MEH Pause 2015
Das ist das Lehrlingsmagazin des Mathilde Escher Heim - Ausgabe 2015
Das ist das Lehrlingsmagazin des Mathilde Escher Heim - Ausgabe 2015
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OKTOBER <strong>2015</strong><br />
ERSTE SCHRITTE<br />
Grenzen überwinden im Praktikum<br />
PERSÖNLICHES LIMIT<br />
Extremsport mit Behinderung<br />
AUSBILDUNGSREISE<br />
Hürden meistern in der bayrischen Metropole
<strong>Pause</strong> <strong>2015</strong> 3<br />
IHR MACHT’S<br />
MÖGLICH!<br />
D A<br />
N<br />
K<br />
E<br />
Liebe Praktikumsbetriebe, eure grosse Bereitschaft und<br />
euer beherztes Engagement haben uns einen Einblick<br />
in den ersten Arbeitsmarkt ermöglicht. Wir bedanken uns<br />
herzlich bei euch für die wertvollen Erfahrungen!<br />
GRENZEN<br />
ÜBERWINDEN<br />
Jedes Jahr der gleiche Stress. Eigentlich sollte unser<br />
Lehrlingsmagazin «PAUSE» bereits im Druck<br />
sein und wir diskutieren immer noch über Titel<br />
und Spitzmarken – oder schreiben das Editorial.<br />
Ein Grund die «PAUSE» auf Eis zu legen und den<br />
Herausforderungen und Schwierigkeiten aus dem<br />
Weg zu gehen?<br />
Beim Lesen der diesjährigen <strong>Pause</strong>-Artikel ist mir<br />
aufgefallen, dass es oft um das Thema «Hürden<br />
und Grenzen überwinden» geht. Manche Grenzen<br />
scheinen offensichtlich und sind dennoch nur<br />
scheinbar vorhanden, dies zeigen mir besonders<br />
die Extremsportler, die Pascal in seinem Artikel<br />
vorstellt. Mich fasziniert, was diese Athleten trotz<br />
ihrer körperlichen Einschränkungen leisten. Was<br />
mich ausserdem sehr beindruckt, ist, wie Pascal<br />
zu sich und zu seinen persönlichen Grenzen steht.<br />
Man kann Grenzen ziehen, überwinden, akzeptieren<br />
oder einreissen – und manchmal muss man<br />
Brücken bauen, um Grenzen zu überwinden. Der<br />
Zugang zum ersten Arbeitsmarkt ist für viele<br />
Menschen mit Behinderung sehr schwierig. Im<br />
Artikel «Erste Schritte» berichten wir von unseren<br />
Praktika. Unsere Praktikumsbetriebe haben uns<br />
Brücken gebaut und uns geholfen, einen Einblick<br />
in den ersten Arbeitsmarkt zu bekommen.<br />
Im Artikel «Auf der Stelle» zeigt uns Mateo, was<br />
passiert, wenn der Rollstuhl streikt. Der Tagesablauf<br />
ändert sich abrupt und ein grosser Teil der<br />
Selbstständigkeit ist dahin. Mir wurde mal wieder<br />
deutlich, welchen Einsatz es vom Umfeld und der<br />
Familie braucht, um eine solche Situation zu bewältigen.<br />
Ein Sprichwort sagt: Hebt man den Blick, so sieht<br />
man keine Grenzen. Ich glaube, es ist wichtiger<br />
die Grenzen zu sehen und zu entscheiden, ob und<br />
wie wir diese überschreiten können. So werden<br />
wir uns auch im kommenden Jahr der Herausforderung<br />
«PAUSE» stellen und dabei wieder unsere<br />
persönlichen Grenzen entdecken und überschreiten.<br />
Rahel Ebneter<br />
Lehrling<br />
Möchten auch Sie uns eine Chance geben?<br />
