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Reinhard Roy: Fragmente 1 Leseprobe

Reinhard Roy gewährt mit der Buchreihe „Fragmente“ eine Sicht auf sein Leben. In diesem Band berichtet er über die Zeit unter dem kommunistischen Regime und den Neubeginn im Westteil Deutschlands. Roy lässt den Leser sowohl an seinen Erlebnissen teilhaben wie an Reflexionen über das Leben im Allgemeinen – ein ganz persönliches, ein sehr politisches Dokument und zugleich auch ein Blick auf die Entwicklung seiner künstlerischen Arbeit. „Sein ganzes Leben hindurch hat Reinhard Roy konsequent seine politischen Prinzipien vertreten – oft so, dass er deshalb Schikanen der Mächtigen ausgesetzt war, nicht aber den Glauben an eine Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse verlor. Das ist bis heute so geblieben. Es hat die Despoten in ihrem damaligen Herrschaftsbereich in Unruhe versetzt und gefällt auch jetzt so manchen nicht. Seine Sicht auf die Vielschichtigkeit der Geschichte, vor allem auf die der deutschen, findet daher nicht immer ein ungeteiltes Echo”. (H.K.) Roy, geboren 1948 in Klitten, ist als Grafiker, Bildhauer und Maler ein Vertreter der Konkreten Kunst. Mit seinen Werken ist er in zahlreichen Museen, privaten und institutionellen Sammlungen des In- und Auslands vertreten. Seit vielen Jahren schon widmet er sich zudem der Lyrik, die insbesondere durch die Auseinandersetzung mit großen Themen des literarischen Expressionismus, mit Mystik, Rausch, Lust und Tod geprägt ist.

Reinhard Roy gewährt mit der Buchreihe „Fragmente“ eine Sicht auf sein Leben. In diesem Band berichtet er über die Zeit unter dem kommunistischen Regime und den Neubeginn im Westteil Deutschlands. Roy lässt den Leser sowohl an seinen Erlebnissen teilhaben wie an Reflexionen über das Leben im Allgemeinen – ein ganz persönliches, ein sehr politisches Dokument und zugleich auch ein Blick auf die Entwicklung seiner künstlerischen Arbeit.

„Sein ganzes Leben hindurch hat Reinhard Roy konsequent seine politischen Prinzipien vertreten – oft so, dass er deshalb Schikanen der Mächtigen ausgesetzt war, nicht aber den Glauben an eine Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse verlor. Das ist bis heute so geblieben. Es hat die Despoten in ihrem damaligen Herrschaftsbereich in Unruhe versetzt und gefällt auch jetzt so manchen nicht. Seine Sicht auf die Vielschichtigkeit der Geschichte, vor allem auf die der deutschen, findet daher nicht immer ein ungeteiltes Echo”. (H.K.)

Roy, geboren 1948 in Klitten, ist als Grafiker, Bildhauer und Maler ein Vertreter der Konkreten Kunst. Mit seinen Werken ist er in zahlreichen Museen, privaten und institutionellen Sammlungen des In- und Auslands vertreten. Seit vielen Jahren schon widmet er sich zudem der Lyrik, die insbesondere durch die Auseinandersetzung mit großen Themen des literarischen Expressionismus, mit Mystik, Rausch, Lust und Tod geprägt ist.

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einhard roy<br />

fragmente 1<br />

tagebuchauszüge · schriften · dokumente · kunst · 1970 – 1990


einhard roy · fragmente 1<br />

tagebuchauszüge · schriften · dokumente · kunst · 1970 – 1990<br />

„Freiheit“<br />

1980, Materialbild mit Stacheldraht, 160 x 140 cm


4<br />

Nichts ist schwerer<br />

und erfordert mehr Charakter,<br />

als sich im offenen Gegensatz<br />

zu seiner Zeit zu befinden<br />

und laut zu sagen: Nein!<br />

Kurt Tucholsky


5


6<br />

Prolog<br />

Seit Jahren schon trage ich mich mit dem Gedanken,<br />

eine Auswahl meiner Tagebuchaufzeichnungen, Verse<br />

und Skizzen in Büchern zusammen zu fassen.<br />

Nach Reiseskizzen und Poesie stelle ich jetzt Auszüge der<br />

Tagebücher vor, denen ich jeweils aktuelle und Zeit reflektierende<br />

Betrachtungen anfüge. Ich beginne mit den<br />

Aufzeichnungen aus der Zeit des Wechsels von Ost nach<br />

West, aus dem vom Sowjetkommunismus beherrschten,<br />

in den freien Teil der Welt. Der nebenstehende Vers<br />

aus dem Jahre 1973, den ich noch in meiner Studentenzeit<br />

geschrieben habe, kennzeichnet einen gesellschaftlichen<br />

Zustand, den man sich auch in der Ära des<br />

Nationalsozialismus vorstellen kann. Es war aber die auf<br />

wenige Zeilen komprimierte Analyse meines stalinistisch<br />

geprägten Umfeldes.<br />

Meine ursprüngliche Absicht war es vor allem, anhand<br />

der Niederschriften und Notizen mein Leben im ehemals<br />

kommunistischen Teil Deutschlands dem im Westteil des<br />

Landes gegenüber zu stellen, und den Wert persönlicher<br />

und gesellschaftlicher Freiheit im Blick auf die staatlichen<br />

Unterschiede deutlich zu machen. Die Beschreibungen<br />

wurden also zu einem Buch, das frühere und<br />

heutige Sichten auf das jeweilige Geschehen zusammenbringt.<br />

Eine Auflistung all der Umstände, die das<br />

Leben im realen Sozialismus beeinträchtigt haben, ist in<br />

umfangreicher Form nicht mehr nötig, wenn auch diese<br />

inzwischen oft anders gedeutet werden, als ich sie beurteile.<br />

Doch meine zuweilen recht privaten Niederschriften<br />

werden bei vielen Erinnerungen wecken können.<br />

Vielen erging es ja ähnlich. Ich bin kein Anhänger von<br />

Religionen, schon gar kein Befürworter der aktuellen<br />

Weltpolitik. Das wird immer deutlich sein. Hinzu kommt,<br />

dass nicht das philosophisch untermauerte Gerüst eines<br />

sozialen Gedankenguts, sondern dessen linksradikale<br />

Umsetzung für immer als Abscheu erregend in mein<br />

Denken eingebrannt bleiben wird. Die Inhalte dieser Abhandlung<br />

zielen auf eine Klärung geschichtlicher Aspekte<br />

und meine Haltung dazu, die sich auch im Laufe<br />

der Jahre kaum geändert hat. Sie sollen auch kein Rachefeldzug<br />

gegen einzelne, darin erwähnte Personen<br />

sein, sondern sie sind eher eine individuelle Auseinandersetzung<br />

mit den politischen, religionsbezogenen, kulturrelevanten,<br />

geschichtlichen und privaten Belangen,<br />

die dieses erste Buch aus meiner Sicht zu einem ganz<br />

persönlichen Bekenntnis machen. Es ist ein Bekenntnis<br />

zur Demokratie, wenn es auch letztendlich auf die Überzeugung<br />

hinausläuft, dass es diese in der gewünschten<br />

Form niemals geben konnte, nicht geben wird, und dass<br />

man als kritischer Mensch mit kaum einer Gesellschaftsordnung<br />

zurecht kommt. Denn auch die Demokratie erweist<br />

sich längst als Illusion. Es gab und gibt kein<br />

,regierendes Staatsvolk‘ und schon gar nicht Regierungen,<br />

die von der Gesamtheit des Volkes legitimiert sind.<br />

Das Leben ist auch in dieser sogenannten Demokratie<br />

nicht so, wie es hätte sein können. Man ist immer dazu<br />

aufgerufen, das Wenige, das sich erhalten hat, die Rudimente<br />

einer scheinbaren Demokratie zu bewahren. Es<br />

dämmert jedem, der die Tagespolitik verfolgt, dass das<br />

bereits immer mehr behindert wird und den kritischen<br />

Stimmen kaum noch Luft zum Atmen bleibt. Wir bewegen<br />

uns wieder auf dem Wege zu einer Meinungsdiktatur.<br />

Diesem Prozess muss man sich mit aller Kraft<br />

entgegenstellen. Ich versuche es immer wieder auf<br />

meine Weise. Nicht nur Dokumente und Niederschriften


7<br />

hatte ich zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zur Verfügung, die mir nun eine ganz persönliche<br />

Übersicht ermöglichen. Ich führte auch unzählige Gespräche mit Menschen, die ähnliche,<br />

aber auch recht unterschiedliche Erfahrungen mit dem geschichtlichen Unrecht zu verarbeiten hatten<br />

– allen voran mit meiner, mich immer zu entscheidenen Schritten inspirierenden Frau, mit meinen<br />

politisch weitsichtigen Eltern, meinem Bruder, meinen Freunden Felix Heinz Holtschke, Hans<br />

Jegodtka oder Wolfgang Ritter, der mir in vielerlei Hinsicht immer ein guter Ratgeber war, und nicht<br />

zuletzt mit Horst Köhler, den ich die vielen Jahre hinweg als über mir wirkenden Schutz empfand.<br />

Den Optimismus, den er mir immer wieder bescheinigte, hatte ich allerdings oft nicht. Besonders<br />

als Beobachter der Entwicklung kamen und kommen mir, wie zuvor erwähnt, oft Zweifel, ob es die<br />

im Grundgesetz festgeschriebene Demokratie überhaupt noch gibt. Halten wir sie inzwischen nur<br />

noch am letzten Zipfel fest? Immer wieder tauchen diese Fragen in meinem sehr spektralen Umfeld<br />

auf, das sich einer der Wahrheit dienenden radikalen Form bedient, oder bereits wieder zum vorsichtigen<br />

Taktieren neigt.<br />

Cui bono<br />

Der Atem<br />

riecht verfault.<br />

Trotzdem<br />

wird der Mund<br />

weit aufgerissen.<br />

Doch wer<br />

dagegen mault,<br />

den werden<br />

die Hunde<br />

anpissen.<br />

Dieses Erinnerungsbuch widme ich den eben genannten Personen und meinem Sohn, der seinen<br />

Weg mit klaren Sichten beschreitet, stellvertretend für viele andere, die ich heute noch aus Dankbarkeit<br />

in meine Arme schließen würde. Sie alle sind patriotisch denkende Menschen, darüber hinaus<br />

sozial und europäisch orientiert.<br />

Die Notizen habe ich weitestgehend so belassen wie sie sind, zusammengefasst oder mit Ergänzungen<br />

versehen. Vieles wird zum Teil heute widersprüchlich erscheinen, wenn es aus politischer<br />

Sicht bewertet wird. Manches in Bezug auf mein damaliges Umfeld kann als zu sarkastisch, anderes<br />

als humoristisch überzogen empfunden werden. Die Freunde werden es vertragen. Ich erspare auch<br />

niemandem den Fokus auf ganz private Konflikte, denn die Inhalte meines persönlichen Empfindens,<br />

Denkens und Handelns wollte ich nicht herausgefiltert oder verschleiert sehen. So sind viele<br />

der Aufzeichnungen – auch die in den, diesem Buch folgenden „<strong>Fragmente</strong>n“ – mehr als nur Reiseberichte.<br />

Es sind die vielfarbigen Episoden eigenen Erlebens, verfärbt meist nur vom politischen<br />

Alltag, der es inzwischen geschafft hat, mein einst so hochgelobtes Bild des freien Deutschland in<br />

eine recht betrübliche Abbildung zu wandeln. Meine Gedanken über historische Aspekte gehören<br />

dazu, insbesondere die zu den Verzerrungen der jüngeren deutschen Geschichte. Einigen wird das<br />

nicht gefallen und das soll auch so sein. Beispielsweise den vielen der sogenannten ,Gutmenschen‘<br />

im Lande, die mir – ihrem Blickwinkel entsprechend – selbstverständlich politische Einlastigkeit attestieren<br />

werden, nur weil ich einige der ungelösten nationalen, das heißt, deutschen Probleme,


8<br />

anspreche. Sollte ich sie etwa damit beruhigen, dass ich<br />

eine Prüfung an einer Kunstakademie nicht mehr zu bestehen<br />

habe und von geistigen Einbahnstraßen in Religion<br />

und Politik nichts halte? So in etwa die Worte<br />

meines im Westen Deutschlands dazu gewonnenen<br />

Freundes Jürgen Raitz von Frentz 1 , der nach einem Erstentwurf<br />

des Prologs, sogleich von einer bevorstehenden<br />

Kollision mit dieser Kategorie Mensch sprach, die für<br />

sich in Anspruch nimmt, alleiniger Vertreter von Gerechtigkeit<br />

zu sein. Ich bin wahrlich kein Psychologe und<br />

auch keiner, der Hände zur Heilung von gesellschaftlich<br />

verursachten Defiziten und Horizontverschiebungen auflegt.<br />

Allerdings bin ich durch einen Teil der Geschichte<br />

nicht mit geschlossenen Augen gegangen, habe mich oft<br />

genug mit Steinen bewerfen lassen, meine Erfahrungen<br />

gemacht, und vielfach auch beweisen müssen, dass ich<br />

einer Auseinandersetzung mit Vernunftspächtern nicht<br />

aus dem Wege gehe. Ich verabreiche bittere Pillen der<br />

Erkenntnis, wohl wissend, dass sie nicht jedem dazu<br />

verhelfen werden. Diese Herausforderung macht allerdings<br />

müde, versucht diese Kategorie Mensch doch unentwegt,<br />

andere in ihre Denknetze einzufangen. So kann<br />

ich mich glücklich schätzen, zu den Wenigen zu zählen,<br />

die nicht alles wissen. „Wissen, was man weiß, und wissen,<br />

was man nicht weiß, das ist wahres Wissen”, befand<br />

Konfuzius 2 bereits in grauer Vorzeit. Es war ebenso nicht<br />

meine Intension gewesen, etwas so zu notieren, dass es<br />

sich später als politisch Zeit reflektierend hätte erweisen<br />

sollen. Heute bin ich jedoch froh darüber, dass vieles so<br />

gesehen werden kann, denn ein Wind des Vergessens<br />

und naiver Toleranz fegt erneut durch unser Land.<br />

In den Büchern der <strong>Fragmente</strong>-Reihe berichte ich vor<br />

allem über viele Reiseziele außerhalb Deutschlands und<br />

die damit im Zusammenhang stehenden Ausstellungen,<br />

die Besuche in Museen, die zu wichtigen privaten und<br />

beruflichen Begegnungen führten, allerdings im Kontext<br />

nicht immer den gebührenden Platz erhalten konnten.<br />

Atelier · Peterstraße 17 · Görlitz 1981<br />

Foto: Siegfried Hanke<br />

¹ Jürgen Raitz von Frentz: 1941–2010, Maler und Grafiker<br />

2<br />

Konfuzius: ca. 551–479 v. Chr., Kǒng Fūzǐ, K'ung-fu-tzu ‚Lehrmeister Kong‘,<br />

chinesischer Philosoph zur Zeit der Östlichen Zhou-Dynastie


9<br />

Eingefügte Beispiele des früheren künstlerischen Schaffens<br />

veranschaulichen mein Arbeitsspektrum. Diese<br />

Bildbeiträge verweisen neben der Entwicklung des<br />

Werks vor allem darauf, dass ich mich nach dem Studium<br />

noch auf der Suche eines für mich geeigneten<br />

Weges in der Kunst befand. Ob es nun das Experiment<br />

und die zeichnerische Erforschung der Proportion, das<br />

Materialbild, die Glasplastik oder die Holzbildhauerei<br />

waren, alle diese Genres erforderten ihre Zeit und wurden<br />

zu wichtigen und prägenden Beschäftigungen. Fotografien<br />

aus den Jahren vor der Übersiedlung in den<br />

damals freien Teil Deutschlands zeigen heute klarer denn<br />

je die Parallelwelt zur Wirklichkeit des rotgefärbten Alltags.<br />

Sie machen die anders gelebte Zeit sichtbar, und<br />

sind mir willkommene Belege dafür, dass man stets<br />

dabei war, eine sich bietende Ablenkung zu nutzen, aus<br />

dem verordneten Trott auszubrechen – oft zum Entsetzen<br />

der Obrigkeit und des abgeduckten Spießertums –<br />

immer umgeben jedoch von den Spitzeln eines alle und<br />

alles überwachenden Netzwerks. Zudem habe ich viele<br />

Akten des Staatssicherheitsdienstes chronologisch untergebracht.<br />

Sie betreffen nicht nur mich allein, sondern<br />

vor allem auch viele meiner damaligen Freunde, von<br />

denen nicht wenige zu bereitwilligen Tätern wurden.<br />

Diese historischen Beweise dokumentieren den Zeitraum<br />

von 1978 bis 1989 und würden wohl noch lange<br />

eine Fortsetzung gefunden haben, hätte der dem Nationalsozialismus<br />

folgende Unrechtsstaat nicht seinen Ausstieg<br />

aus unserer weiteren Geschichte genommen. Wie<br />

für viele andere auch, die von Ost nach West gekommen<br />

sind, hat es eine ganze Zeit gedauert, sich aus politisch<br />

verursachten inneren Klammern zu befreien. Trotz der<br />

gewonnen Freiheit waren die Lasten enorm, auch wenn<br />

man sich darüber nicht immer bewusst war. Das Damoklesschwert<br />

dieser verruchten Gesellschaft fühlte man<br />

noch lange bedrohlich über sich. Dass ich dieses, vor<br />

allem aus geistigen Wunden blutende Land nicht mehr<br />

betreten würde, war damals für mich eine unumstößliche<br />

Absicht. Und dass die Geschichte es anders gewollt<br />

hat, habe auch ich den Menschen in Mitteldeutschland<br />

zu danken. Ich kann heute Blicke hinter die Kulissen des<br />

Unrechts werfen, auf die Zustände, die einem das Leben<br />

diktiert hat – vieles wieder aus dem Dunkel hervorholen.<br />

Vor der Ruine der Destille am Nikolaigraben · Görlitz 1980<br />

inmitten der historischen Altstadt<br />

Foto: Peter Mitsching


10<br />

Der Rückblick in die Jahre des deutschen Realsozialismus<br />

könnte hilfreich sein, den Wert von Demokratie<br />

deutlich zu machen. So meine ersten Vorstellungen.<br />

Diese Epoche, die bis in das Jahr 1990 währte und noch<br />

heute wie ein Schatten auf dem zusammenwachsenden<br />

Deutschland liegt, hat auch mich, mehr als es recht sein<br />

kann, beeinflusst. Erst danach, so vermute ich nach heutigem<br />

Wissensstand, begann für mich ein immerhin von<br />

politischen, wenn auch nicht von staatlichen Belästigungen<br />

befreites Leben. Meine Bildwerke, die aus einer historisch<br />

verursachten Finsternis heraustreten konnten<br />

und sich für das farbige Licht eines freien konstruktiven<br />

Denkens geöffnet haben, sind ein starkes Indiz dafür. Ich<br />

versuche im vorliegenden Buch also nicht, die Zustände<br />

in der DDR zu analysieren – das ist wissenschaftlich bereits<br />

ausführlich vorgenommen worden, wenn auch, wie<br />

bereits erwähnt, ohne gebührende Beachtung und vor<br />

allem, ohne die richtigen Lehren daraus zu ziehen. Mag<br />

es dennoch hin und wieder so erscheinen, ist es als Fingerzeig<br />

dem Zusammenhang meiner Niederschriften<br />

geschuldet. Erinnerungen daran sind gerade heute wieder<br />

notwendig, weil bereits die nachfolgende Generation<br />

in beschämender Unaufgeklärtheit gehalten wird.<br />

So lernt man nicht aus der Geschichte. Die Folgen sind<br />

deutlich genug: Die Rechtslastigkeit trauert einem nationalistischen<br />

Sozialismus nach, die Linksverblendeten<br />

beweinen den Zusammenbruch der DDR. Ich werde die<br />

Finger also besser in die eigenen Wunden legen, welche<br />

mir und meinen Freunden das Leben aufgrund gesellschaftlicher<br />

Verwerfungen schlug, kann heute die Willkür<br />

ins Licht setzen, der jener Personenkreis ausgesetzt war.<br />

Ob jedoch die Beschreibungen zu einem Beitrag gegen<br />

das überall grassierende Vergessen werden können, sei<br />

dahingestellt. Ich versuche es, bevor die um sich greifende<br />

nostalgische Verklärung – die schon dabei ist, die<br />

Täter zu Opfern zu machen – ins Uferlose treibt, und ich<br />

muss mich beeilen, ehe vielleicht die Altersmilde auch<br />

nach mir greift, denn „Nichts vergoldet die Vergangenheit<br />

so sehr wie ein schlechtes Gedächtnis“, wie es einst<br />

der amerikanische Schriftsteller John Steinbeck wohl zu<br />

Recht feststellte. Einige der privaten Aufzeichnungen<br />

sind leider infolge früherer ,heimlicher Besuche‘ abhanden<br />

gekommen; wichtige Dokumente aber aufgrund der<br />

akribischen Vervielfältigungssucht des Staatsicherheitsdienstes<br />

erhalten geblieben, die mir jetzt eine Rekonstruktion<br />

des Geschehens erleichtert haben.<br />

Ein Abschnitt meines Lebens ist daher – wie aus einer,<br />

für die Ewigkeit gedachten Versenkung – in die Gegenwart<br />

zurückgekehrt. Daran kann ich auch andere Betroffene<br />

teilhaben lassen und vielleicht auch zum<br />

Nachdenken verhelfen, denn auch sie werden in den<br />

Spiegel ihrer Geschichte blicken können. Einige haben<br />

nun – wenn auch unbestellt – die vertuschte Ergänzung<br />

ihrer Biografie zur Verfügung. Es würde hoffnungsvoll<br />

stimmen, wenn auch diese Leute nun daran arbeiten<br />

würden, unseren Kindern und Kindeskindern ähnliche<br />

Erfahrungen zu ersparen. Die meisten aber üben sich im<br />

Verdrängen ihrer Vergangenheit und genießen ihre üppigen<br />

Renten – vom kleinen in die Privatsphäre Schnüffelnden<br />

bis hin zur hohen Stasigeneralität. Jetzt, über<br />

dreißig Jahre nach den Ereignissen, ist mir bei der<br />

Durchsicht aller Aufzeichnungen und Dokumente noch<br />

einmal deutlicher denn je geworden, wie groß das Elend<br />

war, in dem sich alle Beteiligten befunden hatten. Und<br />

ich betrachte nur den kleinen Kreis um mich herum, die<br />

Täter und die Opfer, die einstmals Freunde waren. Ich


11<br />

beschreibe keinen Sonderfall, keine Ausnahme. Das<br />

ganze Land war dieser Erbärmlichkeit ausgeliefert und<br />

es gab keine Veranlassung daran zu glauben, dass es zu<br />

einer Änderung hätte kommen können. Dass ich nach<br />

der Übersiedlung von Görlitz nach Frankfurt am Main,<br />

in die nun neue Welt, viele meiner Träume verwirklichen<br />

konnte, resultierte vor allem aus dem Bewusstsein heraus,<br />

die Hälfte des Lebens in den Fesseln eines Staates<br />

verbracht zu haben, der die Freiheit mit den Füßen trat,<br />

und den ich mir selbst nicht ausgesucht hatte – bin ich<br />

doch 1948 in einem Deutschland geboren worden, das<br />

in seinen Grenzen von 1937 noch existierte – besetzt<br />

zwar, jedoch damals noch nicht unüberwindbar in Stücke<br />

gerissen. Fünfunddreißig lange Jahre lagen hinter<br />

mir, und eine Zukunft vor mir, die auch meiner Familie<br />

die Freiheit brachte. Und es war vor allem der Hunger<br />

auf Kultur, der Ansporn für alles Handeln war. Es ist bis<br />

heute so geblieben. Wieviel Zeit bleibt dem noch, der<br />

einem Verlies entkommen ist, seine erträumten Ziele zu<br />

erreichen? Ich habe es daher nicht für notwendig gehalten<br />

einer Zukunftsplanung viel Raum zu geben, eher alle<br />

Aktivitäten auf die Gegenwart beschränkt und das hatte<br />

ich ja gelernt. Die Entdeckung fremder Kulturen findet<br />

jedoch nicht allein auf Ausstellungen, in Museen und an<br />

den Orten antiker Zeugnisse statt. Sie stellt sich vor<br />

allem in den Begegnungen mit den Menschen ein, deren<br />

Auffassungen vom Leben – den Produkten unterschiedlichster<br />

Regionen, in den grünen und den wüsten Landschaften,<br />

dem Himmel drüber, blau oder wolkenverhangen.<br />

Nicht nur ich allein, auch mit meiner Frau und meinem<br />

Sohn ging ich auf Reisen. Ich war ebenso mit<br />

einigen, vom politischen Terror betroffenen Freunden,<br />

neuen Bekannten und vielen beruflichen Partnern unterwegs<br />

– vom Musiker, Schriftsteller, Künstler, Fotomodell,<br />

bis hin zu Architekten, Industriemanagern und Bankvorständen.<br />

Jede der Reisen war eine Bereicherung und so<br />

manche würde ich gerne wiederholen. Auch wenn es<br />

erst in den weiteren Büchern deutlicher werden kann,<br />

viele der sogleich beginnenden Ausflüge in eine nur aus<br />

der Literatur und vom Erzählen bekannte Welt, hatten<br />

hauptsächlich antike Stätten zum Ziel. Alles, was das alte<br />

Griechenland und das längst vergangene Rom noch zu<br />

bieten haben, stand dabei im Mittelpunkt der Interessen,<br />

glaubte ich doch nicht zu Unrecht, dort die Seele der Kultur<br />

zu entdecken. So finden sich in den italienischen Reiseberichten<br />

auch Blicke auf das Griechenland, das sich<br />

einst bis dorthin und noch weiter ausdehnte, sowie auf<br />

die vielen Reste römischer Zeit, die ich immer und<br />

immer wieder in Frankreich studieren konnte. Auch die<br />

Kulturstätten in Griechenland selbst und die des antiken<br />

Hellas und des Römischen Reiches in der heutigen Türkei,<br />

waren oft aufgesuchte, mehrfach beschriebene und<br />

vor allem skizzierte Orte. In gewissem Sinne verweist<br />

das Spektrum meiner vielen Begegnungen mit der antiken<br />

Welt heute darauf, dass der Kreis nun geschlossen<br />

sein könnte. Wenn es jedoch die Mittel und vor allem die<br />

eigenen Kräfte erlauben, möchte ich mich nochmals weiter<br />

entfernten Zielen zuwenden, mich erneut nach Indien,<br />

China, nach Süd- und Mittelamerika begeben. <strong>Fragmente</strong><br />

zu entdecken und das nutzbar zu machen, was<br />

Geist und Werk anderer Kulturen hinterlassen haben,<br />

kann Balsam für die Seele sein und den Blick für größere<br />

Zusammenhänge weiten. Vieles, was die Jahrtausende<br />

überdauert hat, ist bereits unwiederbringlich verloren,<br />

weil heute fanatischer Religionsterror nicht einmal vor<br />

den Zeugnissen eigener Kulturgeschichte haltmacht. Re-


12<br />

ligionen stiften Verbindendes in ihren Sekten und Großvereinigungen,<br />

versetzen ihre Beleuchteten in Trance<br />

und heilenden Glauben. Die Menschheit haben sie jedoch<br />

gespalten. Und auch die Wissenschaft hat sich<br />

nicht als das geeignete Kraut erwiesen, diesem Prozess<br />

entgegenzuwirken, die Politik ohnehin nicht. Die Relikte<br />

vergangener Zeiten – ob es nun die Granitblöcke Assuans<br />

für den Pyramidenbau, die vom Dschungel freigelegten<br />

Tempelanlagen in Kambodscha, die Tempel der<br />

Maya, oder die Steinmonumente Tiahuanacos und vor<br />

allem die in Puma-Punku sind – sprechen uns in einer<br />

Sprache an, die nicht nur auf Glanz und Gloria, sondern<br />

auch auf Elend und Vergänglichkeit hinweist – mit einer<br />

oft mythischen Botschaft, die wir selbst jenseits aller<br />

Raum-, Zeit- und Religionsspekulationen nie ganz verstehen<br />

werden und der Schaden, den auch bereits entwickelte<br />

Religionen der Menschheit angetan haben,<br />

bleibt unermesslich. Auf meinen Reisen begab ich mich<br />

zudem in die Bereiche von Antikultur, der Klärung von<br />

Fragen zur jüngeren Geschichte Europas wegen, die zur<br />

tragischen Zersplitterung unseres Kontinents führte –<br />

die der beiden großen Kriege und ihre schauerlichen<br />

Plätze, auf denen damals die Jugend der Welt verblutete,<br />

und es wird mir mehr als wichtig bleiben, mich diesen<br />

Themen auch weiterhin zu widmen. All die jungen<br />

Leute sind auf diesen Schlachtfeldern für ihr jeweiliges<br />

Land gefallen – auch viele aus meinem familiären Umfeld<br />

– in Kriegen, die nicht allein Deutschland und schon<br />

gar nicht die den Kriegen folgenden Generationen, sondern<br />

vor allem das internationale Kapital als Drahtzieher<br />

hinter den Kulissen und deren politische Marionetten zu<br />

verantworten haben. Heute kann es nicht mehr geleugnet<br />

werden, dass mit dem deutschen Untergang und der<br />

damit einhergegangenen tiefgreifenden Zerstörung<br />

Europas durch den Ersten und Zweiten Weltkrieg, vor<br />

allem Kräfte Englands, Frankreichs und der Vereinigten<br />

Staaten zum Ziel ihrer langfristig gesteckten Strategie<br />

gelangten: dem aufstrebenden Deutschland das Genick<br />

zu brechen. Der ausufernden Verneblung dieser Tatsachen<br />

halten – was einem Wunder gleichkommt – vor<br />

allem Historiker aus ehemalig feindlichem Umfeld die<br />

Kehrseite dieser Medaille entgegen. Ich verweise hier<br />

nur auf die umfangreichen Recherchen der Historiker<br />

Gerry Docherty und Jim Macgregor 3 . Aber auch die neuesten<br />

Werke deutschsprachiger Autoren, wie von Heinz<br />

Magenheimer 4 , beweisen anhand nun zugänglicher Dokumente,<br />

dass man heute von der alleinigen Kriegsschuld<br />

Deutschlands als ernstzunehmender Historiker<br />

nicht mehr sprechen kann. Was wäre, wenn eines Tages<br />

die Frage einer Rückzahlung zu Unrecht erhobener Reparationen<br />

– die letzte Rate wurde erst vor zwei Jahren<br />

beglichen – auf die Tagesordnung der Politik käme? Gelder,<br />

die dann den Menschen Osteuropas, besonders den<br />

Nachkommen der zu Millionen umgebrachten sowjetischen<br />

Juden und den anderen vertriebenen und mit<br />

Mord und Totschlag überzogenen Völkerschaften zustehen<br />

würden, die als Folge des durch den Versailler Vertrag,<br />

den Vertrag der Schande, im europäischen Osten<br />

tobenden Vernichtungskriegs ihrer Existenz beraubt<br />

wurden. Es scheint natürlich utopisch und macht traurig<br />

solchen Gedanken nachzugehen, angesichts der aktuellen<br />

deutschen Politik, die sich nun die finanzielle Verantwortung<br />

für das gesamte Europa aufbürden lässt und<br />

den im Schleim verordneter Geschichtsschreibung rutschenden<br />

Medien freien Lauf zur Interpretation ihrer<br />

Verfehlungen lässt. Schon heute haben alle diese Repa-<br />

3<br />

Gerry Docherty, Jim Macgregor: „Verborgene Geschichte”, Kopp 2014<br />

4<br />

Heinz Magenheimer: „Kriegsziele und Strategien der großen Mächte …”, Osning Verlag, 2006


