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MEH Pause 2016

Das ist das Lehrlingsmagazin des Mathilde Escher Heim - Ausgabe 2016

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DAS LEHRLINGSMAGAZIN <strong>2016</strong><br />

Stolperstein<br />

Im Regen<br />

stehen<br />

gelassen<br />

PROJEKTWOCHE<br />

Am<br />

Auslöser<br />

EINBLICK<br />

Selbstständig<br />

wohnen<br />

Den Sommer<br />

spüren<br />

Wenn eine Ausbildungsreise die<br />

Erwartungen übertrifft.


Auf www.creation-handicap.ch finden Sie<br />

Glückwunschkarten und weitere schöne und<br />

praktische Geschenke.<br />

Nicht nur zu Weihnachten, sondern auch<br />

zur Hochzeit, zur Geburt und zum Geburtstag,<br />

im Trauerfall oder für sonstige Anlässe.<br />

Ganz<br />

normal<br />

Von Abi Jeganathan<br />

EDITORIAL<br />

Die <strong>Pause</strong> hat ein neues Design erhalten.<br />

Nach fünf Ausgaben im alten Kleid war es Zeit<br />

für ein neues Outfit. Es war für mich sehr<br />

spannend, an der Entwicklung des neuen Erscheinungs<br />

bildes mitzuwirken. Ich hoffe, Sie sind mit dem<br />

Ergebnis zufrieden.<br />

Mich hat vor allem der Artikel «Selbstständig<br />

wohnen» beeindruckt. Die Autorin zeigt anhand von<br />

drei Menschen mit Behinderung auf, wie es ist, selbst ­<br />

ständig zu wohnen. Dabei wird deutlich, dass täglich<br />

viel Einsatz notwendig ist, um sich ein Stück «Normalität»<br />

und Freiheit zu verwirklichen. Ein weiterer<br />

Artikel, den ich Ihnen besonders an Herz legen möchte,<br />

ist «Bitte wenden». Dieser schildert die besonderen<br />

Bedürfnisse vieler Menschen mit Behinderung auch<br />

in der Nacht und zeigt die grossen Herausforderungen<br />

und Belastungen für das Umfeld auf. Für meinen<br />

Beitrag habe ich ein Interview mit einem langjährigen<br />

Klassenkameraden geführt. Er ist einen ungewöhnlichen<br />

Weg gegangen und hat es von der Sonderschule<br />

bis ins Gymnasium geschafft.<br />

Beim Lesen der Artikel wird deutlich, wie sehr<br />

die «Normalität» für Menschen mit Behinderung von<br />

der Norm abweicht. Doch, was ist normal? Normalität<br />

hat mit Erwartungen zu tun. Was erwarten die anderen,<br />

was erwarte ich? Ich denke, dass Normalität<br />

eine Illusion ist: «Was für die Spinne normal ist, ist für<br />

die Fliege das Chaos» (Morticia Addams). Sicher ist<br />

nur, dass es normal ist, verschieden zu sein und<br />

ver schiedene Bedürfnisse zu haben. Ein Leben mit<br />

Behinderung wird leichter, wenn es uns allen gelingt,<br />

mit Verschiedenheit zu leben.<br />

Es gibt viele Gründe, sich von der einen Norma ­<br />

lität zu verabschieden, sie ist nur «eine gepflasterte<br />

Strasse; man kann gut darauf gehen – doch es wachsen<br />

keine Blumen auf ihr» (Vincent van Gogh). «<br />

Möchten Sie auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich für unseren Newsletter an.<br />