Gerne gibt Ihnen Lukas Fischer Auskunft: Tel. 044 389 62 57
4 <strong>Pause</strong> <strong>2015</strong> <strong>Pause</strong> <strong>2015</strong> 5<br />
AUF DER<br />
STELLE<br />
Nichts geht mehr. Mateo<br />
schildert die Auswirkungen<br />
von Pannen mit dem<br />
Elektro-Rollstuhl.<br />
6 TATORT MÜNCHEN<br />
Weissbier, Brezeln und ein Mord auf der Ausbildungsreise<br />
14 PERSÖNLICHES LIMIT<br />
Extremsport mit Behinderung<br />
18 ERSTE SCHRITTE<br />
Vier Lernende blicken in die Arbeitswelt<br />
25 GETESTET<br />
Handheizung für Rollstuhlfahrer<br />
MEIN HERZ<br />
FÜR DEN FCZ<br />
Jessica hat nie mit Barbies<br />
gespielt. Sie ist mit den Jungs<br />
vom FCZ aufgewachsen.<br />
25 KURZ UND BÜNDIG<br />
Meldungen aus Sport und Freizeit<br />
26 MATHILDES SÖHNE<br />
Zwei Pioniere schreiben Geschichte<br />
28 JOSEF MÜLLER<br />
Der Geldwäscher im Rollstuhl<br />
31 FOTOSTORY<br />
Optische Täuschung<br />
GIPFELSTÜRMER<br />
Mit dem Helikopter ums Matterhorn<br />
– Die Stiftung Sternschnuppe<br />
erfüllte Francescos Wunsch.<br />
IMPRESSUM<br />
PAUSE – das <strong>MEH</strong>-Lehrlingsmagazin. Ausgabe Nr. 115, 33. Jahrgang<br />
Herausgeber: <strong>MEH</strong>, Lengghalde 1, 8008 Zürich, Tel. 044 389 62 00, www.meh.ch, l.fischer@meh.ch<br />
Fotos: Michael Groer, Steven Deblander, André Bachmann<br />
Korrektorat: Iris Vettiger Litho: b+b repro AG Druck: Druckerei Albisrieden AG<br />
Auflage: 3'200 Exemplare Erscheint: 1 x pro Jahr
6 <strong>Pause</strong> <strong>2015</strong> <strong>Pause</strong> <strong>2015</strong> 7<br />
Ausbildungsreise 2014<br />
TATORT<br />
MÜNCHEN<br />
Würziger Reiseauflauf – à la <strong>MEH</strong>-Ausbildung: Man bringe<br />
21 <strong>MEH</strong>ler nach München, verwickle sie in einen Kriminalfall,<br />
füge eine Prise Fussball hinzu, schrecke sie mit der U-Bahn ab,<br />
füttere sie mit Brezeln, Weisswürsten, süssem Senf und Haxen<br />
und lösche anschliessend alles mit Bier ab.<br />
Von Tomislav Tomic<br />
Wie immer stimmten alle Teilnehmer der Ausbildung<br />
für die Destination der jährlichen AU-Reise<br />
ab. Zur Auswahl standen Mailand, Strassburg,<br />
Salzburg oder München. Der eindeutige Gewinner…<br />
München. Hier, ein kleiner Auszug aus<br />
meinem Reisetagebuch aus der Stadt der Lederhosen.<br />
Freitag, 4. Juli:<br />
Mord in München<br />
Kaum in München angekommen, wurden wir in<br />
einen Mordfall verwickelt. Ein Münchner Hauptkommissar<br />
übertrug uns die Ermittlungsarbeit im<br />
Mordfall Blieninger. Nun lag es an uns, den Täter<br />
ausfindig zu machen. Wir folgten einer heissen<br />
Spur durch die Sehenswürdigkeiten der Münchner<br />
Innenstadt und verhörten die Zeugen: von<br />
der kreischenden Maitresse bis zum psychopathischen<br />
Liebhaber der launischen Ehefrau des<br />
Opfers. Blut, Kugeln, Waffen, Affären sowie geheimnisvolle<br />
Schliessfächer und Akten – alles<br />
war dabei. Natürlich konnte der Täter der Rollstuhl-Kripo<br />