13<br />

rationsempfänger, die Sieger angezettelter Kriege, kaum<br />

noch Geld, ihre eigene Wirtschaft in Gang zu halten.<br />

Deutschland muss sich angesichts der Geschichte und<br />

einer langfristig angelegten Stigmatisierung von der geberfreundlichsten<br />

Seite zeigen. Es zahlt nun für nicht geführte<br />

und dennoch verlorene Kriege. Es zahlt auch, um<br />

allen unseren Nachbarn den Frieden zu erhalten, vor<br />

allem, mit diesen weiter friedlich zusammenleben zu<br />

können. Sinngemäß hat das einmal ein deutscher Altpolitiker<br />

zum Ausdruck gebracht, wenn es auch nicht<br />

exakt in dieser Form wiedergegeben werden kann. Die<br />

politischen Umstände werden es nicht zulassen, dass<br />

der Würgegriff um die deutschen Finanzen nachlassen<br />

wird. Gäbe es Ruhe, wenn es gelänge, Deutschland in<br />

eine Kleinregionalität zurückzuführen, innerhalb eines<br />

europäischen Großblocks aufgelöst zu haben – ein Ziel,<br />

das dem so genannten Morgenthau-Plan ähnlich wäre<br />

und für viele wieder wie festgeschrieben scheint? Ich<br />

glaube es nicht, wenn ich auch so mancher sorgenvollen<br />

Vision durchaus Beachtung schenke. Die Zeiten Bismarcks<br />

und Hitlers werden sich nicht wiederholen, doch<br />

die Bedrohung von außen wird bleiben. Dem deutschen<br />

Michel und besonders seinen Regierenden ist die Zipfelmütze<br />

wieder weit über Augen und Ohren gezogen<br />

worden. Wie lange werden sie wohl diesmal blind oder<br />

ferngesteuert durch die Zeiten irren? Die deutsche Re-<br />

„Mauer und Fossil”· Holz, Leinen, 1978


14<br />

gierungspolitik ist beängstigend weit entfernt von dem,<br />

was der, den Mehrwert schaffende Bürger – welcher<br />

Volksgruppe oder Religion auch zugehörig – berechtigt<br />

zu erwarten hätte. Und vor allem wollen wir nicht, dass<br />

wieder Gräber ausgehoben werden müssen. Zu einem<br />

in Frieden vereinten Europa, mit allen seinen Geburtsschwierigkeiten,<br />

gibt es also keine Alternative. Die nationalen<br />

und regionalen Unterschiede sind jedoch der<br />

Reichtum Europas. Der Nationalismus ist es nicht.<br />

Doch zurück in den Schatten der Vergangenheit, in der<br />

man von einem in Frieden vereinten Europa nicht einmal<br />

ansatzweise träumen konnte und es eher von sowjetischen<br />

Invasionshorden zertreten sah. Die Rückblicke<br />

beginnen mit dem Jahr 1975, als eine Überwachung des<br />

Daseins durch den Staatssicherheitsdienst immer offenkundiger<br />

wurde und dieser alles daran setzte, mich in<br />

seine Klauen zu bekommen. Natürlich stand ich bereits<br />

lange vor dem Studium in Halle im Fokus der Macht, die<br />

Vor dem Atelier 1979<br />

Görlitz · Peterstraße 17<br />

Foto: Peter Mitsching


15<br />

meine Unangepasstheit zwar im Auge behielt – mich<br />

aber weitestgehend noch öffentlich in Ruhe ließ. Nicht<br />

erst seit dieser Zeit trug ich mich mit dem Gedanken,<br />

den sowjetischen Vasallenstaat bei erster sich bietender<br />

Gelegenheit für immer und ewig zu verlassen. Ich arbeitete,<br />

nachdem ich meinem Studienort Halle den Rücken<br />

gekehrt hatte, zunächst als Designer in der Glasindustrie<br />

und lernte dort unter anderem mit vielen neuen Materialien<br />

umzugehen, und diese für die bildende Kunst<br />

und das Kunsthandwerk zu nutzen. Bald schon folgten<br />

erste Ausstellungen, wenn auch diese nicht zu meinem<br />

inneren Frieden beitragen konnten. Auf diesen Präsentationen<br />

meiner Arbeit brachte ich interessierte Besucher<br />

zum Erstaunen. Das ,Zeug‘, das sie da neben den bunten<br />

Glasarbeiten, den Zeichnungen und den realistisch<br />

ausgeführten Holzarbeiten – was sie als Kunst anzusehen<br />

gewohnt waren – noch vorgesetzt bekamen, veranlasste<br />

sie oft, mit Unverständnis zu reagieren. Auch die<br />

Improvisierte Ausstellung 1980<br />

rechts im Bild mein Freund Rainer Trumpf<br />

Foto: Peter Mitsching


16<br />

Stadtoberen und vor allem die Korona der Partei mussten<br />

auf Materialbilder mit Stacheldraht, Gitterstäbe und<br />

Stricke blicken – mit Titeln wie: „Die Zeit nagt an den<br />

Ketten“, „Das Ende des braunen Faschismus“, „Fossil mit<br />

Gitterstäben“ oder „Kasten mit rotem Strick“ – Werke,<br />

die sie offen nicht hinterfragen konnten und wollten,<br />

sondern hinter den Mauern ihrer Ideologieburgen diskutierten.<br />

Was sollte sie auch machen, die von ihrem<br />

System in geistigen Handschellen geführte Dienerschaft?<br />

Die Mitläufer unter den Künstlern stellten für all<br />

diese kein Problem dar. Jene aber, die sie nicht in den<br />

Griff bekommen konnten, bereiteten ihnen mehr als nur<br />

Sorgen. Ging doch von diesen ein Gift für die ohnehin<br />

kaum noch funktionierende Gesellschaft aus. Und dazu<br />

wurde ihnen noch eine Kunstrichtung vorgesetzt, welche<br />

nur vom ,Klassenfeind‘ inspiriert und infiltriert sein<br />

konnte – die anderes zeigte, als zufriedene Bauern auf<br />

ihren Kartoffelerntemaschinen, euphorisch die Banner<br />

der Partei schwenkende Bauarbeiter und monströse Abbildungen<br />

von Parteikollektiven, die über Bücher gebeugt,<br />

von freiwillig aufgesogener Indoktrination<br />

kündeten. Letzteres verstanden sie vor allem als die inhaltlich<br />

richtige, und daher in den Zeiten des nun bereits<br />

ausufernden Klassenkampfes als notwendige Kunst, für<br />

die man auch gern Geld ausgab. Dennoch waren sie<br />

stets bemüht, Kunst und andersdenkende Künstler nicht<br />

offen zu behindern, auch mit den Außenseitern im Gespräch<br />

zu bleiben. Stand man doch hierbei im Fokus des<br />

Auslands. Die um Konsens Bemühten, die in den ersten<br />

Schützengraben einer Auseinandersetzung geschickten<br />

Funktionäre, hatten ihre eigene verfärbte Sicht einer Gesellschaftsordnung<br />

zuzuschreiben, der sie sich bedingungslos<br />

unterworfen hatten. Mitleid konnte einem da<br />

Im Atelier 1980<br />

Walter Behrens, <strong>Reinhard</strong> <strong>Roy</strong><br />

Foto: Siegfried Hanke<br />

Im Gasthof „Wurzelkeller”1981<br />

Peter Mitsching, <strong>Reinhard</strong> <strong>Roy</strong> und Hans Jegodtka<br />

Foto: Doris (Walter) Christensen


17<br />

schon mal aufkommen. Bei den Einheitssozialisten gab<br />

es allerdings keine Bilderstürmerei und auch keine Ausstellung<br />

„Entartete Kunst”, sondern man behalf sich mit<br />

kommissionsgesteuerter Ausgrenzung. Hier musste<br />

nicht immer die Stasi am Drücker sein. Das besorgten<br />

die kleinen Kriecher quer durch alle Institutionen selbst.<br />

Meiner Erinnerung nach wird es etwa im Jahre 1980 gewesen<br />

sein, als ich während einer Ausstellung in Görlitz<br />

von einer, sich sonst immer freundlich gebenden Stadtgenossin,<br />

wieder einmal glasklare Worte zu hören be -<br />

kam:„Gerade sie mit ihrer Einstellung werden den<br />

Westen und vor allem ihr Paris niemals sehen!”. Die<br />

Dame musste mich nicht auf den Boden einer solchen<br />

Tatsache zurückstoßen, denn so hoch flog ich nur in meinen<br />

Träumen. Aber irgendwann, ja im Irgendwann,<br />

würde ich es schaffen, wenn man dieses System überlebte.<br />

Das war mein Glaube, einen anderen hatte ich<br />

nicht. Niemals nach Paris? Heute belastet mich dieser,<br />

an die finstere Zeit des Realsozialismus erinnernde Ausspruch<br />

natürlich längst nicht mehr. Für ihre Überzeugung<br />

allerdings, dass ihr Sozialismus mir das nicht<br />

erlauben und damit die Zukunft verbauen würde, hätte<br />

ich der Parteiarbeiterin eigentlich dankbar sein müssen.<br />

Denn gesagt werden durfte so etwas in aller Öffentlichkeit<br />

nicht – und schon gar nicht einem abseitsstehenden<br />

Künstler, der bereits im Fadenkreuz der Macht stand.<br />

Diese Aussage war verwertbar und wurde bald schon zu<br />

einem meiner Argumente in der weiteren Auseinandersetzung<br />

mit den örtlichen Verwaltern menschlicher<br />

Schicksale. Die unerlaubte Offenlegung von Wahrheit ist<br />

aus heutiger Sicht auch eher als verzweifelte Antwort auf<br />

meine damals oft provokativen Andeutungen zu werten,<br />

dass ich wohl bald nach Paris reisen würde. Diese ganz<br />

1980 in der Altstadt mit Kostümen aus dem Theaterfundus<br />

R. <strong>Roy</strong>, Ines, Eberhard Klinger – R. <strong>Roy</strong> und Hans Jegodtka<br />

bei der Aktion „Das Ende Englands“<br />

Fotos: Peter Mitsching


18


19<br />

1980 in der Görlitzer Altstadt<br />

mit Kostümen aus dem Theaterfundus<br />

Hans Jegodtka, <strong>Reinhard</strong> <strong>Roy</strong>, Bärbel Ziesch, Ulrich Berndt<br />