www.creation-handicap.ch kontakt@creation-handicap.ch<br />

2<br />

3


INHALT<br />

6 DEN SOMMER<br />

SPÜREN<br />

Die Ausbildungsreise<br />

ans Montreux Jazz<br />

Festival überzeugte<br />

sogar Jessica.<br />

10 FENSTERPLATZ<br />

Als Pendler unterwegs<br />

vom Wallis nach Zürich.<br />

Selbstständig wohnen<br />

Wie lebt es sich mit einer Behinderung in den eigenen<br />

vier Wänden. Pamela hat mit drei Personen gesprochen,<br />

die sich diesen Wunsch erfüllt haben.<br />

14<br />

20 AM AUSLÖSER<br />

Bei unserer Projektwoche<br />

stand die Fotografie<br />

im Fokus.<br />

28 CREATION<br />

HANDICAP<br />

Mateo verschafft sich<br />

einen Eindruck von der<br />

Arbeit in der Werk stätte<br />

des <strong>MEH</strong>.<br />

13 STOLPERSTEIN<br />

19 WUSSTEN SIE,<br />

DASS …<br />

32 REDAKTIONSTEAM<br />

39 FOTOSTORY<br />

26<br />

34<br />

Geben auch Sie uns eine Chance für ein Praktikum!<br />

Bitte wenden<br />

Normalerweise dreht man sich bis<br />

zu 25 Mal in der Nacht. Menschen<br />

mit Duchenne sind dafür vollständig<br />

auf die Hilfe von Eltern<br />

oder Pflegepersonal angewiesen.<br />

Ich lebe<br />

meinen Traum<br />

Im Interview erzählt Gonzalo<br />

von seinem Schritt von der<br />

Sonderschule aufs Gymnasium.<br />

IMPRESSUM<br />

PAUSE – das Lehrlingsmagazin<br />

Ausgabe Nr. 116, 34. Jahrgang<br />

Herausgeber: <strong>MEH</strong>, Lengghalde 1,<br />

8008 Zürich, Telefon 044 389 62 00,<br />

www.meh.ch, l.fischer@meh.ch<br />

Fotos: Michael Groer, Rebecca Oeschger<br />

Korrektorat: Iris Vettiger<br />

Litho: b+b repro AG<br />

Druck: Druckerei Albisrieden AG<br />

Auflage: 3‘200 Exemplare<br />

Erscheint: 1 x pro Jahr<br />

Telefon: 044 389 62 57<br />

4<br />

5


AUSBILDUNGSREISE<br />

Den Sommer<br />

spüren<br />

Als ich im Bus Richtung Montreux sass, hoffte ich,<br />

die Reise würde schnell vorbei sein. Nein, Montreux<br />

war bestimmt nicht mein Traumreiseziel.<br />

Von Jessica Mone<br />

6<br />

7


AUSBILDUNGSREISE<br />

Alles andere als Langeweile:<br />

Nebst den Highlights am<br />

Jazz festival lockte vor allem<br />

das erfrischende Nass.<br />

Ich sah mich auf einer Seniorenreise, deren Höhepunkte<br />

eine Schifffahrt, ein Weinbergbesuch<br />

und Konzerte für Elvis-Fans sein würden. So war<br />

mein einziges Ziel, wenigstens einmal meine Füsse in<br />

den Genfer See zu halten. Eines Abends packte<br />

mich die Lust. Unten am Ufer angekommen, wurde<br />

ich an den Rand des Stegs gesetzt und meine Füsse<br />

waren im Wasser. Die Stimmung war wunderschön,<br />

die Lichter haben sich im Wasser gespiegelt und<br />

im Hintergrund lief Musik. Diesen Moment hätte ich<br />

gerne mit einem schön durchtrainierten und gebräunten<br />

Typen geteilt. Er hätte ein Glas Bier getrunken,<br />

mich fest in den Arm genommen und ich hätte<br />

an einem Glas Sekt genippt, dazu hätten wir Erdbeeren<br />

mit Schokoladensauce verspeist.<br />

Kühles Nass<br />

Am Montag gab es eine kleine Programmänderung.<br />

Eigentlich wollten wir uns die Weinberge anschauen,<br />

aber es war so heiss, dass wir uns dazu entschieden,<br />

am See zu grillieren. Mit Wasserpistolen bewaffnet<br />

marschierten wir den See entlang. Wir kamen an<br />

einem befahrbaren Brunnen vorbei. Das kühle Nass<br />

spritzte unkontrolliert aus dem Boden. Manche<br />

konnten gar nicht genug davon bekommen, durch<br />

die Wasserwand zu laufen. Wer noch nicht nass war,<br />

den beschoss ich mit der Wasserpistole.<br />

Partylöwen<br />

Ich war ja schon einige Male im Ausgang, aber Montreux<br />

übertrifft alles. Das Festivalgelände ist riesig<br />

und liegt direkt am See – wunderschön! Am Abend<br />

gingen wir in einen Club. Dort hatte ich das Gefühl, in<br />

einen Hexenkessel geraten zu sein. Die Leute tanzten<br />

um ihr Leben! Wir wurden mit offenen Armen und<br />

mit vielen Küssen empfangen. Ich wollte gar nicht mehr<br />

nach Hause! Die Rückfahrt war dann weniger lustig,<br />

da wir den letzten Bus längst verpasst hatten. Es blieb<br />

uns gar nichts anderes übrig, als Lukas am frühen<br />

Morgen aus dem Bett zu klingeln, damit er uns mit<br />

einem unserer Busse abholte.<br />

Fribourg<br />

Nach der grossen Partynacht stand ein Ausflug nach<br />

Fribourg auf dem Programm: Shopping! Meine Vorfreude<br />

war so gross, dass ich mich auch völlig übermüdet<br />

freiwillig in den Holperbus zwängte. Aber nur<br />

die Harten kommen in den Garten! Nach stundenlangem<br />

Suchen nach interessanten Läden gaben wir<br />

das Shoppen auf. Mein Fazit: Frag nie einen Fribourger<br />

nach dem Weg!<br />

Neben dem Siegertreppchen<br />

Ursprünglich wollten wir mit dem Schiff von Montreux<br />

nach Lausanne in das Olympische Museum fahren.<br />

Leider hätten wir so nur eine knappe halbe Stunde<br />

im Museum verbringen können. Zu meinem Pech<br />

reisten wir dann mit unseren Bussen an. In Lausanne<br />

fand ich mich gelangweilt zwischen irgendwelchen<br />

Sportlern, Bobschlitten und Siegertreppchen wieder.<br />

Mit einem elektronischen Guide versuchte ich, mich<br />

durch das Museum zu kämpfen. Der Stopp bei dem<br />

Blindenfussball war für mich als FCZ-Fan der einzige<br />

Lichtblick. Nachdem ich dann Leda im Biathlon geschlagen<br />

hatte, war ich froh, als wir alle wieder im Bus<br />

sassen und Richtung Abendessen fuhren.<br />

Das Festival<br />

Schwarze Brillen, schwarze Kleidung und goldene<br />

Trompeten. Das habe ich mir unter dem Jazzfestival<br />

Montreux vorgestellt. Nie hätte ich gedacht, dass Lady<br />

Gaga und Sir Paul Kalkbrenner auf dem Line-up erscheinen<br />

würden. Lady Gaga wollte keiner hören und<br />

Paul spielte sein Set einen Tag zu früh ab. Letzteres<br />

verärgerte mich sehr. Wir haben uns für die Konzerte<br />

von Die Antwoord, George Ezra und Sam Smith<br />

entschieden. Ich freute mich auf jenes von George<br />

Ezra. Leider war das Konzert eine einzige Pleite. Die<br />

langsamen Lieder brachten sogar unseren Praktikanten<br />

zum Einschlafen. Nach diesem Konzert läuft<br />

bei mir im Radio Budapest nicht mehr.<br />

Ja, die Reise war toll! Ich habe die lockere Stimmung<br />

genossen. Ich habe die anderen Lehrlinge und<br />

auch die Begleiter anders kennengelernt. Auf so einer<br />

Reise erlebt man was! Und wenn einen das Wetter<br />

auch noch so verwöhnt, dann wird Montreux glatt ein<br />

Traumreiseziel. «<br />

8<br />

9


UNTERWEGS<br />

Fensterplatz<br />

«Seitdem ich alleine Zug fahre, bin ich selbstständiger geworden.»<br />

Bevor ich zum ersten Mal mit dem Zug vom<br />

Wallis nach Zürich pendelte, war ich mir<br />

nicht sicher, ob das klappen würde. Ich hatte<br />

Angst, dass alles schief gehen würde.<br />

Ich wohne im Wallis. Leider<br />

habe ich dort kein passendes<br />

Ausbildungsangebot für mich<br />

gefunden, da ich auf einen Elektrorollstuhl<br />

