />

als Oberbegriff für alle modal geschiedenen Sinnesräume versteht. [475]<br />

Damit werden auch haptische, auditive und olfaktorische Faktoren<br />

zu den Möglichkeiten der Konstruktion eines Wahrnehmungsraumes<br />

gezählt. Dennoch steht auch hier primär die visuelle Beschaffenheit<br />

des Wahrnehmungsraumes im Vordergrund. Eine Begründung dieser<br />

Begrenzung liegt dabei besonders im niedrigeren Niveau der Strukturiertheit<br />

von auditiv, haptisch oder olfaktorisch gegliederten Räumlichkeiten.<br />

Denn der Wahrnehmungsraum weist als Teilaspekt des gelebten<br />

Raumes die deutlichste Strukturiertheit auf. Dementsprechend liegt hier,<br />

wie auch bei Kruse, der allgemeine Fokus auf den für das Subjekt visuell<br />

wahrnehmbaren Gegenständen im Raum, und im Besonderen auf dem<br />

Fernraum.<br />

Körper und Gegenstände im Wahrnehmungsraum<br />

[473] Ebd.<br />

[474] Ebd.<br />

[475] Ebd., 112 f.<br />

[476] Ströker 1965, 101.<br />

Die Situation des Leibes unterscheidet sich dabei in zweifacher Hinsicht<br />

von der im Handlungsraum. Denn der Anschauungsraum wird als<br />

Fernraum erlebt, und dies sowohl in der erlebten Entfernung zwischen<br />

den Gegenständen, den Körpern im Raum und dem Standpunkt des<br />

erlebenden Menschen, als auch in einer erfahrenen „eigentümlichen<br />

Entfernung des Leibes bezüglich seiner selbst“ [476] .<br />

Damit beschreibt Ströker einen Unterschied zum Handlungsraum, denn<br />

obwohl auch im Handlungsraum die Aufmerksamkeit des Handelnden<br />

auf einen im Raum liegenden Gegenstand gerichtet ist, wird der<br />

Gegenstand vom Handelnden auf sich bezogen. Dies drückt sich auch in<br />

Heideggers Terminus des Zuhandenseins aus. Die Körper und Gegen-<br />

152


stände im Raum halten sich darin zur Verfügung, um dem Handelnden<br />

in der Aktion als Erfüllungswerkzeug zu dienen. Anders verhält es sich<br />

im Wahrnehmungsraum. Hier liegen die Gegenstände und Körper in<br />

der Ferne und nicht im Nahbereich des Zuhandenen. Dementsprechend<br />

greift das wahrnehmende Subjekt nach ihnen in sinnlicher Erfahrung.<br />

Es überwindet die Distanz wahrnehmend und bezieht sich auf das Dort,<br />

ist damit aber nicht weiterhin bei sich, sondern im Wahrnehmungsraum<br />

bei den sich in ihm befindenden Gegenständen und Körpern. In diesem<br />

Sinne bemerkt Ströker:<br />

„Ein Zuhandenes in die Hand nehmen und ein<br />

Vorhandenes ‚ins Auge fassen‘ — darin manifestieren<br />

sich nicht nur zwei grundverschiedene<br />

Einstellungen des Subjekts, sondern auch zwei ganz<br />

verschiedene Bezüge des betreffenden Dinges zum<br />

Leib. […] Nicht als Glied des Körpers, sondern als<br />

Leibesorgan in Funktion bestimmt es sich sehend;<br />

und daß diese Funktion eine gegenständliche ist,<br />

das macht es, daß das Auge seine Objekte nicht an<br />

oder in sich hat, sondern im Raum.“ [477]<br />

Dies führt zu einer veränderten Rolle des Leibs im Raum. Denn dadurch,<br />

dass der Fokus des Leibes nicht weiter bei sich oder bei den Dingen in<br />

Bezug auf sich, sondern bei den Dingen in der Ferne liegt, kommt es zu<br />

einer qualitativen und quantitativen Einschränkung der Eigendynamik im<br />

Wahrnehmungsraum.<br />

Der Mensch im Wahrnehmungsraum<br />

„Soll es mithin eine Form gelebter Räumlichkeit<br />

geben, die eindeutige Richtungsbestimmtheit<br />

aufweist, so muß in ihr das Leibsubjekt in einer<br />

Weise existieren, in welcher der Leib eindeutig<br />

als hier befindlich im Unterschied zu jedem Dort<br />

aufgefaßt werden kann. In solcher Weise bietet er<br />

sich in zweierlei Hinsicht an: Als handelnder Leib<br />

ist er Ausgangspunkt zielgerichteter Tätigkeit, als<br />

Einheit der Sinne ist er Bezugspunkt der sinnlichen<br />

Anschauung. Gemäß dieser beiden Verhaltensweisen<br />

des Leibsubjekts [ist] zu unterscheiden [...] der<br />

Aktionsraum und der Anschauungsraum.“ [478]<br />

Wie schon der Handlungsraum ist auch der Wahrnehmungsraum ein<br />

zentrierter und orientierter Raum. Um einen gerichteten Körperleib<br />

herum konstituiert sich der Wahrnehmungsraum.<br />

[477] Ebd.<br />

[478] Ströker 1965, 54 f.<br />

153


die physiognomische Qualität. Gleiches gilt für die<br />

Farbe. Selbst da, wo es sich um ein Rot als Gegenstandsfarbe<br />