Fotos: Peter Mitsching


20<br />

„Paar unterm Baum”1975, Birnbaum · 25 x 18 cm


„Tanzpaar” 1975, Birnbaum · 59 x 35 cm<br />

21


130<br />

jedem Künstler oder Musiker eine Existenz ermöglichen,<br />

egal was er so treibt, wenn er denn nur lieb sei, und das<br />

mache, was man von ihm verlangt. Und wer solche Hilfe<br />

annimmt und sich diesem Licht aussetzt, der könne auch<br />

gleich die Arbeit einstellen. Ich sehe das alles auch nicht<br />

so rosig. Mit gekrümmtem Rückgrat möchte ich nicht herumlaufen<br />

müssen. Als ich Sgonina während der Messe<br />

besuchte, saß er da und pinselte auf irgendwelche Vasenböden<br />

blaue Schwerter. Ich musste ihm dann behilflich<br />

sein, kannte ich mich doch im Porzellan besser aus<br />

als er. „Wenn die Dummen aus dem Westen kommen”,<br />

witzelt er, „würden sie die Vasen sofort umdrehen und<br />

meistens auch ohne große Fragerei kaufen, wenn sie die<br />

Schwerter sähen“. Manche wollen wissen, ob es denn


131<br />

die Meißner ,Blauen Schwerter‘ wären, und da setzt er<br />

dann ein bedeutungsvolles Gesicht auf und gibt den Rat,<br />

dass man sich damit an der Grenze nicht erwischen lassen<br />

sollte. Wenn das keine Echtheitsbestätigung ist, kichert<br />

er vor sich hin. Sgonina ist nicht nur ein lustiger<br />

Typ, er ist einfach auch ein Experte, der immer Ideen<br />

parat hat, wenn es darum geht, etwas an den Mann zu<br />

bringen. Und wenn es gar nicht geht, sagt er, arbeite er<br />

wieder auf dem Friedhof als Totengräber. Gleich berichtet<br />

er vom kleinen Orchester im Krematorium, das auch<br />

mal mitten im Stück, wenn der Sarg in den Ofen gefahren<br />

wird, mit dem musikalischen Geleier aufhört und die<br />

Flaschen reihum gehen lassen würde. Man fängt dann<br />

halt nochmal an, witzelt er. In Leipzig werden die Toten<br />

„R. und R. blicken auf die Ratte“ 1980, 73 x 102 cm<br />

Bleistiftzeichnung zum Thema Mauer


132<br />

wie am Fließband verbrannt. Es sei am Ofen so heiß wie<br />

in der Hölle. „Bist du erstmal Asche, interessiert sich<br />

keine Sau mehr für dich“, weiß Sgonina zu ergänzen und<br />

jagd damit Schumann wieder ängstliche Gedanken in<br />

den Kopf. Was soll nur aus dem ganzen Gold werden,<br />

dass er beiseite geschafft hat? Mit Schumann sitzen wir<br />

später noch im Goldenen Baum und Sgonina muss, zum<br />

wievielten Mal auch immer, die Geschichte seines Aufenthaltes<br />

am heiligen Abend auf dem Leipziger Hauptbahnhof<br />

erzählen. Sein Leipziger Sächsisch genügt dabei<br />

schon, uns in gute Stimmung zu versetzen. „Da hab<br />

ysch das Meißnoor aus där Wätryne genomm, und<br />

Schtück für Schtück aufn Bodn gäschmissn! Dü Olte hot<br />

losgäkräht wie aom Spießä! Bin dann aufn Hauptbonhoof<br />

in die Mitropa. Doss wünscht man kainemm an<br />

solchm Ohhbnd!” Sgonina hat ein kleines Seegrund-<br />

„Naturstudie mit Muscheln 1” 1980, 35 x 50 cm<br />

Bleistiftzeichnung


133<br />

stück mit Hütte in Caputh am Schwielowsee nahe Potsdam.<br />

Manchmal besuchen wir ihn dort, meist wenn wir<br />

zusammen in Berlin sind. Das Häuschen ist ganz in der<br />

Nähe des früheren Hauses von Albert Einstein, der hier<br />

bis 1932 lebte und dann in die USA gehen musste. Man<br />

hätte dem sicher nicht den Hals umgedreht, meint Peter.<br />

Der Nachbar von Sgonina ist ein ehemaliger Soldat der<br />

deutschen Wehrmacht, der im Kriege eine Kopfverletzung<br />

hatte und nun als „Splitter” zitiert wird: „… der Einstein,<br />

ja der Einstein, den habe ich auch noch gekannt,<br />

da war ich jung und der ging immer mit seinem Hund<br />

am See entlang, der Einstein, ja der Einstein, den hab<br />

ich auch noch gekannt … der Einstein, den hab ich …”<br />

Der alte Mann, vielleicht schon siebzig, murmelte diese<br />

Sätze noch vor sich hin, als er längst wieder in seinem<br />

Garten verschwunden war.<br />

„Naturstudie mit Muscheln 2” 1980, 35 x 50 cm<br />

Bleistiftzeichnung


134<br />

Ungarn – August 1980<br />

Wie so oft schon in den vergangenen Jahren geht es<br />

auch diesmal wieder nach Ungarn, dem Land, in welchem<br />

wir uns freier fühlen, als in der kleinkarierten Welt<br />

des blutroten deutschen Ostens. Das erste Ziel ist der<br />

Balaton, das große ungarische Binnenmeer, das uns so<br />

etwas wie das Flair des unerreichbaren Mittelmeeres<br />

tröstlich vermitteln soll. In den Kolonnen nebelspuckender<br />

Zweitakter reisen wir, dicht an dicht, in der Hitze<br />

durch die Tschechoslowakei – immer den Abgasen dieser<br />

technischen Massenbeglückung ausgeliefert. Jeder<br />

dieser Kartons stellt für den Besitzer mehr als ein Heiligtum<br />

dar. Nach zehn bis fünfzehn Jahren Wartezeit poliert<br />

er es dann jeden Tag. Auch die, die einen schon im<br />

Zerfall begriffenen Trabbi zum Neupreis auf dem<br />

Schwarzmarkt erworben haben, sind stolze Eigentümer.<br />

Ich hatte auch einmal eine dieser Dreckschleudern zum<br />

überhöhten Preis gekauft und war mehr als stolz darauf,<br />

auch ungeachtet dessen, dass ein alter Bekannter mich<br />

damals skrupellos über‘s Ohr gehauen hat. Als Meister<br />

Schubert – Vater meines Klassenkameraden Harald in<br />

der Oberschule – in der Kfz-Werkstatt in Niesky die Ruine<br />

begutachtete, stellte er unmissverständlich klar, dass die<br />

„Karre“ sofort aus dem Verkehr gezogen werden musste<br />

– es sei denn, eine komplett neue Trägergruppe würde<br />

unter die Karosserie geschweißt werden. Und auch die<br />

gab es erst nach längerer Wartezeit. Der „hilfreiche” Bekannte<br />

hat heute ein Autohaus – ist also „bei seinem<br />

Leisten” geblieben. Skrupel musste er keine haben. So<br />

war das Leben in der Mangelwirtschaft des Ostens.<br />

Hat man die Grenze nach Ungarn hinter sich gelassen,<br />

ergriff einen die erste Vorstellung von Freiheit. Wir wohnen<br />

wie so oft, entweder privat bei Freunden, im Hotel<br />

oder im Zelt. Es ist uns auch ganz egal, was so ein Tag in<br />

Ungarn wieder bringen würde. Ganz sicher wird er besser<br />

sein, als der zu Hause. Deshalb sind wir hier, weit<br />

weg von all den Widerlichkeiten des politischen Alltags<br />

im kaum noch tiefer sinken könnenden Einheitssozialismus.<br />

Man atmet auf, Ungarn bedeutet für uns Deutsche<br />

aus dem Osten schon so etwas wie der Westen – das<br />

Land, in dem Milch und Honig fließen. Hier machte man<br />

interessante Bekanntschaften und hatte Zugang zu Zei-<br />

„Karl Guse” 1982, 100 x 70 cm<br />

Materialbild


135<br />

tungen, die etwas anderes berichteten, als den zum Erbrechen<br />

langweiligen und peinlichen Parolenkram der<br />

Kommunisten. Und deren täglichen Verbiegungsversuchen<br />

einmal nicht ausgesetzt sein zu müssen, hatte<br />

zudem Erholungswert. Am Balaton lernen wir Rainer<br />

Napiontek aus Selters, einer kleinen Stadt in Hessen,<br />

kennen. Er ist Mitarbeiter im Bereich Messebau für die<br />

Firma Alibert in Frankfurt am Main. Mit einem Wohnwagen<br />

kam er bis nach Tihany, dem wohl schönsten Platz<br />

am ungarischen Meer, nachdem man ihn stundenlang<br />

an der Grenze ohne Begründung hatte warten lassen. Er<br />

wollte daher eigentlich schon wieder umkehren. Bereits<br />

an der Grenze hatte er einen ersten Eindruck von der sozialistischen<br />

Wirklichkeit erhalten. Die an Schlaglöchern<br />

reiche Straße war ihm zu gefährlich für sein Fahrzeug<br />

mit dem großem Wohnanhänger – besonders in der<br />

Nacht hätte es Schwierigkeiten geben können und daher<br />

machte er einen Zwischenstopp am Wege. Im Westen<br />

legt man ansonsten tausend Kilometer mühelos am<br />

Tage zurück, wenn die Straße frei ist, höre ich zu meinem<br />

Erstaunen. Ich frage ihn nur, ob er nicht vorher gewusst<br />

hätte, wohin er fährt. Es sei so, dass man in<br />

Ungarn so billig Urlaub machen könne, sagt er, dass es<br />

einem so vorkäme, als hätte man überhaupt kein Geld<br />

ausgegeben. Napiontek, der in Scheidung lebt, ist trotz<br />

allem froh darüber, seine Kinder wieder einmal für sich<br />

allein zu haben. Außerdem ist es im Ostblock viel schöner,<br />

als wenn er irgendwo in Frankreich wäre, oder nach<br />

Italien reisen würde, stichelt er. Über den europäischen<br />

Westen berichtet er mir später ausführlich. Mein Hunger<br />

auf seine Antworten ist groß. Manches, was er berichtet,<br />

klingt unglaubwürdig. Man kann reisen, wohin man will.<br />

Pässe gäbe es beim Bürgermeister und Grenzkontrollen<br />

wären ein Spaziergang. Er hat Zeitungen aus Deutschland<br />

mitgebracht. Was kann uns jetzt noch fehlen? War<br />

es nicht immer schon so, dass man nur zum Zeitungslesen<br />

nach Ungarn fuhr? Wir sind schnell miteinander befreundet<br />

und verbringen die weiteren Tage gemeinsam.<br />

Katja ist ein Springinsfeld und passt gut zu Daniel, der<br />

auch gerne Unsinn treibt und das hauptsächlich. Ihre<br />

Schwester ist sehr verschlossen und bleibt es auch die<br />

wenigen Tage, die wir sie in diesem Zustand ertragen<br />

müssen. Mit ihr wird niemand so schnell warm, sagt der<br />

geprüfte Vater Napiontek dazu.<br />

Die Unterhaltungen mit dem neugewonnenen Freund<br />

kommen meist immer wieder auf des Thema Ost und<br />

West und die undurchdringliche Mauer in Berlin und den<br />

Eisernen Vorhang insgesamt, der ja auch an den Grenzen<br />

Ungarns zu Österreich und Jugoslawien viele Kilometer<br />

entlangführt. So versteht er bald, dass auch<br />

unsere Bestrebungen vorrangig dahin gehen, lieber im<br />

Westteil Deutschlands wohnen zu wollen, als unser Dasein<br />

im Osten noch länger zu vergeuden. Wie kommt<br />

man aber, ohne um Leib und Leben fürchten zu müssen,<br />

über diese quer durch Europa gehende Grenze, diese<br />

Linie des immer und überall lauernden Todes? Das sind<br />

brennende Fragen, die mich schon seit Langem beschäftigen<br />

und für die ich nur eine Antwort finde: die akribisch<br />

vorbereitete Flucht durch den milderen Todesstreifen<br />

nach Jugoslawien. Wir sprechen bald schon über diese,<br />

dort etwas durchlässigere Grenze. Schon vielen ist die<br />

Überquerung geglückt. Das hörte man schon des Öfteren.<br />

Aber gemeinsam mit Frau und Kind diesen Weg zu<br />

gehen, wäre ein unverantwortlicher und direkter Gang<br />

in die Fänge der Grenzpolizei. Nun wollen wir mehr wissen<br />

und beschließen daher spontan, die ganze Sache


136<br />

näher auszukundschaften. Ob wir dann zu einer Lösung<br />

des immer brennenderen Problems kommen, wissen<br />

wir noch nicht. Es soll auch eher ein Ausflug ins Land<br />

werden, bei dem jede Erkenntnis willkommen sein soll.<br />

Heidrun und Daniel bleiben bei den beiden kleinen Mädchen<br />

zurück. Zuerst geht es in den Osten des Landes, bis<br />

nach Kunszentmarton, wo wir meine Freunde besuchen<br />

wollen. Hier werden Erinnerungen wach, ist es doch ein<br />

Platz, an dem ich so manche Zeit genießen konnte. Von<br />

dort erst, und sicherlich viel später, werden wir dann<br />

weiter südlich fahren, bis an die Grenze zu Jugoslawien.<br />

Ich würde jetzt noch nicht „abhauen”, wie es im gebräuchlichen<br />

Jargon heißt, wenn man aus dem Osten<br />

heraus will – ich möchte zu allererst nur die Situation an<br />

der Grenze genauer in Augenschein nehmen. Ich berichte<br />

Napiontek von Uli und Schumann, von Hans und<br />

Heinz, die alle auch in den Westen wollen. Mit Schumann<br />

hatte ich noch vor der Reise nach Ungarn darüber<br />

gesprochen, dass ich auskundschaften werde, ob sich<br />

eine Möglichkeit zur Flucht ergibt. Auch den von Uli ins<br />

Gespräch gebrachten Weg über Polen und von dort<br />

eventuell mit falschen Papieren wieder über die DDR per<br />

Bahn nach dem Westen, hatte ich lange mit Schumann<br />

diskutiert. Nur wenn alles sicher sei, meinte der, könne<br />

er sich anschließen. Sicherlich hat er recht, aber wenn<br />

wir gar nichts wagen, sage ich zu Napiontek, dann sitzen<br />

wir noch als Rentner im Osten – im Schaukelstuhl oder<br />

im Knast. Ich freue mich über die Bereitschaft von Napiontek,<br />

diese Fahrt quer durchs ungarische Land mit mir<br />

zu unternehmen. Besonders auch, weil wir in seinem<br />

„Westauto“ ganz sicherlich keinen Argwohn erzeugen<br />

werden. Wir sprechen mit Heidrun einige Einzelheiten<br />

ab, für den Fall, dass jemand auftaucht und ihr irgendwelche<br />

Fragen stellt. Heidrun muss man immer zur Besonnenheit<br />

ermahnen, denn sie flippt sofort aus, wenn<br />

irgend so ein ,Parteiaffe‘ oder die Stasi selbst mit Fragerei<br />

auftauchen würde. Dann fahren wir in den Tag hinein<br />

und kommen am späten Nachmittag bei Eva Kakuk am<br />

Rande der kleinen ländlichen Stadt Kunszentmarton an.<br />

Eva ist eine Schönheit, die ich seit den Tagen kenne, als<br />

ich regelmäßig die Freunde in Ungarn besuchte, also sicherlich<br />

seit mehr als zwanzig Jahren. Sie und ihr Mann<br />

empfangen uns mehr als herzlich in einem neu erbauten<br />

Haus, auf das sie sehr stolz sind. Wie immer bei solchen<br />

Gelegenheiten, werden Geschenke verteilt, und viel erzählt<br />

– weniger gegessen, als getrunken. Napiontek, der<br />

eine Palette Bier mitgebracht hat, bekommt es nicht kalt<br />

genug. Es gibt noch keinen Kühlschrank in dem neuen<br />

Vorzeigebau. So trinkt er meist wie ich Wein, und auch<br />

der ist natürlich nicht so kalt, wie er hätte sein sollen. So<br />

lernt RN den ungarischen Palinka kennen, einen Pfirsichbrand,<br />

den man auch warm trinken kann. Daran wird er<br />

sich dann noch tagelang erinnern. Nach einer kurzen<br />

Nacht bei Eva und Michael reisen wir am nächsten Morgen<br />

wie vorgesehen – wenn auch recht angeschlagen –<br />

in Richtung Jugoslawien weiter. Es ist herrlichstes Wetter.<br />

Rainer Napiontek erzählt viel von den Problemen,<br />

die er mit seiner Frau hat und dass er weiß, dass natürlich<br />

die beiden Mädchen sehr darunter leiden würden.<br />

Besonders das große Mädchen, das mit den verweinten<br />

Augen, das ihre Sorgen und ihren Kummer in den kleinen<br />

Tagebüchern festhält. Er sei der treue Geselle, sie allerdings,<br />

die baldige Ex, habe immer mal einen anderen.<br />

Irgendwann sei er auch schon mal im Kofferraum ihres<br />

Autos mitgereist, nur um zu wissen, wo und mit wem<br />

sie ihre Zeit so oft verbringt. Die Fahrt durch die Land-


137<br />

schaften Ungarns dauert an. Die Hitze würde unsere Situation<br />

nicht gerade verbessert haben, aber das Auto hat<br />

zu allem Glück eine funktionierende Lüftung. Dass es<br />

eine Klimaanlage ist, begreife ich erst später. Wir sprechen<br />

weiter über Politik und das Leben in Ost und West,<br />

haben jetzt ausreichend Zeit dazu. Die Straßen sind gut<br />

und wir fahren langsam, um allen möglichen Gefahren<br />

aus dem Wege gehen zu können. Nicht nur der Polizei,<br />

die auch hier sicherlich lauert, vor allem auch der überall<br />

herumspringenden Hunde wegen. Vor Jahren schon<br />

hatte ich ja ein solches Erlebnis, als Heidrun und ich mit<br />

Uschi und Wolfgang Mohr in deren Wartburg nach Ungarn<br />

mitgenommen wurden, und Mohr in Veszprém mit<br />

einem Straßenschwein kollidierte. Bald machen wir<br />

einen längeren Halt in der ehrwürdigen und geschichtsreichen<br />

alten Stadt Szeged. Durch diesen schönen Ort,<br />

in dem sich die alten Zeiten spiegeln, laufen wir dann<br />

ein ganzes Stück und kommen in einer kleinen Seitenstraße<br />

gerade dazu, als Bauarbeiter damit beschäftigt<br />

sind, Container mit Hausrat und Schutt zu füllen. Die<br />

Container stehen direkt an der Straße. Beide gehen wir<br />

einige Meter näher heran und trauen unseren Augen<br />

nicht, was wir dort entdecken, und sogleich mit aller<br />

Energie versuchen, in unser Eigentum übergehen zu lassen.<br />

Der Besitzwechsel vollzieht sich unter dem Lachen<br />

der freundlichen Leute vom Bau, die uns dann noch<br />

dabei helfen, besser an die Dinge der Verlockung heranzukommen,<br />

die schon zum Teil von Schutt und von weißem<br />

Kalkstaub bedeckt sind. Ein großzügiges Trinkgeld<br />

hat die Bauleute dann regelrecht so beflügelt, dass sie<br />

sogleich ihre Arbeit ruhen lassen. Wir wühlen alte Arzttaschen,<br />

Gefäße, Lampen, Elfenbeinkugeln, Schachfiguren,<br />

Bücher, Bilder unter Glas heraus und Glasperlen,<br />

die angeblich – nach den Aussagen einer älteren Dame<br />

aus dem Hause – aus den Gewändern der Tänzer vom<br />

Hofe des äthiopischen Kaisers Haile Selassie stammen<br />

würden. Wir glauben es gerne und setzen nach diversen<br />

Freundschaftsbekundungen unsere Fahrt mit dem nun<br />

reichlich bepackten Auto fort. Wir beschließen, auf ganz<br />

einfachen Straßen weiterzufahren, um so besser an die<br />

Grenzgebiete zu gelangen. Es ist mühevoll in Ungarn<br />

über die Landstraßen zu reisen. Jeder weiß das, nur Napiontek<br />

erst seit zwei Tagen. Abseits der Hauptstraßen<br />

begegnen wir dann romantisch-mittelalterlichen Verhältnissen.<br />

Seit zweihundert Jahren hat sich hier nichts verändert.<br />

Davon muss man uns nicht erst überzeugen.<br />

Nahe der Stadt Mohács haben wir dann endlich am späten<br />

Nachmittag – über die Szegedi utca kommend – die<br />

Donau erreicht. Der Fluss ist hier schon sehr breit und<br />

das Wasser strömt recht schnell dahin. Eine Stunde verstreicht,<br />

als wir auf das Schiff warten, das uns an das andere<br />

Ufer bringen soll. Wir haben das auslaufende Boot<br />

gerade verpasst. Auf der Landkarte ist zu sehen, dass<br />

hier der letzte mögliche Übergang auf ungarischem<br />

Boden ist, schon wenige Meter weiter mündet der Fluss<br />

in jugoslawisches Gebiet. Man könne herüberschwimmen,<br />

höre ich. Wie überall sei jedoch alles sehr bewacht.<br />

Schwimmen?, denke ich noch, als ich die reißenden Donauwellen<br />

sehe – ertrinken wäre wohl die größere Wahrscheinlichkeit.<br />

Ich gehe nicht auf die Hinweise ein, die<br />

einige Leute an mich herantragen wollen. Es dauert<br />

dann noch eine Zeit, ehe wir auf die eintreffende große<br />

Fähre heraufkommen und das Auto auf einen Platz in<br />

der Mitte eingewiesen wird. Wir steigen aus und genießen<br />

die frische Luft. Ich inspiziere die Lage, steige nach<br />

oben auf die Brücke des Schiffes und fotografiere den


138<br />

weiträumigen Bereich, an dem die Grenze entlangführt,<br />

was sich bald schon als Fehler herausstellen wird. Hier<br />

hat man keine Sperrgitter mit messerscharfen Stäben<br />

versenkt wie in Berlin am Todesstreifen zum Westteil der<br />

Stadt, womit die selbsternannten Humanisten ihre flüchtenden<br />

Bürger aufzuspießen gedachten. Rainer Napiontek<br />

geht auch einige Schritte auf der Fähre hin und her.<br />

Auf dem Schiff drückt die Luft nicht so wie an Land und<br />

oben auf der Brücke weht sogar eine frische Brise vom<br />

breiten Fluss herauf. Napiontek kommt in Begleitung<br />

eines großen blonden und recht mageren Kerls zum<br />

Auto zurück. Ich sehe beide miteinander diskutieren und<br />

bin der Meinung, er hätte einen Bekannten getroffen. Da<br />

winken sie mich herunter und als ich dort frohgestimmt<br />

bei ihnen ankomme, zeigt der Fremde eine Pistole, die<br />

er in seiner Handtasche mitführt. Ich lächele anerkennend.<br />

Radebrechend versucht er nun, uns begreiflich zu<br />

machen, dass wir festgenommen sind. Ich denke zunächst<br />

an einen Scherz und lache jetzt laut auf. Napiontek<br />

glaubt es mit einem Idioten zu tun zu haben. Doch<br />

leider müssen wir wirklich nach dem Übersetzen das<br />

Auto abstellen und werden von dem Irren zu einer<br />

Grenzwache eskortiert. Auf dem Wege dorthin zeigt er<br />

hin und wieder die Pistole in der Tasche, damit wir uns<br />

von der Ernsthaftigkeit der Lage, in der wir uns befinden,<br />

auch wirklich überzeugen können und nicht etwa<br />

zu entkommen versuchen. In der Polizeistation beginnt<br />

dann ein zermürbendes Warten, das bis in die späten<br />

Abendstunden hin andauert. Mich bringen zwei Soldaten<br />

– mit einer Kalaschnikow im Anschlag – erst einmal<br />

in den Keller des Hauses. Wenigstens die Tür lassen sie<br />

offen, denke ich. Es ist duster. Licht kommt nur durch<br />

das kleine Fenster. Ich setze mich auf einen Stuhl. Es ist<br />

angenehm kühl hier unten im Verlies und ich strecke<br />

mich etwas aus auf dem knarrenden Stuhl. Schon steckt<br />

einer der jungen Kerle seinen Kopf durch die Tür. Dass<br />

ich eine Ewigkeit hier unten bleiben muss, ahne ich<br />

nicht, gerate aber nicht in Panik. Schließlich haben wir<br />

uns nichts zuschulden kommen lassen. Später wird das<br />

Licht eingeschaltet und der Soldat an der Tür holt mich<br />

zum Verhör nach oben. Hier ist es dann wieder unerträglich<br />

warm. Auch bei Napiontek, der in der Etage darüber<br />

in einem Zimmer Platz nehmen musste, war es nicht<br />

auszuhalten. Die Luft im Keller ist zwar etwas muffig,<br />

aber oben im ersten Stock ist die Atmosphäre unerträglich<br />

– die Hitze des Tages hat sich unter dem Dach gestaut.<br />

Napiontek, der ein Fenster öffnen will, wird barsch<br />

daran gehindert. Sicherlich denkt sein uniformierter<br />

Wächter, dass er herausspringen wollte. Keine Unterhaltung<br />

kommt auf, denn keiner versteht den anderen – ich<br />

lasse nicht erkennen, dass ich mich etwas im Ungarischen<br />

auskenne – und weil uns keiner versteht und wir<br />

auch sonst nichts mit dieser Situation anfangen können,<br />

wird endlich ein Dolmetscher herbeigeholt. Eigentlich<br />

würden wir nur deshalb solange gewartet haben, weil<br />

er von weit herkäme, sagt er uns. Napiontek besteht nun<br />

darauf, mit der deutschen Botschaft Kontakt aufnehmen<br />

zu wollen, was man sogleich ablehnt. Wir sind im Urlaub<br />

am Balaton, sagte ich einem der dürren Grenzbeamten,<br />

denen ihre kommunistische Wachbereitschaft nur so aus<br />

den Augen sprühte. Dort wären auch die kleinen Töchter<br />

meines Freundes, meine Frau und mein Sohn, rede ich<br />

weiter und der Dolmetscher übersetzt alles ins Ungarische.<br />

Viel Zeit vergeht. Sie überprüfen das und danach<br />

dauert es nicht mehr lange bis sie uns endlich ohne weitere<br />

Kommentare und ohne irgendeine Entschuldigung


139<br />

gehört zu haben, entlassen. Man saugt erst mal die frische<br />

Luft ein. Die Enttäuschung, keinen Fang gemacht<br />

zu haben, war den dienstbeflissenen Häschern in die Gesichter<br />

gemeißelt. Wir laufen langsam herüber zum<br />

Auto, das immer noch so unverschlossen steht, wie wir<br />

es verlassen hatten. Niemand ist in der Nähe. Ich sehe,<br />

dass uns das Gesindel mit einem Fernglas aus dem<br />

Fenster der Station beobachtet, vermute, dass sie uns<br />

bald schon verfolgen würden und ahne noch Schlimmeres.<br />

Schließlich kommt man ja aus dem deutschen<br />

Staatsgulag. Erfreulich ist, dass das Fahrzeug nicht<br />

durchsucht worden war. Napiontek fällt der sogenannte<br />

Stein vom Herzen, und es ist ein besonders großer –<br />

hatte er doch einen Gasrevolver im Handschuhfach liegen<br />

gehabt. „Das wäre dann sicherlich das Ende gewesen“,<br />

sagt er noch voller Unruhe und lächelt spitzbübisch.<br />

Dieses Lachen, sein Witz vor allem, macht ihn sympathisch.<br />

So hatte sich keiner von uns beiden diesen Ausflug<br />

vorgestellt. Auch die Mengen an antiken Utensilien<br />

aus Szeged hätten uns größte Schwierigkeiten einbringen<br />

können. Wir eilen nicht gerade von dannen, fahren<br />

in gespielter Ruhe ab, damit wir nicht weiteres Misstrauen<br />

erzeugen. Auf allen Straßen und Wegen bewegen<br />

wir uns sehr langsam und weitaus vorsichtiger, als auf<br />

der Hinfahrt. Nur nichts verursachen, was einen in die<br />

Fänge dieses Polizeistaates zurückbringt. Auch die Tiere,<br />

die nachts die Trassen überqueren, sind ein Grund, recht<br />

langsam zu fahren. Einmal springt ein Rudel Damwild<br />

im Scheinwerferlicht über die Straße. Angeleuchtet wirken<br />

die Tiere mit den mächtigen Geweihen wie Gestalten<br />

aus der Urzeit! Sie haben es nicht gerade eilig, über<br />

die Straße zu kommen. Nochmal Glück gehabt! Zu später<br />

Stunde – schon graut der Morgen – sind wir wieder<br />

am Balaton. Auf dem Zeltplatz werden wir nicht erwartet<br />

und sprechen daher erst am Morgen darüber, was auf<br />

dieser Reise passierte. Napiontek weiß jetzt aus eigenem<br />

Erleben, wie der reale Sozialismus aussieht und<br />

kann sich nun noch besser vorstellen, warum es uns in<br />

den Westen zieht. Eine Idee, wie man das ohne Probleme<br />

bewerkstelligen könnte, hat er verständlicherweise<br />

nicht parat. Wir schauen uns seinen Wohnwagen<br />

an. Platz zum Verstecken böte der, aber Napiontek meint,<br />

die Grenzer kämen mit Hunden in den Wagen und die<br />

würden dann alles finden. Diese Tiere sind besonders<br />

darauf abgerichtet. Zudem glaube ich, schon hier auf<br />

dem Platz beobachtet zu werden. Es ist bereits eine Phobie.<br />

Man weiß ja nur zu gut, dass die Spitzel der Staatssicherheit<br />

auch auf den ungarischen Zeltplätzen ihr<br />

Unwesen treiben. Also heißt es auch hier sehr schnell:<br />

nichts wie weg! Wir verabschieden uns, für alle sichtbar,<br />

von dem neuen Freund. Dass wir uns bereits für den<br />

Abend in Budapest verabredet haben, kann außer uns<br />

niemand wissen. Wir übernachten alle im Grandhotel<br />

nahe der Matthiaskirche. Dort oben werden wir zunächst<br />

zwei Tage seine kleine Tochter Katja betreuen, während<br />

er zurück nach Deutschland fliegt, um die andere Tochter<br />

zu ihrer Mutter zurückzubringen. Schon einen Tag später,<br />

am 4. September, ist er bereits wieder im Hotel. Er flog<br />

von Budapest nach Frankfurt und über Wien wieder zurück,<br />

und die Vorstellung wie einfach das Reisen sein<br />

kann, steigert sowohl bei Heidrun als auch bei mir die<br />

endgültige Absicht, sobald es nur ginge, dem Osten den<br />

Rücken zu kehren. Das Wann und Wie sind zum Dauerthema<br />

geworden. Napiontek erzählt von seinem Arbeitskollegen<br />

Alexander, der in der Werbeabteilung bei<br />

Alibert freiberuflich tätig ist. Der würde was von Kunst


140<br />

verstehen und ihn könnte er auch nach Görlitz mitbringen,<br />

wenn er uns dort einmal besuchen käme. Dieser<br />

Alexander hätte immer gute Ideen, auch was eine Flucht<br />

aus dem Osten in den Westen – wo immer auch – anginge.<br />

Wir verabreden uns noch für den Herbst und reisen<br />

aus Ungarn mit einer so großen Zuversicht ab, wie<br />

wir sie selten zuvor hatten. So wie hier und natürlich viel<br />

besser, muss es im Westen wohl sein. Das ist ohnehin<br />

die unumstößliche Überzeugung und alle weiteren<br />

Handlungen sollen auf dieses endgültige Ziel ausgerichtet<br />

werden.<br />

November 1980<br />

Die Besuche von Rainer Napiontek, Alexander Jeiszig<br />

und dessen Frau Luitgard finden unregelmäßig aber oft<br />

statt. Wir arbeiten intensiv daran, wie es meiner Frau,<br />

meinem Sohn und mir gelingen könnte, aus der DDR herauszukommen.<br />

Alle sprühen vor Ideen. Zum ersten Besuch<br />

von Napiontek und Alexander Jeiszig kam es<br />

bereits in der Zeit vom 22. bis 24. November. Sie lernen<br />

unser Leben im Osten und vor allem unsere Gastfreundschaft,<br />

auch die unserer Schwiegereltern und Freunde,<br />

kennen. Die Tage vergehen schnell. Auf dem Rückweg in<br />

den Westen nehmen sie erste Dinge von mir mit, vor<br />

allem Glasobjekte, Zeichnungen und Holzreliefs. Die gesamte<br />

Ladung wird ihnen dann allerdings vom Zoll an<br />

der innerdeutschen Grenze bei Wartha wieder abgenommen.<br />

Bei erneuter Einreise in die DDR, würde man ihnen<br />

jedoch erlauben, „das ganze Zeug“ wieder zum Künstler<br />

zurückzubringen. Bis dahin würde alles am Grenzübergang<br />

deponiert bleiben. Der Zoll konnte nicht wissen,<br />

dass der nächste Besuch schon abgesprochen war und<br />

nicht in so weiter Ferne lag. Zu Silvester sind alle wieder<br />

in Kunnersdorf und sie kehren mit dem zurück, was sie<br />

vor einem Monat mit nach Hause nehmen wollten. Die<br />

Zöllner trugen das aufgelistete Material zum Auto der<br />

Freunde und halfen sogar beim Verstauen. Es war kaum<br />

noch Platz, denn auch Luitgard war diesmal im Auto. Sie<br />

alle bleiben bis zum 4. Januar, fahren dann wieder zurück<br />

nach Frankfurt am Main und kommen diesmal ohne<br />

Kontrolle durch. So einfach kann es sein. Im Februar<br />

sind sie wieder da. Wir besuchen Eberhard und Heidi<br />

Klinger in Meißen. Die beiden werden dort aber bald<br />

ihre Wohnung aufgeben. Wir feiern die ganze Zeit über<br />

im Hamburger Hof, der im Stadtteil Cölln liegt. Hier<br />

haben wir Zimmer bezogen. Die Klingers schlafen zu<br />

Hause. Alexander amüsiert sich darüber, dass man bei<br />