angewiesen bin und einen<br />

Computerarbeitsplatz brauche.<br />

Darum habe ich mich entschieden,<br />

meine Ausbildung im <strong>MEH</strong><br />

zu machen. Nun pendle ich jedes<br />

Wochenende mit dem Zug nach<br />

Hause zu meiner Familie.<br />

Ich kann das<br />

Seitdem ich alleine Zug fahre, bin<br />

ich selbstständiger geworden. Zu<br />

Von Admir Rexha<br />

Beginn meiner Pendlerkarriere bin<br />

ich mit dem Tram vom <strong>MEH</strong> zum<br />

Hauptbahnhof Zürich gefahren.<br />

Dabei musste mich immer jemand<br />

begleiten und mir helfen, die Fahrkarte<br />

zu kaufen. Mittlerweile besitze<br />

ich ein GA und fahre mit dem<br />

Taxi zum Bahnhof. Anfangs hat<br />

meine Schwester das Taxi organisiert,<br />

weil ich Angst hatte, einen<br />

Fehler zu machen. Jetzt telefoniere<br />

ich selbst und das klappt wunderbar.<br />

Darauf bin ich stolz. Um in<br />

den Zug zu gelangen, bin ich auf<br />

eine Rampe angewiesen, die ich<br />

telefonisch beim SBB-Call-Center<br />

be stelle. Normalerweise sitze ich<br />

in der 1. Klasse bei den Behindertenplätzen.<br />

Ich bin froh um die<br />

erste Klasse, weil es dort immer<br />

genügend Platz gibt.<br />

Aussicht<br />

Wenn ich mich langweile, schaue<br />

ich aus dem Fenster. Da gibt es<br />

viel zu sehen, imposante Bauwerke<br />

wie z. B. den Prime Tower. Mich<br />

fasziniert dieses Hochhaus, weil<br />

ich so etwas nur in New York er ­<br />

warten würde. Kurz vor Bern habe<br />

ich einen schönen Blick auf die<br />

Aare. In Thun sehe ich das Schloss,<br />

kurz drauf kann ich den schönen<br />

Blick auf dem Thunersee geniessen.<br />

Die Landschaften verändern<br />

sich mit den Jahreszeiten. Mir<br />

gefallen die Farben im Sommer,<br />

wenn die Sonne hinter den Bergen<br />

versinkt. Bei schlechtem Wetter<br />

sieht man oft nur das Fenster.<br />

10<br />

11


UNTERWEGS<br />

Zeitvertreib<br />

Mit den Jahreszeiten ändern sich<br />

auch meine Mitreisenden. Im Sommer<br />

sehe ich viele Wanderer, die in<br />

die Bergen gehen. Im Winter sehe<br />

ich viele Skifahrer. Viele Leute im<br />

Zug schauen nur auf ihre Laptops,<br />

iPads, Smartphones und haben<br />

Kopfhörer in ihren Ohren. Wenn<br />

ich nicht weiss, was ich machen<br />

soll, nehme ich auch mein Handy<br />

heraus, lese online Zeitung und<br />

informiere mich über Politik, Sport<br />

und Neuigkeiten aus aller Welt.<br />

Das Smartphone ist praktisch für<br />

mich, weil ich selbst keine Zeitung<br />

aus der Box holen kann. Ab und<br />

zu grüssen mich Mitreisende, vor<br />

*<br />

Mit den Jahreszeiten<br />

ändern<br />

sich auch meine<br />

Mitreisenden.<br />

*<br />

allem ältere Menschen. Längere<br />

Gespräche finden aber nicht<br />

statt. Ich traue mich nicht, fremde<br />

Menschen für ein Gespräch anzusprechen.<br />

Im Gegensatz zu den<br />

anderen Mitreisenden grüssen<br />

mich die Kondukteure jedes Mal.<br />

Wenn die Kondukteure mein GA<br />

sehen möchten, müssen sie es<br />

selbst aus meiner Tasche am<br />

Rollstuhl nehmen. Oft fragen sie<br />

mich gar nicht nach meinem Billett.<br />

Vielleicht ist es ihnen unangenehm,<br />

mein Portemonnaie aus<br />

der Tasche zu nehmen.<br />

Endspurt<br />

Gegen Ende meiner Reise fährt<br />

der Zug durch den Neat-Tunnel. Ich<br />

fahre nicht gerne durch Tunnels,<br />

da es dunkel ist und ich keine<br />

Internetverbindung mehr habe.<br />

Es dauert sehr lange bis der Zug<br />

wieder aus dem Tunnel kommt.<br />

Ich muss aufpassen, dass ich<br />

nicht einschlafe. Wenn der Zug in<br />

den Tunnel fährt, werden die Leute<br />

stiller. Keiner schaut mehr aufs<br />

Handy wegen der fehlenden Internetverbindung.<br />

Nach dem Tunnel<br />

bin ich fast schon zu Hause. Dann<br />

freue ich mich darauf, meine<br />

Familie nach einer Woche wiederzusehen,<br />

ein wenig durchzuatmen<br />

und zu entspannen. Meine Eltern<br />

holen mich am Bahnhof ab und<br />

freuen sich, mich zu sehen. Meist<br />

geht das Wochenende viel zu<br />

schnell vorbei. Am Sonntag nach<br />

dem Mittagessen fahre ich bereits<br />

wieder zurück nach Zürich ins<br />

<strong>MEH</strong>.<br />

Mein nächstes Ziel<br />

Manchmal würde ich gerne noch<br />

etwas bei meiner Familie bleiben<br />

und manchmal freue ich mich<br />

auch auf die neue Woche im <strong>MEH</strong>.<br />

Auf dem Weg denke ich darüber<br />

nach, was ich in der kommenden<br />

Woche in der Ausbildung und in<br />

der WG alles erleben werde. Ich<br />

*<br />

«Mittlerweile fällt<br />

es mir leichter,<br />

Leute zu fragen,<br />

wenn ich Hilfe<br />

brauche.»<br />

*<br />

reise gerne mit dem Zug. Als ich<br />

vor einem Jahr zu pendeln begann,<br />

war ich nicht sicher, ob ich alleine<br />

reisen kann. Jetzt weiss ich es<br />

besser. Im vergangenen Jahr habe<br />

ich vieles gelernt. Mittlerweile fällt<br />

es mir leichter, Leute zu fragen,<br />

wenn ich Hilfe brauche. Ich habe<br />

an Selbstsicherheit gewonnen.<br />

Gerne würde ich einmal London<br />

besuchen. Ich bin vorsichtig, werde<br />

es gut planen und mir dafür Hilfe<br />

holen. Ich würde die Reise zusammen<br />

mit meinen Eltern machen,<br />

weil sie mich gut kennen und mir<br />

helfen können, wenn ich Schwierigkeiten<br />

habe. «<br />

Und es regnet schon wieder.<br />

Toll, in einer Stunde muss<br />

ich bei meiner Praktikumsstelle<br />

sein. Für Wege, die ich selbst<br />

machen kann, nehme ich kein Taxi.<br />

Endlich naht ein Niederflurtram.<br />

Während das Tram vorbeirollt,<br />

blicke ich dem Fahrer in die Augen.<br />

Ich glaube, er hat mich gesehen.<br />

Ich bin darauf angewiesen, dass er<br />

mir die Rampe hinlegt, weil diese<br />

Haltestelle noch nicht rollstuhlgängig<br />

ist. Ich glaube das nicht!<br />

Dieser … Die Türen schliessen sich<br />

und ich bleibe wortwörtlich im<br />

Regen stehen. Meine Laune sinkt<br />

in den Keller. Jetzt komme ich noch<br />

zu spät ins Praktikum und bin<br />

klatschnass! Einen Regenschirm<br />

kann ich nicht halten und ein<br />

Regenschutz sieht behindert aus.<br />

Wieso hat mich der Tram-Chauffeur<br />

auch im Regen stehen lassen.<br />

Naja, vielleicht hat er verschlafen<br />

und konnte vor der Fahrt nur eine<br />

seiner drei Zigaretten rauchen.<br />

Ich wünsche ihm, dass ihm seine<br />

Frau einen neuen Wecker zum<br />

Geburtstag schenkt, damit er in<br />

Stolperstein<br />

Von Jessica Mone<br />

Zukunft genug Zeit für seine Zigaretten<br />

hat. Ich sehe ein, dass die<br />

Chauffeure unter Zeitdruck stehen,<br />

aber das hilft mir auch nicht weiter.<br />

Ich will auf den Fahrplan sehen.<br />

Toll, dieser hängt zu hoch und ich<br />

*<br />

«Einen Regenschirm<br />

kann ich<br />

nicht halten<br />

und ein Regenschutz<br />

sieht<br />

behindert aus.»<br />

*<br />

muss jemanden fragen. Einerseits<br />

ist das ganz cool, weil man so<br />