nicht entkommen. Ein Kriminalfall als<br />
Stadtführung: eine tolle Idee!<br />
Den Nachmittag verbrachten wir mit Shoppen –<br />
dafür ist diese Stadt super. Wir kamen mit dem<br />
Rollstuhl gut in die Läden und alle haben gefunden,<br />
was er und vor allem sie suchte. Das Sportgeschäft<br />
war das beste, in dem ich jemals war. Es<br />
war riesengross und bot für jede Sportart etwas<br />
Passendes – sogar fürs Surfen. Wie die Männer<br />
im Sportgeschäft, so die Mädels im Kleiderladen.<br />
Shoppen, bis der Rollstuhl-Akku leer ist. Typisch!<br />
Die Einkaufs taschen wurden immer mehr, gefüllt<br />
mit Leder jacken, Schals, Kleidern, Schmuck, Geschenken<br />
für die Familie usw. Wir kauften so viele<br />
Sachen ein, dass wir am Schluss wie eine beladene<br />
Karawane aussahen.
8 <strong>Pause</strong> <strong>2015</strong> <strong>Pause</strong> <strong>2015</strong> 9<br />
Samstag, 5. Juli:<br />
Ich will kein Yo-Yo sein.<br />
nicht nur der Lift, sondern die ganze Haltestelle<br />
ausser Betrieb ist. Das bedeutet dann Yo-Yo hoch<br />
Sonntag, 6. Juli:<br />
Die Kathedrale des Fussballs<br />
Jemand erzählte uns, er gehöre weltweit zu den<br />
grössten innerstädtischen Parks. Radler, Jog ger<br />
Der heutige Tag fing leider ziemlich mies an.<br />
ins blendende Tageslicht und dann auf der Stras-<br />
Es ist Sonntagmorgen und wir fahren in die Alli-<br />
und Spaziergänger können auf fast 80 km Weg-<br />
Nicht alles, was einem in München unter die Rä-<br />
se weiter.<br />
anz Arena. Die sieht schon aus der Distanz sehr<br />
netz den Park erkunden. Es gibt vieles zu bestau-<br />
der kommt, ist toll. Die Münchner U-Bahn ist für<br />
Zum Trost endete der Tag wenigstens mit einem<br />
cool aus. Aus der Nähe erkennt man dann erst<br />
nen, Bäche, Biergärten, den Chinesischen Turm,<br />
Rollstuhlfahrer ein «Mist». Man benötigt diverse<br />
Höhepunkt. Das Tollwood-Festival lockte viele Be-<br />
recht, was für ein wahres «Biest» dieses Stadion<br />
Nudisten, Musiker, Seiltänzer in den Bäumen<br />
Lifte um zu den Gleisen runter und wieder hoch<br />
sucher an, darunter auch unsere kleine Gruppe.<br />
ist. Eine gigantische, glänzende Kathedrale des<br />
oder die Surf-Freaks im Eisbach. Da hat’s echt<br />
zu kommen. Wie ein gigantisches Donkey Kong-<br />
Es gab Stände mit Kunsthandwerk, Gastronomie<br />
Fussballs. Ich staune jetzt noch vor Begeisterung!<br />
was für jeden. Am Abend besuchten wir einen<br />
Spiel. Nur an Stelle eines zornigen Gorillas wird<br />
aus allen Kontinenten sowie diverse Stände für<br />
Vor allem die Führung durchs Stadion war toll –<br />
riesigen Bierkeller.<br />
man bei der Ankunft am Gleis von einem zornigen<br />
Kinder wie «Kochen und Probieren», «Basteln»<br />
informativ und einfach zu verstehen. Sogar die<br />
Was habe ich gelernt? Bier ist nicht gleich Bier.<br />
U-Bahn-Fahrer begrüsst. Muss man umsteigen,<br />
oder einen Abenteuerspielplatz. Vom Graffitikurs<br />