(rote Kissen, rote Polster, rote Blumen)<br />

handelt, kann dieses Rot global anmuten, das heißt,<br />

ohne in seiner Gegenstandsbezogenheit zu imponieren,<br />

die Stimmung eines Raumes beherrschen.<br />

Farben lassen einen Raum enger oder weiter, höher<br />

oder niedriger, wärmer oder kälter wirken“. [526]<br />

Der Mensch im Stimmungsraum<br />

Im Stimmungsraum wird damit eine Beziehung zwischen der Umwelt<br />

und dem erlebenden Subjekt deutlich, die sich von einem psychophysischen<br />

Wahrnehmungsereignis im Sinne eines Wahrnehmungssubjektes,<br />

das sich auf ein Wahrnehmungsobjekt bezieht, deutlich abhebt. Räumliches<br />

Erleben findet nicht nach einem Ursache-Wirkungs-Prinzip statt,<br />

steht also nicht in einem Kausalverhältnis, wie Ströker hervorhebt:<br />

„Der Raum übt zwar seine ‚Wirkung‘ aus, er steht<br />

aber zum Erleben nicht in einem Kausalverhältnis,<br />

sondern er ‚teilt sich mit‘, ‚spricht an‘. Der Raum ist<br />

primär nicht Gegenstand für ein Subjekt raumfassender<br />

Akte; sondern als gestimmter Raum eignet<br />

ihm eine Weise des Mitdaseins mit dem Erlebnisich,<br />

die sich allen begrifflichen Fixierungen eines an<br />

der Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt<br />

orientierten Denkens als ‚Relation‘, ‚Beziehung‘, ‚Verhältnis‘<br />

entzieht, weil vielmehr diese ihrerseits schon<br />

in jener ursprünglichen, nicht hintergehbaren Verbundenheit<br />

von Leibsubjekt und Raum gründen.“ [527]<br />

Weiter oben wurde bereits auf die Wechselbeziehung zwischen Atmosphäre<br />

und erfahrendem Subjekt eingegangen. Dabei konnten Atmosphären<br />

weder der Subjekt- noch der Objektseite zugerechnet werden.<br />

Aus diesem Grund wurden sie im Dazwischen, in der Wechselbeziehung<br />

von Subjekt und umgebendem Raum verortet. Da Betrachtungsgegenstand<br />

des Stimmungsraums, als eine Art des Raums leiblicher Anwesenheit,<br />

die Atmosphären sind, gelten oben getroffene Aussagen auch hier.<br />

In diesem Sinne führt Ströker aus:<br />

[526] Kruse 1974, 62 f.<br />

[527] Ströker 1965, 23 (Hervorhebung<br />

übernommen).<br />

„Nicht steht der gestimmte Raum dem Erlebnissubjekt<br />

als ein von ihm unabhängiger, ansichseiender<br />

gegenüber, der allererst wirken müßte, damit auf<br />

ihn ‚reagiert‘ werden könnte; nicht hat der Raum ein<br />

vom Erlebnissubjekt losgelöstes Eigendasein, zu<br />

dem das Letztere zusätzlich eine Beziehung stiften<br />

164


könnte — als Raum meiner Bewegung ist er vielmehr<br />

Raum durch mich, wie mein Erleben ebenso durch<br />

ihn ist. Die hier obwaltende streng wechselseitige<br />

Implikation zwischen Raum und Raumleben läßt sich<br />

leichter in ihrem Ereignischarakter anzeigen als auf<br />

fixierte Begriffe bringen. In ihnen erscheint nur allzu<br />

leicht als Paradoxie, was in schlichtem Hinschauen<br />

auf das Begegnen von Subjekt und Raum unmittelbar<br />

faßbar wird.“ [528]<br />

Darüber hinaus wurde ebenfalls auf die Grundbedingung einer Verortung<br />

des Subjektes im Raum für den Raum leiblicher Anwesenheit<br />

eingegangen. Diese drückt sich, wie bereits aufgezeigt, durch die<br />

Befindlichkeit in zwei Weisen aus. Angewendet auf den Stimmungsraum<br />

fasst Kruse zusammen:<br />

„Gestimmtsein erweist sich als ein doppelseitiges<br />

Geschehen, als Kommunikation zwischen Subjekt<br />

und Welt: Die Atmosphäre eines Raumes wirkt auf<br />

den Menschen, wie umgekehrt der Mensch in<br />

einer bestimmten Gemütsverfassung dazu neigt,<br />

diese auf den Raum übertragend wiederum als<br />

seine Anmutungsqualität zu erleben (was nicht im<br />

Sinne einer Ursache-Wirkungs-Folge, sondern einer<br />

unmittelbaren, ursprünglichen Zusammengehörigkeit<br />

zu verstehen ist). Dem heiteren Menschen<br />

erscheint auch seine Umgebung heiter, dem<br />

bedrückten auch seine Umgebung bedrückend.“ [529]<br />

Nachdem noch einmal auf die besondere Rolle eingegangen worden<br />

ist, die dem erlebenden Menschen im Stimmungsraum zukommt, gilt<br />

es, noch auf einen weiteren Punkt einzugehen, der für den Menschen im<br />

Stimmungsraum von Bedeutung ist. Denn der gestimmte Raum hat für<br />

den sich darin befindenden, erfahrenden Menschen nicht nur reine Ausdrucksgestalt,<br />

in der er sich bewegt, sondern er wird auch in Bewegung [529] Kruse 1974, 60.<br />