immer wieder Leute kennenlernt,<br />

andererseits ist es deprimierend,<br />

weil man immer auf andere angewiesen<br />

ist. In zehn Minuten gehts<br />

weiter. Das nächste Tram hat für<br />

mich lediglich einen historischen<br />

Wert, was aus dem Fahrplan nicht<br />

zu entnehmen war. Treppen und<br />

Rollstuhl – unmöglich. Hätte ich<br />

doch nur einen Regenschutz oder<br />

eine Mütze mitgenommen, dann<br />

würde ich jetzt nicht so frieren.<br />

Meine Schminke ist verschmiert,<br />

ich sehe aus wie eine Vogelscheuche.<br />

Erst gestern habe ich gelesen,<br />

dass sich der Kanton Zürich<br />

schrittweise aus der Finanzierung<br />

von ProMobil zurückzieht. Diese<br />

Stiftung unterstützt Menschen mit<br />

einer Behinderung bei der Finanzierung<br />

von Taxifahrten, wenn die<br />

Nutzung des ÖV nicht möglich ist.<br />

Der Regierungsrat begründet diese<br />

Entscheidung mit der fortschreitenden<br />

Zugänglichkeit des öffentlichen<br />

Verkehrs für Menschen mit<br />

Behinderung. Tolles Versprechen,<br />

aber heute stehe ich im Regen.<br />

Beim dritten Tram klappt es endlich.<br />

Als mir der Tramfahrer den<br />

Zutritt gewährt, fühle ich mich, als<br />

wäre ich durch die Waschanlage<br />

gefahren. «<br />

12<br />

13


EINBLICK<br />

Selbstständig<br />

wohnen<br />

Die eigenen vier Wände – selbstständig in einer<br />

Wohnung leben, das wäre toll. Wie schaffen Menschen<br />

mit einer Behinderung das? Ich habe mit drei Personen<br />

gesprochen, die sich diesen Traum erfüllt haben.<br />

Von Pamela Kundert<br />

Auch wenn die Wohnung<br />

von Yvonne rollstuhlgängig<br />

ist: Die täglichen Herausforderungen<br />

bleiben.<br />

14<br />

15


EINBLICK<br />

Gülhan hat sich ihre Oase<br />

im Trendquartier Zürich<br />

West geschaffen.<br />

Ich möchte gerne eines Tages selbstständig<br />

wohnen, weil ich mir beweisen will, dass<br />

ich das kann. Ich habe vor ein paar Jahren<br />

gesehen, wie meine Cousins, die ein bisschen<br />

älter sind als ich, sich eigene Wohnungen<br />

gesucht haben. Seitdem frage ich mich, ob ich<br />

das nicht auch hinbekomme. Am Anfang wäre<br />

es schwer für mich, von meiner Mutter, die sich<br />

immer um mich gekümmert hat, getrennt zu<br />

sein. Ich erhoffe mir vom selbständigen Wohnen<br />

vor allem mehr Freiheit. Das bedeutet für mich,<br />

z. B. nicht mehr zur gleichen Zeit ins Bett gehen<br />

zu müssen wie meine Schwester. Sie ist siebzehn<br />

und ich bin achtzehn, im Moment teilen<br />

wir uns das Zimmer und ich muss Rücksicht<br />

auf sie nehmen. Und endlich mal etwas lauter<br />

sein dürfen: Das geht jetzt nicht, weil unsere<br />

Wohnung zu klein ist und mein Vater wegen der<br />

Spätschicht schlafen muss. Aber auch wenn<br />

wir eine grosse Wohnung hätten, würde ich<br />

irgendwann ausziehen. Meine Eltern werden<br />

älter, sie brauchen mehr Ruhe. Ausserdem ist<br />

es gut, einen eigenen Weg zu gehen.<br />

Ich habe mit drei Personen, die mit Assistenz<br />

wohnen, über ihre Erfahrungen gesprochen.<br />

Gülhan wohnt seit ein paar Monaten mit<br />

zwei ebenfalls behinderten Mitbewohnern in<br />

einer WG. Adrian hat vor kurzem den Schritt<br />

aus dem <strong>MEH</strong> in eine eigene Wohnung gemacht.<br />

Yvonne lebt seit fast 21 Jahren in einem<br />

Einzimmerappartement des Vereins Wohnhaus<br />

Röschibach. Die Gespräche haben mir gezeigt,<br />

dass es sehr individuelle Konzepte gibt, um<br />

selbstständig zu wohnen. Aber auch, dass es<br />

nicht immer leicht ist. Letzteres beginnt bereits<br />

bei der Wohnungssuche. Adrian hat seine im<br />

Internet gefunden. Er meinte, er hätte grosses<br />

Glück gehabt, weil es sehr schwierig sei, eine<br />

rollstuhlgängige Wohnung zu finden.<br />

Das Management<br />

Bevor man die grosse Entscheidung trifft, muss<br />

man vieles beachten. Gülhan meinte, dass man<br />

sich viele Fragen stellen sollte. Man müsse<br />

mit der IV genau besprechen, was man brauche,<br />

und nicht alles alleine machen. Adrian empfiehlt,<br />

ein genaues Finanzbudget zu erstellen.<br />

Man solle sich Fragen stellen wie: Wie viel Geld<br />

darf ich pro Monat, z.B. fürs Essen, ausgeben?<br />

Er holte sich dafür Hilfe bei seinen Eltern. Wichtig<br />

sei, dass man sich bei erfahrenen Leuten<br />

Hilfe hole. Neben den finanziellen Herausforderungen<br />

müsse man sich auch den Tagesablauf<br />

gut organisieren können: aufstehen,<br />

duschen, zu Bett gehen usw. Bei Yvonne steht<br />

täglich eine Hausassistenz von 9 bis 12 Uhr<br />

zur Verfügung. Wenn sie weitere Hilfe benötigt,<br />

kann sie jederzeit die Spitex anrufen. Für allfällige<br />

Notfälle ist fast immer jemand im Haus.<br />

Alles in Yvonnes Wohnung ist auf Rollstuhlhöhe,<br />

trotzdem sind einige Sachen schwierig<br />

für sie. Am Morgen kommt sie selbst zurecht,<br />

am Abend hilft ihr die Spitex beim Zubettgehen.<br />

Einmal in der Woche hat sie eine Haushalts­<br />

*<br />

«Es ist sehr schwierig,<br />

eine rollstuhlgängige<br />

Wohnung zu finden.»<br />

Adrian<br />

*<br />

Dank Assistenzpersonen wird für Adrian<br />

vieles einfacher, das verlangt von ihm<br />

aber auch grosses Organisationstalent.<br />

16<br />

17


EINBLICK<br />

Wussten Sie,<br />

dass…<br />

hilfe. Gülhan und Adrian kochen, putzen und<br />

gehen mit der Assistenzperson einkaufen. Ihre<br />

Assistenzpersonen sind immer dabei, auch<br />

am Abend. Das klingt recht angenehm, ist<br />

auch mit viel Arbeit verbunden, weil man zum<br />

Arbeitsgeber wird. Zeitmanagement spielt eine<br />

wichtige Rolle. Man muss alles organisieren<br />

und die Löhne für die Assistenzpersonen<br />

abrechnen.<br />

Die Finanzierung<br />

Menschen, die mit Assistenz wohnen möchten,<br />

können seit 2012 einen Assistenzbeitrag bei<br />

der IV beantragen. Dieser soll Menschen mit<br />

einer Behinderung ein möglichst selbstbestimmtes<br />

Leben in ihrem Zuhause ermöglichen.<br />

Mit dem Assistenzbeitrag können nur Assistenzleistungen<br />

finanziert werden, welche von<br />

Drittpersonen und nicht von Familienmitgliedern<br />

erbracht werden. Es kann schwierig<br />

werden, mit dem Assistenzbeitrag auszukommen,<br />

wenn man z. B. spezielle Hilfeleistungen<br />

*<br />

«Ich kann selbst bestimmen,<br />

was ich wo und<br />

wann machen will.»<br />

Gülhan<br />

*<br />

oder eine 24-Stunden-Betreuung benötigt.<br />

Besonders schwierig kann es bei Urlaub oder<br />

Krankheit der Assistenzpersonen werden. Die<br />

Assistenzpersonen müssen auch im Krankheitsfall<br />

weiter bezahlt werden, gleichzeitig<br />

muss aber auch weitere Hilfe organisiert und<br />

bezahlt werden.<br />

Der Ertrag<br />

Es ist mit Sicherheit anspruchsvoll, mit einer<br />

Behinderung selbstständig zu wohnen, und es<br />

braucht sicher auch einige Zeit, bis man sich<br />

an die neuen Aufgaben gewöhnt. Aber was ich<br />