Damen in unserer Gruppe haben was verstanden.<br />
Ausserdem war das Essen trotz der Nähe zur<br />
heisst das wieder mit dem Lift hoch, runter, hoch<br />
über Akrobatik, Komiker und Tanz bis hin zum<br />
Wir durften sogar in die Umkleidekabine der Spie-<br />
Schweiz für einige Mitreisende recht exotisch. Es<br />
und runter bis zum nächsten Gleis. Tomislav,<br />
Puppentheater – es hatte für jeden Geschmack<br />
ler. Besonders imponierend war die grosse Zahl<br />
gab Brezeln, Weisswürste, süsser Senf, Haxen,<br />
das menschliche Rollstuhl-Yo-Yo. Hat man Pech,<br />
etwas dabei. Ausserdem gab es tolle Konzerte von<br />
von Rollstuhlplätzen – obwohl diese meiner Mei-<br />
Knödel, Sauerbraten, Sülze, Saures Lüngerl und<br />
steigt man bei der Ankunft aus dem Zug und der<br />
deutschen wie auch von internationalen Künst-<br />
nung nach im VIP-Bereich besser platziert wären.<br />
vieles mehr. Die Grösse der Portionen verlief pro-<br />
Lift ist kaputt. Das heisst dann in den nächsten<br />
lern, die meisten sogar kostenlos. Das Beste? In<br />
Trotzdem super, dass sie auch auf die Bedürfnisse<br />
portional zur Freundlichkeit der in Trachten ge-<br />
Zug einsteigen und wieder Yo-Yo spielen. Am<br />
den Bierzelten wurde die Fussball-WM 2014 live<br />
von behinderten Menschen achten.<br />
wandeten Kellnerinnen und Kellner. Ein Wunder,<br />
zornigen Fahrer vorbei in den nächsten Zug, der<br />
übertragen.<br />
Am Nachmittag gingen wir in den Englischen Gar-<br />
dass sich die Münchner trotz des vielen Essens<br />
aber nicht dort hinfährt, wo man hin will – weil da<br />
ten. Der liegt mitten in der Stadt und ist riesig.<br />
und Biers erstaunlich schlank halten.<br />
•
Wenn der Rollstuhl streikt<br />
<strong>Pause</strong> <strong>2015</strong> 11<br />
AUF DER STELLE<br />
Oh, nein! Nichts geht mehr. Die Steuerung zeigt eine Fehlermeldung<br />
an und der Elektro-Rollstuhl bewegt sich nicht<br />
vom Fleck. Pannen mit dem Rollstuhl haben weitreichende<br />
Auswirkungen für uns Rollstuhlfahrer und unser Umfeld.<br />
Von Mateo Tomic<br />
Ich bin in einem Einkaufszentrum, als mein E-<br />
Rollstuhl den Dienst verweigert. Zum Glück bin<br />
ich mit der ganzen Familie unterwegs. Mein Vater<br />
muss mich bis zum Auto stossen. Das ist sehr<br />
anstrengend. Immerhin wiege ich zusammen<br />
mit dem Rollstuhl fast 200 Kilo. Mein Mechaniker<br />
kann heute nicht mehr kommen. Das ist ziemlich<br />
blöd, weil ich deshalb im Handrollstuhl zuhause<br />
bleiben muss. Da ich meine Arme nur wenig<br />
bewegen kann, muss ich gestossen werden. Mit<br />
dem Handrollstuhl komme ich nicht unter den<br />
Tisch und kann deshalb nicht selbstständig essen.<br />
Auch den Laptop und den Play Station Controller<br />
kann ich deshalb nicht bedienen. Mit anderen<br />
Worten: Ohne den Elektroantrieb geht nichts. Ich<br />
verbringe den Tag vor dem Fernseher.<br />
Stillstand<br />
Am nächsten Morgen die Diagnose: Motorschaden!<br />