[528] Ströker 1965, 50 f.<br />

vollzogen. [530] [530] Ströker 1965, 37.<br />

165


Atmosphäre als produktionsästhetischer Begriff<br />

Gute Architektur lebt vom Zusammenspiel von Produktionsästhetik und<br />

Rezeptionsästhetik. Weiter oben wurde auf den Atmosphärenbegriff<br />

und die Schwierigkeit seiner Zuzählung zur Objekt- oder Subjektseite in<br />

Bezug auf eine Rezeptionsästhetik eingegangen. Atmosphären, so stellte<br />

sich heraus, zählen weder zur Objekt- noch zur Subjektseite, sondern<br />

sind im Dazwischen, im Spannungsfeld beider Pole zu verorten. Einen<br />

Sonderfall in der Betrachtung, der hier von besonderer Bedeutung ist, ist<br />

der Status von Atmosphären, wenn diese nicht in aktueller Befindlichkeit<br />

erfahren werden. Wenn also über eine Atmosphäre gesprochen wird, in<br />

der man sich aktuell nicht befindet. In diesem Zusammenhang bildet die<br />

Atmosphäre nicht mehr die erste Wahrnehmungswirklichkeit. Stattdessen<br />

wird über eine Atmosphären-Erfahrung gesprochen, die von einer<br />

affektiven Betroffenheit abgerückt und abstrahiert ist. Erfahrung zerfällt<br />

dann in ihre Subjekt- und Objektbestandteile. Die Atmosphären bilden<br />

damit nicht weiter ein Phänomen im Dazwischen, sondern werden als<br />

quasi objektive Gefühlsmächte zur Objektseite gezählt.<br />

Nachdem aus der Perspektive einer Rezeptionsästhetik weiter oben die<br />

Voraussetzung zu einer Definition eines Atmosphärenbegriffs geschaffen<br />

wurden, sieht Böhme ebenfalls die Notwendigkeit, im Rahmen einer<br />

neuen Ästhetik eine schlüssige Begriffsdefinition der Atmosphären von<br />

der Objektseite aus zu generieren. [642] Eine Schwierigkeit beim Versuch<br />

einer Definition liegt ihmzufolge in der klassischen Dingontologie. Dazu<br />

führt er aus:<br />

„Der entscheidende Punkt liegt darin, daß die<br />

Eigenschaften eines Dinges als Bestimmungen<br />

gedacht werden. Die Form, die Farbe, ja sogar der<br />

Geruch eines Dinges werden gedacht als dasjenige,<br />

was das Ding von anderen unterscheidet, nach<br />

außen hin abgrenzt, nach innen hin zu einem macht,<br />

kurz: Das Ding wird in der Regel in seiner Verschlossenheit<br />

konzipiert.“ [643]<br />

Dass auch die Wahrnehmbarkeit zum Gegenstand gehört, wird von<br />

Philosophen nur äußerst selten bemerkt, so Böhme. [644] Eine andere Position<br />

vertritt Kant, der feststellt, ein Gegenstand könne mit allen seinen<br />

Bestimmungen gedacht werden um in der Folge die Frage zu stellen, ob<br />

dieser gedachte Gegenstand auch existent ist. [645] Dazu bemerkt Böhme:<br />

[642] Vgl. ebd., 296.<br />

[643] Ebd.<br />

[644] Ebd., mit weiteren Nachweisen.<br />

[645] Vgl. ebd.<br />

[646] Ebd. (Hervorhebung übernommen).<br />

„Es ist klar, wie ästhetikfeindlich und ästhetikbehindernd<br />

diese ganze Denkweise ist. Ein Ding ist<br />

danach, was es ist, unabhängig von seinem Dasein,<br />

und dieses wird ihm letzten Endes vom erkennenden<br />

Subjekt zugeschrieben, indem das Subjekt das<br />

Ding setzt.“ [646]<br />

194


Am Beispiel einer Vase lässt sich Böhmes Ausführung nachvollziehen.<br />

Ist beispielsweise in einem Gespräch von einer grünen Vase die Rede,<br />

so denkt man an einen Gegenstand, der sich durch die Farbe Grün von<br />

anderen Gegenständen (etwa blauen oder roten Vasen) unterscheidet.<br />

Die Vase hat die Farbe Grün. Darüber hinaus kann man außerdem die<br />

Frage stellen, ob es die grüne Vase wirklich gibt. Als Antwort muss die<br />

Vase dann in einem raumzeitlichen Kontinuum platziert werden. Neben<br />

der Möglichkeit nach Kant, sich Dinge im Raum vorzustellen, gibt es<br />

weitere Möglichkeiten das Grün der Vase zu denken. Nämlich als Weise<br />

der Anwesenheit der Vase im Raum. Das Grün wird in der Anwesenheit<br />

spürbar. In diesem Zusammenhang ist das Grün als Eigenschaft dann<br />

nicht mehr auf den Gegenstande beschränkt, sondern entwickelt seine<br />

Strahlkraft auch über den Gegenstand hinaus. Es tönt seine Umgebung,<br />

wie Böhme es nennt. [647] Das Grün der Vase als ihre Eigenschaft aufzufassen,<br />

ihr Dasein als gegeben zu nehmen. Das Grünsein der Vase ist damit<br />

eine Weise anwesend zu sein.<br />

Diese Weise des aus sich Heraustretens bezeichnet Böhme als die<br />

Ekstase der Dinge [648] und definiert, Farben, Gerüche und ihre Tönung als<br />

Ekstase der Gegenstände. [649] In einer klassischen Dualität von Subjekt<br />

und Objekt sind die Ekstasen der Dinge als sekundäre Merkmale zu<br />

bezeichnen, denn sie entfalten ihre Wirkung erst in Bezug auf ein wahrnehmendes<br />