von den dreien gehört habe, hat mir gezeigt,<br />

dass sich der Aufwand lohnt. Gülhan sagte mir,<br />

dass es für sie nicht besser sein könnte! Sie<br />

könne selbst bestimmen, was sie wo und wann<br />

machen wolle. Manches muss sie allerdings<br />

zuerst mit ihren Mitbewohnern besprechen.<br />

Yvonne vermisst am Abend manchmal, dass<br />

sie mit jemandem sprechen kann, liebt es aber,<br />

selbstständig zu wohnen. Adrian sagt, dass<br />

es bei ihm nun auch ruhiger zu- und hergehe.<br />

Er fühlt sich freier als vorher, weil seine Assistenzperson<br />

nur für ihn da ist. Adrian geht es<br />

vor allem um mehr Privatsphäre und Selbstständigkeit.<br />

Es motiviert mich zu sehen, dass es<br />

den dreien mit ihrer Entscheidung gut geht und<br />

sie zufrieden sind. Ich finde es toll, wie Adrian<br />

sich die notwendige Unterstützung organisiert.<br />

Ich glaube, das könnte ich auch. Trotzdem habe<br />

ich Angst davor, eines Tages etwas zu vergessen<br />

oder falsch zu organisieren. Mit gefällt am<br />

besten, wie Yvonne und Adrian wohnen, weil sie<br />

alleine leben. Ich könnte mir nicht vorstellen, in<br />

einer WG zu wohnen, da dort vermutlich immer<br />

etwas los ist. Ich mag es, meine Ruhe zu haben.<br />

Es wäre toll, mit Assistenz in einer eigenen<br />

Wohnung zu leben. Wie und wann ich das einmal<br />

erreiche, weiss ich noch nicht. «<br />

… im Oktober <strong>2016</strong> der<br />

weltweit erste Cybathlon<br />

in Zürich stattfand?<br />

Bei diesem Wettkampf treten Menschen mit Be ­<br />

hinderungen mit neusten technischen Assistenzsystemen<br />

gegeneinander an. In der Kategorie<br />

«Parcours mit motorisierten Roll stühlen» waren<br />

auch zwei Schweizer Teams am Start. ETH-Studenten<br />

traten mit ihrem Rollstuhl «Scewo» an. Das<br />

Team «HSR Enhanced» der Hochschule für Technik<br />

Rapperswil konnte sich gegen inter nationale Konkurrenz<br />

durchsetzen und belegte den ersten Platz.<br />

Bei der Radioschule klipp+klang lernen auch Menschen<br />

mit Beeinträchtigungen Radio sendungen<br />

zu produzieren. Diese Radio arbeit soll Integration<br />

und Inklusion fördern. So gehen z. B. mit dem<br />

Projekt «Radio loco­ motivo» Menschen mit und<br />

ohne Psychiatrieerfahrung auf Sendung.<br />

… <strong>2016</strong> nur zwei Drittel<br />

der Lernenden einer<br />

PrA-INSOS Ausbildung ein<br />

2. Lehrjahr zugesprochen<br />

bekamen?<br />

Im Jahr 2009 waren es noch 91%. Das ist ein<br />

Rückgang von 30%. Vermutlich sind die Lernenden<br />

nicht dümmer geworden, sondern die Anforderungen<br />

der IV für die Finanzierung eines 2. Lehrjahres<br />

gestiegen.<br />

* * * * * *<br />

… es eine Radioschule<br />

für Menschen mit einer<br />

Beeinträchtigung gibt?<br />

… invalid übersetzt<br />

«ungültig» oder «ohne<br />

Wert sein» bedeutet?<br />

Allein in der Bundesverfassung steht dieser Ausdruck<br />

an 35 Stellen. Die EVP-Politikerin Marianne<br />

Streiff-Feller sieht darin eine Diskriminierung.<br />

Sie will deshalb den Begriff in der nationalen Gesetzgebung<br />

ersetzen.<br />

18<br />

19


PROJEKT<br />

Am<br />

Auslöser<br />

Im Sommer haben wir eine Projektwoche zum<br />

Thema Fotografie gemacht. Warten und Beobachten<br />

spielten dabei eine grosse Rolle. Der richtige<br />

Augenblick ist entscheidend.<br />

In fünf Tagen entstanden über<br />

1‘000 Fotografien. Auf den<br />

folgenden Seiten finden Sie<br />

einige der 40 Fotografien, die<br />

an der Ausstellung «Tiefblicke»<br />

präsentiert wurden.<br />

20<br />

21


PROJEKT<br />

Von Pascal Degonda<br />

Normalerweise mache ich<br />

Fotos mit dem Handy. In<br />

der Projektwoche habe ich<br />

zum ersten Mal mit einer echten<br />

Kamera fotografiert. Ich mache vor<br />

allem Bilder von meinem Hund.<br />

Hunde leben nicht so lange und<br />

ich möchte ein Andenken haben.<br />

Auf meinem besten Foto liegt<br />

mein Hund auf unserer Couch und<br />

schläft.<br />

Am Anfang war die Technik<br />

Ich kann eine Kamera nicht in der<br />

Hand halten und von Hand bedienen,<br />

darum mussten wir zuerst<br />

herausfinden, wie und wo man die<br />

Kameras am besten montieren<br />

konnte. Meine Kamera wurde am<br />

Fussbrett meines Rollstuhls befestigt.<br />

Ich konnte sie mit dem<br />

Handy fernsteuern. Es war cool,<br />

den Auslöser wieder selbst zu<br />

drücken. Früher konnte ich Kameras<br />

noch von Hand bedienen.<br />

Jessica konnte die Kamera in der<br />

Hand halten und auslösen, aber<br />

auch für sie war es anstrengend.<br />

Sie hatte das Gefühl, dass die<br />

Kamera während des Fotografierens<br />

immer schwerer wurde. Bei<br />

Mateo, dem dritten im Bunde,<br />

war die Kamera auf Kniehöhe am<br />

Rollstuhl befestigt. Das Gute<br />

an dieser tiefen Kameraposition<br />

ist, dass die Leute nicht auf die<br />

Kamera achten. Zudem ergeben<br />

sich interessante Perspektiven.<br />

Mateo und ich mussten den Rollstuhl<br />

bewegen, um den Bildausschnitt<br />

zu wählen, weil die Kamera<br />

fest am Rollstuhl montiert war.<br />

Um erste Erfahrungen mit unseren<br />

Kameras zu sammeln, fragten<br />

wir Mitarbeiter im <strong>MEH</strong>, ob wir ein<br />

Portrait von ihnen machen dürfen.<br />

Das kostete zunächst etwas<br />

Überwindung. Es überraschte mich,<br />

dass alle mitmachten. Ich habe<br />

für mich festgestellt, dass es bei<br />

Porträts auf den richtigen Moment<br />

ankommt. Gesichter und Blicke<br />

verändern sich schnell.<br />

*<br />

«Ich fühlte<br />

mich fast wie<br />

ein Spion.»<br />

*<br />

22<br />

23


PROJEKT<br />

*<br />

«In der Projektwoche habe ich<br />

zum ersten Mal mit einer richtigen<br />

Kamera fotografiert.»<br />

Den Augenblick einfangen<br />

Bereits am zweiten Tag wagten wir<br />

uns mit den Kameras in die Stadt.<br />

Wir fotografierten am Bahnhof<br />

Stadelhofen, an der Seepromenade,<br />

am Hauptbahnhof und in der<br />

Bahnhofstrasse. Wir fielen dabei<br />

kaum auf, weil die Leute mit anderen<br />

Dingen beschäftigt waren. Beobachtung<br />

spielt eine grosse Rolle<br />

beim Fotografieren. Ich finde Fotos<br />

von Architektur langweilig. Menschen<br />

sind für mich interessanter,<br />

weil viel mehr passiert. Wir trafen<br />

mitunter auf sehr seltsame Leute.<br />

Ein Mann trug Frauenstrümpfe,<br />

einen engen Faserpelz und Sandalen,<br />

in der rechten Hand hielt er<br />

eine Wodka- und in der linken eine<br />

Bierflasche. Das gab ein tolles<br />

Foto!<br />

Manchmal suchten wir uns<br />

einen interessanten Hintergrund<br />

und warteten, bis jemand ins Bild<br />

lief. Es brauchte einiges an Ge ­<br />

duld, bis ein gutes Foto im Kasten<br />

war. Am meisten Mühe hatte ich<br />

damit, Fotos von Menschen aus<br />

*<br />

kurzer Distanz zu machen. Ich<br />

traute mich nicht, sie zu fragen,<br />

ob ich sie fotografieren darf. Viele<br />