Der Mechaniker muss den E-Rollstuhl mitnehmen.<br />
Ich habe es bereits befürchtet. Das wird<br />
wohl wieder ein Tag vor dem Fernseher. Langsam<br />
schmerzt mein Rücken. Der Handrollstuhl<br />
ist unbequem und verursacht Druckstellen, die<br />
ich nicht selbst entlasten kann wie bei meinem<br />
E-Rollstuhl. Die verstellbaren Rücken- und Fussstützen<br />
sind für mich wichtig, damit ich meinen<br />
Rücken und meine Hüften entspannen kann. Es<br />
ist anstrengend, den ganzen Tag im Handrollstuhl<br />
in der gleichen Stellung sitzen zu müssen.<br />
Eigentlich wäre ich jetzt schon seit einer Stunde<br />
in Zürich, an meiner Ausbildungsstelle im <strong>MEH</strong>.<br />
Ich würde wohl gerade mit Photoshop arbeiten<br />
und danach im Englischunterricht bei Steven über<br />
Politik diskutieren oder einen englischen Film anschauen.<br />
Positionswechsel<br />
Der einzige Lichtblick, wenn ich zuhause bleiben<br />
muss, ist das Essen meiner Mutter. Sie kocht sehr<br />
fein. Endlich gibt es Mittagessen. Meine Mutter<br />
stösst mich zum Tisch und bringt das Essen. Dann<br />
gibt sie mir das Essen ein. Im <strong>MEH</strong> könnte ich<br />
jetzt selbstständig und in meinem eigenen Tempo<br />
mit der Gabel essen. Ich brauche nur Hilfe, wenn<br />
es Fleisch gibt, das geschnitten werden muss.<br />
Nach dem Essen schiebt mich meine Mutter zu-<br />
rück ins Zimmer. Bis zum Abendessen ist wieder<br />
Gamen und Fernsehen angesagt. Eigentlich will<br />
meine Mutter einkaufen gehen, aber jetzt muss<br />
sie zuhause bleiben und mir helfen, falls ich etwas<br />
brauche. Wenn mein Rollstuhl kaputt ist, muss<br />
meine Mutter immer zuhause bleiben. Im Handrollstuhl<br />
bin ich auf noch mehr Hilfe angewiesen.<br />
Sie hat dann nur wenig Zeit für sich selbst und<br />
die Hausarbeit.<br />
Der Tag ist meist einseitig. Ich kann mich nicht<br />
umdrehen und schaue die ganze Zeit in eine<br />
Richtung. Somit weiss ich nicht, was um mich<br />
herum geschieht. Wenn meine Mutter putzen<br />
muss, kann ich nicht selbstständig wegfahren<br />
und Platz machen. Und dann stehe ich auch noch<br />
im Weg. Im <strong>MEH</strong> würde ich jetzt Kollegen treffen<br />
und mich in der <strong>Pause</strong> mit ihnen unterhalten.<br />
In der Ausbildung arbeite ich am Computer. Der<br />
Unterricht ist spannend und abwechslungsreich,<br />
man lernt viel. Vielleicht wäre ich auch in der<br />
Physiotherapie. Das Durchbewegen von Armen<br />
und Beinen bringt mir viel, dann fühle ich mich<br />
beweglicher.<br />
Veränderungen<br />
Ich habe noch einen älteren Bruder, der auch im<br />
E-Rollstuhl ist. Wenn wir beide zuhause sind, bedeutet<br />
das sehr viel Arbeit für unsere Eltern. Ich<br />
kann mich nicht erinnern, dass meine Eltern mal<br />
alleine Ferien hatten. Wenn unsere Mutter einkaufen<br />
geht, ist mein Vater mit uns zu Hause.<br />
Wenn sie zu Besuch gehen, kümmert sich unser<br />