Subjekt und sind im Gegensatz zur Form in ihrer Materialität<br />

nicht raumgreifend. Volumen und Kubatur sind daher von Farben, Gerüchen<br />

und Tönungen als primäre Merkmale zu unterscheiden. Jedoch<br />

können auch solche primären Qualitäten als Ekstase gedacht werden.<br />

Böhme bemerkt in diesem Zusammenhang, dass Volumen durch<br />

Kubatur sowohl introvertiert und durch Umhüllung von der Außenwelt<br />

isoliert, oder als Teil eines größeren Volumens abgegrenzt werden<br />

können. [650] Damit nimmt Böhme hier, wie auch an anderer Stelle, [651] Bezug<br />

auf ein Zitat von Zumthor, das weiter oben bereits angeführt wurde.<br />

Dort benennt Zumthor mit dem Umhüllen und dem Abgrenzen die zwei<br />

grundsätzlichen Möglichkeiten Raum zu schaffen. [652] (Beide Weisen findet<br />

sich mit Spatium [I] und [II] auch in den oben definierten Raumbegriffen<br />

für Architekten wieder). Zusammenfassend und auch in Bezug auf die<br />

klassische Dingontologie bemerkt er daher:<br />

„Die Form eines Dinges wirkt aber auch nach außen.<br />

Sie strahlt gewissermaßen in die Umgebung hinein,<br />

nimmt dem Raum um das Ding seine Homogenität,<br />

erfüllt ihn mit Spannungen und Bewegungssuggestionen.<br />

Ebenso die Ausdehnung oder das Volumen<br />

eines Dinges. Es wurde in der klassischen Dingontologie<br />

als die Eigenschaft des Dinges gedacht, ein<br />

bestimmtes Raumstück einzunehmen, sozusagen<br />

zu okkupieren und dem Eindringen anderer Dinge<br />

in diesen Raum Widerstand entgegenzusetzen. Die<br />

Ausdehnung eines Dinges und sein Volumen sind<br />

[647] Vgl. ebd., 297.<br />

[648] Ekstase wird in diesem<br />

Zusammenhang nicht verstanden<br />

im Sinne einer alltagssprachlichen<br />

Verwendung als religiöse „Verzückung,<br />

Entrückung; rauschhafter,<br />

tranceartiger Zustand, in dem<br />

der Mensch der Kontrolle seines<br />

normalen Bewusstseins entzogen<br />

ist" (Duden-Online, o. J.: http://<br />

www.duden.de/rechtschreibung/<br />

Ekstase. Stand: 18.5.2017). Stattdessen<br />

wird die Ekstase der Dinge<br />

hier als eine Strahlkraft der Dinge<br />

verstanden die über die jeweilige<br />

Objektgrenze hinaus wirkt.<br />

[649] Vgl. ebd.<br />

[650] Vgl. ebd.<br />

[651] Böhme 2002, 415.<br />

[652] Zumthor 2010, 22.<br />

195


gewidmet sind, für Einsiedeleyen, für Urnen und<br />

Denkmäler, welche die Freundschaft abgeschiedenen<br />

Geistern heiligt.“ [668]<br />

Damit deutet sich schon bei Hirschfelder wie auch später bei Zumthor<br />

und Böhme die Tatsache an, dass nicht das Material an sich wirkt. Zwar<br />

führt er dies nicht explizit aus, schlägt aber dennoch räumliche Arrangements<br />

und Szenen vor, die den Menschen in solchen Szenarien ansprechen<br />

und Gefühlsqualitäten hervorbringen. Böhme spricht in diesem<br />

Zusammenhang von einer Anwesenheit der Dinge im Raum und deren<br />

Ekstase, die den Raum tönt. [669] Ekstase wiederum kann nur gespürt werden,<br />

durch ein im Raum befindliches Subjekt. Zumthor bringt dies mit<br />

der Aussage auf den Punkt, dass Materialien an sich nicht poetisch sind.<br />

Die Architektur betreffend wirft dies allerdings eine Frage auf: Wenn es<br />

nicht die Dinge sind, die im Raum wirken, was ist es dann?<br />

Wodurch wirkt Raum?<br />

In der architektonischen Praxis ist häufig von der Wirkung von Raum die<br />

Rede. Raum wirkt auf den Menschen. Aber wie? Die Antwort auf diese<br />

Frage bleibt die Architektenschaft nicht selten schuldig. Es besteht zwar<br />

ein gemeinsamer Konsens darüber, dass es räumliche Wirkung gibt. Wie<br />

diese erzeugt wird, bleibt jedoch in der Architektur in der Regel nicht<br />

ausformuliertes tactical knowledge. Ein Interesse an der Thematik unterstreicht<br />

Joerges in seiner Publikation Gebaute Umwelt und Verhalten,<br />

in der er darauf eingeht, dass seit den 1950er Jahren besonders „von<br />

Seiten verschiedener verhaltenswissenschaftlicher Disziplinen wie der<br />

Siedlungssoziologie, der Umweltpsychologie, der Sozialgeographie, der<br />

Sozialmedizin etc. in steigendem Maße Anstrengungen unternommen<br />

worden [sind], eine empirische Wissenschaft raumbezogenen Verhaltens<br />

zu entwickeln, auf die Architekten, Städtebauer und andere Berufe, die<br />

zentral mit der Organisation räumlich-baulicher Umwelt befaßt sind,<br />

zurückgreifen können.“ [670] In diesem Zusammenhang wird von Joerges<br />

auch Lipman angeführt, der die These der Beeinflussbarkeit des Sozialverhaltens<br />

