LEBE_100
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Mutter von vier Ordensschwestern und<br />
zwei Priestern – und, wie es dazu kam<br />
Von TITUS KIENINGER<br />
Ein gewöhnlicher Nachmittag mit ungewöhnlichem<br />
Ausgang. Es war 1929, ein<br />
gewöhnlicher Nachmittag. Im Hinterhof<br />
eines brasilianischen Bauernhofes arbeitete<br />
Mutter Fortunata mit ihrem Mann Sebastian<br />
Gagnin, um aus Zuckerrohr einen<br />
guten Saft für die sechs durstigen Kinder zu<br />
pressen. Die Aufgabe der Mutter bestand<br />
darin, die Rohrstangen in die Presse zu<br />
schieben. Nun, da passiert es schon, dass<br />
die Stangen sich versperren und es klemmt.<br />
Das ereignet sich immer dann, wenn zu viele<br />
Stängel auf einmal durch den schmalen<br />
Schlitz gedrückt werden. Wie so oft, half die<br />
Mutter auch diesmal nach: Sie griff nach<br />
vorne, und schon zog es die Stangen wieder<br />
in die Presse, doch diesmal auch die<br />
Hand der Mutter. Ein Schrei, ein kräftiger<br />
Zug, und von der Hand blieb nur noch eine<br />
unförmige Masse. Der Vater reagierte<br />
schnell. Er band den Oberarm ab, hob die<br />
Mutter auf die Pferdekarre und trieb das<br />
Pferd ins nächste Krankenhaus – ins nächste,<br />
das hieß: fünfzig Kilometer vom Hof<br />
entfernt! Der Schmerz meldete sich stärker<br />
und stärker. Zehn Stunden dauerte die nicht<br />
enden wollende Fahrt,<br />
„Dann aber ohne Narkose!“<br />
Der Arzt untersuchte gleich die Hand und<br />
sah nur eine Möglichkeit: Er müsse sofort<br />
die Hand amputieren. Die beiden Gagnin<br />
stimmten zu. Die Vorkehrungen wurden<br />
getroffen, die Narkose vorbereitet – doch<br />
halt: Es galt nach der damaligen Art, Äther<br />
einzuatmen. Die Frau sagte: „Herr Doktor,<br />
ich bin in Erwartung, im dritten Monat. Wird<br />
der Äther dem Kind Schaden zufügen?“ Der<br />
Arzt erklärte ihr: „Sie werden sicher das<br />
Kind verlieren. Doch das ist der einzige<br />
Weg, wie ich ihnen helfen kann, um ihr<br />
Leben zu retten.“ Daraufhin sagte die erst<br />
siebenundzwanzig Jahre alte Mutter von<br />
sechs Kindern fest entschlossen zum Arzt:<br />
„Tun sie, was sie tun müssen, sie können<br />
schneiden, aber bitte ohne Narkose!“ und<br />
sie ertrug die Amputierung ihrer Hand ohne<br />
Betäubung.<br />
So eine tapfere Frau –<br />
Wer kann sie finden?<br />
32 <strong>LEBE</strong> <strong>100</strong>/2010<br />
Der Arzt amputierte die Hand. Der Vater<br />
brachte seine Frau nach Hause. Die Entscheidung<br />
war ihr insofern nicht zu schwer<br />
gefallen, da sie mit ihrem Mann einig war:<br />
„Wir nehmen so viele Kinder an, wie Gott<br />
uns schenken will.“ Dank dieser gemeinsamen<br />
Haltung hatte sie solche innere Festigkeit,<br />
dass sie entschlossen war diesen heroischen<br />
Akt auf sich zu nehmen, und durchhalten<br />
konnte.<br />
Freilich werden dadurch die kritischen Stimmen<br />
der „Freunde“, der Nachbarn und<br />
sogar der Eltern gegen die Kinderfreundlichkeit<br />
beider noch lauter. Schon in dieser<br />
Zeit konnten sie eine so radikale Entscheidung<br />
nicht verstehen. Sie hatten doch<br />
schon sechs Kinder. „Warum erträgst du<br />
soviel Leiden, um das Leben noch eines<br />
weiteren Kindes zu retten? Ihr habt doch<br />
schon genug Kinder!“ Doch Fortunata war<br />
nicht verlegen und sagte allen: „Ich nehme<br />
die Kinder an, die der Herr mir schickt.“<br />
Die Zeit verging, die Wunde heilte, die<br />
Gespräche verstummten. Der Unfall hinterließ<br />
für immer die Spur der fehlenden Hand.<br />