ihnen die Toiletten auf der sogenannten halben Treppe<br />

benutzen muss. In der Wohnung selbst gibt es keine. An<br />

einem Abend sind wir auch lange bei Klingers. Napiontek<br />

ist nun absolut in Heidrun verliebt. Eberhard Klinger<br />

meint dazu, dass so etwas den Bemühungen um die<br />

Übersiedlung in den Westen nur dienen kann. Wie<br />

immer kichert er diabolisch dabei. Ich gebe ihm recht.<br />

Nappi hat nur Augen für Heidi und ertränkt seine Sehnsucht<br />

nach ihr im Meißner Wein. In seinem trunkenen<br />

Übermut bietet er uns allen auf dem Heimweg einige<br />

Kunststücke auf dem Geländer der Eisenbahnbrücke.<br />

Die Brücke führt über die Elbe, auf der riesige Eisschollen<br />

treiben. Dass er nicht abgestürzt ist, hat er unserer<br />

Obhut zu danken. Es grenzt trotzdem an ein Wunder,<br />

dass wir das geschafft haben. Am nächsten Morgen<br />

sieht er es auch so und dankt uns und dem Himmel,<br />

dass wir ihn an weiteren akrobatischen Vorführungen<br />

gehindert haben. Jedenfalls hat er gut geschlafen. Ansonsten<br />

bleibt es in den Unterhaltungen beim Haupt-


141<br />

thema: der Flucht in den Westen. Die Planungen und<br />

Ideen nehmen die seltsamsten Formen an. Der Neusiedler<br />

See kommt immer mal wieder in die nähere Betrachtung.<br />

Ein Teil davon liegt auf ungarischem Gebiet. Meine<br />

leichtgläubigen Freunde aus dem Westen lassen sich<br />

nicht davon abbringen, selbst dorthin zu fahren und die<br />

ganze Gegend von beiden Seiten zu inspizieren. Im<br />

Sommer 1981 ist es soweit. Sie sind dann in Österreich<br />

und Ungarn unterwegs, um Fluchtmöglichkeiten zu erkunden.<br />

Ich hätte es ihnen vorher noch deutlicher sagen<br />

sollen, dass das der falsche Ansatz ist. Sie kehren mit<br />

der Einsicht zurück, dass es gerade dort zwecklos wäre.<br />

Wenn man nicht erschossen wird, ertrinkt oder versinkt<br />

man im Schlamm. Bald schon kommt Alexander noch<br />

mit der Idee seines amerikanischen Freundes Tom an,<br />

der als Offizier bei den US-Truppen in Westdeutschland<br />

dient: ein auf den Rücken zu schnallendes Fluggerät<br />

nach Plänen, die er bei der Army besorgen wolle, im<br />

Osten zu bauen, um damit in die Freiheit zu schweben,<br />

am besten in Berlin. Auch mit solchen Hirngespinsten<br />

kann ich nicht viel anfangen. Zudem ist der Amerikaner<br />

einer, der davon überzeugt ist, dass es im Osten nur<br />

Kommunisten gibt. Dieselbe Mär hören wir tagtäglich<br />

im Osten auch, aber umgekehrt, dass der ganze Westen<br />

von Klassenfeinden übersät und vor allem voller Nazis<br />

sei. Im Gegensatz zum Ami können wir die Dinge allerdings<br />

auseinanderhalten. Also müssten neue Möglichkeiten<br />

gesucht werden. Wir sind mit dem Latein am<br />

Ende. Heidrun und ich beschließen daher, den von so<br />

vielen schon gegangenen Weg über einen Antrag zur<br />

Ausreise zu versuchen. Der Zeitpunkt muss gut gewählt<br />

sein, ansonsten besteht keinerlei Aussicht auf Erfolg. Wir<br />

sind sicher, dass wir uns auf eine lange Wartezeit einzu-<br />

richten haben und ich beginne damit, die Gründe für unseren<br />

Entschluss zu notieren. Wir sprechen auch mit den<br />

Eltern über unser Vorhaben und ernten wohl Verständnis,<br />

wenn auch keine Zustimmung. Ihre Sorge gilt vor<br />

allem Daniel, an dem sie mehr hängen, als an uns. Alle<br />

Freunde, vor allem auch die in Görlitz, sind bald schon<br />

in Kenntnis gesetzt und es hat sich schnell in der ganzen<br />

Stadt herumgesprochen, dass nun auch der „Künstler“<br />

gehen will. Die Meinungen dazu sind differenzierter, als<br />

man es sich hätte vorstellen können – vom kometenhaften<br />

Aufstieg bis zum totalen Untergang, den ich zu erwarten<br />

hätte, ist die Rede und auch davon, dass ich in<br />

der DDR ohnehin bald eingesperrt werden würde.<br />

„Lange macht der es nicht mehr!“, war das alles übertönende<br />

Gemurmel, und viele erwarteten das mit sehnsüchtiger<br />

Häme. Ich wusste ohnehin, in welcher Welt, in<br />

welcher Gesellschaftsordnung ich zu leben hatte. Hier<br />

lernte man noch immer von einer Sowjetunion, die alles<br />

richtig machte, in der bald Milch und Honig fließen würden,<br />

denn man stand ja kurz davor, dass das Manna aus<br />

dem kommunistischen Füllhorn jeden nach seinen Bedürfnissen<br />

zufriedenstellen würde. Die Wirklichkeit sah<br />

dort anders aus, noch erbärmlicher als im Osten<br />

Deutschlands. Bald sollte ich das mit eigenen Augen erleben<br />

können.<br />

Kunnersdorf, 3.11.1980<br />

Drei Tage lang war ich in der zurückliegenden Woche im<br />

Harz und habe dort im Glaswerk Derenburg Experimente<br />

durchgeführt. So blieb ein großer Teil anderer<br />

wichtiger Arbeit unerledigt. Ich muss Rechnungen,<br />

Briefe, Kostenanalysen und Zeitpläne in die Maschine<br />

schreiben, Tätigkeiten, die jedem an Kunst orientierten


142


143<br />

Menschen an die Nerven gehen, aber nicht erspart bleiben,<br />

will er am Ball bleiben. Die heutige Zeit ist von inflationärer<br />

Tendenz. Das heißt, die Waren sind zu teuer, die<br />

Leute verdienen nicht genug und das Geld hat keinen<br />

Wert. Alles deutet auf weitere Schwierigkeiten in der Zukunft.<br />

Erich Honecker erinnert die Welt wieder einmal<br />

daran, dass es nötig wäre, den Leuten in der DDR eine eigene<br />

Staatsbürgerschaft anzuerkennen. Nach dem Grundgesetz<br />

Deutschlands bleiben wir allerdings Deutsche mit<br />

Wohnsitz in der DDR. Irgendwie möchte man uns wohl<br />

auch gerne eine andere Sprache verpassen. Die Oder-<br />

Neiße-Grenze haben sie schon einseitig auf ewig zementiert<br />

und da wird ihnen das wohl auch noch gelingen. Am<br />

besten gleich russisch! Wie formulierte es Brecht in etwa?<br />

„Wenn die Regierung mit dem Volk nicht zufrieden ist, soll<br />

sie sich doch ein anderes suchen”. Einfacher ist es umgekehrt.<br />

Mit den Polen könnte man das nicht machen. Dank<br />

des tief verwurzelten Katholizismus haben es dort die Regierenden<br />

schwer. Dazu noch die „Solidarität-Bewegung”<br />

und Karol Józef Wojtyła, der Landsmann als Papst in Rom.<br />

Das Gebälk wackelt.<br />

Kunnersdorf, 5.11.1980<br />

Meine Auftragslage sieht momentan so aus, dass ich für<br />

viele Berliner Institutionen arbeite, so für das Werkzeugmaschinenkombinat<br />

und die Humboldt-Universität. Die<br />

Design-Arbeit, wie auch die bildkünstlerische, ist dabei mit<br />

einem hohen Grad eigenen Managements verbunden.<br />

Das ist zwar eine gute Konstellation für mich, kostet jedoch<br />

viel Kraft und raubt die Zeit für wahre künstlerische<br />

Arbeit. Die Nächte in den großen Hotels bieten zwar viel<br />

Abwechslung, doch die Stunden an der Bar mit Whisky,<br />

Cognac oder Bier sind unproduktiv, nutzt man sie nicht<br />

wenigstens gedanklich. Allerdings mit netten Mädchen, was<br />

ja hin und wieder auch vorkommt, ist die Zeit nicht vertan.<br />

Dieses Abschalten von den Problemen des Alltags gehört<br />

zur Reproduktion der Arbeitskraft und der geistigen Fähigkeiten.<br />

Im Menschen arbeitet noch immer auch das Tier,<br />

wenn auch zuweilen nur das Faultier, wenn ich mir mal<br />

einen der klassischen Witze zu zitieren erlaube. Ich lese<br />

Ödön von Horváths Geschichten aus dem Wienerwald. Auch<br />

so ein Großer der Literatur, den die Nazis vor sich hergetrieben<br />

hatten und der noch vor dem infernalen Krieg in Paris<br />

ums Leben gekommen ist. Wenigstens musste er diesen<br />

nicht mehr erleben. Ronald Reagan ist neuer Präsident der<br />

USA. Der alte Schauspieler wird einen anderen Wind in die<br />

Politik bringen. Die Zeit des Erdnusskaspers ist endlich vorbei.<br />

Helmut Schmidt bleibt Kanzler – auch gut! Brandt wäre<br />

der DDR sicher lieber gewesen. Wir vom Osten verstehen<br />

nichts von Demokratie, auch nichts von den Parteien, also<br />

auch nichts von der SPD. Es ist bereits neuer Tag, als ich das<br />

niederschreibe und ich habe ein Glas mit Juice vor mir stehen.<br />

Hin und wieder nehme ich einen Schluck, denn ich<br />

brauche zur Zeit keinen Alkohol, sondern Vitamine. Der<br />

Keim einer Krankheit frisst sich in mir langsam hoch. Als<br />

klassischer Hypochonder denke ich sofort an den baldigen<br />

Tod, der mir allerdings weniger Angst einflößt, eher der Zustand<br />

wie er eintreten wird. Mit dem Schwert geköpft, von<br />

Häschern ertränkt, von Kugeln getroffen, vergiftet, am Strick<br />

aufgehängt, erschlagen oder nur ganz einfach im Bett für<br />

immer eingeschlafen. Epikur sieht es optimistischer: „Mit<br />

dem Tod habe ich nichts zu schaffen. Bin ich, ist er nicht. Ist<br />

er, bin ich nicht!”. Sich selbst in gewisser Ausweglosigkeit<br />

eine Kugel zu geben, halte ich noch für einen ehrenvolleren<br />

Abschied aus dieser dümmlichen Welt, als sich auf staatlichmedizinische<br />

Anordnung hin in einer der Irrenanstalten ein-


144


145


180<br />

gibt er zu verstehen; bewundert mich allenfalls insgeheim.<br />

Uli schläft bei den Diskussionen am Tisch ein. Ich<br />

bin im „Stadt Berlin” einquartiert, und es wird dort wohl<br />

eines unserer letzten kleinen Feste gewesen sein. Morgens<br />

um 9 Uhr habe ich einen Termin bei Dr. Jäger in der<br />

Musikhochschule – einem alten Gebäude, in dem einst<br />

Goebbels seinen demagogischen Reden freien Lauf<br />

ließ – wegen des weiteren Ablaufs der künstlerischen<br />

Ausgestaltung. Freund Morgenstern ist nicht anwesend.<br />

Ich höre, dass er bis zum Juli im Urlaub sein wird. Das<br />

passt mir nicht ins Procedere, denn dadurch kann es zu<br />

Verzögerungen kommen. Uli, der bei der Besprechung<br />

dabei ist, will einige Helfer aus Berlin rekrutieren. Meine<br />

feste Absicht ist es heute auch, die Ständige Vertretung<br />

der Bundesrepublik aufzusuchen, um dort meinen Ausreiseantrag<br />

zu hinterlegen. Dabei muss jeder, der so<br />

„Krieg und Untergang” Relief, Lindenbaum, 1983, 123 x 85 x 15 cm,<br />

(unvollendet und noch kurz vor der Ausreise arbeitete ich daran)


Der inoffizielle Mitarbeiter „Thomas”, arbeitete noch bis zur Enttarnung als Direktor<br />

des Görlitzer Museums. Sein Bericht ist ein Dokument von vorauseilendem Gehorsam.<br />

Er hatte keine Veranlassung, das alles berichten zu müssen.<br />

181


362<br />

China – Oktober 1985<br />

Vom Künstlerverband Frankfurt am Main wird eine Ausstellungsreise<br />

nach China organisiert. Es melden sich<br />

dazu etwa zwanzig Kollegen, die alle in der Halle des Volkes<br />

in der sogenannten Verbotenen Stadt ihre Arbeiten<br />

ausstellen werden. Die geplante Route der Reise ist vielversprechend,<br />

und für mich wird es eine Reise zurück in<br />

den Steinzeitkommunismus werden. Darauf bin ich<br />

mehr als gespannt, denn eine Reise von Ostdeutschland<br />

nach China lag, wie auch die vielen anderen Ziele,<br />

immer im Bereich der Utopie. Ich bin bewaffnet mit einer<br />

schweren Videokamera und einem Fotoapparat mit<br />

einem dazugehörigen Berg an Diafilmen, habe ansonsten<br />

außer dem Koffer nur eine kleine Reisetasche. Man<br />

weiß es ja inzwischen, dass zu viel Gepäck nur Schwierigkeiten<br />

bringt.<br />

15. Oktober 1985<br />

Wir fliegen mit der Lufthansa im Jumbo. Gut ist, dass<br />

der Verband die Plätze so belegen ließ, dass wir alle zusammen<br />

sitzen können. So entwickelt sich während des<br />

Fluges eine Partystimmung. Der legendäre Vorsitzende<br />

Paul Rötger, ein Urhesse mit immer guter Laune, ist hin<br />

und wieder dabei, zu schlafen. Er darf das, denn er ist<br />

schon weit über Siebzig. Pitt Lörincz, Fred Brosius, Bernhard<br />

Marx, Kurt Glombig, Albert Hahn, Dina Kunze, Dagmar<br />

Hirsch-Post, Betti Häring und andere Künstler aus<br />

Frankfurt sind dabei. Auf dem Flug lernen sich die meisten<br />

erst kennen. Ich bin der absolute Neuling hier, werde<br />

aber bald schon herzlich aufgenommen. Zur Zwischenlandung<br />

kommt es in Karachi. Es ist dunkle Nacht, als<br />

das Flugzeug betankt wird. Keiner darf die Maschine verlassen,<br />

weil pakistanische Grenzbeamte an Bord kommen.<br />

Sie kontrollieren vor allem, ob alle Alkoholbehälter<br />

gut versiegelt und verplombt sind. Auch wir wurden<br />

vom Steward aufgefordert, Wein, Schnaps oder Bier<br />

nicht offen zu präsentieren. Das könnte unangenehme<br />

Folgen haben. Der Steward hält nur den Finger an die<br />

Kehle. Nun weiß jeder, dass es ernst gemeint ist. Ich<br />

brauche etwas Luft und mache einen kleinen Spaziergang<br />

bis zu der an die Bordwand herangefahrene-<br />

Treppe, begebe mich aus dem Flieger heraus, um auf<br />

pakistanischem Boden zu stehen. Eine Stewardess, die<br />

das sieht, mich aber nicht mehr zurückhalten kann, ist<br />

außer sich vor Schrecken. Das sei gar nicht erlaubt, ruft<br />

sie mir zu. Doch ich bin schon unten angelangt. Der


363<br />

Wachposten, der am mobilen Abstieg steht, lächelt mir<br />

jedoch sehr freundlich zu. So gehe ich weiter und mache<br />

einige Lockerungsübungen an der Luft. Ich habe also mit<br />

beiden Beinen auf dem Boden der Islamischen Republik<br />

Pakistan gestanden, wenn auch nur auf deren Beton.<br />

Auch war ich der einzige an Bord, der etwas von der frischen<br />

Morgenluft abbekam. Gleich war ich der Einbildung<br />

unterlegen, alle Wohldüfte auf einmal einzusaugen.<br />

Ich salutiere dem Posten, ernte ein weiteres Lachen<br />

und steige wieder ein. Die Stewardess spricht nicht<br />

mehr mit mir, als ich an ihr vorübergehe, um an meinen<br />

Platz zu gelangen, wo man mich wie einen verlorenen<br />

Sohn empfängt. Sicher hat sie dort Panik verbreitet,<br />

denn die Damenwelt schnattert auf mich ein, der Gefährdung<br />

aller wegen, aber ich sitze bereits neben den geselligen<br />

Altkünstlern, denen ich die Geschichte meines<br />

kleinen Ausfluges nun detailliert zusammendichten<br />

muss. Dann endlich der Weiterflug nach Peking. Der dauert<br />

noch einige Stunden und so schlafen alle bald friedlich,<br />

um für den ersten Tag in China fit zu sein. Ich jedoch<br />

kann nicht einschlafen. Flugangst kenne ich zwar noch<br />

nicht ganz, und so schau ich oft aus dem Fenster. Irgendwann<br />

ist ein mächtiger Knall zu hören. Die Maschine<br />

gerät dazu noch in Turbulenzen und beginnt ziemlich<br />

stark zu vibrieren. In den Gesichtern einiger anderer<br />

davon aufgeschreckter Leute sehe ich, dass nun die<br />

Angst umgeht. Alle blicken um sich, sind unruhig auf<br />

den Plätzen. Keiner steht mehr auf und die Leute, die auf<br />

dem Wege zur Toilette waren, eilen zu ihren Plätzen zurück.<br />

Aber bald schon kehrt wieder Ruhe ein und alle<br />

Hasen fallen erneut in den Schlaf zurück. Durch das<br />

Fenster auf der gegenüberliegenden Seite sind die von<br />

der Morgensonne angestrahlten Gipfel des Himalaya-<br />

Gebirges gut zu erkennen. Sie sind in rotes Licht gesetzt,<br />

und lassen einen glauben, dass man an einer Filmkulisse<br />

vorbeigleitet. Mehr an Unwirklichkeit kann es wohl<br />

nicht geben. Unsere eigene Fensterseite – wir sitzen weit<br />

hinten – ist von jetzt an kaum mehr zu durchschauen,<br />

wirkt wie von einem Schleier bedeckt. Man sagte später,<br />

garantiert sei eine Ölleitung gerissen gewesen. Es wird<br />

ja immer viel dazugedichtet. Aber später, längst wieder<br />

zu Hause, höre ich von Jupp, der sich in Frankfurt bei<br />

seiner Lufthansa danach erkundigte, dass es auf dem<br />

Flug doch einige Probleme gegeben hat, von denen die<br />

Passagiere nichts mitbekamen. Wie gut also vor allem,<br />

dass auch ich nicht noch mehr davon erleben musste!<br />

16. Oktober 1985<br />

Am Morgen gegen sechs Uhr landen wir in Peking. Es<br />

ist noch nicht ganz hell draußen. Einige Offizielle holen<br />

uns ab. Eine kleine Rede wird gehalten, für die sich niemand<br />

so recht interessiert. In einem Kleinbus werden<br />

wir in die Innenstadt gebracht. Das Fahrzeug quält sich<br />

durch Tausende Fahrradfahrer hindurch. Leute sind das,<br />

die zur Arbeit fahren, sagt man uns. Autos sieht man<br />

kaum auf den Straßen, dafür aber um so mehr Lastwagen.<br />

Die Masse der Fahrräder ist jedoch mehr als nur unbegreiflich<br />

groß. Die Chinesen bringen uns in ein<br />

Gästehaus der Regierung, das mitten in der Stadt liegt.<br />

So scheint es jedenfalls. Wie groß Peking wirklich ist,<br />

kann man nur erahnen. Manche Leute fahren mehr als<br />

eine Stunde auf dem Fahrrad zur Arbeit, erzählt man uns<br />

und eine Frau Li, die sich mit piepsender Stimme vorgestellt<br />

hat, übersetzt alles singvogelartig, sich sehr<br />

freundlich gebend. Eine routinierte Genossin, denke ich<br />

mir. Bei dem Gästehaus handelt es sich um ein Gebäu-


364<br />

dekomplex im alten Teil Pekings, einer Villa des ehemaligen<br />

chinesischen Führers Chiang Kai-shek. Wie ich<br />

eben erst im Spiegel lese, erfährt der alte Generalissimus<br />

gerade wieder so etwas wie eine Rehabilitierung in<br />

China und der Welt. Man verschweigt nicht mehr, dass<br />

er ein Patriot war, der mit dabei half, die Japaner zu vertreiben,<br />

die wohl hier verhasst bis in alle Ewigkeit bleiben<br />

werden. Wir fahren also durch das großes Tor in den<br />

riesigen Innenhof des früheren Wohnsitzes eines fast Rehabilitierten.<br />

Wer hätte daran noch vor einem Jahr gedacht.<br />

Dieses Areal ist von ziemlich flachen Bauten im<br />

traditionellen Stil gerahmt. Mächtige rote Holzsäulen<br />

tragen die alten Dächer, die nicht den Eindruck von zeitgerechter<br />

Instandsetzung machen. Einige Bäume stehen<br />

auf dem Platz und etwa zehn Leute – meist Männer in<br />

blauen Arbeitskitteln – besser gesagt in einer Einheitskluft,<br />

die unseren früheren Schlossertrachten sehr ähnlich<br />

ist, stehen da, schauen zu uns herüber und rauchen<br />

ihre weißblinkenden Zigaretten. Andere fegen das Laub,<br />

das überall herumliegt, mit großen Rutenbesen auf rie-<br />

sige Schaufeln. Auch die Frauen tragen Männerkleidung.<br />

Sie blicken uns an, als ob wir von einem anderen Stern<br />

kämen. Was bleibt einem anderes übrig als das müde<br />

Gesicht in ein freundliches zu verwandeln. Als ich ausgestiegen<br />

bin, sehe ich über die Dächer hinweg und<br />

habe wieder einen Blick in die reale Welt von heute. Man<br />

sieht dort riesige Wohnblöcke, die einen noch mehr verwahrlosten<br />

Eindruck machen, als das, was man aus<br />

Sowjetrussland gewohnt ist. Unsere Koffer stehen<br />

schon im Gebäude parat, als wir es nach und nach betreten.<br />

Sicher hat man sie schon durchleuchtet, wiehert<br />

Bernhard. Drinnen spricht mit uns die kleine Dolmetscherin<br />

Li Jinhui und verweist auf das umfangreiche<br />

Programm. Immer wieder schaut sie dabei zu einen<br />

Herrn An herüber. Er ist unser Betreuer von der „Chinesischen<br />

Gesellschaft für die Freundschaft mit dem Ausland“.<br />

Wenn ich solche Bezeichnungen höre, wird mir<br />

wieder klar, wohin es mich verschlagen hat. Ich werde<br />

also auf der Hut sein müssen. Die Altwestler dagegen<br />

schwelgen in ihrer unfassbaren, aber dennoch begreiflichen<br />

Naivität. Einige von denen, das ist mir gleich klar,<br />

sind dem Kommunismus mehr zugetan als ihrer demokratischen<br />

Heimat. Alle finden den Aufpasser An mehr<br />

als nett. Jedoch bin ich nicht der einzige, der sofort erkennt,<br />

dass dieser Herr An vom Sicherheitsdienst zu unserer<br />

Beobachtung abgestellt wurde. Auch Pitt Lörincz<br />

weiß das natürlich. Jedes mitgereiste Paar bekommt ein<br />

großes Zimmer, die Einzelreisenden auf Wunsch ein<br />

kleineres. Bernhard Marx und ich teilen uns einen komfortablen<br />

Raum und sind mehr als zufrieden, dass es<br />

erst einmal Tee gibt, denn ein jeder spürt hier seinen trockenen<br />

Hals. Der Tee wird uns von jungen Kellnern gereicht,<br />

die weiße, aber leicht befleckte Jacketts tragen.<br />

Ausstellung in Peking<br />

Tuschezeichnung aus dem Jahre 1983, 73 x 102 cm


365<br />

Ich mache eine Aufnahme und sie stehen sogleich still<br />

und stramm wie Soldaten, denn es sind ja auch welche,<br />

zwar ohne Uniform, aber im Dienst wie Herr An, ebenfalls<br />

mit zusätzlichen Aufgaben betreut. Der Gast ist dennoch<br />

König, steht aber unter Beobachtung. Paul Rötger<br />

stimmt das Programm ab und sagt den Chinesen, dass<br />

wir, entgegen ihrer Vorgaben aus Peking, auch andere<br />

Bilder mitgebracht hätten. Man sollte aber keine Angst<br />

davor bekommen, unterstreicht er seine Rede mit lautem<br />

Lachen. Die Chinesen hatten ja unter anderem<br />

darum gebeten, keine Aktbilder in die Ausstellung zu<br />

bringen. Kommunismus und Islam ähneln sich hier in<br />

den Ansichten, wäre da nicht noch das kommunistische<br />

Europa, wo Aktmalerei noch zur Kunst zählt und die Verklemmungen<br />

allenfalls politisch sind. Wenigstens das<br />

hat man noch, wo doch die Bordelle schon aus dem Ge-


366<br />

dächtnis getilgt worden sind, und Hurerei nur den kommunistischen<br />

Kadern, den Sekretären und dem Politbüro<br />

vorbehalten ist. Ich schaue mir nochmals den<br />

sandigen Hof und die Gebäude ringsum in aller Ruhe<br />

an. Einige Minuten später gehe ich auf die etwas abseits<br />

stehenden Arbeiter zu und schenke ihnen einige Packungen<br />

Zigaretten. Sie erschrecken zunächst regelrecht,<br />

nehmen sie dann aber an, als sie am Eingang des Hauses<br />

keinen Beobachter entdecken. Jetzt sehe ich auch die<br />

Garagenkomplexe für die Nomenklatura. Der Verfall ist<br />

erschreckend. Das ist das Gesicht des Kommunismus.<br />

Jeder Europäer kann hier sehen, wie die Zukunft unter<br />

der Regie der Roten auch zu Hause aussehen würde,<br />

passt man dort nicht besser auf. Ich werde meinen Teil<br />

zur Aufklärung leisten. Überall zieht ein Geruch von verbrannter<br />

Kohle durch die Luft. Schon beim Aussteigen<br />

bemerkte man das. „Wir haben eine Luft hier, die alles<br />

andere als sauber ist”, sagt Li leise, nachdem ich mich<br />

bei ihr nach der Herkunft des alles durchdringenden Gestanks<br />

erkundige. Momentan ist es in Peking sehr kalt.<br />

Leider habe ich zu Hause nicht daran gedacht, eine dickere<br />

Jacke mitzunehmen. Aber nach einigen Tagen soll<br />

es ja in den Süden gehen. Ich werde es irgendwie aushalten<br />

müssen. Ob es etwas zu kaufen gibt, weiß ich<br />

noch nicht. Bernhard will mir einen Pullover leihen. Alle<br />

regen sich jetzt über den Geruch von Kohle auf, der mich<br />

an die DDR erinnert. Wir erfahren daher gleich noch,<br />

dass man hier mit Kohlen, den kleinen Briketts heizt, und<br />

die Luft eher noch schlechter werden wird – besonders<br />

nachmittags unten in der Stadt und dass man eben erst<br />

begonnen habe, mit dem Heizen. Draußen auf dem<br />

Land, an der chinesischen Mauer, würde alles viel klarer<br />

sein, die Sicht und auch die Luft. Welch ein Trost! Wir<br />

sind auf alles gespannt und neugierig dazu, haben allerdings<br />

mit solchem Schmutz nicht gerechnet.<br />

Pitt Lörincz sitzt schon in einer Ecke des Hofes auf einer<br />

Treppe und skizziert. Das wird er die ganze Reise über<br />

so machen. Mit Kurt Glombig unterhalte ich mich. Er ist<br />

sehr an meiner Situation interessiert. Bernhard Marx<br />

und ich sind in unserem allgegenwärtigen Hang zur Lustigkeit<br />

vereint. Einige Damen stört das schon. Sie geben<br />

sich nur offiziell. Ihre provinzielle, regionale Bekanntheit<br />

ist ihnen zu Kopf gestiegen. Alles Gebälk der Residenz<br />

ist – der Tradition entsprechend – mit roter Farbe angestrichen.<br />

Die dicken Stämme an den Eingängen tragen<br />

die Hauptlast des Vordaches. Nur Feuer kann ihnen<br />

etwas anhaben, höre ich aus einem kleinen Vortrag von<br />

Frau Li heraus. Sie ist bemüht, immer etwas zu sagen.<br />

Das hilft ihr, die Sprache besser zu verstehen, betont sie<br />

öfter mal. Ich beschließe, noch einen Spaziergang zu<br />

machen und gehe durch das große Tor in die kleinen<br />

Gassen der Umgebung hinaus. Nach etwa einer Stunde<br />

will ich wieder zurück sein und bemerke sehr spät, dass<br />

ich die Adresse des Quartiers nicht aufgeschrieben habe.<br />

Ohne Sorge laufe ich weiter, frage dann aber doch einige<br />

Leute. Aber keiner versteht mich, wenn auch alle<br />

sehr nett und höflich sind, und dazu immer ein Lächeln<br />

auf dem Gesicht zeigen. Und alles sieht hier plötzlich so<br />

gleich aus, dass man keine Orientierung mehr hat. Ich<br />

denke schon daran, vielleicht in die Botschaft zu fahren,<br />

als ich Kurt in der Menschenmenge entdecke. Er kommt<br />

auf mich zu und ruft schon von weitem: „<strong>Roy</strong>, es ist ein<br />

Glück, dich hier zu treffen, ich habe mich verlaufen.<br />

Weißt du, wo der Palast ist?”, will er aufgeregt in Erfahrung<br />

bringen. Ich will ihm gerade antworten, dass es mir<br />

auch so ginge, und dass auch ich der Verzweiflung nahe


367<br />

sei, da sehe ich das Tor in etwa dreißig Metern Entfernung.<br />

So antworte ich ihm: „Na Kurt, da drüben ist er<br />

doch, der Palast!“. Erleichtert gehen wir beide gemeinsam<br />

durch die Pforte. Wir umarmen uns. Drinnen wartet<br />

man bereits mit dem Essen. Die Kellner freuen sich, dass<br />

wir nicht verloren gegangen sind und auch Frau Li erinnert<br />

uns, dass wir uns nicht abgemeldet hätten. Ach so,<br />

ja! Ich bin ja im Kommunismus zu Gast. Wir genießen<br />

die Rückkehr, als ob wir es aus der Wildnis in die Zivilisation<br />

zurückgeschafft hätten. Die Ausstellung in der Verbotenen<br />

Stadt ist von den Chinesen aufgebaut worden.<br />

Nun lernen wir die chinesische Bilderhängung kennen.<br />

Alle Beiträge sind ohne Zwischenräume dicht an dicht<br />

gepresst. Das erweicht unsere Herzen nochmals und mit<br />

allem Grund. Hunderte Erwachsene und viele Kindergruppen<br />

werden durch diese Ausstellung in der Großen<br />

Halle des Volkes geschleust. Die Kleinen schwanken in<br />

langen Reihen vorüber, haben gestrickte bunte Jacken<br />

an, manche sind wieder in Uniformen. Die Kinder wissen<br />

nicht, worauf sie schauen sollen und ihre Betreuer<br />

blicken auch nicht auf die Kunst. Wenn man die Leute<br />

draußen mit der Kamera aufnimmt, stehen sie meist still<br />

und trauen sich nicht, sich auch nur ein wenig zu bewegen.<br />

Auf dem Gelände der Verbotenen Stadt des alten<br />

Kaiserpalastes sind Tausende unterwegs. Diese Massen<br />

kann keiner mehr kontrollieren, auch eine Partei nicht.<br />

Jetzt weiß ich endlich, was mein Großvater einmal als<br />

die ,Gelbe Gefahr‘ bezeichnet hat. Man sieht nicht nur<br />

Uniformierte und Leute in einheitlicher Alltagskleidung,<br />

sondern auch viele bunt angezogene Menschen, modisch<br />

wie es gerade so für sie machbar ist. Die Jugendlichen<br />

sind meist so angezogen, wie in Europa auch. Den<br />

kleinen Kindern wird besondere Aufmerksamkeit geschenkt.<br />

Sie sind auch vielfach mit älteren Menschen, also<br />

mit ihren Großeltern unterwegs. Wir besuchen einige<br />

Tempel und große Parkanlagen. Was man sich nicht vorstellen<br />

konnte, hier wird in den Tempeln wieder gebetet<br />

und die Besucher stellen rauchende Weihrauchstäbchen<br />

in vorbereitete Gefäße, die mit Sand gefüllt sind. Die<br />

meisten werfen die Stäbchen allerdings in einen großen<br />

kunstvoll aus Bronze gegossenen Behälter, aus dem der<br />

Rauch so stark herausquillt, dass er in den Augen brennt.<br />

Viele Tempel sind in keinem guten Zustand, aber weitaus<br />

besser in Schuss, als alles andere, was man sonst vor<br />

Augen hat. Einige der Anlagen sind bereits restauriert<br />

und Li sagt, dass das nun von der Regierung so beschlossen<br />

ist, dass die Altertümer vorrangig gepflegt werden<br />

sollen. Die Menschen hier wollen es auch, und das Militär<br />

ist überall präsent, damit es nicht wieder zu einem nicht<br />

mehr zu kontrollierenden Aufstand der Jugendhorden<br />

kommt. Kleinste Kinder in maßgeschneiderten Uniformen<br />

zeugen davon, dass die Armee als etwas ganz Besonderes<br />

verstanden werden soll. Mich erinnert das an<br />

das sepiafarbene Foto eines kleinen, etwa Fünfjährigen,<br />

in einer SA-Uniform. Ich glaube, der Spiegel hat das mal<br />

gezeigt. Immer mal sieht man auch Männer mit Mao-Mützen<br />

und angeheftetem roten Blechstern herumspazieren.<br />

Diese Mützen gibt es hier an jeder Ecke zu kaufen, also<br />

nicht nur für die Touristen, wie man vermuten könnte. Wir<br />

fahren oft in einem kleinen Bus durch die Stadt. Die<br />

Bäume an den Straßen sind alle noch in vollem Grün. Die<br />

Dolmetscherin hat zu tun, uns von allen guten Dingen zu<br />

überzeugen. Fred Brosius lenkt sie ab, mit einem Foto seiner<br />

Siamkatzen. Andauerndes Gewäsch kann man ja<br />

auch nicht ertragen. Wir sind bald schon unterwegs zur<br />

Kunstakademie.