meiner Bilder machte ich heimlich.<br />

Dabei fühlte ich mich fast wie ein<br />

Spion. Ich war sehr stolz, wenn<br />

mir ein gutes Bild gelang. Ich habe<br />

gelernt, dass man beim Fotografieren<br />

schnell sein muss, um die<br />

richtigen Momente einzufangen.<br />

Das Besondere an unseren Fotos<br />

ist, dass sie nicht gestellt sind. Am<br />

besten gefällt mir eines meiner<br />

Bilder einer Unterführung. Es zeigt<br />

Geschwindigkeit und eine auffallende<br />

Perspektive, weil die Kamera<br />

fast auf Bodenhöhe befestigt war.<br />

Man sieht im Foto, dass ich schnell<br />

unterwegs war. Ich werde es<br />

zuhause aufhängen. Ein weiteres<br />

Bild, das mir sehr gut gefällt, zeigt<br />

Menschen an einem Zebrastreifen.<br />

Sie laufen alle gleichzeitig los und<br />

schauen in die gleiche Richtung.<br />

Die Früchte unserer Arbeit<br />

Nach dem Fotografieren begann<br />

die wahre Arbeit. Wir wollten eine<br />

Ausstellung mit Vernissage organisieren.<br />

Die Auswahl der Bilder<br />

war nicht einfach. Jeder hatte eine<br />

andere Meinung. Wir mussten uns<br />

auf eine Auswahl von 40 Fotos<br />

aus 1000 einigen. Anschliessend<br />

haben wir die Bilder bearbeitet.<br />

Wir suchten passende Titel für die<br />

Fotos und gestalteten ein Plakat …<br />

Man glaubt gar nicht, wie viel<br />

Arbeit in einer kleinen Ausstellung<br />

steckt. Als es endlich soweit war,<br />

war ich richtig stolz. Fast meine<br />

ganze Familie kam zur Vernissage.<br />

Die Ausstellung hat ihnen gut<br />

gefallen, sie haben auch Bilder<br />

gekauft. Insgesamt haben wir 25<br />

Bilder verkauft. Die Ausstellung<br />

war ein grosser Erfolg! Ich bekam<br />

bei der Vernissage tolle Rückmeldungen,<br />

das fühlte sich gut an.<br />

Ich hätte nie gedacht, dass meine<br />

Bilder an einer Ausstellung gezeigt<br />

würden. Ich fühlte mich wie ein<br />

Profifotograf. Es gab mir das Gefühl,<br />

dass ich noch etwas Cooles<br />

machen kann. Ich kann nicht<br />

so viele Dinge, ein paar Sachen<br />

schon. «<br />

24<br />

25


ALLTAG<br />

«Manchmal warte ich, weil ich ein<br />

schlechtes Gewissen habe, die<br />

Nachtwache schon wieder zu rufen.»<br />

Bitte<br />

wenden<br />

Wenn es nachts unbequem wird,<br />

verändert man die Position. Was für<br />

viele selbstverständlich ist, kann<br />

für Menschen mit einer Bewegungseinschränkung<br />

zum Martyrium werden.<br />

Ein Mensch dreht sich in<br />

der Nacht über 25-mal. Aus<br />

medizinischer Sicht ist dieser<br />

Positionswechsel wichtig. Die<br />

Lageänderung dient der Verbesserung<br />

der Durchblutung, die Muskeln<br />

können sich entspannen und<br />

die Bandscheiben werden entlastet.<br />

Wenn man auf der gleichen<br />

Stelle liegt, bekommt man schnell<br />

Schmerzen, die Sehnen können<br />

sich verkürzen, im schlimmsten<br />

Fall können die Druckstellen wund<br />

werden. Ich persönlich brauche<br />

in der Nacht Unterstützung zum<br />

Umlagern meiner Arme und Beine<br />

oder wegen meiner Atemmaske.<br />

Eine Nacht ohne Unterstützung<br />

wäre für mich schlimm. Für<br />

Tomislav, einen Kollegen aus<br />

meiner Wohngruppe, ist die Unter ­<br />

stützung in der Nacht sogar lebens ­<br />

notwendig. Er benötigt zusätzliche<br />

Hilfe für das Absaugen seiner<br />

Atemwege.<br />

Von Ajeev Arunthavarajah<br />

Nachtschicht<br />

Im Mathilde Escher Heim übernehmen<br />

Nachtwachen die nächt ­<br />

liche Betreuung auf den Wohngruppen.<br />

Je nach Klient sind unterschiedliche<br />

Hilfsmittel notwendig,<br />

um die Nachtwache zu verständigen.<br />

Ich betätige im <strong>MEH</strong> wie<br />

zuhause einen Schalter, um Hilfe<br />

zu holen. Tomislav nutzt einen<br />

Schallmelder. Dieser wird über<br />

seine Stimme aktiviert. Er muss<br />

rufen und dann wird beim Personal<br />

ein Alarm ausgelöst. Es gibt noch<br />

weitere Hilfsmittel wie z. B. Pneumatiksensoren,<br />

die mit dem Mund<br />

ausgelöst werden. Früher war nur<br />

eine Nachtwache pro Haus im<br />

Einsatz, die daher oft unter Stress<br />

stand. Heute ist es mit jeweils zwei<br />

Nachtwachen besser. Es ist wichtig,<br />

dass sich eine Nachtwache Zeit<br />

nehmen kann. Ich habe mit Kollegen<br />

darüber gesprochen, was eine<br />

gute Nachtwache ausmacht. Sie<br />

kommt schnell, wenn man läutet,<br />

sie ist freundlich, motiviert und gut<br />

gelaunt. Ausserdem sollte sie nicht<br />

genervt reagieren, wenn man öfter<br />

klingelt. Das ist ein anspruchsvoller<br />

Job. Manche Klienten läuten<br />

weniger oder gar nicht, wenn eine<br />

weniger «gute» Nachtwache im<br />

Einsatz ist.<br />

Immer für uns da<br />

Zuhause unterstützen mich meine<br />

Eltern in der Nacht. Manchmal<br />

warte ich, weil ich ein schlechtes<br />

Gewissen habe, sie schon wieder<br />

zu rufen. Meine Eltern wechseln<br />

sich ab. Da mein Bruder die gleiche<br />

Krankheit hat wie ich, ist die Belastung<br />

für meine Eltern besonders<br />

hoch. Manchmal sehe ich ihnen<br />

an, wie müde sie sind. Wenn ich<br />

im <strong>MEH</strong> bin, ist das für meine<br />

Eltern eine grosse Entlastung, aber<br />

richtig durchschlafen werden sie<br />

wohl erst wieder, wenn auch mein<br />

Bruder im <strong>MEH</strong> wohnt. Wenn wir<br />

uns in der Ausbildung über dieses<br />

Thema unterhalten, wird schnell<br />

deutlich, was Eltern und Geschwister<br />

zuhause leisten. In schlechten<br />

Nächten kann es sein, dass die<br />

Ange hörigen bis zu 20-mal helfen<br />

müssen. Manche Eltern schlafen<br />

daher seit Jahren direkt neben ihren<br />

Kindern. Meist ist es eine grosse<br />

Entlastung für die Eltern, wenn die<br />

Kinder im <strong>MEH</strong> leben. Bei allen, mit<br />

denen ich gesprochen habe, gab<br />

es bereits Stress durch Überlastung<br />

in der Nacht. Schlafentzug ist Folter.<br />

Ich sehe die Hilfe meiner Eltern<br />

nicht als Selbstverständlichkeit<br />

an und frage mich manchmal, wie<br />

sie es schaffen. Danke für euren<br />

unermüdlichen Einsatz! «<br />

26<br />

27


ARBEIT<br />

création<br />

handicap<br />

Die Werkstätte des <strong>MEH</strong> bietet Menschen mit einer<br />

Körperbehinderung geschützte Arbeitsplätze. Ich habe<br />

eine Woche dort geschnuppert, um mir ein Bild von<br />

meinen beruflichen Möglichkeiten zu machen.<br />

Von Mateo Tomic<br />

Ich möchte nach der Ausbildung gerne arbeiten<br />

und das Gelernte praktisch umsetzen. Mit meiner<br />

Behinderung ist es sehr schwierig, im ersten<br />

Arbeitsmarkt eine Stelle zu finden, daher suche ich<br />

einen geschützten Arbeitsplatz. In der Werkstätte<br />

(WS) des <strong>MEH</strong> arbeiten etwa 40 Menschen mit einer<br />

Körperbehinderung. In der Schnupperwoche durfte<br />

ich verschiedene Arbeitsbereiche kennenlernen.<br />

Einige Mitarbeitende konzentrieren sich auf grafische<br />