ausschließlich durch gebaute Architektur vertritt:<br />

„Architectural social theory contends that the social<br />

behaviour of building users is influenced and even<br />

determined by the physical environment in which<br />

the behaviour occurs; in this context the belief<br />

system includes the concept that architects direct<br />

social behaviour patterns through their work.“ [671]<br />

[668] Ebd., 200 f.<br />

[669] Vgl. Böhme 1995, 32.<br />

[670] Joerges 1977, 11 f.<br />

[671] Lipman 1969, 190.<br />

Hier wird eine Gegenthese zu dem von Zumthor und Böhme eingenommenen<br />

Standpunkt vertreten, nach der Gebäude, Gegenstände und<br />

Materialität nicht alleinig wirken können. Einen Erklärungsansatz<br />

200


zur Begründung der Fragestellung: Was wirkt im Raum? bietet Bunges<br />

Gegenthese zum physikalische Determinismus. Darunter wird ein<br />

Wirkungszusammenhang zwischen mindestens zwei Elementen verstanden,<br />

wobei die Wirkbeziehung noch näher zu bestimmen ist. Schon bei<br />

Platon deutete sich eine Auseinandersetzung mit dem Begriff Ursache<br />

an. Jedoch ist es Aristoteles, der die schemenhaften Ideen Platons über<br />

die Verursachung spezifiziert. Dabei reicht nach Aristoteles eine Ursache<br />

nicht aus, um Wirkungen in Natur, Kunst oder Handwerk zu erzeugen.<br />

Vielmehr werden vier Ursachen benötigte: eine materiale, ein passives<br />

Etwas auf das eingewirkt wird, eine Formursache, die die Idee beisteuert<br />

und eine Kraft- oder Wirkursache. Von diesen vier sind die ersten zwei<br />

Ursachen des Seins, die anderen beiden Ursachen werden der Wirkung<br />

und damit einem Werden zugeordnet. Diese geistige Haltung galt in<br />

ihren Grundzügen bis in die Renaissance. In dieser Zeit findet eine Einschränkung<br />

der vier Arten von Ursachen auf lediglich eine, die Kraft als<br />

causa efficiens, statt. [672]<br />

Galilei sieht die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung als festen<br />

und konstanten Zusammenhang [673] und stellt heraus, „daß nur das und<br />

nichts anderes Ursache genannt wird, auf dessen Vorhandensein stets<br />

die Wirkung folgt, während nach ihrem Verschwinden auch die Wirkung<br />

aufhört“. [674] Bei Galielei handelt es sich um eine wechselseitige Abhängigkeit<br />

die ontologischer Natur ist und damit also den Dingen selbst<br />

zukommt. Nach Locke, Hume, Berkeley und Kant ist eine Verursachung<br />

in Form einer Ursache-Wirkungs-Beziehung jedoch ausschließlich unserer<br />

Erfahrung und unserer Kenntnis von Dingen geschuldet und ist damit<br />

keine Wirkung der Dinge selbst. Sie folgt also einem epistemischen<br />

Zugang. In diesem Sinne führt Locke aus:<br />

„Dasjenige, was eine einfache oder komplexe Idee<br />

erzeugt, bezeichnen wir mit dem allgemeinen<br />

Namen Ursache; das, was erzeugt wird, nennen wir<br />

Wirkung. So finden wir zum Beispiel, daß in der<br />

Substanz, die wir Wachs nennen, unter der Einwirkung<br />

eines bestimmten Wärmegrades regelmäßig<br />

Flüssigkeit erzeugt wird; eine einfache Idee also, die<br />

vorher nicht im Wachs vorhanden war; die einfache<br />

Idee der Wärme nennen wir hierbei in Relation zu<br />

der Flüssigkeit im Wachs deren Ursache; die Flüssigkeit<br />

selbst nennen wir die Wirkung.“ [675]<br />

Bunge dagegen merkt an: „Verursachung sei keine Kategorie von Beziehungen<br />

zwischen Ideen, sondern verweise auf Verknüpfungen (oder<br />

Determinationen) zwischen realen Sachverhalten der inneren und äußeren<br />

Welt“ [676] und favorisiert damit einen ontologischen Zutritt (im Sinne<br />

einer der ontologischen Grundfragen nach strukturellen Zusammenhängen,<br />

Relationen und Beziehungen). Obwohl die Begriffe Verursachung<br />

und Determination häufig synonym verwendet werden, dominiert beim<br />

Begriff Determination die Komponente der Bestimmung (determination),<br />

was mit „präzis oder genau umrissen“ [677] wird.<br />

[672] Bunge 1987, 35 f.<br />

[673] Vgl. ebd., 4, mit weiteren<br />

Nachweisen.<br />

[674] 36 f., mit weiteren Nachweisen.<br />

[675] Locke 2000, 404 f. (Hervorhebungen<br />

übernommen).<br />

[676] Bunge 1987, 6.<br />

[677] Ebd., 7.<br />

201


die aktuelle Tatsache, ist die Farbe in der Wahrnehmung.<br />

Sie ist nicht auf der Leinwand und nicht auf<br />

einzelnen Stellen zu lokalisieren, sondern gewissermaßen<br />

eine Wahrnehmung des Wahrnehmungsraumes,<br />

in den der Betrachter eintritt, wenn er sich auf<br />

das Bild einläßt.“ [735]<br />

Für die Architektur, die die leibliche Anwesenheit thematisiert, erwächst<br />

daraus ein Unterschied, der sie von der Bühnenbildnerei abhebt. Denn<br />

eine Architektur, die auf leibliche Erfahrung abzielt, erzeugt zunächst<br />

Wirklichkeit, kann aber in ihrer körperhaften Dimension gleichzeitig<br />

auch Realität bieten. Insofern sie weiterhin auch durch ihren körperlichen<br />

Widerstand erfahrbar bleibt und nicht als bloße Inszenierung ins<br />

Kulissenhafte verfällt, deren Schein beim Sprung in die Realität nicht<br />

nur zerfällt, sondern durch diese Kulissenhaftigkeit in ihrer Authentizität<br />