368<br />

Der sozialistische Realismus ist mir ein Begriff. Aber was<br />

wir hier zu sehen bekommen, ist die Totale davon. Viele<br />

dieser Volkskunstwerke wird man später sicher den<br />

Flammen überantworten. Ich hoffe es. Was werden die<br />

zukünftigen Generationen Chinas wohl zu diesen Mengen<br />

an Blödsinn sagen? Einige der Professoren sind im<br />

Mao-Look gekleidet und zeigen uns stolz ihre Akademie,<br />

die eher als Erziehungsanstalt für Künstler zu bezeichnen<br />

wäre. Überall fleißige Studenten. Kaum einer sagt<br />

jedoch etwas, darf es natürlich nicht. Das kenne ich,<br />

wenn auch in anderer Form. Ich bin wieder im Kommunismus<br />

angekommen. Aber mich überkommt keine Beklommenheit<br />

mehr. Wenn ich dann manchen erzähle,<br />

dass ich vom kommunistischen Osten in den kapitalistischen<br />

Westen gegangen bin, nehmen es die meisten<br />

kommentarlos zur Kenntnis. Eine Studentin fragt,<br />

warum ich das gute Leben in das schlechtere eingetauscht<br />

habe, ich unterlasse es zu antworten und gehe.<br />

Solch eine Pest hatten wir nicht einmal in Halle an unserer<br />

Hochschule gehabt. Doch ich bin immun. In Li‘s<br />

Augen lese ich Dankbarkeit. In einer Ausstellung erleben<br />

wir dann zu unserer Überraschung die hier realistischer<br />

nicht machbare Darstellung von Nacktheit weiblicher<br />

Geschöpfe, wenn auch nur an drei Beispielen, die allesamt<br />

auch der französischen Schule des vorigen Jahrhunderts<br />

entstammen könnten. Die meisten Werke sind<br />

in ihrer Sprache jedoch an die jahrhundertealte Tradition<br />

der Tuschemalerei angelehnt. Das findet natürlich unser<br />

besonderes Interesse, und hier wird auch die Qualität<br />

deutlich. Die neuen Meister sind allerdings weit davon<br />

entfernt, ihren alten Vorbildern auch nur das Wasser reichen<br />

zu können. Paul Rötger hat die Nase voll, wie er es<br />

ehrlich ausdrückt, und geht hinaus, um sich eine Zigarre<br />

anzuzünden. So sieht man ihn ja meist. Das ist seine beneidenswerte<br />

Art, sich aus aller Verantwortung herauszumogeln.<br />

Pitt Lörincz zeichnet wieder das, was auch<br />

immer ihm gerade wert ist, festgehalten zu werden. So<br />

wird auch er kaum von Fragenden gestört. Immerzu<br />

schleppt er auch noch einen Aquarellkasten mit sich<br />

herum. Ich dagegen arbeite nur mit der Kamera und<br />

wenn ich mal skizziere, dann meist nur in Sekundenschnelle<br />

mit der Feder aus dem Tintenfass, das ich in der<br />

Jackentasche verstaut habe, der man es inzwischen ansieht,<br />

das ich es darin befördere. Mir geht es mehr um<br />

Fotos und Videos. Wäre ich nur in Deutschland unterwegs,<br />

hätte ich die große Kamera mit dem schweren Recorder<br />

sicher nicht mit mir herumgetragen. Aber hier ist<br />

alles so würdig, dokumentiert zu werden, mehr noch das<br />

bescheidene Leben und Aussehen der Menschen, als die<br />

bereits wieder heruntergewirtschaftete neue Architektur<br />

und Landschaft und natürlich die Altertümer, die jetzt<br />

nach der Kulturrevolution wieder erste Pflege erfahren.<br />

Jedenfalls das, was noch davon übriggeblieben ist. Kulturell<br />

gesehen, befindet man sich auf der Müllhalde der<br />

chinesischen Geschichte. Die Tempelanlagen mit ihren<br />

grünen Dächern, rot gestrichenen Holzsäulen und den<br />

weißen Marmorskulpturen und Treppen nehme ich<br />

immer wieder im Detail auf. Dann die überall ins Auge<br />

fallenden Beschilderungen mit den chinesischen Zeichen,<br />

die manchmal selbst Li nur deuten kann, wenn sie<br />

nicht zu alt sind. Ich nehme auch die vielen Menschen<br />

mit der Videokamera und mit dem Fotoapparat auf;<br />

meist sind es Kinder, und dann auch noch diese Szenen<br />

in den Straßen mit dem so vielfältigen Verkehr, die Kolonnen<br />

von Fahrradfahrern, den Himmel, den Unrat. In<br />

einem Fenster stehen die Briketts gestapelt, schwarz und<br />

„Tempel des Himmlischen Friedens in Peking”<br />

Feder/Tusche 1983, 17 x 20 cm


369<br />

etwas. Den Kindern gehört die Liebe der Chinesen, lenkt<br />

sie ab. Daher habt ihr ja auch bereits die Milliardengrenze<br />

überschritten, witzele ich weiter. Man hätte nicht<br />

das Gefühl, dass die Leute hier indoktriniert werden,<br />

sagt nun eine der mitgereisten, und nicht mehr ganz junrund.<br />

Auch das ist ein Motiv. Sie schlucken sicherlich<br />

drinnen das so nötige Licht. Jeder sei hier froh, wenn er<br />

genügend dieser Staubpresslinge als Vorrat für den harten<br />

Winter hat. Li sagt es leise. Sie wärmen zwar, bringen<br />

aber auch Krankheit und frühen Tod, stichel ich


370<br />

gen Künstlerinnen. Ich habe es satt, auf solche Einfältigkeit<br />

zu antworten und fliehe. Leute aus dem Westen kapieren<br />

diese Welt nicht. Sie finden alles ,exotisch‘ – zu<br />

Recht natürlich – jedoch hat das auch etwas mit Armut<br />

zu tun, die nicht von den Leuten verschuldet ist, gerade<br />

die geistige nicht. Dazu kommt noch, dass die 68-er<br />

Klientel der Reisegruppe mehr von Mao versteht, als<br />

von Konfuzius oder der alten Kaiserkultur überhaupt. In<br />

Gruppen zu reisen, kann anstrengender als ein Gefängnisaufenthalt<br />

sein, wenn man zwar nicht körperlichen<br />

Züchtigungen, jedoch geistig embryonaler Strukturen lawinenartig<br />

ausgesetzt sein muss. Der Tempel des Himmlischen<br />

Friedens ist außerordentlich gut restauriert. Er<br />

befindet sich im Stadtteil Xuanwu im Süden, von einem<br />

großen Parkgelände umgeben. Wieder Hunderte Besucher.<br />

Auch hier hat man Mühe, ein Foto ohne Menschen<br />

zu machen. Viel Zeit gibt man uns hier nicht. Wir zwängen<br />

uns bald schon wieder durch große Gruppen von<br />

fröhlich lärmenden Schulkindern hindurch zu unserem<br />

kleinen Bus und werden dann zum Friendship-Store gefahren,<br />

einem grauenhaften Neubau mit riesiger roter<br />

Leuchtreklame. Man sei daran interessiert, dass wir hier<br />

einkaufen, höre ich von Li, als wir den Tempel alles verheißenden<br />

Glücks betreten. Mit Biegen und Brechen hat<br />

man versucht, dem Innern dieses Kaufhauses etwas<br />

westliches Flair zu verpassen. Das ist natürlich absolut<br />

nicht gelungen, und alles wirkt eher lächerlich. Kosmetik<br />

in designten Verpackungen und Textilien, Lampen und<br />

anderer Kram, der wahrlich nicht zum Kauf verlockt, stehen<br />

in großen Abständen ausgestellt, und überzeugen<br />

nicht von einem kontinuierlichen Angebot, verweisen<br />

eher darauf, dass man Mühe hat, die Lücken zu füllen.<br />

Es handelt sich um Ware aus eigener Produktion, die<br />

kein Ausländer kaufen will, aber jeder Chinese gerne<br />

hätte. Im Osten Deutschlands ist es ja genauso. Die Intershops<br />

sind voll an begehrenswerten Dingen, die normalen<br />

Läden nicht. Und ich kenne die kommunistisch<br />

gelenkte Wirtschaft. Die Führer wollen, dass alles besser<br />

wird, ohne viel dafür zu tun, aber das Volk ist einfach zu<br />

ausgelaugt, all den Programmen noch folgen zu können.<br />

Die Verkäuferinnen sind jedoch alle ausnahmslos<br />

hübsch und überaus freundlich, stehen viel herum, unterhalten<br />

sich, und wissen scheinbar noch nichts davon,<br />

dass der Kunde vielleicht auch etwas kaufen möchte,<br />

wenn er den Laden betritt. Auch Pitt meint, wenn sich<br />

eine der Verkäuferinnen für ihn entscheiden würde,<br />

könnte er nicht nein sagen. Seine mitgebrachte Inge, die<br />

das hört, reagiert wie immer gelassen. Entgegen meinem<br />

ersten Eindruck, dass es hier kaum Personenautos<br />

gibt, sieht man nun doch sehr viele, die sich rücksichtslos<br />

ihren Weg durch die Fahrradkolonnen bahnen, von<br />

denen man ebenso auch totgefahren werden kann.<br />

„Bitte sehr aufpassen”, sagt die kleine liebliche Li sehr<br />

leise, die große Angst davor hat, dass man ihr später<br />

sagen würde, dass sie uns zu freundlich behandelt hätte.<br />

Sie will immer nur ganz korrekt wirken, aber ihr Gesicht<br />

zeigt uns die wahre Seele. Wir fahren aus der Stadt heraus<br />

in einen Park voller Ausflügler. Ein See mit Lotuspflanzen,<br />

im Hintergrund eine große weiße Pagode, der<br />

Bahai. Ich versuche natürlich, ab und zu nicht nur durch<br />

die Kamera diese Welt zu erleben. Der Lotus ist verblüht<br />

– es ist schon lange kein Sommer mehr. Die Leute<br />

haben dicke Jacken an, nur ich nicht. Ich habe mir alles<br />

angezogen, was ich habe, drei Hemden übereinander.<br />

Dina hat mir dazu noch ein Tuch umgebunden. Wir spazieren<br />

durch eine abgekühlte Landschaft. Große Bottiche


371<br />

stehen am Wegesrand mit farbenfrohen Fischen und erfreuen<br />

die Kinder. „Diese Fische werden überall in Asien<br />

verehrt”, versucht mir Bernhard einen Vortrag aufzubürden.<br />

Ich höre ihm nicht zu und gehe mit der Kamera am<br />

Auge weiter. Ich laufe durch ein Tor zur Pagode und erlebe<br />

abseits der am See lärmenden Kinder das erste Mal<br />

etwas Ruhe. Dann höre ich Musik und beobachte in der<br />

Nähe einige ältere Leute, die sich dem Tai Chi Chuan verschrieben<br />

haben. Sie lassen sich in ihren Bewegungen<br />

nicht stören, als ich sie dabei aufnehme. Wo man auch<br />

hinkommt, die Menschen begegnen einem mit großer<br />

Freundlichkeit und Offenheit. Ich nehme wieder das<br />

kunstvoll bemalte Gebälk am Tempeltor auf. Die Horden<br />

der letzten Revolution, die von Maos Frau angezettelt<br />

wurde, haben nicht alles zerstören können. Wie gut für<br />

die Nachwelt, die nun erkannt hat, dass man damit Geld<br />

verdienen kann. Ich blicke, immer umringt von fröhlichen<br />

Kinderscharen, auf die Stadt herunter, die weit weg<br />

im Dunst liegt. Die Kinder sind mir hier eine wahre<br />

Freude. Sie freuen sich über die kleinsten Geschenke<br />

und bald werde ich wohl ohne Schuhe und Hose herumlaufen<br />

müssen. Irgendwann befinde ich mich wieder im<br />

Bus. Man schleppt die Delegation jetzt in eine Kunsthandwerker-Manufaktur,<br />

die sich dem Emaillieren und<br />

der Jadeverarbeitung widmet. Hier werden Vasen,<br />

Dosen, Leuchter, kleine Figuren in Volkstrachten und andere<br />

nutzlose Dinge in handwerklicher Präzision und<br />

Höchstleistung in solchen Stückzahlen gefertigt, dass<br />

einem schwarz vor den Augen werden kann. Man hat<br />

den Eindruck, irgendwo stünde ein Produktionsautomat<br />

verborgen. Von Kunst sehe ich nichts. Mein Wunsch,<br />

dass keiner auf die Idee kommt, uns solch ein emailliertes<br />

Werk zu schenken, geht in Erfüllung. Bei den Steinen<br />

sieht das dann schon anders aus. Hier beeindrucken die<br />

Erzeugnisse schon mehr. Ich erwerbe ein unbearbeitetes<br />

Stück Jade, wenn auch mitleidig belächelt. Jade ist für<br />

mich etwas besonderes, wenn es unbearbeitet bleiben<br />

kann.<br />

Peking, 20.10.1985<br />

Fahrt zur Großen Mauer von China. Wir steigen aus dem<br />

Bus und sind gleich so positioniert worden, dass wir auf<br />

dem Weg zur Mauer unzählige Verkaufsstände passieren<br />

müssen. Menschenmassen, die uns entgegenkommen,<br />

und Massen, die mit uns auf die Mauer hoch wollen,<br />

verderben einem fast den Aufenthalt. Alles drängelt. Ich<br />

sehe immer wieder, dass das große Glück der älteren<br />

Leute die mitgebrachten und von ihnen immer behüteten<br />

Kinder sind. Sie werden jetzt getragen und das entschärft<br />

alles wieder. Dina Kunze macht mal eine<br />

Aufnahme von mir, damit ich auch einmal auf der Mauer<br />

zu sehen bin. Überall haben sich die Chinesen in den<br />

Steinen der Mauer verewigt. Das kennt man ja von<br />

jedem Ausflugsziel in Europa auch. „Narrenhände beschmieren<br />

Tisch und Wände”, musste ich früher oft von<br />

meiner Großmutter Martha hören, wenn ich mit Kreide<br />

Figuren an deren Zaun malte. Wir haben großes Glück<br />

mit dem Wetter. Die Sonne scheint, es ist keine Wolke<br />

am Himmel zu sehen, und es ist der erste Tag, an dem<br />

ich nicht frieren muss. Selbst oben auf der Mauer ist es<br />

windstill. Diese Mauer versetzt einen ins größte Erstaunen.<br />

Unfassbar ist, wie man sie erbauen konnte. Ich<br />

kann mir die Zahl der Toten in etwa vorstellen, die hier<br />

zwischen den Steinen oder im Fundament ruhen. Das<br />

Stück, welches wir hier besichtigen können, ist ein restaurierter<br />

Abschnitt für den Massentourismus. „Die


372<br />

hochrangigen Besucher bekommen ein weit aus besseres<br />

Teil zu sehen”, sagt Li. „Danke auch!”, lacht Pitt los,<br />

und Frau Li wird ganz rot im Gesicht, hat nun auch verstanden,<br />

was sie eben Lustiges von sich gegeben hat.<br />

Von der Mauer aus bietet sich ein großartiger Blick über<br />

die Landschaft und den Verlauf der steinernen Linie, die<br />

sich aus den Augen verlierend über die Hügel hinweg<br />

zieht. Paul Rötger kommt, um sich mit mir zu unterhalten.<br />

Er hat wie üblich seine Zigarre im Mund und nimmt<br />

sie auch beim Sprechen nicht heraus. Paul wird von<br />

allen sehr geschätzt. Er ist ein Frankfurter Urgestein des<br />

Kunstverbandes, höre ich immer mal wieder. Das merkt<br />

man besonders an seinem Dialekt. Die Leute auf der<br />

Mauer haben nun bald keinen Platz mehr. Sie drängen<br />

aneinander vorbei und man muss darauf achten, nicht<br />

zerquetscht zu werden. Endlich gelingt uns der Abstieg.<br />

In einem riesengroßen Speisesaal sollen wir danach beköstigt<br />

werden. Er gehört zur Darling-Restaurant-Kette<br />

und ist Teil des Versorgungsareals für die Tausenden, die<br />

hier täglich abgespeist sein wollen. Der Geruch ist nicht<br />

so, dass man es lange aushalten könnte. Ich gehe daher<br />

nach draußen und kaufe mir gelbe Früchte, die wie Mandarinen<br />

aussehen, aber keine sind, einige Äpfel und<br />

etwas Brot. Soweit das Auge reicht, haben sich die<br />

Händler mit ihren armseligen Waren an den Rand der<br />

Straße gezwängt, auf der sich nicht nur die Leute, sondern<br />

auch die Busse und andere Fahrzeuge bewegen.<br />

Wir fahren zu den Ming-Gräbern, die ganz in der Nähe<br />

sind und laufen einige hundert Meter zu Fuß. Viele Tierfiguren<br />

säumen den Weg zu den Grabanlagen. Sie sind<br />

durchweg aus weißem Marmor gehauen. Ich gehe dann<br />

in eines der Gräber hinein, muss dabei viele Stufen der<br />

fast freien Treppe heruntersteigen, die nicht einmal ein<br />

Geländer hat. Das macht nicht gerade die größte Freude,<br />

zumal ich aufpassen muss, nicht in die Tiefe zu stürzen.<br />

Lange werden die Stufen die in Millionen zu zählenden<br />

Besucher nicht mehr tragen und die Behörden werden<br />

die Grüfte der Dynastie wohl wieder schließen. Das wäre<br />

zumindest ein richtiger Beitrag zur Erhaltung der Kultur,<br />

die hier ohnehin zu oft geschändet wurde.<br />

Peking, 21.10.1985<br />

Pitt Lörincz, seines Zeichens Professor für Malerei in<br />

Mainz, hält einen Vortrag an der Akademie für die Studenten.<br />

Viele sind nicht gerade anwesend, aber die Veranstaltung<br />

wird zu einem Ereignis für die wenigen, die<br />

gekommen sind, oder herkommen durften. Paul Rötger<br />

stellt Pitt mit den Worten vor: „So, nun sehen sie mal, so<br />

sieht ein deutscher Professor aus!”. Pitt, der auch über<br />

die Radierung spricht, und das ganze Procedere anhand<br />

mitgebrachter Materialien verdeutlicht, kommt dann in<br />

der Diskussion zu seiner, sehr mit Gelächter und Beifall<br />

quittierten Feststellung: „Der Kunststudent freut sich,<br />

wenn er ein gutes Werk hinkriegt, er streitet sich gern<br />

mit Leuten, die einen anderen Stil vertreten und wenn<br />

das Studium fertig ist, dann muss er sehen, dass er sich<br />

mit etwas ganz anderem sein Brot verdient!” Draußen<br />

an der Akademie werden Gebäude instand gesetzt. Es<br />

macht eher den Eindruck, dass gerade eine Explosion<br />

im Materiallager stattgefunden hat, so groß empfinde<br />

ich das Durcheinander. Wir besuchen einige Ateliers. Es<br />

geht überall sehr konventionell zu. Ein alter Mann in<br />

ländlicher Tracht steht Modell und wird gezeichnet. Draußen<br />

im Hof liegen Skulpturenfragmente von Revolutionären<br />

herum. Unser Paul spaziert wieder mit der Zigarre<br />

im Munde auf und ab. Am Rand der Straße fertigen


373<br />

Handwerker Schränke an. Diese Gebilde sehen nach Improvisationen<br />

aus. Ein aus Holz zusammengeschusterter<br />

Wagen, der von einem Fahrrad hierher gezogen wurde,<br />

ist mit pyramidenförmig gestapeltem Chinakohl beladen,<br />

so hoch, dass einem Angst werden kann. Ein alter<br />

Kesselschmied hat wenigstens so etwas wie eine Werkstatt.<br />

Über dem Eingang hängen Käfige mit singenden<br />

und flatternden Vögeln, die ich in einem unbeobachteten<br />

Moment gerne in die Freiheit entlassen würde. Ich versuche,<br />

mit dem Schmied ins Gespräch zu kommen. Wir<br />

sind in einem Stadtviertel der chinesischen Normalität<br />

angekommen. Überall sucht man vergebens die sonst<br />

gewohnte Ordnung. Fahrradklingeln, Autohupen und<br />

Motorgeräusche lärmen dermaßen, dass man die Leute,<br />

die hier Tag ein Tag aus leben müssen, nur bedauern<br />

kann. Diese Umgebung zeigt einerseits aber die Harmonie,<br />

in der die Leute ihre Lebenszeit verbringen, andererseits<br />

ist alles auch ein Abbild tiefster Armut. Jeder<br />

besitzt nicht viel mehr als der andere und all das, womit<br />

sie handeln oder was ihnen zur Reparatur gebracht wird,<br />

wäre in Europa längst auf dem Müll gelandet. In einer<br />

Nebenstraße wird gebaut. Die freundlichen Bauarbeiter<br />

winken mir zu. Sie stehen auf hohen Gerüsten aus dicken<br />

Bambusrohren. Fahrräder kommen vorüber mit<br />

Anhängern voller grüner Gemüsepflanzen. Es ist ein so<br />

reges Treiben, dass man Obacht geben muss, nicht unter<br />

die Räder zu kommen. Li hat recht. Die Augen muss ein<br />

jeder schon selbst offen halten. Am frühen Abend sind<br />

wir in einem sehr bekannten Restaurant, in welchem<br />

ausschließlich die berühmte Pekingente auf den Tisch<br />

kommt. Das genießen alle sehr, ist man sich doch nun<br />

sicher, dass man keinen Hund vorgesetzt bekommen<br />

hat. Wir beschließen den Abend später in der Peking-<br />

oper. Sie ist eigentlich nur ein kleiner Theaterraum, der<br />

aber bis auf den letzten Platz belegt wird. Überall sieht<br />

man die blaue Einheitskluft, ständig wird applaudiert,<br />

denn das Programm löst Emotionen aus, höre ich die Erklärung<br />

Li‘s. Hätte man hier täglich einen Pflichtaufenthalt<br />

zu überstehen, wäre das nichts anderes, als eine<br />

Tortur für die Seele.<br />

Peking, 22.10.1985<br />

Auf dem Hauptbahnhof in Peking bewegen sich wieder<br />

viele Menschen, die alle irgendwohin wollen, so dass<br />

einem auch hier schwarz vor Augen werden könnte.<br />

Überall sind nur chinesisch geschriebene Hinweise zu<br />

sehen. Wäre Frau Li nicht mitgekommen, ich glaube, keiner<br />

von uns hätte je den Zug erreicht. Das war eine Prozedur,<br />

wie ich sie nicht mehr auf Reisen erleben möchte.<br />

Hier ist man auf Ausländer nicht eingestellt und diese<br />

daher dem Schicksal ausgeliefert. Wir schleppen das Gepäck,<br />

drängen uns durch die Massen, sind mal auf dem<br />

falschen, dann auf dem richtigen Weg, und beziehen die<br />

Abteile. Der Zug fährt entgegen allen Vermutungen auch<br />

noch pünktlich ab. Wir hatten es also gerade noch geschafft.<br />

Im Schlafwagen bin ich mit Bernhard Marx und<br />

Pitt Lörincz und Inge recht eng einquartiert – aber ein<br />

gutes Team behindert das nicht. Es gibt unentwegt etwas<br />

zum Lachen. Bernhard ist der Humorbrunnen. Der sprudelt<br />

ständig. Gibt es keine Witze zu erzählen, dann wiehert<br />

er mal wie ein Pferd und stampft mit den Füßen,<br />

wenn eine schöne Frau am Abteil vorbei geht. Aber auch<br />

zu ernsten Themen kommen wir auf dieser langen Reise.<br />

Was wird nur aus diesem China werden? Eigentlich vertreiben<br />

wir uns aber die Zeit damit, aus dem Fenster zu<br />

schauen und die Landschaft zu genießen, irgend etwas


374<br />

dort zu entdecken. Und die interessanten ungewohnten<br />

Dinge, fliegen an unserem Fenster regelrecht vorüber.<br />

Immer mal wieder hält der Zug an. Kinder kommen<br />

dann über die Gleise gerannt und betteln um Bonbons.<br />

Manchmal winken sie in langen Reihen stehend, auch<br />

an der Strecke. Sie wissen genau, wann die Züge kommen.<br />

Wir werfen auch Schokolade aus dem Fenster. Auf<br />

den Bahnsteigen verkaufen Händler gebratene Enten,<br />

Brot, Tee und Wasser und allerlei Undefinierbares, vorbereitete<br />

Suppen und Früchte, die sie aber nicht anpreisen<br />

wie man es aus dem Orient kennt. Sie stehen<br />

einfach nur da und warten, dass jemand kommt und<br />

etwas davon haben will. Die Leute aus dem Zug müssen<br />

sich beim Einkauf beeilen. Nach draußen gehen sie vor<br />

Angst, den Zug nicht mehr besteigen zu können, meistens<br />

nicht. Also wird alles durch die Fenster gereicht und<br />

das erzeugt Lärm und immer wieder ein Geschrei ums<br />

Geld. Bezahlt wird, aber Wechselgeld wird nicht gern herausgegeben.<br />

Pitt ist unentwegt dabei, all das, was er<br />

sieht, zu skizzieren und zu aquarellieren. Ich bin nur mit<br />

der Kamera beschäftigt, habe aber weitaus mehr im Kasten,<br />

wenn auch vielleicht nicht von solcher Bedeutung.<br />

Wir überqueren den Huangho auf einer riesigen, aus Eisenträgern<br />

errichteten Brücke, die sich einige Kilometer<br />

über das Land und das Wasser spannt. Breit und schlammig<br />

wirkt er, der gelbe Fluss. Wer das erste Mal so in<br />

China reist, kann wohl von einem Abenteuer sprechen.<br />

Keine Straßen sind zu erkennen. Wir sind nicht mehr in<br />

der Zivilisation, sagt Bernhard. Irgendwo bringt eine<br />

ländliche Trauergemeinschaft einen Toten zu Grabe. Alle<br />

sind ganz in weiß gekleidet. Ruhe hat man in diesem<br />

Zug nicht. Man registriert jede Schwelle, alle Schienenverbindungen<br />

und besonders die Weichen nicht nur am<br />

Tage, leider auch in der Nacht. Aber an Schlaf ist da ohnehin<br />

nicht zu denken. Unruhe beherrscht alle, etwas<br />

verpassen zu können.<br />

Xian, 23.10.1985<br />

Morgens fahren wir in Xian ein. Hier befand sich, nahe<br />

der heutigen Stadt, die erste Hauptstadt Chinas, und<br />

hier fanden Bauern beim Graben eines Brunnens auf<br />

einem ihrer Felder die Terrakottakrieger am Grabhügel<br />

des Mausoleums ihres ersten Kaisers Qin. Im größten<br />

Hotel, inmitten der Stadt, werden wir untergebracht.<br />

Fast im wahrsten Sinne des Wortes „gerädert”, bringen<br />

wir das Gepäck auf die Zimmer und finden uns zu einem<br />

spontanen Essen ein. Danach treibt uns das Programm<br />

ins Kunstmuseum. Dort begrüßt uns der Direktor in<br />

einer mausgrauen Mao-Kluft mit dazu passender Mütze.<br />

Er ist sehr gesprächig, führt uns durch sein Haus und<br />

hinterlässt den Eindruck, dass er das wohl alles hier alleine<br />

aufgebaut hätte. Wir sind einige Zeit später auf<br />

dem Wege zur Kunstakademie. Als wir dann dort eintref-<br />

„Im Zugabteil von Peking nach Xian”<br />

Foto: Bernhard Marx


375<br />

fen, begegnet uns auf Schritt und Tritt wieder die klassische<br />

Schule des hoch übersteigerten sozialistischen Realismus<br />

– zunächst in der Person des Direktors, dann in<br />

den vorgestellten Arbeiten, die alle infolge politischer<br />

Beeinflussung über das gewisse Pensum an handwerklichem<br />

Grund nicht hinausgehen können. Der etwas in<br />

die Rundungen geratene Leiter – nicht gerade ein Abbild<br />

ästhetischer Vorstellungen – begrüßt uns ebenfalls in<br />

vorgeschriebener Parteikleidung, die von heller graublauer<br />

Farbe und recht abgewetzt ist. Allerdings leuchtet<br />

kein Stern an seiner, dem Mao-Kult angepassten Kopfbedeckung,<br />

die er niemals absetzt, obwohl ihm der<br />

Schweiß die Stirn entlang herunterrinnt. „Schönes<br />

Haus”, oder vielleicht besser übersetzt „Haus der Schönheit”<br />

steht als russische Inschrift über dem Eingang<br />

eines Arbeitsgebäudes der Akademie. Ich fotografiere


376<br />

und filme gleich den sowjetischen Fries des vom kommunistischen<br />

Bruderland einst geschenkten Hauses.<br />

Genau kann ich es vor Erstaunen, so etwas zu sehen,<br />

nicht übersetzen. Also auch hier die langweiligen indoktrinären<br />

Geschenke der Sowjets. Irgendwann werden sie<br />

die Schrift vom Putz abhacken. Es gab ja schon mal<br />

Ärger mit den Russen am Ussuri. Da haben die Chinesen<br />

zuerst geschossen. Kein einziger Student ist zu<br />

sehen. Alle wurden nach Hause geschickt. In einer Werkstatt<br />

treffen wir dennoch zwei Studierende oder Arbeiter<br />

an, die sofort wie aufgescheuchte Tiere reagieren und<br />

nach einem Wort des Direktors das Weite suchen müssen.<br />

Der kleine dicke freundliche Direktor wird dann<br />

noch von Albert Hahn und Bernhard Marx zu einem gemeinsamen<br />

Foto genötigt. Herr An, der alles beobachtet,<br />

genehmigt es nachträglich freundlich, als er den Blick<br />

des anderen Staatsvasallen auf sich gerichtet spürt. Hier<br />

scheint noch größere Furcht vor der Partei zu herrschen,<br />

als in Peking. Draußen im Park der Akademie ist alles<br />

sommerlich grün und auch viel wärmer als in der Hauptstadt.<br />

Ich mache eine Aufnahme von kleinen Kinder, die<br />

auf einer Mauer spielen. Die Mauer ist so hoch, dass sie<br />

einen Sturz kaum überleben würden. Ich mache den Direktor<br />

darauf aufmerksam, aber es interessiert ihn nicht.<br />

Er winkt nur lächelnd ab. Es gibt zu viele Menschen in<br />

China, ruft Pitt mir hinterher, als ich mich bereits heraus<br />

auf die Straße begebe, die nicht als solche zu bezeichnen<br />

ist. Es fahren zwar Autos und Busse darauf, auch Fahrräder,<br />

aber es ist kein Straßenbelag zu sehen, überall<br />

nur tiefe Rinnen und Löcher in der einstigen Fahrbahn.<br />

Stroh liegt überall herum. Ein Mann wendet es mit einer<br />

großen, aus irgendeinem Geäst gefertigten Gabel, die<br />

besser in einem Museum germanischer Frühkultur aufgehoben<br />

wäre. Daneben sitzt ein alter Greis, lächelt zu<br />

mir herüber und winkt mir zu. Er bietet einige verrostete<br />

Fahrradteile an: Naben, Speichen, zerschlissene Reifen.<br />