Onkel um uns.<br />
Mein Bruder wird demnächst ins <strong>MEH</strong> einziehen.<br />
Er hat sich fürs <strong>MEH</strong> entschieden, weil er in der<br />
Werkstätte des <strong>MEH</strong> arbeiten kann. Er möchte<br />
dort gerne an Webseiten mitarbeiten. Der Entschluss<br />
ist ihm schwergefallen, weil er gerne<br />
zu Hause ist. Er hat mit den Leuten vom <strong>MEH</strong><br />
und den Eltern darüber gesprochen. Sie meinten,<br />
dass er selbst entscheiden soll, was für ihn<br />
besser ist. Das hat ihm Mut gegeben. Ich bin<br />
gerne mit meinem Bruder zusammen. Wir verstehen<br />
uns gut. Ich werde darum auch ins <strong>MEH</strong><br />
ziehen, wenn wieder ein Zimmer frei ist. Hoffentlich<br />
haben unsere Eltern dann wieder einmal<br />
Zeit für sich.<br />
•
<strong>Pause</strong> <strong>2015</strong> 13<br />
erste Kurve und ich bin erleichtert, die Hand meiner<br />
Mutter halten zu können. Mit der Zeit kann<br />
ich mich entspannen und geniesse die Aussicht<br />
aus dem Helikopter. Wir fliegen ganz nah an der<br />
Spitze des Matterhorns vorbei. Der Gipfel beeindruckt<br />
mich: Mit seinen 4ꞌ478 Metern überragt er<br />
alle anderen Berge.<br />
Landung bei der Hörnlihütte<br />
Nach einem halbstündigen Rundflug landen wir<br />
in der Nähe der Hörnlihütte. Der Landeplatz ist<br />
sehr eng und liegt unglaublich nah am Berg. Ein<br />
kurzer, steiniger Weg führt zur Hörnlihütte hinunter.<br />
Ich bin froh, dass mich ein Sherpa auf dem<br />
Rücken bis zur Hütte trägt. Er sagt mir, dass er<br />
normalerweise schwerere Lasten trage und ich für<br />
ihn ein Fliegengewicht sei. Daher mache ich mir<br />
keine Sorgen. Auf der Terrasse der Hörnlihütte erhalte<br />
ich einen prachtvollen Schokoladenkuchen<br />
als Überraschung. Wir geniessen den Kuchen und<br />
die Sonne. Später macht das Filmteam noch Aufnahmen,<br />
ohne die wir gar nicht auf der Hörnlihütte<br />
hätten landen dürfen. Ich bin glücklich und<br />
zufrieden, dass alles so gut geklappt hat!<br />
Wir fliegen direkt nach Zermatt zurück. Nach<br />
dem Helikopterflug schenken mir die Piloten der<br />
Air Zermatt einen Sonnenhut als Erinnerung.<br />
Am Abend essen wir in einem Restaurant in Zermatt<br />
gemeinsam mit dem Kamerateam und den<br />
Wunschbegleitern von der Sternschnuppe.<br />
Mit dem Heli ums Matterhorn<br />
GIPFELSTÜRMER<br />
Mit dem Rollstuhl auf hohe Berge? Jungfraujoch, Pilatus,<br />
Bürgenstock, Titlis, Säntis und Schilthorn habe ich schon bezwungen.<br />
Nun möchte ich aufs Matterhorn. Alles dröhnt<br />
und vibriert. Ich bin aufgeregt. Endlich startet der Helikopter.<br />
Von Francesco Tunzi<br />
Es ist so weit. In fünf Stunden sitze ich im Helikopter.<br />
Der Tag sieht vielversprechend aus, die<br />
Sonne scheint und keine Wolke ist am Himmel zu<br />
sehen: perfektes Flugwetter. Ich freue mich sehr<br />
auf diesen Tag. Ich geniesse die Landschaft, die<br />
an meinem Zugfenster vorbeizieht. Kurz vor Zermatt<br />