hinterfragt wird. [736]<br />

Denn wie auch Böhme thematisiert, richtet sich ein Bedürfnis leiblicher<br />

Anwesenheit nicht ausschließlich an die Wirklichkeit, sondern auch an<br />

die Realität. Am folgenden Beispiel wird dies plastisch vergegenwärtigt:<br />

„Ein Indiz dafür ist darin zu sehen, dass Touristen<br />

schon fast zwanghaft die Gebäude und Dinge,<br />

die sie besuchen, anfassen, beklopfen, bekratzen.<br />

Wirklich da zu sein, heißt eben auch, die Erfahrung<br />

des Widerstands der Dinge zu machen und — das<br />

mag vielleicht sogar noch wichtiger sein — die<br />

Erfahrung der eigenen Körperlichkeit in diesem<br />

Widerstand. Gebäude und <strong>Räume</strong> in der Realität<br />

sind nicht frei und mühelos verfügbar, man muss sie<br />

begehen, man muss um sie herum gehen, und das<br />

kostet Zeit und Mühe. Die darin liegende Erfahrung<br />

eigener Körperlichkeit ist, ebenso wie das Moment<br />

der Befindlichkeit, zentral für leibliche Anwesenheit.<br />

Man sieht daran, dass das Bedürfnis, die leibliche<br />

Anwesenheit zu spüren, zugleich das Bedürfnis ist,<br />

die eigene Lebendigkeit, die Vitalität zu spüren.“ [737]<br />

[735] Böhme 2001a, 57.<br />

[736] Vgl. Böhme 2006, 126.<br />

[737] Ebd., 126.<br />

Leib-orientierte Architektur ist keine Inszenierung von Architektur um<br />

ihrer selbst Willen, sondern die Inszenierung einer Erfahrung durch<br />

Architektur. Einer guten Architektur gelingt es, Wirklichkeit zu erzeugen<br />

und in ihrer körperhaften Dimension gleichzeitig auch eine Realität<br />

bereitzustellen. Darin liegt der entscheidende Unterschied zu einer Theaterinszenierung<br />

durch die Bühnenbildnerei, die von der bloßen Illusion<br />

getragen wird und sich nicht an einem Realitätsmaßstab messen lassen<br />

muss.<br />

218


Inszenierung durch Architektur<br />

Warum ist die Idee einer Inszenierung durch Architektur dennoch so<br />

reizvoll für die hier geführte Diskussion? Ausgehend von der Frage, wie<br />

Raum wirkt und in welcher Weise Raum das Verhalten der Menschen<br />

in ihm beeinflussen kann, ist deutlich geworden, dass die erste und<br />

unmittelbare Möglichkeit, Raum zu erleben, die affektive Betroffenheit<br />

ist. Jedoch wirken weder die Dinge selbst noch ihre Strahlkraft per se.<br />

Raum, in diesem Fall der Stimmungsraum, braucht immer auch ein in<br />

ihm verortetes Subjekt, an den er sich richten kann. Denn erst in der<br />

Wechselwirkung zwischen Mensch und Raum kann diese räumliche Stimmung,<br />

die Atmosphäre, erlebt werden.<br />

Räumliches Erleben ist jedoch selbst im Wahrnehmungsraum keine<br />

Momentaufnahme, sondern immer prozesshaft. Sowohl die ausführliche<br />

Behandlung des Raumes leiblicher Anwesenheit mit Ströker, Kruse und<br />

Böhme als auch der Exkurs zu Bunges Antithese zum physikalischen<br />

Determinismus kommen ebenfalls zu diesem Ergebnis. Fromm schlussfolgert<br />

ähnlich, nähert sich der Thematik jedoch von der Subjektseite:<br />

„Einer der Schlüsselbegriffe des leiblichen Wahrnehmens<br />

ist die Situation. Grundsätzlich lässt sich<br />

sagen, alle räumliche Wahrnehmungsqualitäten,<br />

haben einen Situationsaspekt. Noch allgemeiner<br />

formuliert: Der Mensch befindet sich immer in<br />

irgendeiner Art Situation. So, wie wir uns ein Leben<br />

ohne Raum nicht vorstellen können, gibt es das<br />

situationslose Leben nicht.“ [738]<br />

Folglich muss eine Architektur, die sich an den Menschen richtet, eine<br />

situationsbezogene sein. Denn Architektur schafft ohnehin räumliche<br />

Konfigurationen, um es mit den Worten Barkers auszudrücken, Settings.<br />

Die Umweltpsychologen sprechen von Umwelten, die den Hintergrund<br />

bilden, vor dem sich alltägliches Leben abspielt.<br />

Architektur inszeniert in vielen Fällen sowieso, entscheidend ist jedoch,<br />

ob sie das Gebäude inszeniert und damit weiterhin einer Beurteilungsästhetik<br />

anhängt oder ob sie den Raum im Sinne einer neuen Ästhetik<br />

nach Böhme inszeniert. In diesem neuen Verständnis muss Architektur<br />

Ereignisse und Sequenzen schaffen, wenn sie den Menschen im Raum<br />

zum zentralen Thema machen will. Denn Raum erfahren, geht mit Bewegung<br />

einher, wie Derrida feststellt:<br />

„Wie sein Name es anzeigt fährt die Erfahrung<br />

umher: Reise, Wegstrecke, Übersetzung, Übertragung.<br />

Nicht hinsichtlich einer letztendlichen<br />

Darstellung, einer Vergegenwärtigung der Sache<br />

selbst, noch um eine Odyssee des Bewußtseins zu<br />

vollenden, die Phänomenologie des Geistes als<br />

architekturaler Gang.“ [739]<br />

[738] Fromm 2012, 212.<br />

[739] Derrida 1994, 224.<br />

219


FAZIT<br />

Zusammenfassend lassen sich aus der vorliegenden Arbeit folgende<br />

Erkenntnisse gewinnen. Nach einer Betrachtung der Notwendigkeit<br />

von Begriffen für den architektonischen Diskurs stellte sich heraus, dass<br />

gerade der Kernbegriff Raum in Bezug auf die architektonische Praxis<br />

in vielerlei Hinsicht nicht klar definiert ist. Darüber hinaus scheitert eine<br />