Alles hat er auf einem Sack ausgebreitet. Über ihm hängen<br />

in den Bäumen Maiskolben zum Trocknen. Ich brauche<br />

von all dem nichts. Eine ganze Schulklasse kommt<br />

an und umringt mich. Sie sind mehr als fröhlich und<br />

frech und äffen herum. Ich amüsiere mich total, denn einige<br />

bauen sich vor mir auf und ziehen mit den Händen<br />

ihre Augenlider nach oben, um europäischer auszusehen.<br />

Wir haben das ja füher auch so gemacht, nur allerdings<br />

die Augen zu Schlitzen verkleinert. Ganz aufgeregt<br />

werde ich in den Bus gerufen, denn ich hatte bereits vergessen,<br />

dass ich mit einer Gruppe unterwegs bin. Auch<br />

Pitt und Rötger kommen mal wieder zu spät. Nun fahren<br />

wir zurück nach Xian hinein, und sind auch bald schon<br />

auf einer asphaltierten Straße. Auch die ist von Heu und<br />

Stroh belegt, das die Bauern hier wenden, um es zu<br />

trocknen. Es ist ihnen egal, wenn mal ein Auto darüber<br />

hinwegrollt und alles durcheinander wirbelt. Das hilft<br />

ihnen. Alles das sind Zustände, die ich sehr interessiert<br />

ertragen kann, aber eine ständige Konfrontation damit<br />

würde mich bald ins Grab gebracht haben.<br />

Xian, 24.10.1985<br />

Fahrt über die staubigen Dorfstraßen. Es geht zu den Terrakottakriegern.<br />

Heute, unterwegs zu den Ausgrabungen,<br />

müssen wir wieder aus der Stadt heraus durch<br />

blühende Gegenden voller Unrat, Schweine und Hunde.<br />

Aber auch Autos und achtlos über den Weg laufende<br />

Menschen machen die etwa zwanzig Kilometer lange<br />

Strecke zu einer Abenteuerfahrt. Hier irgendwo ohne<br />

einen Schaden anzukommen, grenzt schon an ein Wun-


377<br />

der. Die andauernden Hupkonzerte der chinesischen<br />

Raser strapazieren die Nerven. Dann endlich hält der<br />

große klapprige Bus und wir steigen aus, sind gleich von<br />

einladenden Blicken hunderter Chinesen anvisiert, denn<br />

wir laufen direkt an ihren Imbissständen vorüber, wo sie<br />

kochen, backen, sieden und braten. Sie warten auf die<br />

vielen Besucher, die hier den tönernen Kriegern einen<br />

Besuch abstatten, so wie wir auch. Ich schleppe wieder<br />

die große Videokamera mit mir herum, kann sie nicht<br />

verstecken. Es ist Aufnahmeverbot. Überall wird man<br />

darauf hingewiesen und auch entsprechend observiert.<br />

Ein Kontrolleur überzeugt sich, dass die Kamera abgeschaltet<br />

ist. Ich klemme sie später, wieder in Betrieb gesetzt,<br />

unter den rechten Arm und laufe so, dass trotz aller<br />

Beobachtung und Behinderung einige brauchbare Aufnahmen,<br />

wenn auch z.T. auf dem Kopf stehend, gelingen.<br />

Die vielen Besucher drängen sich an den Absperrungen<br />

entlang. So verlieren mich die Beobachter bald<br />

aus den Augen. Man schaut von oben in die teilweise<br />

bis zu fünf Meter tiefen Gruben hinein. Die einzelnen<br />

Grabungsabschnitte sind mit riesigen Schildern kenntlich<br />

gemacht. Die Luft ist nicht staubig, aber die Chinesen<br />

um mich herum machen ab und zu Geräusche, die<br />

mich glauben lassen, dass mir jeder gleich auf die<br />

Schuhe spucken will. Und herumgespuckt wird hier,<br />

wohin man auch blickt. Auch bei offiziellen Treffen stehen<br />

dort, wo man gerade hingesetzt wird, die Spucknäpfe.<br />

Chinesen heben den Deckel hoch und spucken hinein,<br />

wir vermeiden das, schauen nicht hin. Die Krieger stehen<br />

in ausgehobenen Gräben, was nichts anderes bedeutet,<br />

als dass in den Restflächen weitere verborgen<br />

sind. Das ausgegrabene Areal ist bereits nicht mehr zu<br />

überschauen. Alles freizulegen wird noch viele Jahre in<br />

Anspruch nehmen. Eigentlich sollte man die Finger<br />

davon lassen. Wenigstens werden die Massen daran gehindert,<br />

unten in den Gruben herumzuspazieren. Ich beobachte<br />

einige Chinesen, die weiter hinten dabei sind,<br />

Schutt aus den Rinnen mit Karren herauszufahren.<br />

Berge von gelblehmigem Sand türmen sich an den Rändern<br />

der Gräben. Manche der Kriegerfiguren sind zerstört,<br />

andere nur bis zur Hälfte ausgegraben. Jedes<br />

Fragment wird geborgen und so ist es nur allzu logisch,<br />

dass sie auch den rausgekarrten Sand sieben. Mit großen<br />

Rutenbesen wird der geschichtsbehaftete Staub auf<br />

Schaufeln gekehrt und über Rampen herausgefahren.<br />

Die bereits restaurierten Krieger und andere Funde, darunter<br />

beispielsweise auch Pferde in Lebensgröße, sind<br />

gut gesichert in den Glasvitrinen des unmittelbar an den<br />

Ausgrabungshallen befindlichen kleinen Museums zu<br />

sehen. Leute allen Alters schauen gebannt darauf, welcher<br />

Prunk sich ihnen hinter den Glasscheiben zeigt.<br />

Nach etwa zwei Stunden begebe ich mich hinaus auf die<br />

riesigen Freiflächen und laufe an circa fünfzig Bussen<br />

vorüber, hin zu den Imbissständen, diesen Verpflegungshütten<br />

für Tausende. Überall brodelt und dampft es. Getöse<br />

und Lärm liegt über dem Platz wie auch die nach<br />

den verbrannten Kohlen riechende neblige Luft, die wie<br />

ein grauer Schleier wirkt und je nach Windwirbel, mal<br />

nach da und dort herüberzieht. Die Leute haben alle<br />

dicke Jacken an, denn es ist wieder recht kalt geworden.<br />

Wer nicht an den von Planen überdachten Kochstellen<br />

einkauft, kann sich alles nur erdenklich Exotische aus<br />

großen Körben holen. Viele Früchte werden feilgeboten<br />

und meist gleich ungewaschen verzehrt. Es gibt auch<br />

Brot und Maiskolben und Unmengen an Gemüse, das<br />

ich nicht kenne. Ein alter Mann wiegt seine Früchte mit


378<br />

einer Waage, die er dabei in der einen Hand festhält und<br />

das Eingekaufte an einen Haken hängt. Das Gerät<br />

scheint mir aus den Zeiten Marco Polos zu sein. An langen<br />

Tischen sitzend, besser ausgedrückt, an aus rohen<br />

Brettern gezimmerten und zusammengenagelten Flächen,<br />

essen die Leute ihren Reis mit ganz unterschiedlichen<br />

Zutaten. Ich sehe Fleisch in Stücken, aber auch<br />

halbe, fast schwarz gebratene Hühner auf den Tellern,<br />

aber auch rot lackierte Enten an den Ständen hängen,<br />

die keiner will, weil sie zu teuer sind. Die vielen, vielen<br />

kleinen Kinder, die allesamt meist liebevoll auch hier auf<br />

den Armen der greisen Alten herumgetragen werden,<br />

verweisen auf zukünftige Probleme. Wer wird die Massen<br />

einst ernähren? Schon heute hat man den Eindruck,<br />

dass die Leute hier sehr ausgemergelt wirken. Ich sehe<br />

ebenso viele Uniformierte wie andere, die dann so bekleidet<br />

sind, dass man sich ins Mittelalter Europas zurückversetzt<br />

fühlt. In Peking allerdings waren die<br />

Menschen besser gekleidet. „Hier ist das Land und nicht<br />

die Hauptstadt!”, antwortet mir An, dem ich meine neueste<br />

Erkenntnis nicht verschweige. „Wer eine Uniform<br />

tragen darf, ist gut angezogen und zieht sie auch zu<br />

Hause nicht aus!”. Es sei auch der gewisse Stolz, dazuzugehören.<br />

Ich weiß, welches Lied mir Herr An singen<br />

will und nötige ihn nicht zu weiteren Statements, gehe<br />

daher lieber meiner Wege. Seine betont steif formulierte<br />

und einstudierte Ehrlichkeit amüsiert mich nicht gerade,<br />

weiß ich doch um diese Armseligkeit bestens Bescheid,<br />

und schließlich muss ich noch fotografieren. Wer weiß<br />

schon, ob er jemals wieder hierher kommen wird. Ich<br />

laufe also in die große Halle zurück und nutze die erstbeste<br />

Gelegenheit, einige „aufrechte” Videoaufnahmen<br />

zu machen, nachdem Li einem Beobachter nahegelegt<br />

hatte, dass ich einige kurze Szenen für das deutsche<br />

Zweite Fernsehen machen müsste, was ja auch den Tatsachen<br />

entsprach. Daraufhin lässt man mich sogar in<br />

den sonst nicht zugänglichen Bereich hineinspazieren.<br />

Anschließend zeige ich die kurzen Einstellungen den<br />

emsigen Beschützern und kann die Halle, von ihnen<br />

freundlichst begleitet, wieder verlassen. Trotz Blendlicht<br />

aus den gegenüberliegenden großen Fenstern sind die<br />

wichtigen und einzigartigen ,exhumierten‘ Skulpturen in<br />

ihrer derzeitigen Umgebung sehr gut zu erkennen. Die<br />

Leute warten bereits auf mich, als ich zum Kleinbus<br />

haste, der hunderte Meter weiter geparkt am Rande<br />

eines spärlich bewachsenen Feldes steht. Ich zwänge<br />

mich durch Tausende an der Straße liegende Kakifrüchte<br />

hindurch, die vom Staub der Straße künden. Wir fahren<br />

in die Stadt zurück. Etwas weiter links des Weges werden<br />

wir auf einen Grabhügel aufmerksam gemacht. Darunter<br />

verberge sich das Mausoleum Qin Shihuangdis,<br />

des ersten Kaisers Chinas. Li klingt stolz, als sie ihren<br />

kleinen Vortrag in das Mikrofon, das aus der Ära seiner<br />

Erfindung zu stammen scheint, hineinschnattert. Ein unvorstellbarer<br />

Reichtum sei im Innern des Hügels zu sehen.<br />

Ganze Nachbildungen von Seen und Flüssen aus<br />

Quecksilber verleihen die Aura vom Diesseits hinein ins<br />

Jenseits. Gold und Edelsteine im Himmelszelt über dem<br />

in Bronze gegossenen Sarg des Herrschers schließen die<br />

Pracht nach oben ab. Li‘s Augen glänzen. Niemand hat<br />

es jedoch bisher gesehen, aber die Archäologen wüssten<br />

es bereits. Hoffentlich bleibt es auf ewig unberührt,<br />

ist unser aller Meinung dazu. Heinrich Schliemanns archäologisches<br />

Barbarentum kommt mir in Erinnerung.<br />

Die ausgegrabenen Krieger der Terrakottaarmee stellen<br />

nur die Schutzgarden der Grabanlage dar, zwitschert Li<br />

„Große Wildganspagode in Xian”<br />

Feder/Tusche auf Pergament 1983, 20 x 20 cm


379


380<br />

uns in die Ohren. Qin Shihuangdis, der Einiger des Reiches,<br />

hat nicht nur Gutes für die noch heute gültige<br />

Größe Chinas getan. Na, ob das mit der Geschichtsstrategie<br />

ihrer kommunistischen Vorbeter übereinstimmt,<br />

wage ich zu bezweifeln. Konfuzius hatten die Kommunisten<br />

ja über Jahrzehnte hinweg aus ihren rotgetünchten<br />

Hirnen verbannen wollen. Nicht nur, dass Qin die<br />

unübersichtliche Zahl der Schriftzeichen verringerte und<br />

so für alle das Lesen vereinfachte, hören wir weiter, er<br />

hatte auch die Mauer errichten lassen, die Millionen<br />

Opfer kostete und sich der aufmüpfigen Gelehrtenschaft<br />

entledigt, die gegen die Verbrennung von Büchern Protest<br />

erhoben hatte. Damit sind wir der Wahrheit wieder<br />

einen Schritt näher gekommen. Mao allerdings übertraf<br />

den Erstkaiser bei weitem. Er, der Kommunist und Lehrling<br />

Stalins, massakrierte alles, was sich ihm und seiner<br />

Idee in den Weg stellte. Heute haben wir es auf dieser<br />

Welt nur noch mit Kim Il Sung zu tun, der auf dem Podest<br />

des Unrechts einen Platz beanspruchen darf, in dessen<br />

Hungerreich einst aus anonymen Massengräbern<br />

Millionen ausgegraben werden müssen. Aber vielleicht<br />

verbrennt man die Leichen wie es schon die menschenverachtenden<br />

Bestien des Dritten Reiches versucht hatten,<br />

um die mit dem Ewigkeitsmakel behaftete Schande<br />

zu vertuschen. Wenigstens hier bin ich mit den Kommunisten<br />

einer Meinung. Die Bauern sagen, es gäbe noch<br />

viel mehr Grabhügel in der Umgebung von Xian, erzählt<br />

Li, aber niemand käme dorthin. Wieder scheint sie etwas<br />

gesagt zu haben, das Herr An nicht hören darf. Der Staat<br />

möchte das nicht. Die Kultur soll geschützt bleiben. Ich<br />

will mehr wissen, aber als An die Ohren weiter spitzt,<br />

lenkt Li in ein anderes Thema und erzählt etwas von der<br />

seltsamen Landschaft. Ich höre nicht mehr hin und stelle<br />

auch keine Fragen mehr, schaue aus dem Fenster und<br />

skizziere den flachen, fast unscheinbaren Hügel. Quins<br />

Grabhügel mit seinen geheimnisvollen Schätzen kommt<br />

uns bald schon aus den Augen, und wir sind uns der<br />

Wirklichkeit gewahr, die uns immer mehr in Erstaunen<br />

versetzen kann. Auf der einen Seite steht der nicht zu beziffernde<br />

Reichtum der unterirdischen Vergangenheit<br />

und auf der anderen heutigen, die uns umgebenden<br />

Straßenränder voll von Kleingetier, Schweinen, Hunden,<br />

allerlei Kot und sonstigen Übelkeiten, Dreck, Stroh,<br />

Maiskörnern, Fahrradteilen oder vielleicht noch fahrbaren<br />

Drahtgestellen aus der Frühzeit der Fahrradproduktion,<br />

und alten Menschen in Einheitskleidung, umringt<br />

von fröhlichen Kindern, die uns ihre Händchen nach<br />

Bonbons entgegenstrecken. Ochsenkarren und Fahrräder<br />

blockieren zudem die Straße. Alles wird auf diesen<br />

Konstruktionen transportiert und es gibt dabei, so hat es<br />

den Anschein, kaum eine Begrenzung, was Last und<br />

Größe angehen. Riesige Bündel an Stroh, Gemüse –<br />

mehr als einen Meter hochgehäuft – Reifen, Kartons,<br />

Möbel, Tiere, nicht definierbare, jedoch sehr oft ordentlich<br />

verpackte und daher zu Türmen gestapelte Waren,<br />

passieren uns, bewegt von in die Pedale tretenden,<br />

meist ausgezehrten und immer freundlich lächelnden,<br />

zurückwinkenden Garanten der Überlebensfähigkeit.<br />

Unser kleiner Bus hat Mühe, überall durchzukommen.<br />

Es ist schon fast duster, als wir noch einen vorgeschriebenen<br />

Ausflug zu den Wildganspagoden abwickeln müssen.<br />

Dort angekommen, schaffe ich es gerade noch zu<br />

einer Skizze. Videoaufnahmen machen keinen Sinn<br />

mehr. Es ist bereits dunkel geworden. An der in weniges<br />

Licht gesetzen „Großen Wildganspagode” stehen Kinder<br />

umher und versuchen selbstgefertigte Schildkröten aus


381<br />

Stein an den Mann zu bringen. Ich finde eine, in deren<br />

Panzer noch nicht das typische Muster eingeritzt war.<br />

Gerade dieses Objekt gefällt mir besonders, weil es als<br />

kleine Steinarbeit viel künstlerischer und archaischer<br />

wirkt, als die ewig gleichen Verkaufsschlager. Sie wäre<br />

noch nicht fertig, versucht man mir mit Gesten und viel<br />

Geschrei verständlich zu machen. Ich gebe das schöne<br />

Stück – noch dreißig Jahre später habe ich es als Talisman<br />

– jedoch nicht mehr aus der Hand. Die Kinder lachen<br />

sehr darüber, dass ich dieses, in ihren Augen so<br />

wertlose Stück kaufe und tuscheln kichernd miteinander.<br />

Li, die ihren Vortrag zu den Wildganspagoden gerade beendet<br />

hat, sagt mir, nachdem ich dreimal um eine exakte<br />

Übersetzung dessen, was ich zwar hörte, aber nicht verstehen<br />

konnte, gebeten hatte, dass die frechen Kinder<br />

mich als dumme Langnase bezeichnet hätten, die wirklich<br />

noch so blöd war, eine so schlechte Arbeit zu bezahlen.<br />

Das bringt mir Spaß und die Kleinen bemerken<br />

sofort, dass sie nun ertappt sind. Ich drehe mich spontan<br />

zu ihnen und sie machen sich sofort auf und davon.<br />

Schade, denn ich hätte ihnen noch so ein Kunststück abgekauft,<br />

sehr zur Erheiterung von Li, der ich das nun<br />

sage und die das natürlich auch nicht so recht versteht.<br />

Wir eilen zum Hotel, vorbei am mächtigen Stadttor,<br />

denn am Abend gibt es eine Vorstellung im Theater der<br />

neuen Stadt. Das Tor weckt mir Erinnerungen an die Zeit<br />

der Japaner in Nanking, das auch von solchen Toren umgeben<br />

ist und worüber ich viel gelesen habe. Dort allerdings,<br />

besonders vor den Toren, wurden die Hälfte der<br />

Stadtbevölkerung und vor allem Tausende chinesische<br />

Gefangene bestialisch umgebracht. Man erstach sie bei<br />

Bajonettübungen, köpfte und erschoss, ertränkte, verscharrte<br />

sie, verbrannte Menschen bei lebendigem<br />

Leibe. Das kaiserliche Japan befindet sich somit auf<br />

einer Ebene mit den ideologischen Mordgesellen des<br />

Jahrhunderts, den deutschen Verbrechern, mit den Stalinschergen,<br />

dem tschechischen und polnischen Mob,<br />

den geistlosen Horden aller Völker und Zeiten. Müdigkeit<br />

hat nicht nur mich nach einem solchen Tag der Aktivität<br />

befallen. Auch die anderen, besonders Dina und<br />

Pitt, haben wenig Lust auf das Theaterprogramm, denn<br />

wir fürchten auch heute wieder eine Propagandaveranstaltung.<br />

Dann aber hören und sehen wir ein sehr traditionelles<br />

Stück mit der dafür typischen und sehr eigenwilligen<br />

musikalischen Untermalung, sehr ähnlich der<br />

in der Pekingoper, nur etwas zeitgemäßer. Die Tänzerinnen<br />

in ihren bunten Kostümen erfreuen die Augen. Inhaltlich<br />

soll über die drei Stunden hinweg jedoch die<br />

kommunistische Partei gepriesen worden sein. Man sah<br />

es schon am immerfort schwingenden Fahnenmeer. Nur<br />

gut, dass man nichts verstehen musste. Trotz aller Farbenspiele<br />

wurde das Ende der Aufführung also von allen<br />

sehnlichst erwartet. Sehr spät liege ich im Bett und<br />

schlafe nicht sofort, weil mich die Grippe quält. Das ist<br />

oft so, wenn ich auf Reisen bin. Am Ende der grauen<br />

Nacht sind erneut Schüsse zu hören. Wieder haben einige<br />

Chinesen diese Welt hinter sich gelassen.<br />

Guilin, 25.10.1985<br />

Schon am frühen Morgen geht der Flieger nach Guilin.<br />

Ich schleppe mich, nun todkrank fühlend, in den Flieger,<br />

habe einen Stapel an Papiertaschentüchern dabei, die<br />

alle auf dem Flug gebraucht werden. Meine Freunde<br />

fühlen mit mir. Ich hoffe, dass ich niemanden anstecke.<br />

Die jungen Leute haben heute keine Kraft mehr, höre ich<br />

Albert Hahn, und Paul Rötger ergänzt, dass man einen


382<br />

wie mich in Stalingrad nicht hätte brauchen können. Ja,<br />

geht es mir durch den Kopf, dort wäre ich sicher auch<br />

verreckt wie so viele der deutschen und russischen Jugend.<br />

Die Fahrt vom Flughafen in die Stadt dauert eine<br />

Ewigkeit für mich und außerdem hat niemand ein Taschentuch<br />

für mich. Aber China ist auch das Land der Papiertaschentücher<br />

und das tröstet ein wenig. Nirgendwo<br />

sonst habe ich so viele aufgestapelt gesehen.<br />

Guilin empfängt uns mit einem unvergesslichen Duft<br />

der Bäume und Sträucher des Osmanthus, einer Duftblüte,<br />

die es hier zu Tausenden gibt und dem Ort den<br />

Namen als Stadt des Duftblütenwalds gebracht hat.<br />

Sogar meine leidende Nase nimmt die Düfte hin und<br />

wieder wahr. Nachdem wir unser Hotel bezogen haben,<br />

werden wir zu einem Marktbesuch an den Rand der<br />

Stadt gebracht. Unsere Parteichinesen sind mutig, denn<br />

sie führen uns erneut ins Mittelalter zurück, das mit<br />

ihrem Sozialismus eigentlich nicht vereinbar ist. Der<br />

Markt findet auf keinem zentralen Platz statt, sondern<br />

besteht aus einer viele Kilometer langen Anreihung von<br />

Verkaufsständen mit Schuhen, Stoffballen, Hosen, Hemden,<br />

Jacken, mit Schmuck, Jade, Glas, Porzellan, Keramik,<br />

Töpfen und Kannen, mit Kartoffeln, Kohl, großen<br />

Haufen von Gewürzen, Walnüssen, Salz, verschiedenem<br />

Käse, Äpfeln, überall hervorschimmernden Kaki-Früchten,<br />

Bananen und vielem anderen mehr. Es herrscht nur<br />

ein Mangel, das ist die fehlende Qualität aller angebotenen<br />

Dinge, die Nahrungsmittel natürlich davon ausgenommen,<br />

wenn man die Sauberkeit des Angehäuften<br />

nicht zum Maßstab macht. Die Menschen sind mehr als<br />

freundlich und aufgeschlossen. Immer haben sie ein gütiges<br />

Lächeln für alle im Gesicht. Ich glaube nicht an die,<br />

in der Literatur propagierte Formel asiatischer Dauerfreundlichkeit,<br />

der man auch Hinterlist und Falschheit<br />

andichtet. Alles kommt hier wirklich von Herzen. Die anderen<br />

Werte dieser Leute sind ihre Genügsamkeit und<br />

ihre nicht zu begreifende, unendlich scheinende Geduld.<br />

Herr An und Frau Li spazieren gemeinsam. Jeder muss<br />

den anderen beschatten. Ich weiß das natürlich und<br />

jeder wird über den anderen einen Bericht schreiben<br />

müssen. Li ist recht feudal gekleidet in ihrem beigen<br />

Mantel, besser als die anderen Frauen, die den Anschein<br />

erwecken, seit Jahren nicht die Kleidung gewechselt zu<br />

haben. Nur An läuft in seiner typischen Funktionärskluft<br />

herum, einem abgewetzten graublauen Anzug im<br />

Schnitt der dreißiger Jahre. Die Kunststofffasern spiegeln<br />

die Sonne. Nur die typische Mao-Mütze trägt er<br />

nicht. Seine Haut ist grau, sein Denken von den vielen<br />

Parteiversammlungen verödet. Man hat den Eindruck,<br />

dass er alle seine Zeit hinter dem Schreibtisch vergeuden<br />

muss, um seine Berichte über die Besucher aus der<br />

Hemisphäre des Klassenfeindes zu schreiben. Ich mache<br />

mich wieder einmal aus dem Staub. Ohne mich werden<br />

sie wohl nicht abfahren, dessen bin ich mir sicher. Die<br />

anderen – außer einigen wie Pitt natürlich, kleben in<br />

ängstlichen Gruppen zusammen, immer von der Angst<br />

getrieben, sich in den Massen zu verlieren. Ich schaue in<br />

eine Küche hinein, in der verschiedene Suppen und andere<br />

Gerichte aus Reis vorproduziert werden. Gewaltige<br />

Reisteigrollen liegen in Plastikkübeln gestapelt. Ob man<br />

sie dort einzeln wieder herausbekommt, lässt sogleich<br />

meine Zweifel aufkommen. Ein fahrradähnliches rostiges<br />

Gerät rattert laut vorüber. Ein Ast hat sich in den<br />

Speichen verfangen. Der Fahrer grinst und freut sich<br />

über die Aufmerksamkeit, die ihm die Einheimischen<br />

und die Besucher aus den Fernen der Welt aufgeschreckt


383<br />

entgegenbringen. Irgendwie ist es eine Form von gelungener<br />

Werbung, sagt später Pitt dazu, der das natürlich sofort<br />

besser analysiert hat als ich. Über die Lenkstange ist<br />

eine lange Latte gebunden, an der links und rechts je fünf<br />

Hühner mit den Köpfen nach unten baumeln – noch lebend<br />

natürlich. Ein Anblick, der nicht nur den Tierschützern<br />

in der Heimat ins Mark fahren würde. Li steht auf einmal<br />

neben mir, beginnt damit, das viele Gemüse zu erklären<br />

und auch, was man hier alles damit machen kann. Ich<br />

sehe ganze Bündel von Wurzeln und getrockneten Pflanzen,<br />

Schlangen in Glasgefäßen und anderes Getier, eingelegt<br />

in brauner Brühe. Die Haare stehen hier manchem<br />

aus der zivilisierten Welt schon bei dem Gedanken zu<br />

Berge, davon etwas essen zu müssen. Ich frage Li, ob ich<br />

denn mal ein Stück von einer Schlange kosten könne, es<br />

sollte ja auch gegen die Grippe helfen. Li schreit auf in


384<br />

einem Lachanfall, hält es für einen großartigen Witz. Um<br />

meinen Kopf wieder frei zu bekommen, hätte ich ein<br />

Stück davon heruntergewürgt. In Gedanken natürlich!<br />

Wir laufen noch einige Meter gemeinsam und die Begleitdame<br />

macht mich darauf aufmerksam, wo genau<br />

später der Treffpunkt sei. Ich habe verstanden. Der<br />

immer Zu-letzte wird sanft gemaßregelt! Eine kühle<br />

Brise fegt über die Straße und lässt Blätter und Papier<br />

in kleinen Wirbeln tanzen. Ich halte die Hand vor die<br />

Augen, laufe weiter und werde fast umgestoßen in dem<br />

Gedränge. Auf dem Markt sitzen Schreiber herum, die<br />

den Analphabeten dabei helfen sollen, mit den Behörden<br />

zu kommunizieren und ich sehe Medizinhändler,<br />

von denen ich mir Tee gegen meinen Husten geben<br />

lasse. Darüber hinaus bestellt mir Li, die mich nun regelrecht<br />

verfolgt, noch ein Pulver, welches ich in den Tee<br />

hineinrühren sollte. Ich will nicht wissen, um welche getrocknete<br />

und zermahlene Schlange es sich dabei handelt<br />

und werfe es bald schon in die nächste Tonne,<br />

sobald ich aus ihren Augen bin. Ein schockierenderes Erlebnis<br />

stellt sich dazu noch für alle Marktbesucher aus<br />

der Zivilisation ein. Es ist der Zahnarzt auf dem von<br />

Menschen nur so wogenden Straßenbild – besser gesagt,<br />

dessen Arbeitsplatz, der einem Ort unvorstellbarer<br />

Torturen aus der Frühzeit der Folter gleicht. Einige Dutzend<br />

ausgerissener Zähne zeugen von großen Leistungen.<br />

Der Doktor, wenn er überhaupt ein solcher ist, hat<br />

sie sorgfältig zur Bestätigung seines Könnens auf einem<br />

kleinen Tisch aufgereiht. Davor, auf einem Fetzen Stoff<br />

liegen wohlgeordnet Gebisse aus Kunststoff, bestückt<br />

mit schneeweißen Zähnen. Ich vermute sogleich, dass<br />

einige von diesen schon mehrfach den Besitzer gewechselt<br />

haben. Von einem Zahnarzt sollte man wirklich nicht<br />

sprechen, eher von einem, der gut mit der Zange umgehen<br />

kann. Ob und wie betäubt wird, erfahre ich nicht. Das ist<br />

auch besser so. Der Bohrer wird durch ein einfaches Tretrad<br />

angetrieben, das an das Spinnrad aus Rumpelstilzchens<br />

Märchenland erinnert. Alles hier kann nur die Kulisse für<br />

einen Horrorfilm sein. Gerade ich muss das sehen, der sicherlich<br />

die meiste Angst vor dem Zahnarzt hat, als alle anderen<br />

hier zusammen. Die Vorstellung, dort in der<br />

Öffentlichkeit schreiend zu sitzen und sich einen Zahn zerbohren<br />

oder herausreißen lassen zu müssen, lässt eine gewisse<br />

Furcht bei allen aufkommen, aber auch die große<br />

Zufriedenheit, dass man zu Hause wohl den Himmel auf<br />

Erden hat und nicht erst mit einem Holzscheit in die alles<br />

betäubende Ohnmacht befördert werden muss. Überall an<br />

den Lebensmittelständen benutzen die Händler ihre vorsintflutlich<br />

aussehenden Waagen. Das sähe logisch und<br />

einfach aus, will aber gehandhabt sein und ein Quäntchen<br />

Vertrauen gehöre für die Käufer wohl auch dazu, erklärt mir<br />

Li. Wir lachen beide über diese Bemerkung. Die Hauptstädterin<br />

möchte sicherlich nicht mehr in dieses Mittelalter zurück.<br />

Nun wirbeln Straßenfeger mit riesigen Kehrbesen<br />

viel Staub auf und sollen auf diese Weise für Sauberkeit<br />

auf dem Markt sorgen. Wie sie sich dabei anstellen, ist allerdings<br />

recht filmreif. Erst fegen sie allen Unrat an Papier,<br />

Blättern und dergleichen zu größeren Haufen zusammen.<br />

Der wird bald schon wieder vom Wind auseinandergeblasen<br />

und nach geraumer Zeit beginnen sie dann ihre Arbeit<br />

von neuem. Ab und zu schaufeln sie auch Dreck auf einen<br />

Karren. Genosse Sisyphus lässt grüßen. Ich habe mit der<br />

Grippe eine wahre Plage am Hals und werde von den<br />

Damen der Künstlergesellschaft mit Medikamenten versorgt,<br />

die jedoch kaum Linderung bringen. Vielleicht hätte<br />

ich es doch mit dem Reptilienpulver versuchen sollen.