Doch die heroische Entscheidung gegen die<br />
Betäubung zugunsten des noch verborgenen<br />
Lebens, verbarg sich in den schweigsamen<br />
Herzen der Mutter und des Vaters.<br />
Wichtig war, dass Monate danach, am 3.<br />
Februar 1930, Fortunata nicht nur einem<br />
Kind, sondern sogar Zwillingen das Leben<br />
schenkte, zwei kräftigen Buben.<br />
Ein Fingerzeig Gottes?<br />
Diese Frau gab noch weiteren sechs Kindern<br />
das Leben. Sie verstarb 1976 in tiefem<br />
Frieden. Sie wusste, sie hatte den Willen<br />
Gottes in ihrem Leben erfüllt. Doch nicht die<br />
Zahl ihrer Kinder ist der Grund, warum ihrer<br />
heute noch gedacht wird. Der besondere<br />
Segen Gottes lenkte die Aufmerksamkeit<br />
auf diese Familie. Vier Töchter wählten den<br />
Gott geweihten Stand des Ordenslebens<br />
und die beiden Zwillingsbrüder, ausgerechnet<br />
diese beiden, Daniel und Abraham, wurden<br />
Priester.<br />
Wir möchten vermuten, dass die beiden<br />
sich wegen der heroischen Liebe ihrer Mutter<br />
verpflichtet fühlten, diesen Schritt zu<br />
wählen. Aber könnte es für die Mutter und<br />
vielleicht auch für die Nachwelt bis heute,<br />
nicht auch ein Fingerzeig Gottes gewesen<br />
sein?<br />
Der verborgene Hintergrund<br />
oder die stille Kraft<br />
Die beiden Brüder wollten aus freiem Entschluss<br />
Priester werden. Die Mutter klagte<br />
nie über das, was sie litt, noch suchte sie<br />
sich dessen zu rühmen. Sie verschwieg es<br />
sogar vor den Kindern.<br />
Die Familie konnte nicht die Mittel für das<br />
Studium der beiden aufbringen. So wurden<br />
sie zunächst Ordensbrüder bei den Palottinern,<br />
bis dann, im Alter von 42 Jahren, in<br />
der gleichen Feier, beide zu Priestern<br />
geweiht wurden. Erst bei dieser Gelegenheit,<br />
am Tag ihrer Priesterweihe, so berichtet<br />
Pater Abraham, eröffnete die Mutter<br />
ihnen die volle Wahrheit über die amputierte<br />
Hand. Er erzählte: „Bisher zog sie es<br />
immer vor, darüber zu schweigen, denn für<br />
sie war nur wichtig, dass Gott um ihre Geste<br />
wusste.“<br />
Es darf uns nicht verwundern, dass alle Kinder<br />
sehr stolz sind auf ihre Mutter. „Das Beispiel,<br />
das sie uns durch ihr Leben gab, war<br />
Ruhe und Friede, ich betrachte sie als die<br />
Güte in Person,“ erklärte Schwester Santina,<br />
eine ihrer Töchter. Welch ein Unterschied<br />
zu den vielen Frauen mit dem schon<br />
allgemein bekannten Abtreibungstrauma!<br />
Das Geheimnis der Frau:<br />
Die Mutterschaft<br />
Ein Geheimnis des Segens dieser Familie<br />
ist die Schweigsamkeit der Mutter. Nur ihr<br />
Mann wusste mit ihr um den heroischen<br />
Opfergeist, mit dem sie die narkoselose<br />
Amputierung um des Lebens willen vornehmen<br />
ließ. Das offenbart den selbstlosen<br />
Charakter dieser Mutterliebe. „Die Mutter<br />
lebt im Kind“, sagt Gertrud von le Fort in<br />
ihrem unübertroffenen Essay „Die ewige<br />
Frau“ (München 1962, 151) Das Opfer, die<br />
Selbstverleugnung, so heißt es schon im<br />
Evangelium, ist der Boden für das Wachsen<br />
neuen Lebens (vgl. Joh 10, 10; Phil 2,7f.; Is<br />
53,7). Die Verbundenheit mit Gott und im<br />
Besonderen mit Christus, dem Mensch<br />
gewordenen Sohn Gottes, weckt in der Frau<br />
die Liebe zur Ganzhingabe.<br />
Die Mutter, sagt die Dichterin, sei „nicht<br />
selbständig“, sie sei „keine einmalige<br />
Gestalt, sie hat kein eigenes Gesetz, sondern<br />
ihr Gesetz ist das Kind“<br />
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