wissenschaftliche Auseinandersetzung häufig daran, dass die Beteiligten<br />

unwissentlich mit unterschiedlichen Raumbegriffen argumentieren.<br />

Hierdurch wird eine Verständigung nahezu unmöglich. Um einen Beitrag<br />

zu einer transparenteren Entwurfspraxis von Raum in der Architektur<br />

zu leisten und der großen Anzahl individueller Theorien entgegenzuwirken,<br />

wurde eine Entwerfer-unabhängige Auseinandersetzung mit<br />

dem Entstehungsprozess von Raum in der architektonischen Praxis<br />

vorgenommen. Als Reaktion auf diese Problematik wurden auf Basis von<br />

Böhmes Raum als Darstellungsmedium sechs Raumbegriffe vorgeschlagen:<br />

Ein topologisch basierter Raumbegriff, der es ermöglicht, Sachdimensionen<br />

im Entwurfsprozess zu thematisieren, vier spatiumbasierte<br />

Raumbegriffe, die den Fokus jeweils auf umfassende, abgrenzende und<br />

öffnende Raumkonfigurationenn bzw. auf die absoluten Größen legen<br />

sowie ein weiterer Begriff, der es erlaubt, die Merkmale topos- und spatiumbasierter<br />

Raumkonfigurationen zu überlagern und es so ermöglicht<br />

Raumverhältnis und Sachdimensionen in einem Raumkonzept darzustellen.<br />

Die behandelten Raumbegriffe nehmen Bezug auf die architektonische<br />

Praxis und setzen anhand der Arbeitsschritte im Entwurfsprozess<br />

verschiedene problemorientierte Akzentuierungen. Hierdurch kann<br />

der theoretische Diskurs über den Raum innerhalb des entwerferischen<br />

Arbeitsfeldes in Zukunft erleichtert werden. Zwar ist die Gestaltung von<br />

Form Kernelement <strong>architektonischer</strong> Praxis, nicht selten tritt die Interaktion<br />

der Menschen mit Raum jedoch in den Hintergrund, obwohl diese<br />

maßgeblich zum räumlichen Erlebnisprozess beiträgt. Der Aspekt der<br />

Beeinflussung räumlichen Verhaltens durch Architektur bedarf daher<br />

einer Blickwinkelerweiterung in Richtung eines raumerfahrenden Subjekts.<br />

Die in Teil I erarbeiteten Raumbegriffe wurden daher durch drei<br />

weitere, auf den Menschen im Raum fokussierende, Raumbegriffe erweitert.<br />

Auf der Basis des Raumes leiblicher Anwesenheit wurde der Raum<br />

des erlebenden Subjekts als leiblicher Raum in drei relevante Raumarten<br />

unterteilt: den Handlungsraum, den Wahrnehmungsraum und den<br />

Stimmungsraum. Mit den drei Arten von leiblicher Anwesenheit wird<br />

die bisherige Betrachtungsweise von Raum als Darstellungsmedium<br />

erweitert. Es zeigt sich, dass beide Raumkonzepte — sowohl der Raum<br />

als Darstellungsmedium als auch der Raum leiblicher Anwesenheit — für<br />

eine Auseinandersetzung mit der Thematik von Architektur und Verhalten<br />

relevant sind. Folglich müssen beide Komponenten und Sichtweisen<br />

auf den Raum im architektonischen Entwurf zusammengeführt werden.<br />

Da die Architektur menschliches Verhalten häufig nur in Form von<br />

Raumfolgen und in Bezug auf menschliche Abmessungen in den Raum<br />

227


AUSBLICK<br />

Die vorliegende Arbeit hat sich mit der Thematik räumlicher <strong>Wirkungsweise</strong>n<br />