385<br />

Guilin, 26.10.1985<br />

Für den heutigen Tag ist eine Schifffahrt auf dem Li-Fluss<br />

angesagt. Alle Welt schein hier Li zu heißen. Dazu müssen<br />

wir ein ganzes Stück ins Land hineinfahren, um an<br />

die Anlegestelle in einem kleinen Dorf zu kommen. Es<br />

regnet, und überall wo man hintritt, versinken die<br />

Schuhe im Schlamm. An besonders kritischen Stellen<br />

haben die Chinesen Bretter hingelegt aber auch ganze<br />

Bündel von Stroh. Wir laufen recht und schlecht einen<br />

Abhang zu den Booten herunter, die den Eindruck erwecken,<br />

als hätten sie ihre letzte Fahrt vor sich. Bernhard<br />

Marx stolpert und stürzt in eine Wasserlache. Seine<br />

weiße Jacke ist nun schwärzlich-grün getüncht. „Es<br />

riecht nach Kuhscheiße“, höre ich von ihm, und dass er<br />

sich nun den restlichen Tag mit Schnaps betäuben<br />

müsse. Das macht er allerdings ohnehin. Ob man nun<br />

in die Pfützen fällt oder auch nicht, es ist fast egal. Die<br />

Luftfeuchtigkeit ist hoch und Gewittergüsse haben inzwischen<br />

jeden von uns aufgeweicht, der nicht mit den<br />

obligatorischen Plastikumhängen ausgestattet ist.<br />

An erbärmliche Hütten gelehnt, um sich so vor dem<br />

Regen etwas zu schützen, stehen Bäuerinnen und viele<br />

ihrer kleinen Kinder. Sie bieten selbst hergestellte Dinge<br />

an, die alle sehr schön gestaltet und ganz sicher in langer<br />

und mühevoller Arbeit entstanden sind. Ich bestaune<br />

allerdings nur die vielen kunstvoll geflochtenen<br />

Fächer und sehr flachen Hüte aus Bambus, die die Dörfler<br />

hier auch selbst benutzen. Einer alten Bäuerin kaufe<br />

ich dann eines dieser Kunstwerke ab, das mir nun als<br />

Regenschutz und später auch gegen die Sonne helfen<br />

wird. Die Greisin hat kaum noch Zähne im Mund. Als sie<br />

vor Freude über den Verkauf mit mir spricht, sehe ich nur<br />

drei und denke gleich an den Zahnreißer von Guilin. Li<br />

bemerkt es und sagt mit Worten aus ihrem Funktionärsmilieu,<br />

dass die medizinische Versorgung auf dem<br />

Lande noch nicht zufriedenstellend gelöst sei. Ziemlich<br />

mutig ist diese, im kommunistischen Jargon gefärbte<br />

Aussage und man sieht es ja ohnehin überall, welch verelendetes<br />

Bild die Landbevölkerung abgibt. Als ich den<br />

Hut gerade erworben habe, umringen mich weitere<br />

Frauen und wollen mir auch ihre Geflechte verkaufen.<br />

Wer soviel Geld gibt, dem wollen alle etwas verkaufen,<br />

klagt Li, ohne zu wissen, dass sie später soviel an Zuwendungen<br />

erhalten wird, dass sie sich eintausend Hüte<br />

würde kaufen können. Es regnet noch immer in Strömen,<br />

als wir das Schiff besteigen. Schon auf dem kurzen<br />

Weg dorthin leistet mein Hut erste gute Dienste. Er ist<br />

so geflochten, dass kein Tropfen Wasser hindurchdringen<br />

kann, wohl aber Luft ans Haar heranlässt, erklärt mir<br />

Li stolz. Paul Labonté, der die Delegation begleitende<br />

Stadtverordnete Frankfurts, hält eine Rede auf dem<br />

Schiff. Er, der bei allen beliebt ist, dankt den Künstlern<br />

und will sie später nach der Reise in Frankfurt einladen.<br />

Man hofft es. Pitt Lörincz setzt sich zu mir an einen der<br />

großen Tische unten im Kahn. Wir unterhalten uns über<br />

die Schüsse, die man am frühen Morgen aus dem nahe<br />

liegenden Stadion deutlich gehört hat. Pitt meint nur lakonisch,<br />

dass es nicht die einzigen Hinrichtungen gewesen<br />

wären. Die Chinesen nehmen sie ja immer in leeren<br />

Stadien und sehr zeitig vor. Hingerichtet werden meist<br />

die kleinen Leute, die Diebe und Mörder. Den großen<br />

Drahtziehern von Partei und Industrie geht es allerdings<br />

selten an den Kragen. Der Li-Fluss bietet viel Abwechslung<br />

auf der Fahrt durch den Regen, der trotz seiner Heftigkeit<br />

die interessante Bergwelt nicht verschleiert. Mit<br />

langen Stangen staken sich Fischer gegen den, an vielen


386<br />

Stellen reißenden Strom. Einige fangen mit Netzen, den<br />

anderen helfen Kormorane dabei, die Mahlzeiten für<br />

sich und ihr Dorf einzubringen. Die Steinzeit hat uns wieder<br />

eingeholt. Hier wird es noch in hundert Jahren so<br />

sein, wenn bis dahin der Fluss nicht von der Industrie<br />

verseucht ist. Irgendwann werden es auch die Chinesen<br />

lernen, ihre Umwelt zu pflegen, kräht es von den Sozialund<br />

Umweltfrauen des Nachbartisches herüber, die die<br />

Reise nicht gerade zu einem Erlebnis von andauernder<br />

Freude werden lassen wollen. Ich glaube nicht daran.<br />

Viele Kähne und Flöße fahren dicht an das große überdachte<br />

Schiff heran, das uns über den Fluss schippert.<br />

Auf den Flößen sehe ich Gemüse, Kokosnüsse, große<br />

Bündel irgendwelcher Pflanzen, deren Grün frisch leuchtet.<br />

Einige Frauen paddeln sogar mit fertigen Mahlzeiten<br />

bis an die Bordwand. Die Leute wollen verkaufen. Steuern<br />

darauf werden sie wohl nicht berappen müssen,<br />

meint Paul Rötger wie immer witzig aufgelegt. Aber<br />

auch dieser Staat hat einen langen Arm und für ein paar<br />

Salatblätter eine Kugel in den Kopf zu bekommen, riskiert<br />

hier wohl kaum einer. Li staunt über dieses Geschwätz,<br />

sagt aber nichts dazu. Leider kauft den armen<br />

Händlern niemand etwas ab, denn wir werden auf dem<br />

Schiff reichlich genug verköstigt. Zum anderen grassiert<br />

der Durchfall, der fast allen zu schaffen macht. Am Heck<br />

des Schiffes ist eine große Kochstelle eingerichtet, auf<br />

der unser Essen über Kohlenglut in großen Aluminiumschüsseln<br />

zubereitet wird. Die Köche übernehmen auch<br />

den Abwasch des Geschirrs. Essensreste und anderer<br />

Müll werden von ihnen einfach im Fluss entsorgt, so<br />

dass am Schiff immer auch das Geschrei von begleitenden<br />

Vögeln nicht abreißt. Rechts und links des Flusses<br />

ragen die hohen Berge, dicht stehend und eigenwillig<br />

wie Zapfen geformt, aus der Landschaft hervor. Unser<br />

Schiff gleitet durch die beeindruckende Natur grauer Vorzeiten.<br />

Palmen, Felsen, kleine Strände am Ufer, weidende<br />

Büffel und Hütten, in denen die Leute wie in der<br />

Urzeit leben. Ihre wenige Wäsche wird im Fluss gewaschen.<br />

Man sieht die großen und kleinen Fische nahe<br />

dem Boot, und aus dem Wasser steigen hin und wieder<br />

Nebelschwaden auf. Die tropische Hitze und der Regen<br />

bringen viele Wetterstimmungen und lassen manchmal<br />

auch die Fenster des Schiffes undurchsichtig werden. So<br />

sind wir ständig dabei, uns etwas Aussicht frei zu wischen.<br />

Dunkle Gewitterwolken ziehen erneut auf, ein<br />

starker Wind zerzaust das saftige Grün der Natur und<br />

fegt sogar den Köchen die großen Aluminiumschüsseln<br />

unwiederbringlich weg. Sie schaukeln noch ein Weilchen<br />

in den Wellen und versinken dann in die Tiefe. Boote und<br />

Flöße werden jetzt eilig zum Ufer gesteuert. Eine Frau<br />

fällt vom Boot, hält sich an einer Stake fest. Dann setzt<br />

schon das Unwetter ein, so wie man es aus Reisebeschreibungen<br />

Asiens kennt, und ich bin froh, ein Dach<br />

über dem Kopf zu haben. An den Seiten der dürftig zusammengeschusterten<br />

Überdachung strömt das Wasser<br />

hinein, und wir heben die Füße an, denn es steht bald<br />

einige Zentimeter hoch auf dem Boden, fließt nirgendwohin,<br />

wie es scheint. Um ganze Zeitepochen zurück ist<br />

hier alles, sagt Li zu mir, die sich gerne mal mit mir unterhält,<br />

besonders dann, wenn An nicht in der Nähe ist.<br />

Der wird gerade von Bernhard zu einem Schnaps aus<br />

der Bordbar genötigt. Die Leute kennen es sicher nicht<br />

anders, tröste ich sie. Dass ich mit dem Kommunismus<br />

nichts am Hut habe, hat sie schon gleich anfangs zu spüren<br />

bekommen. Sie weiß auch, dass ich vom Geheimdienst<br />

verhaftet worden war. Hören will sie das nur,


387<br />

wenn An nicht in der Nähe ist. Wenn sie sich unbeobachtet<br />

fühlt, kann man mit ihr über die schlechten Seiten totalitärer<br />

Systeme, auch über den Kommunismus reden.<br />

Über gute Aspekte dieser Gesellschaften muss man es<br />

nicht, denn es gibt keine. Frau Li und Herr An dürfen von<br />

uns keinerlei Geschenke annehmen. Dennoch sammeln<br />

wir Geld und überreichen es beiden für die sonst unerschwinglichen<br />

Kaschmirpullover. Scheu und dankbar<br />

wie ein Reh schaut sie oft daher, die kleine Frau, die bei<br />

Radio Peking arbeitet und bald in Deutschland studieren<br />

möchte. Ich will ihr dabei helfen. Herr An wird seinen<br />

Pullover ganz sicher seinem Vorgesetzten abliefern, witzele<br />

ich. Ein bedauernswerter Vasall seiner von der<br />

Menschheit längst überholten Staatsreligion.<br />

Kanton, 29.10.1985<br />

Von Guilin geht es morgens gegen drei Uhr wieder per<br />

Flugzeug weiter. Wir erreichen Kanton oder besser Guangzhou,<br />

wie es richtig benannt werden sollte, denn die<br />

andere Bezeichnung ist auf sprachlicher Willkür Englands<br />

gewachsen – und werden in luxuriöse Gästehäuser<br />

der Regierung gebracht, die alles bisher auf dieser<br />

Ebene Erlebte in den Schatten stellen. Diese Bauten sind<br />

durchweg aus Holz und mit traditionellem Anstrich versehen.<br />

So alt scheinen sie nicht, jedoch entstammen sie<br />

weder der kommunistischen Frühzeit, noch wirken sie<br />

irgendwie nachempfunden. Die Stadt liegt noch im<br />

grauen Morgennebel, als wir die erste Bekanntschaft mit<br />

ihr machen können. Leider sind wir nur für einen Tag<br />

und eine Nacht hier. Ich nehme mir vor, niemals mehr<br />

mit einer Gruppe zu reisen. Die alltägliche Unbeholfenheit<br />

erleben zu müssen, wobei dann noch jeder immer<br />

wieder dieselben Fragen stellt, nagt mir zudem am Ner-<br />

venkostüm. Die Häuser für die Gäste liegen auf einer<br />

Insel des Perlenflusses – dem Shiziyang – inmitten dieser<br />

riesigen Stadt, umgeben von Palmen und vielen anderen<br />

exotischen Bäumen und Sträuchern. Ein<br />

Eilprogramm ist für uns vorgesehen, freut man sich, uns<br />

gleich mitzuteilen. Man gibt sich die größte Mühe. Das<br />

spüren wir auf der ganzen Reise. Ein ganzer Tag und eine<br />

Nacht liegen also noch vor uns und wir wissen sogleich,<br />

dass die Zeit nicht reichen wird, die notwendig wäre, die<br />

Stadt so zu erleben, dass man sagen könnte, nicht gleich<br />

wieder hierher kommen zu müssen. Es folgt ein Spaziergang<br />

in einem Villengebiet unweit unserer Insel. Ich<br />

habe mir die genaue Adresse unserer Bleibe notiert und<br />

mache mich zunächst wieder einmal auf eigene Wege.<br />

Den Zeichenblock habe ich im Hotel vergessen und so<br />

betrachte ich die Gegend durch die Kamera. Nichts ist in<br />

gutem Zustand, alles erinnert an den Verfall wie ich ihn<br />

aus Görlitz und Venedig kenne. Jedoch spürt man, welch<br />

großartiger Reichtum einst dieses Viertel geprägt hat.<br />

Reste von Farben an den hölzernen Anbauten sind zu erkennen,<br />

die von einer Farbkultur erzählen, die unwiederbringlich<br />

verloren zu sein scheint. Viele Fassaden sind<br />

von exotischen Pflanzen berankt und die Sonne glitzert<br />

durch Blätter hindurch, die nicht grün, sondern vom<br />

Schatten getüncht schwarzgefärbt erscheinen. Die<br />

Sonne blendet schmerzlich, ich habe meine Sonnenbrille<br />

in Guilin verschenkt. Die fehlt mir nun wahrlich. Ein älterer<br />

Herr kommt langsam und etwas gebeugt an einem<br />

Stock hantierend auf dem immer noch in Rudimenten<br />

vorhandenen Bürgersteig daher. Er ist mit einem weißen<br />

Hemd und einer gut gebügelten Hose bekleidet,<br />

entdecke ich, den gepflegten alten Mann bewundernd.<br />

An seiner Seite geht wahrscheinlich die Enkeltochter, die


388


389<br />

sichtlich sehr bemüht um ihn ist. Ich sehe es dem Alten<br />

an, dass er einst eine hohe Funktion innegehabt haben<br />

muss, zumindest Arzt oder Anwalt war oder irgendein<br />

Direktor alter Schule. Seine Kleidung wirkt westlich,<br />

wenn auch sehr alt und zerwaschen. Die junge Frau wird<br />

um die dreißig Jahre alt gewesen sein, wunderschön<br />

und vor allem für chinesische Verhältnisse so groß, dass<br />

meine Augen ihr etwas signalisierten, das sie mit einem<br />

Lächeln beantwortete, das mich gedanklich bewog, für<br />

immer in Kanton bleiben zu wollen. Viel Zeit für eine Unterhaltung<br />

blieb uns nicht. Ich plappere einige einstudierte<br />

Höflichkeiten, die mir Li antrainiert hat und kann<br />

gerade noch sagen, dass ich aus Germany-West käme,<br />

was ich betone, als die mich observierende Altfrauenriege<br />

nahe genug heran ist und mich zum wartenden<br />

Bus treibt. Wir steigen ein und werden zu einem fürstlichen<br />

Essen gefahren, kein Staatsbankett, aber so beeindruckend,<br />

dass es lebenslang im Gedächtnis bleiben<br />

wird. Während dieses Kulinariums kommt in mir auch<br />

die Überzeugung auf, diesmal die zu kleinen Würfeln geschnittenen<br />

Stücke einer gesottenen alten Wasserratte<br />

verspeist zu haben. Nur gut, dass es auch die Saucen<br />

dazu gibt. Mit der scharfen Sauce ging alles leicht herunter.<br />

Ich esse ohnehin alles, was mir vorgesetzt wird.<br />

Es sieht auch alles so aus, als wäre es geschmacklich unbedenklich.<br />

Es wird ausreichend Tee dazu gereicht, meist<br />

Jasmin, aber auch Bier von der Tsingtau-Brauerei, das<br />

aus großen Liter-Flaschen eingeschenkt wird, die mal<br />

aus grünem oder aus braunem Glas sind und Verschlüsse<br />

haben, wie man sie aus der Frühzeit der Braukunst<br />

übernommen hat – ein deutsches Urprodukt, nach<br />

Kaisers Zeiten allerdings ohne Reinheitsgebot gebraut.<br />

Da es Schlangen im Park gibt, werden wir bei der An-<br />

kunft im Schlafparadies gebeten, in der Nacht die Fenster<br />

und Türen geschlossen zu halten. Wenn einer das beachtet,<br />

dann bin ich es, denn es gibt wohl keinen hier,<br />

der sich mehr vor Schlangen fürchtet. Die Nacht vergeht<br />

mit allerlei Geräuschen, denen ich nicht so gerne lausche.<br />

Wir haben ein Fenster offen, weil Bernhard sonst<br />

ersticken müsste wie er sagte und dann vom ersten<br />

Atemzug an so schlief und schnarchte, dass ich mehrmals<br />

auf ihn einschlagen musste. Ich schnarche nicht,<br />

höre ich dann von ihm. „Ich doch nicht!“.<br />

Hongkong, 30.10.1985<br />

Heute morgen wurden wir herzlich aus China verabschiedet.<br />

Mit einem Sonderzug fuhren wir dann am<br />

Pearl-River entlang nach Hongkong, dem „Duftenden<br />

Hafen” entgegen. Die Landschaft fliegt am Fenster vorüber<br />

wie die Zeit. Grüne Felder, Palmenhaine und immer<br />

wieder der Fluss, der ins Fenster hineinspiegelt, weil die<br />

Sonne es so will. Im Wagen gibt es Nachrichten aus dem<br />

Fernseher. Wir sind wieder in der Gegenwart angekommen.<br />

Einen Fernseher im Zug, das gibt es im Kommunismus<br />

der Zukunft vielleicht, aber dann aus Holz<br />

geschnitzt und eventuell mit einem Standbild – farbig<br />

bemalt – aber jetzt noch nicht! Es wäre nicht vorstellbar<br />

nach den Erlebnissen der letzten Tage. Der Zug ist also<br />

aus Hongkong, wie kann es anders sein. In Deutschland<br />

haben wir das auch noch nicht und das vierzig Jahre<br />

nach dem Krieg. Ich erinnere daran, dass zu den olympischen<br />

Spielen in Berlin 1936 bereits Fernsehübertragungen<br />

stattgefunden haben. Nur wenige wissen, dass<br />

es so war. Die Linken vermuten, dass alles aus den USA<br />

kommt. Die haben es den Deutschen 1945 gestohlen wie<br />

so vieles an Patenten usw. Pitt Lörincz weiß es auch und


390<br />

auch Paul Rötger, aber der ist nicht bereit, sich an solch<br />

einer Diskussion zu beteiligen. In all seiner Gemütlichkeit<br />

genießt er lieber den Blick auf die Landschaft. Wann<br />

werde ich mal soweit sein. Die ganze Reise in diesem<br />

Produkt unserer neuen Zeit dauert in etwa vier Stunden<br />

und ich schaue genau hin, als wir über die Grenze zu den<br />

New Territories in die kapitalistische Enklave des britischen<br />

Empire hineinfahren. Noch stellen die Engländer<br />

hier den Gouverneur. Bald schon wird man sie, wie in<br />

Indien auch, herausschmeißen, denn der Pachtvertrag<br />

geht dem Ende entgegen. Mich erfreut das ungemein,<br />

denn es wird den nicht gerechtfertigten Stolz der überheblichen<br />

Eliten dieses kleinen Inselvolkes weiter<br />

schmälern helfen.<br />

Die Kolonialzeit ist in Hongkong – dem Himmel sei<br />

Dank – auch jetzt schon zu Ende gegangen, denn ein<br />

jeder von uns schleppt seinen Koffer selbst durch die<br />

Gegend. Wir beschließen, das Gepäck für die Zeit bis<br />

zum Abflug, irgendwo zu deponieren. Eine gute Idee,<br />

denn wir wollen von Kowloon aus noch nach Hongkong-<br />

Island herüber, um dort auf den Märkten einzukaufen.<br />

Irgendetwas muss man ja von der Reise mitbringen,<br />

sagt Bernhard Marx, der schon ein Halsband für seinen<br />

Hund gekauft hat und darauf besteht, Pitt und mich bei<br />

den Einkäufen zu begleiten. Im Peninsula, einem schönen<br />

Hotel mit großem Panoramafenster, machen wir<br />

erst einmal eine längere Pause und stellen auch unser<br />

Gepäck ab, das von den müden Frauen der Gesellschaft<br />

bewacht wird, die keinen Schritt mehr gehen wollen. In<br />

der Lobby bewundere ich einen großen Baum, rätsele<br />

schon, wie man den wohl hier hereingebracht hat, als<br />

die allwissenden Botaniker der Gruppe darauf hinweisen,<br />

dass es ein Baum aus Plastik wäre. Woher soll einer,<br />

der aus dem Osten kommt und Pfirsiche erstmals in Ungarn<br />

zu Gesicht bekam, so etwas nur im Ansatz erahnen<br />

können. Pitt Lörincs, einige andere und auch ich selbst,<br />

fahren mit der Fähre – anders geht das nicht – nach<br />

Hongkong hinüber und streifen durch die Marktviertel,<br />

was nichts anderes bedeuten soll, als dass wir uns durch<br />

die mit allerlei Waren bis in den Himmel behangenen<br />

Straßen drängen. Man zwängt sich durch Waren und<br />

Menschen hindurch, wird geschoben von den Massen<br />

und so daran erinnert, dass man in einer vollkommen<br />

anderen Welt gelandet ist, die sich von Rotchina so unterscheidet<br />

wie der neueste Mercedes von einem rostigen<br />

Fahrrad ohne Sattel und Bereifung. Ich kaufe zwei,<br />

ganz mit altchinesischer Motivkunst bemalte Deckeltassen,<br />

und einige andere transportable Dinge, die ich zu<br />

Hause verschenken werde. Das sind Stoffe, Tücher,<br />

Schmuck, Gewürze und auch Kämme aus exotischem<br />

Holz geschnitten. Manche haben nur fünf Zinken. Sie<br />

wären für Frauen, höre ich, deren Haare verklebt oder<br />

zerzaust wären, für Touristinnen also. Immer lacht Pitt,<br />

wenn ihm so etwas zu meinen Fragen einfällt. Und ich<br />

fühle eine Botschaft aus dem All, dass ich diese Stadt<br />

wiedersehen werde. Bernhard erzählt unentwegt von<br />

seinem Dackel. Dass er ihn mal in Frankfurt vergessen<br />

hätte, angebunden vor einem Geschäft und schon wieder<br />

zu Hause in Weilbach gewesen sei, als die Frau es<br />

nicht nur zu ihrem Entsetzen bemerkte. Als er dann, der<br />

Ohnmacht nahe, wieder in Frankfurt bei seinem sehnsüchtig<br />

wartenden Freund ankam, pinkelte der vor Glück<br />

auf die Straße. So was muss man mal erlebt haben, sagt<br />

Bernhard. Für seinen Liebling schleppt er nun eine gepolsterte<br />

Schlafstätte durch die Gassen. Pitt lächelt verschmitzt<br />

wie immer, ohne ein Wort dazu zu sagen. In


391<br />

China, so bemerke ich nun mal, wäre der Hund längst<br />

nicht mehr am Leben. Das schürt nur noch die Sehnsucht<br />

von Berni, der ohnehin mehr Sehnsucht nach dem Hund<br />

hat, als nach allem anderen zu Hause. Der Abflug von Kai<br />

Tak wäre allerdings unproblematischer, als der Anflug,<br />

sagte mir Jupp, der Freund, der zur Zeit Transportpilot bei<br />

der Lufthansa für Esel und Schafe und anderes wichtige<br />

Handelsgetier ist. Dass ich nicht gern im Flieger sitze,<br />

muss ich niemandem mehr sagen. Das Vertrauen in die<br />

Technik ist dennoch groß. Ich rede es mir unentwegt ein.<br />

Boeing 747 – ein Wunder der Flugzeugkunst! Keiner widerspricht<br />

mir, als ich es nachfragend verlauten lasse.<br />

Dennoch, das Getöse beim Abflug auf der kurzen Strecke<br />

nervt und veranlasst Bernhard, der wie fast immer auf<br />

dieser Reise neben mir sitzt, zu der Bemerkung, dass es<br />

einige Flieger nicht geschafft hätten, rechtzeitig abzuheben<br />

und daher im Wasser landeten. Nach diversen Getränken<br />

fallen wir beide in einen längeren Schlaf, der<br />

dann mit weiteren Getränken aufrechterhalten wird. Ich<br />

werde es nun nicht mehr schaffen, gerne zu fliegen, nachdem<br />

man mir die Gefahren des Hinfluges bis in alle Einzelheiten<br />

beschrieben hat. Jetzt, am Anfang der Freiheit<br />

abzustürzen, wäre für mich, der noch nicht mal New york<br />

gesehen hat, ein Desaster. Dina Kunze, der dieser Trost<br />