Gestaltung und Bildbearbeitung, andere kümmern<br />

sich um Datenverarbeitung, den Verkauf oder die Telefonzentrale.<br />

Mir hat vor allem die Arbeit im Webteam<br />

gefallen. Ich durfte eine eigene Webseite gestalten<br />

und umsetzen. Am liebsten würde ich in diesem Bereich<br />

arbeiten. Ich habe das Gefühl, dass ich das gut<br />

kann, und es macht mir Spass.<br />

Von der Weihnachtskarte bis zur professionellen<br />

Website<br />

Das Angebot der WS reicht vom Gestalten von Grussund<br />

Glückwunschkarten, Notizbüchern, Lesezeichen,<br />

Visitenkarten, Einladungen oder Flyern bis zum Erstellen<br />

oder Aktualisieren von Internetauftritten.<br />

Es wird hauptsächlich am Computer gearbeitet. Das<br />

ist wichtig für mich, da ich nur am Computer selbstständig<br />

arbeiten kann. Andere Arbeiten sind mit meiner<br />

Bewegungseinschränkung kaum möglich.<br />

Die WS arbeitet im Auftrag von Kunden, es werden<br />

aber auch Eigenprodukte unter dem Label «création<br />

handicap» für den Verkauf hergestellt. Alle diese<br />

Erzeugnisse werden am Computer gestaltet. Das Tolle<br />

an den Produkten ist, dass es sich um Unikatserien<br />

mit einem frechem, jungen Design handelt. Kein Stück<br />

«Die Arbeit im Webteam<br />

hat mir besonders gut gefallen.»<br />

28<br />

29


ARBEIT<br />

Um in der Werkstätte des <strong>MEH</strong><br />

zu arbeiten, braucht man gute<br />

Computerkenntnisse sowie Sinn<br />

für Farben und Formen.<br />

ist wie das andere. Während meiner Schnupperwoche<br />

habe ich erfahren, dass es immer wieder grössere<br />

Aufträge gibt, wie 2800 Weihnachtskarten für die HFH<br />

(Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik) oder<br />

aufwendige Webseiten für Firmen, Vereine und Einzelpersonen.<br />

Auch für das <strong>MEH</strong> werden viele Aufträge<br />

erledigt, z.B. die Webseite, Plakate und Einladungen<br />

für Anlässe, Geburtstagskarten und vieles mehr.<br />

Ich finde es gut, dass die WS keine Beschäftigungstherapie,<br />

sondern echte Arbeit für Kunden ist.<br />

Selbstständig Arbeiten<br />

Um in der WS zu arbeiten, braucht man gute Computerkenntnisse<br />

sowie Sinn für Farben und Formen.<br />

Die Mitarbeitenden haben sehr unterschiedliche<br />

Fähigkeiten. Die Herausforderung besteht darin, für<br />

jeden eine passende Aufgabe zu finden und gleichzeitig<br />

die Kundenbedürfnisse zu befriedigen. Die<br />

Arbeitsplätze werden von der Ergotherapie individuell<br />

an die jeweiligen Bedürfnisse angepasst. Für mich<br />

mussten bei meiner Schnupperwoche der Tisch und<br />

die Tastatur angepasst werden. Auch die Arbeitsabläufe<br />

werden den Möglichkeiten der Mitarbeitenden<br />

angepasst. Das Ziel ist, dass man möglichst selbstständig<br />

arbeiten kann. Das Fachpersonal der WS<br />

kommt aus verschiedenen Fachbereichen: Arbeitsagogik,<br />

Sozialpädagogik, Grafik, Webdesign und Pflege.<br />

*<br />

«Ich finde es gut, dass es<br />

keine Beschäftigungstherapie<br />

ist, sondern echte<br />

Arbeit für Kunden.»<br />

*<br />

Einerseits bekomme ich so die notwendige Unterstützung,<br />

z.B. bei Toilettengängen und in den <strong>Pause</strong>n,<br />

anderseits gibt es auch Spezialisten, um anspruchsvolle<br />

und spannende Arbeiten umzusetzen.<br />

Der Traumjob?<br />

In meiner Schnupperwoche musste ich oft zusehen<br />

und zuhören, da vieles für mich neu war. Die Arbeit<br />

im Team war für mich nicht ungewohnt, da wir auch in<br />

der Ausbildung an vielen Projekten gemeinsam arbeiten.<br />

Ich habe den Eindruck, dass viele Mitarbeitende,<br />

egal ob an geschützten Arbeitsplätzen oder nicht,<br />

sehr zufrieden mit ihrer Arbeitssituation sind.<br />

Andreas, der seit 2011 in der WS arbeitet, meinte,<br />

dass das Arbeitsklima sehr gut sei und er sich prima<br />

mit seinen Arbeitskollegen verstehe. Jegi war in<br />

der Ausbildung und meinte, er habe davon profitiert.<br />

Er freue sich sehr darauf, seine Arbeitskollegen zu<br />

sehen und sich mit ihnen auszutauschen. Es gefalle<br />

ihm sehr gut in der Werkstätte, wo er nicht nur das<br />

Gelernte anwenden, sondern sein Wissen & Können<br />

auch erweitern könne. Im letzten Winter hätten sie<br />

Piktogramme für die Ergotherapie gemacht, das habe<br />

ihm auch sehr gut gefallen. Es ging darum, Dinge für<br />

Leute, die schlecht lesen können, bildlich darzustellen.<br />

Auch wenn vieles toll klingt, würde ich sofern<br />

möglich eine Arbeit ausserhalb des <strong>MEH</strong> vorziehen.<br />

Ich könnte mir damit beweisen, was ich kann. Der<br />

Kontakt mit anderen Menschen ist mir wichtig und es<br />

wäre auch schön, Kontakte ausserhalb des <strong>MEH</strong> zu<br />

haben.<br />

Es gibt auch kritische Stimmen zur Arbeit in der<br />

WS. Dabei geht es meist um die fehlende Abwechslung<br />

und wiederholende Tätigkeiten. Auch der niedrige<br />

Lohn wird kritisiert. Ich habe mich dennoch für die<br />

WS entschieden, weil ich dort Neues lerne und meine<br />

Web-Design-Kenntnisse erweitern kann. Und vielleicht<br />

klappt es dann später auch mit einer Tätigkeit<br />

ausserhalb des <strong>MEH</strong>. «<br />

30<br />

31


Maske und Requisite: Sarah Deissler<br />

32<br />

33


INTERVIEW<br />

Ich<br />

lebe<br />

meinen<br />

Traum.<br />

Mit Ehrgeiz und passender Unterstützung ist<br />

vieles möglich. Gonzalo wagte den Schritt von der<br />

Sonderschule aufs Gymnasium.<br />

Von Abi Jeganathan<br />

34<br />

35


Die Assistenzperson<br />

unterstützt Gonzalo<br />

vor allem bei manuellen<br />

Tätigkeiten.<br />

INTERVIEW<br />

Gonzalo, du warst sieben<br />

Jahre an der Sonderschule<br />

im <strong>MEH</strong>. Wie<br />

war es für dich, an eine Regelschule<br />

zu wechseln?<br />

Das <strong>MEH</strong> nach sieben Jahren zu<br />

verlassen, war traurig. Ich wusste<br />

aber, dass ich jederzeit zurückkommen<br />

kann. Die Lehrer haben<br />

mir klargemacht, dass die Türen für<br />

mich offenstehen. Mir fehlen<br />

vor allem die Leute im <strong>MEH</strong>. Ich<br />

vermisse das Unterrichtsmaterial<br />

nicht, da ich fand, dass es vor<br />

allem in Deutsch und Mathematik<br />

veraltet war. Die Lehrer haben<br />

immer versucht, den gemeinsamen<br />

Unterricht spannend zu gestalten.<br />

Die Einzelarbeit in den Kernfächern<br />

wie Deutsch und Mathematik hat<br />

allerdings nicht meinen Wünschen<br />

entsprochen. Ich wollte erleben,<br />

wie es ist, eine Regelschule zu<br />

besuchen. Die Alternative war eine<br />

Praktische Ausbildung nach<br />

INSOS, aber das wollte ich nicht,<br />

weil ich gerne Rechtswissenschaft<br />

studieren möchte. Das Gebiet<br />

hat mich schon immer interessiert.<br />

Auf einmal warst du der<br />

einzige im Rollstuhl, wie haben<br />

deine Klassenkameraden auf<br />

dich reagiert?<br />

Beim Übertritt in die Regelschule<br />

waren die Mitschüler am Anfang<br />