und deren Erzeugung in der architektonischen Praxis auseinandergesetzt.<br />

Frei nach Lewins Motto „Nichts ist so praktisch wie eine<br />

gute Theorie“ wurde auf der Basis einer theoretischen Auseinandersetzung<br />

ein Entwurfsschema für die architektonische Praxis entworfen.<br />

Der Anspruch folglich kein empirischer. Dennoch lässt sich das Feld<br />

auf unterschiedliche Art und Weise bearbeiten, wobei natürlich auch<br />

eine empirische Annäherung denkbar ist. Die zu untersuchende Thematik<br />

erwies sich allerdings als zu komplex, da zu viele unterschiedliche<br />

Parameter an der Erzeugung atmosphärischer Situationen beteiligt sind.<br />

Eine empirische Auseinandersetzung mit gezielt gewählten, einzelnen<br />

Parametern räumlicher Arrangements bleibt daher für die Zukunft<br />

wünschenswert und auch für die architektonische Praxis von Interesse.<br />

Der stattdessen hier gewählte und auf einer theoretischen Betrachtung<br />

basierende Zugang soll exemplarisch zeigen, dass eine theoretische<br />

Auseinandersetzung in der architektonischen Praxis auf mehreren<br />

Ebenen sinnvoll und wünschenswert sein kann. Auf diese Weise können<br />

durch die Definition von Begrifflichkeiten Missverständnisse vermieden<br />

werden, wie am Wort Raum und dessen unterschiedlichen Begriffsdefinitionen<br />

im ersten Kapitel gezeigt werden konnte. Eine aufschlussreiche<br />

Arbeit legte in diesem Zusammenhang auch Drasdo vor, die in ihrer<br />

Arbeit Der Mensch im Raum — Über verschiedene Verständnisse von<br />

Raum in Planung und Sozialwissenschaften und theoretische Ansätze zu<br />

Mensch-Raum-Beziehungen eine ausführliche Betrachtung der für räumliche<br />

Planung relevanten Raumbegriffe vornimmt und diese vor dem<br />

Hintergrund der Disziplin definiert. Drasdo schafft damit einen Überblick<br />

über Raumtheorien, der einen Einstieg in die Thematik erleichtert und<br />

die Suche nach einem theoretischen Gerüst vereinfacht.<br />

Eine auf theoretischen Überlegungen fußende, also wissensbasierte<br />

entwerferische Praxis bietet darüber hinaus die Möglichkeit, unbewusste<br />

atmosphärische Wirkungen in der architektonischen Praxis zu verhindern<br />

und durch gezielte Setzung <strong>architektonischer</strong> Möglichkeiten, Wirkungen<br />

in entworfenen Situationen gezielt hervorzubringen. Mit der vorgestellten<br />

Methode des räumlichen Narrativs kann der Entwurf präzisiert und<br />

seine Wirkung bewusst gestaltet werden. (Böse Überraschungen nach<br />

Fertigstellung können auf diese Weise vermindert werden.)<br />

Diese Herangehensweise bedarf neben der Offenheit gegenüber neuen<br />

Entwurfstechniken auch einer gewissen Aufgeschlossenheit gegenüber<br />

der interdisziplinären Zusammenarbeit mit verwandten Disziplinen.<br />

Sowohl theatertheoretische und theaterpraktische Überlegungen als<br />

auch die Erkenntnisse aus der Architekturpsychologie erwiesen sich vor<br />

dem Hintergrund dieser Arbeit als praktische Brückenbauer, um sich<br />

230


der Frage der <strong>Wirkungsweise</strong> <strong>architektonischer</strong> <strong>Räume</strong> zu nähern. So<br />

brachte die Auseinandersetzung mit dem aus den Theaterwissenschaften<br />

entliehenen Inszenierungsbegriff spannende Erkenntnisse, die auch<br />

für die entwerferische Praxis von Bedeutung sind. Der in der architektonischen<br />

Praxis eher kritisch betrachtete Begriff der Inszenierung konnte<br />

vor diesem Hintergrund breiter verstanden werden und lässt sich daher<br />

im erweiterten Sinne als Inszenierung von Wirkung und nicht mehr als<br />

Inszenierung von Architektur um ihrer selbst willen begreifen.<br />

Auch die Architekturpsychologie bot ihrerseits Hilfestellungen und<br />

Wege sich mit der Thematik auseinanderzusetzen. Gerade in Bezug<br />

auf die enge thematische Verbindung beider Felder erscheint es fast<br />

verwunderlich, dass Untersuchungsergebnisse von der jeweils anderen<br />

Disziplin eher selten zur Kenntnis genommen werden. Befassen sich<br />

doch beide Disziplinen, wenn auch aus unterschiedlichen Perspektiven,<br />

mit der architektonisch gestalteten Umwelt.<br />

Für die Ausbildung kann eine Öffnung der architektonischen Haltung<br />

gegenüber anderen Disziplinen ebenfalls von großem Mehrwert sein.<br />

Eine Auseinandersetzung mit anderen Zugängen und Sichtweisen<br />

erlebte die Verfasserin im Rahmen dieser Arbeit als im hohem Maße<br />

bereichernd. Zum einen halfen solche Zugänge vor dem Hintergrund<br />

dieser Arbeit Prozesse besser nachzuvollziehen. Zum anderen konnte<br />

durch die kritische Hinterfragung von teils eingefahrenen und intransparent<br />

gehaltenen Entwurfsmustern ein Entwurfsschema entwickelt<br />

werden, das es erlaubt, die hier ausführlich beschriebene Problematik<br />

zu berücksichtigen und zu überwinden. Denn wenn der erlebende<br />

Mensch als Adressat bereits im Entwurfsstadium in die Überlegungen<br />

einbezogen wird, erwächst daraus die Möglichkeit, Architektur zu produzieren,<br />

die den Menschen als maßgebliches Element in der Situation<br />

berücksichtigt.<br />

Für die Vermittlung <strong>architektonischer</strong> Praxis sind beide aufgeführten<br />

Punkte von Bedeutung. Erstens wird durch eine transparentere architektonische<br />

Praxis die Gestaltungslehre insofern vereinfacht, als das es<br />

leichter nachzuvollziehen ist, warum konkrete Schritte im Entwurfsstadium<br />

vorgenommen werden und welche Konsequenzen diese haben.<br />

Zweitens trägt eine Bezugnahme auf den Menschen bereits im Entwurfsstadium<br />

zu einer Sensibilisierung der Architektenschaft im Hinblick auf<br />

die späteren Nutzer bei. Somit kann es gelingen, sich von einer objektfokussierten,<br />

entwerferischen Praxis zu lösen. Letztlich kann das hier für<br />

die architektonische Praxis aufbereitete Wissen über die Erzeugung von<br />

Atmosphären und das Entwerfen räumlicher Situationen mithilfe des<br />

räumlichen Narrativs den Entwurf und dessen Vermittlung in der Lehre<br />

erleichtern. Denn zunächst wird so von einer szenischen Zielsetzung<br />

ausgegangen, die mit architektonischen Parametern in der Folge bestmöglich<br />

umgesetzt wird. Diese Strukturierung kann gerade für Neulinge,<br />

die nicht auf einen breiten Erfahrungsschatz zurückgreifen können, eine<br />

Hilfestellung geben.<br />

231

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