über ihre Lippen glitt, ist sich nicht bewusst, dass sie mir<br />

keinen Gefallen getan hat. Dina ist Jüdin, erzählt von<br />

ihrem Sohn Benjamin. Eine wunderbare Frau mit langem,<br />

überlangem schwarzem Haar, teilweise in Locken<br />

gedreht und nicht mehr kämmbar, wie sie sagt. Sie hat<br />

es gut, kann überall in der Welt herumreisen, denn die jüdischen<br />

Leute haben infolge der Diaspora ja in jedem<br />

Land jemanden. Wir Deutschen auch, nur werden wir<br />

eher mit Steinen beworfen nach den Ereignissen der jüngeren<br />

Geschichte. Juden und Deutsche, ein sicher nicht<br />

nur schreckliches Thema. Von Dina habe ich ohnehin<br />

keine Küsse zu erwarten. Sie ist mit ihrem Mann auf Reisen,<br />

der leitender Angestellter des Gefängnisses in Butzbach<br />

ist, und dort will ich natürlich nicht hin.<br />

5.11.1985<br />

Mit großer Freude vernehme ich, dass der Osten die<br />

Selbstschussanlagen an der innerdeutschen Grenze entfernt<br />

hat. Wirklich alle? Sicher hat man nun bessere<br />

Überwachungsanlagen im Hinterland installiert und die<br />

abgebauten Mordanlagen dorthin verfrachtet. Weitab<br />

davon konnten sie ohnehin jeden umlegen, und der<br />

Westen wird es wiederum nicht bemerken. Der Westen<br />

ist sicher wieder auf den hinterlistigen Osten hereingefallen.<br />

Bundesminister Windelen, mit dem ich der Befreiung<br />

von Heinz wegen in Kontakt stehe, sieht die Zukunft<br />

nach wie vor skeptisch. Eine gute Nachricht ist, dass die<br />

Niederländer nun auch US-Marschflugkörper stationieren<br />

wollen. Diese Entscheidung hat lange genug gedauert<br />

und deren, von der Straßendummheit bewirkte<br />

Verzögerung nur den Sowjets in die Hände gespielt. Ritter<br />

erzählt mir, als ich ihm von den Zuständen in China<br />

berichte, dass Fassbinders Stück „Der Müll, die Stadt<br />

und der Tod” in Frankfurt nicht aufgeführt wird, weil Organisationen<br />

wegen antijüdisch anmutender Inhalte das<br />

durchgesetzt hätten. Also gibt es die sogenannte Freiheit<br />

in der Kunst doch nicht? Von chinesischen und ostdeutschen<br />

Verhältnissen sind wir jedoch noch weit entfernt,<br />

obwohl man wirklich – eingedenk des früher angerichteten<br />

Elends – auf der Bühne die Schnauze halten sollte,<br />

wenn es nicht dazu dienlich ist, die Hirne zu entkalken.


392<br />

4.12.1985<br />

Heute bin ich den ganzen Tag in Ginsheim und bearbeite<br />

Gipsformen für das Glaswerk von Toni Frank. Bleiglas gepresst<br />

soll wieder einmal daraus werden. Ich begebe mich<br />

auf ein Feld, dass ich auf normalem Wege nicht betreten<br />

hätte. Mich stört jede Dekoration. So wird wohl alle Mühe<br />

vergebens sein. Dennoch, es entstehen gute Arbeiten. Vor<br />

allem hilft mir Ina wieder sehr engagiert. Schließlich ist es<br />

doch auch bald ihr Arbeitsgebiet. Im Radio hören wir<br />

einen Bericht über den Besuch von Polens Jaruzelski in<br />

Paris. Es ist das erste Mal, dass der sich aus seinem<br />

Kriegsrechtsgebiet wieder herauswagt und eine Schande<br />

für Frankreich, diesen Mann als Vertreter des Sowjetunrechts<br />

zu empfangen. Entsprechend groß sind die Proteste.<br />

Aber Mitterrand ist und bleibt in seinem Innern ein<br />

Kommunist. Der Protest zeigt aber auch, dass selbst die<br />

Roten in Frankreich nicht einverstanden mit ihrem Präsidenten<br />

sind. Auf die Antwort oder wenigstens eine Reaktion,<br />

meine Petition zur Befreiung von Leuten aus dem<br />

Osten betreffend, warte ich noch immer. Mitterrand hat<br />

den Brief natürlich nie gesehen. Unter Gorbatschow, so<br />

hoffen wir im Westen, wird sich hoffentlich bald einiges<br />

zum Guten wenden. Jelena Bonner, die Frau von Sacharow,<br />

ist nach Rom gereist und soll nach medizinischen<br />

Eingriffen dann nach den USA weiterreisen dürfen. Das<br />

hat sie Ronald Reagan zu danken, der sich eben erst mit<br />

Gorbatschow traf und diesem wieder die Leviten gelesen<br />

haben wird. Aber die Welt weiß es längst, dass die Freiheit<br />

nur von der Sowjetunion selbst ausgehen kann, wenn es<br />

keinen Krieg dafür geben muss. Am Abend erhalten wir<br />

dann einen Anruf von Heinz, der im Flüchtlingslager in<br />

Gießen angekommen ist. Es ist kaum zu glauben, aber<br />

wahr. Wir fahren sofort nach Gießen und holen ihn dort<br />

aus dem Lager. Es sind nur sechzig Kilometer bis dorthin<br />

zu fahren. Um 20.45 Uhr sitzen wir bereits in einer Kneipe<br />

und haben allen Grund zum Feiern. Wir nehmen ein Hotel<br />

und Heinz bleibt dann noch in Gießen, um die Formalitäten<br />

zur Einreise sofort zu erledigen. Nicht wie ich, der es<br />

erst so spät anging, weil Alexander meinte, dass man sich<br />

da nicht beeilen müsste. Wir telefonieren auch den ganzen<br />

Abend mit den Freunden im Osten. Uli ist hocherfreut,<br />

dass es Heinz geschafft hat und vor allem Ines, die nun<br />

mit der kleinen Luise in Ostberlin auf ihre Ausreise wartet.<br />

Heinz berichtet 2016 in seinem Buch über die Ankunft im<br />

Westen: „Gegen 19.00 Uhr erreichten wir das Notaufnahmelager<br />

Gießen. Wieder ein Lager, aber die Tore blieben<br />

immer offen! Noch am gleichen Abend erreichte ich über<br />

die Telefonauskunft meinen Freund <strong>Roy</strong> in Wiesbaden.<br />

Zwei Stunden später saßen wir in einem Lokal zusammen<br />

mit der Görlitzer Freundin Ina, der die Flucht über Jugoslawien<br />

gelungen war, und besprachen die Vergangenheit<br />

und die angebrochene Zukunft in der Freiheit …”.<br />

Horst erhält sofort eine Nachricht über die Ankunft von<br />

Heinz aus dem Gefängnis in Karl-Marx-Stadt. Noch sind<br />

viele Leute auf meiner Liste, die man herausholen muss.<br />

Er ist zuversichtlich, dass alles klappen wird, wenn alle<br />

Seiten die nötige Geduld aufbringen. Heinz hockt nun<br />

meist jeden Tag am Schreibtisch und füllt Fragebögen aus,<br />

erledigt viel an Post und telefoniert. Seiner Aktivität entsprechend,<br />

wird er wohl bald eine Wohnung haben und<br />

auch eine Arbeit finden. Zunächst bleibt er allerdings bei<br />

mir, das heißt bei Heidrun, Daniel und mir. Gut ist es<br />

daher, dass er ein separates Zimmer hat, wo er sich mal<br />

zurückziehen kann. Auch bei Ina könnte er wohnen. Ansonsten<br />

sind wir in den Wirtshäusern und zu kleinen Ausflügen<br />

in der Umgebung unterwegs.


393<br />

11.12.1985<br />

Heute ist das Richtfest für die neuen Gebäude der KfW,<br />

die sogenannten Erweiterungsbauten. Alles wirkt sehr<br />

improvisiert, denn es wird ja überall noch gebaut. Ich<br />

freue mich, dass Horst aus Bonn hierhergekommen ist.<br />

und trotz des offiziellen Anstrichs habe ich längere Zeit<br />

mit ihm am Tisch gesessen. So konnte ich wieder einige<br />

meiner Sorgen in puncto DDR loswerden. Dass Heinz es<br />

nun geschafft hat, freut ihn sehr. Wir wollen die Gespräche<br />

bald fortsetzen wenn ich ihn zu Hause besuchen<br />

werde. Ritter schleicht immer mal wieder in unserer<br />

Nähe vorbei, hat aber mit der Veranstaltung mehr als<br />

viel zu tun, als ihm lieb ist. Schließlich ist er der Sicherheitschef.<br />

Auf‘s Bier verzichtet er allerdings nicht. So<br />

kennt man ihn. Irgendwann sitze ich bei Hermann Lingnau,<br />

einem der Vorstände der Bank und seines Zeichens<br />

Bauverantwortlicher des Bauherrn. Ich weiß, dass er Ritter<br />

nicht ausstehen kann und freue mich daher darüber<br />

zu informieren, dass ich Ritter als Fachmann sehr<br />

schätze. Das hört sich Lingnau kommentarlos an. Seinem<br />

Tischnachbarn – Unternehmer aus der Eifel – steht<br />

allerdings ins Gesicht geschrieben, dass der ebenso von<br />

Ritter nicht begeistert zu sein scheint. Klaus Helms sitzt<br />

mit Max und Konsorten zusammen. Später bin ich bei<br />

ihm am Tisch und erzähle die kurze Story mit Lingnau.<br />

Er biegt sich vor Lachen. Schade ist, dass Lingnau und<br />

Ritter sich nicht vertragen, denn beide sind eigentlich<br />

bodenständige Leute und in etwa aus dem selben Holze.<br />

Als Hansjürgen Baekow mich voriges Jahr Lingnau vorstellte,<br />

fackelte der nicht lange und holte eine Flasche<br />

Boxbeutel aus dem Schrank. Eine kameradschaftliche<br />

und interessierte Unterhaltung begann. Statt vorgesehener<br />

halber Stunde wurde dann mehr als eine daraus<br />

und HJB, dem Chef des Vorstandssekretariats, blieb<br />

bald die Luft weg, als Hermann seiner Sekretärin die Anweisung<br />

gab, für eine weitere kalte Flasche zu sorgen.<br />

Ich müsste alles schon entschuldigen, sagte HJB dann<br />

auf dem Flur zu mir, so sei er nun mal. Ich hatte nichts<br />

zu entschuldigen, freute mich über diese großartige Begegnung.<br />

21.12.1985<br />

Wir sitzen im Doktor Flotte in der Heidelberger Altstadt<br />

beim frisch gezapften Bier und halten uns den Bauch vor<br />

Lachen. Denn der erste Kartengruß geht an Frischis Vermieter<br />

nach Dresden. Wie wir wissen, wird er erst im<br />

neuen Jahr dort in seiner liederlichen Höhle eintreffen.<br />

Der Gruß wird so verfasst, als käme er von ihm selbst.<br />

Dem alten Ehepaar teilen wir kurz und lapidar mit, dass<br />

im Westen alles viel besser sei, und sie nun über das Eigentum<br />

verfügen könnten. Der Schlüssel zu seiner Wohnung<br />

hinge wie immer, hinter der Holzwand im Flur.<br />

Unser ausgeprägtes Vorstellungsvermögen lässt viele<br />

Varianten der Rückkehr des faulen Lehrers in die Bauruine<br />

an der Meißner Landstraße sprießen, und unsere<br />

Lachtränen rollen zu Bächen herab. Wir könnten an das<br />

großartige Gemälde Ilja Repins 35 erinnert haben, das<br />

einen Brief schreibenden, sich vor Lachen krümmenden<br />

Kosaken zeigt. Aus Görlitz hören wir später, im Januar<br />

1986, von meinem Bruder, dass man sich allgemein darüber<br />

freut, dass es Heinz nun besser haben wird. Dietmar<br />

ist derjenige von den vielen Leuten, die wir am<br />

Telefon haben, der sich diplomatisch und entsprechend<br />

vorsichtig verhält. Es ginge allen soweit gut, hören wir<br />

und dass man dem Kolibius in Dresden die Wohnung<br />

ausgeräumt hätte. Als der dann nach seiner Erstinspek-<br />

35<br />

Ilja Repin: „Die Saporoger Kosaken schreiben<br />

dem türkischen Sultan einen Brief”


394<br />

tion mit der Polizei zurückgekehrt sei, wäre alles wieder<br />

am Platz gewesen. Auch von anderen Freunden erfahren<br />

wir das, und auch deren Feststellung, dass es „der<br />

Holtschke und der <strong>Roy</strong>” nicht gewesen sein können, da<br />

beide ja im Westen sind. Aber der Dezember brachte<br />

auch sehr Bedenkliches. Und das stammte wieder einmal<br />

aus der deutschen Politik. Der wohl größte Sympathisant<br />

der DDR-Kommunisten nach Lafontaine ist der<br />

Niedersachse Gerhard Schröder. Um seine Wichtigkeit<br />

zu unterstreichen, besucht er noch kurz vor Weihnachten<br />

Honecker. Gut, dass ich mich weder an ihn, noch an den<br />

Saarländer gewandt habe, um Heinz herauszukriegen.<br />

Vielleicht holt Schröder ja auch einmal Leute aus den<br />

Gefängnissen. Davon kann man allerdings nicht ausgehen,<br />

meint Heinz, denn er wird Honecker nicht viel bieten<br />

können. Erich allerdings wird erkannt haben, dass<br />

er einem Populisten die Tür geöffnet hat, den er noch<br />

brauchen könnte, um seine Abkopplung vom Deutschtum<br />

zu beschleunigen. Und so einen sollte man wirklich<br />

nicht um Hilfe bitten. Schröder hat zudem garantiert<br />

nicht hinter die Fassaden, oder in die Nebenstraßen Ber-<br />

lins geschaut. Da hätte er leicht erkennen können, wie<br />

es um das Glück der Menschen im ,real existierenden<br />

Sozialismus‘ bestellt ist. Und den strebt die real existierende<br />

Dummheit im Westen ja auch an. Man kann jeden<br />

Tag Magen- und Kopfschmerzen bekommen, vergegenwärtigt<br />

man sich dieses existierende Desaster in den<br />

Köpfen der linken Studentenschaft. Sehr oft unterhalte<br />

ich mich über den linken, den roten Abschaum im Lande,<br />

mit Hansjürgen Baekow 36 in dessen Büro in Frankfurt<br />

darüber. Solange die CDU fest im Sattel ist, hat das<br />

geistige Geröll kaum eine Chance, die Fundamente der<br />

Demokratie zum Bersten zu bringen. Einem Zersetzungsprozess<br />

sind sie allerdings immer ausgesetzt. Man<br />

muss nur entsprechend wachsam sein. HJB, der einst<br />

aus dem Osten geflüchtet war, aus der Gegend von Wismar<br />

stammt, schätzt ein, dass die Russen längst schon<br />

bis zur Biskaya gerollt wären, würden wir im Westen<br />

nicht einen atomaren Schutzschild haben. Käme es zur<br />

Abwehr der sowjetischen Panzerfluten, sähen wir die<br />

von Engländern und Amerikanern in Grund und Boden<br />

gebombten und nun geradeso wieder aufgebauten<br />

Städte erneut in einem Inferno untergehen. Auch die<br />

Franzosen hätten dann ihre Raketen lieber auf unseren<br />

Territorien als auf den eigenen zur Explosion gebracht.<br />

Nicht nur mit HJB, sondern auch mit dem Vorstand Dr.<br />

Vogt kann man Klartext reden und mit Ritter und Gerd<br />

Hornung ohnehin. Gut, dass man in diesem Land noch<br />

Leute findet, deren Ansichten sich mit denen von Heinz<br />

Holtschke und den meinen decken. Im Großen und Ganzen<br />

halte ich die KfW jedoch fast schon für linkslastig.<br />

Überall dieses unreflektierte Gefasel.<br />

Entwurfsmodell und erste Ausführung, 1985 für die<br />

Glasfabrik „FX Nachtmann“ in Neustadt an der Waldnaab<br />

36<br />

Hansjürgen Baekow: Generalbevollmächtigter der KfW


395<br />

22.12.1985<br />

Noch am frühen Morgen rufe ich in Klitten an. Heute hat<br />

Mutter Geburtstag. Sie ist nun schon 63 Jahre alt. Ich<br />

gratuliere ihr, spreche auch dann noch lange mit Vater.<br />

Beide sind schlau genug, nicht viel Politisches zu äußern.<br />

Sie kennen mich ja, dass ich leicht aus der Fassung<br />

geraten kann, wenn es um den Drecksstaat auf deutschem<br />

Boden geht. Dietmar wird am Nachmittag dort<br />

sein. Gut dass er in der Nähe ist. Ich denke oft an Mutter.<br />

Nur durch sie habe ich viel von der Welt erfahren, die<br />

mir damals nicht zugänglich war. Ich glaube, dass sie nur<br />

zwei- oder dreimal in Paris war, aber es klang immer so,<br />

KfW · Frankfurt am Main:<br />

Generalbevollmächtigter Hansjürgen Baekow, Justiziar Rüdiger Saß,<br />

Vorstandsbevollmächtigter Gerd Hornung, <strong>Reinhard</strong> <strong>Roy</strong><br />

(wahrscheinlich bei der Verabschiedung des Vorstandssprechers Dr. Gerhard Götte)


396<br />

„Verbindung” · Holzschnitt 1985


397<br />

als ob es Jahre gewesen wären – vielleicht auch, weil ich<br />

immer wieder danach fragte. Das große Schubfach im<br />

Wohnzimmerschrank ist voller Erinnerungen an ihre Zeit<br />

in Frankreich, aber auch andere Schätze sind dort aufbewahrt:<br />

Postkarten mit Originalautogrammen von Zarah<br />

Leander, Heinz Rühmann und vielen anderen Schauspielern.<br />

Von ihr weiß ich auch, dass es während der Nazizeit<br />

ein gutes Deutschland gegeben hat. Wir dürfen unsere<br />

Geschichte nicht ablehnen, sondern die Erfahrungen<br />

nutzen, um alles in Zukunft besser zu machen. Eine wertvolle<br />

Mutter zu haben, ist das beste, was einem passieren<br />

kann. Und wir werden es schaffen, wenn das internationale<br />

Parasitentum uns nicht daran hindert. Einmal<br />

wird es wieder eine elektrifizierte Strecke zwischen Berlin<br />

und Breslau geben. Erleben werde ich es sicherlich<br />

nicht, und der Großvater ohnehin nicht mehr. Ich begnüge<br />

mich, darüber Freude zu empfinden, dass die<br />

DDR nun auch Schwierigkeiten mit den Durchreisenden<br />

aus den unterschiedlichsten Ländern hat. Die Großzügigkeit<br />

bei der Durchreise nach Schweden soll auf<br />

Wunsch der Schweden gedrosselt werden. Da hat man<br />

doch den besten Adressaten gefunden. In Ausreiseverboten<br />

ist die DDR ganz bestimmt der beste Partner. Ich<br />

hatte auch schon mal gehofft, in Warnemünde auf eine<br />

Fähre zu kommen, die von dort aus nach Dänemark herüber<br />

fährt. Man müsste schon weit vorher in einen Laster<br />

eingestiegen sein, um überhaupt eine Chance dazu<br />

zu haben, sagt Heinz, denn der spekulierte ja auch mit<br />

dieser Route. Ich glaube, seine Schweden hatten ihm abgeraten,<br />

diesen Weg zu versuchen. Nachmittags bin ich<br />

bei Ina und drucke mit ihr den Neujahrsholzschnitt. Es<br />

ist eine Tradition, die ich gerne beibehalten möchte. Im<br />

Osten hatte ich noch eine Presse, hier habe ich nur Ge-<br />

wichte (Bücher), die ich auf das Papier lege, um die Abzüge<br />

einigermaßen hinzubekommen. Hin und wieder<br />

stelle ich mich dabei auch auf den Stapel. Alles in allem<br />

bin ich mit der Idee der neuen ,Verbindung‘ sehr zufrieden.<br />

Ich drucke ausreichend viel davon, denn viele sollen<br />

das Werk bekommen und ein jeder wird dann hoffentlich<br />

gleich deuten, worum es geht. Ob der Osten die Post wieder<br />

konfisziert hat, wird am Telefon bald zu erfahren sein,<br />

wenn ich mit Uli und Schumann spreche. In letzter Zeit<br />

habe ich den Eindruck, dass alles durchgeht. Natürlich<br />

haben die Kleingeister zuvor alles durchgeschnüffelt. Post<br />

wird im Osten eigentlich nur von der Stasi geklaut, nicht<br />

mehr von den Briefträgern. Das ist auch schon vorgekommen.<br />

Und zu Kaisers Zeiten ging der Postbote Handrack<br />

durch unser Dorf und hat erst einmal auf seinem Wege<br />

zu den Leuten alle Briefe und Karten gelesen, ehe er sie<br />

weitergab oder in den Kasten steckte. Schumann hat wieder<br />

ein Paket mit leeren Verpackungen von diversen Luxusartikeln<br />

geschickt bekommen, als mahnende Ermunterung<br />

sozusagen. Die Verpackungen genügen, um Sehnsüchte<br />

zu forcieren, meint Heinz. Es sei sowieso alles<br />

zwecklos bei den undurchsichtigen Leuten im Osten.<br />

Auch Esel hat ständig Wünsche. Er scheint zu denken,<br />

dass wir hier in der Druckerei der Bundesbank arbeiten.<br />

Ich habe momentan überhaupt kein Geld mehr und Heinz<br />

glaubt, dass er aus Italien welches mitbringen kann,<br />

wohin er gleich aufbrechen wird. Und ich hoffe, dass er<br />

sich dort etwas erholen wird. Mein Eindruck ist, dass er<br />

noch lange brauchen wird, um Cottbus gesundheitlich<br />

überstanden zu haben. Heidrun sagt, Heinz sei ein Vorwärtsdenker<br />

und kein Waschlappen. Die ausgeschlagenen<br />

Zähne wird er sich in Mainz reparieren lassen.


Impressum<br />

<strong>Reinhard</strong> <strong>Roy</strong> | <strong>Fragmente</strong> 1<br />

Art+Architecture Alliance Zürich © 2016<br />

Verlag: Justus von Liebig Verlag, www.liebig-verlag.de<br />

Zeichnungen/Lyrik/Layout: © <strong>Reinhard</strong> <strong>Roy</strong>, www.roy-art.de<br />

Zitat Rückseite: aus Heinz Holtschke<br />

„Chronik des Verrats – vom Provinzschüler<br />

zum Operativen Vorgang des MfS”<br />

Fotografie: Peter Mitsching, Rainer Kitte, Siegfried Hanke,<br />

Rainer Ahrendt, KOW Müller, Georg Eckelt,<br />

Ina Moraweg, <strong>Reinhard</strong> <strong>Roy</strong>, Daniel <strong>Roy</strong><br />

Produktion: Ph. Reinheimer GmbH, Darmstadt<br />

Auflage: 500<br />

ISBN: 978-3-87390-379-1


<strong>Reinhard</strong> <strong>Roy</strong> gewährt mit der Buchreihe „<strong>Fragmente</strong>“ eine<br />

Sicht auf sein Leben. In diesem Band berichtet er über die<br />

Zeit unter dem kommunistischen Regime und den Neubeginn<br />

im Westteil Deutschlands. <strong>Roy</strong> lässt den Leser sowohl<br />

an seinen Erlebnissen teilhaben wie an Reflexionen über<br />

das Leben im Allgemeinen – ein ganz persönliches, ein<br />

sehr politisches Dokument und zugleich auch ein Blick auf<br />

die Entwicklung seiner künstlerischen Arbeit.<br />

„Sein ganzes Leben hindurch hat <strong>Reinhard</strong> <strong>Roy</strong> konsequent<br />

seine politischen Prinzipien vertreten – oft so, dass<br />

er deshalb Schikanen der Mächtigen ausgesetzt war, nicht<br />

aber den Glauben an eine Veränderung gesellschaftlicher<br />

Verhältnisse verlor. Das ist bis heute so geblieben. Es hat<br />

die Despoten in ihrem damaligen Herrschaftsbereich in Unruhe<br />

versetzt und gefällt auch jetzt so manchen nicht. Seine<br />

Sicht auf die Vielschichtigkeit der Geschichte, vor allem auf<br />

die der deutschen, findet daher nicht immer ein ungeteiltes<br />

Echo”. (H.K.)<br />

<strong>Roy</strong>, geboren 1948 in Klitten, ist als Grafiker, Bildhauer und<br />

Maler ein Vertreter der Konkreten Kunst. Mit seinen Werken<br />

ist er in zahlreichen Museen, privaten und institutionellen<br />

Sammlungen des In- und Auslands vertreten. Seit vielen<br />

Jahren schon widmet er sich zudem der Lyrik, die insbesondere<br />

durch die Auseinandersetzung mit großen Themen<br />

des literarischen Expressionismus, mit Mystik,<br />

Rausch, Lust und Tod geprägt ist.<br />

Justus von Liebig Verlag

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