recht unsicher, wie sie mit mir<br />

umgehen sollen oder ob sie etwas<br />

mit mir zu tun haben wollen. Ich<br />

kann das verstehen. Nach etwa<br />

einem Monat fühlte ich mich<br />

akzeptiert. Als ich ans Gymnasium<br />

wechselte, ging es schneller, ich<br />

fühlte mich schon in der ersten<br />

Woche angenommen.<br />

*<br />

«Ich fühlte mich<br />

schon in der<br />

ersten Woche<br />

angenommen.»<br />

*<br />

Es ist bestimmt nicht immer<br />

einfach, welche Schwierigkeiten<br />

hast du?<br />

Man denkt oft, dass das grösste<br />

Problem Treppen seien. Das<br />

stimmt insofern, dass ich immer<br />

wieder Umwege in Kauf nehmen<br />

muss. Im Gymnasium sind die<br />

Hauptprobleme aber das Schreiben<br />

und die Zeit. Die Zeit ist<br />

sehr knapp, um zu essen oder auf<br />

die Toilette zu gehen. Da auch<br />

meine Assistenzpersonen ihre<br />

Mittagspausen brauchen, wird es<br />

zeitlich noch knapper. Anfangs war<br />

es für mich schwierig, mich dem<br />

Lerntempo anzupassen. Ich war<br />

sehr unsicher, ob ich vom Lernniveau<br />

her mithalten kann. Das hat<br />

mich sehr demotiviert.<br />

Du betreibst viel Aufwand,<br />

von wem bekommst du Unterstützung?<br />

Im Gymnasium habe ich drei<br />

Assistenzpersonen, die an verschiedenen<br />

Tagen kommen. Das<br />

wurde von der Schule für Körperund<br />

Mehrfachbehinderte organisiert.<br />

Die Assistenzpersonen<br />

unterstützen mich vor allem bei<br />

meinen Aufzeichnungen und<br />

anderen manuellen Tätigkeiten im<br />

Unterricht. Ausserdem helfen sie<br />

mir bei Toilettengängen und beim<br />

Mittagessen. Ich achte darauf,<br />

dass meine Assistenzpersonen<br />

zwischen 20 und 25 Jahre alt sind<br />

und das Gymnasium besucht<br />

haben, damit sie wissen, wie man<br />

sinnvolle Notizen macht oder<br />

etwas von der Tafel abschreibt. Die<br />

Assistenzpersonen sollten nicht<br />

das Gefühl bekommen, dass sie im<br />

«falschen Film» sind, weil sie den<br />

Schulalltag nicht mehr kennen.<br />

Anfangs war das Lerntempo eine grosse Herausforderung.<br />

36<br />

37


INTERVIEW<br />

FOTOSTORY<br />

*<br />

«Man muss sich<br />

ins Zeug legen<br />

und dann gehts.»<br />

*<br />

Wie kommst du mit dem<br />

Lernstoff zurecht?<br />

Es geht überraschend gut. Es wurde<br />

mir oft gesagt, es würde stressig<br />

werden, aber ich lerne sehr gerne,<br />

was es einfacher macht. Trotzdem<br />

ist es streng und nicht ganz ohne.<br />

Der grösste Aufwand sind für<br />

mich die Hausaufgaben, weil mir<br />

dort die Assistenz fehlt und die<br />

Hilfe meiner Eltern zeitlich beschränkt<br />

ist. Der Stoff ist komplexer<br />

geworden, aber es ist nichts Ausserirdisches.<br />

Man muss sich ins<br />

Zeug legen und dann gehts.<br />

Um ans Gymnasium zu kommen,<br />

musstest du die Aufnahmeprüfung<br />

machen. Wie<br />

hast du dich nach der bestandenen<br />

Prüfung gefühlt?<br />

Das war ein Highlight! Ich konnte<br />

es nicht fassen, vor allem, weil ich<br />

so gute Noten hatte. Es war ein<br />

magisches Gefühl. Die Prüfung<br />

war sehr schwierig und deshalb hat<br />

es mich umso mehr gefreut, dass<br />

ich sie bestanden hatte. Das Sahnehäubchen<br />

war, als der Prorektor<br />

am ersten Schultag vor der Klasse<br />

verkündete, dass ich die besten<br />

Noten in der Aufnahmeprüfung der<br />

Kantonsschule geschrieben hatte.<br />

Dein Schritt, aufs Gymnasium<br />

zu gehen, braucht sicher viel<br />

Energie und Mut, woher nimmst<br />

du die Kraft?<br />

Wenn ich zurückblicke, sage ich<br />

mir: «Das ist das, was ich schon<br />

immer wollte. Ich habe davon geträumt.<br />

Jetzt mache ich es und will<br />

es durchziehen.» Wenn ich nach<br />

vorne schaue, sage ich mir: «Ich<br />

werde das fertigmachen. Ich bin<br />

jetzt da, wo ich sein wollte, und das<br />

Ziel ist noch nicht erreicht.»<br />

Ich erhalte grosse Hilfe von<br />

meiner Familie, aber man muss<br />

auch bereit sein, persönlichen<br />

Einsatz zu zeigen. Es hilft mir nicht<br />

weiter, wenn ich mir Gedanken<br />

darüber mache, dass ich einen viel<br />

grösseren Aufwand für Arbeiten<br />

betreiben muss als ein regulärer<br />

Schüler.<br />

Möchtest du zum Schluss noch<br />

etwas sagen?<br />

Im Gymnasium ist für mich jeder<br />

Tag ein Highlight. Ich habe dort<br />

mehr Spass. Dass es so gut läuft,<br />

hätte ich mir vor zwei Jahren nicht<br />

ausmalen können. Man könnte<br />

auch sagen: «I live the dream»<br />

[lacht]. Nur weil man andere Bedürfnisse<br />

hat, bedeutet das nicht,<br />

dass man nicht gleich weit kommen<br />

kann. Ich denke, viele im <strong>MEH</strong><br />

könnten eine Regelschule besuchen.<br />

Klar es gibt Leute, für die<br />

der Besuch einer Sonderschule<br />

wünschenswert oder sogar die<br />

einzige Möglichkeit ist, aber meiner<br />

Meinung nach sollte das der<br />

letzte Ausweg und nicht die Norm<br />

sein. «<br />

Gonzalo kam 2007 mit neun<br />

Jahren aus Peru in die Schweiz.<br />

Wegen seiner Behinderung und<br />

mangelnder Deutschkenntnisse<br />

besuchte er zuerst die Primarund<br />

Sekundarstufe der Sonderschule<br />

des <strong>MEH</strong>. Aufgrund seiner<br />

hervorragenden schulischen<br />

Leistungen wechselte er im Jahr<br />

2014 an die Sekundarschule in<br />

Dübendorf, bis er schliesslich<br />

2015 in das Gymnasium übertrat.<br />

Pascal in einer Bar.<br />

Sieht die toll aus!<br />

Und diese Augen,<br />

einfach mega! Soll<br />

ich sie ansprechen?<br />

Aber vielleicht denkt sie,<br />

ein Behinderter ist sicher<br />

nicht ernst zu nehmen.<br />

Warum bist du so arogant!<br />

Nur weil ich im Rollstuhl<br />

sitze, muss man mich nicht<br />

ignorieren.<br />

Du siehst zwar gut<br />

aus, aber deine Vorurteile<br />

sind hässlich!<br />

Hirngespinst<br />

Von Abi Jeganathan<br />

?<br />

Klar!<br />

Diese typischen Vorurteile!<br />

Sie ignoriert mich doch nur,<br />

weil ich im Rollstuhl sitze!<br />

Pascal geht.<br />

Und jetzt schaut<br />

sie auch noch weg!<br />

Ist hier noch frei?<br />

Sie schaut aber schnell weg!?<br />

Ich muss es trotzdem<br />

versuchen!<br />

Was war denn das?<br />

Der machte doch<br />

einen sympatischen<br />

Eindruck.<br />

Sie wartet bestimmt<br />

auf ihren Freund.<br />

Jetzt reichts!<br />

38<br />

39<br />

Schade! Wenn ich nur nicht so<br />

unsicher wäre. Eigentlich hätte<br />

ich ihn gerne angesprochen …


«Das <strong>MEH</strong> unterstützt mich,<br />

mein Leben zu geniessen.»<br />

Manuel, Jahrgang 1992, Muskeldystrophie Typ Duchenne<br />

Herzlichen Dank für Ihre Spende.<br />

Spendenkonto: 80-3166-8 IBAN: CH45 0900 0000 8000 3166 8<br />

<strong>MEH</strong> Eine Organisation der Mathilde Escher Stiftung<br />

Lengghalde 1 8008 Zürich T 044 389 62 00 www.meh.ch www.creation-handicap.ch

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