sehe ich meinen Berg. Bald geht es los.<br />
Bereit für den Start!<br />
Ein Pilot trägt mich vom Rollstuhl in den Helikopter.<br />
Ich sitze hinten am Fenster neben meiner<br />
Mutter. Mit dabei sind auch der Partner meiner<br />
Mutter, ein Kameramann und ein Mitarbeiter der<br />
Sternschnuppe. Wir erhalten alle Kopfhörer gegen<br />
den Lärm und zum Kommunizieren. Dieser<br />
stört mich etwas, aber ich habe keine Zeit, darüber<br />
zu diskutieren. Mein Herz schlägt höher. Ich<br />
weiss nicht, was mich erwartet. Ich bin schon in<br />
einem Flugzeug geflogen, aber noch nie in einem<br />
Helikopter. Beim Start vibriert alles, es ist sehr<br />
laut und ich bin nun froh, die Kopfhörer zu tragen.<br />
Nach wenigen Sekunden macht der Helikopter die<br />
Wie alles begann<br />
Wenig später liege ich bereits erschöpft im Bett<br />
und überlege, wie es eigentlich dazu gekommen<br />
ist, dass ich hier in Zermatt gelandet bin. Angefangen<br />
hat alles mit einem Schlüsselanhänger.<br />
Ein Arzt schenkte mir vor ungefähr zwei Jahren<br />
bei einem Untersuch einen Schlüsselanhänger<br />
von der Stiftung Sternschnuppe. Er erklärte mir,<br />
dass ich mir bei der Stiftung etwas wünschen<br />
könnte, bevor ich 18 Jahre alt bin. Ich war schon<br />
auf vielen rollstuhlgängigen Bergen wie zum Beispiel<br />
Jungfraujoch, Rigi, Pilatus, Bürgenstock, Titlis,<br />
Säntis, Schilthorn. Deshalb überlegte ich mir<br />
einen besonderen Wunsch, den ich mir ohne die<br />
Sternschnuppe nicht hätte erfüllen können.<br />
Ich meldete meinen Herzenswunsch online an<br />
und schrieb der Sternschnuppe, dass ich so hoch<br />
wie möglich auf das Matterhorn möchte. Nach<br />
ein paar Wochen bekam ich einen Anruf von der<br />
Sternschnuppe und die Zusage, dass sie meinen<br />
Wunsch organisieren wollten. Das Problem war<br />
die Landeerlaubnis auf der Hörnlihütte. Man entschied<br />
sich dafür, einen Film zu drehen, um so eine<br />
Landeerlaubnis zu bekommen. Die Sternschnuppe<br />
hatte eine Sendung von Star TV geschenkt<br />
bekommen und beschloss, meinen Wunsch mit<br />
dieser Sendung zu kombinieren. Ich hatte wirklich<br />
Glück, dass alles so gut klappte. Ich werde diesen<br />
Tag nie vergessen.<br />
•
<strong>Pause</strong> <strong>2015</strong> 15<br />
Viele denken, Rollstuhlfahrer können keinen Extremsport<br />
betreiben. Wer hätte gedacht, dass man im Rollstuhl einen Backflip<br />
machen oder als Blinder Berge besteigen kann. Ohne Arme<br />
und Beine den Ärmelkanal durchschwimmen! Unmöglich?<br />
Von Pascal Degonda<br />
Extremsport mit Behinderung<br />
PERSÖNLICHES<br />
LIMIT<br />
Ich selbst spiele E-Rollstuhl-Hockey und gebe da<br />
mein Bestes. Da ich wenig Kraft in den Armen<br />
habe, ist es nicht mehr möglich, denn Hockeyschläger<br />
zu halten. Darum spiele ich mit einem<br />
Schläger, der am Rollstuhl befestigt ist. Er sieht<br />
aus wie ein T, darum heisst er T-Stick. Ich finde<br />
es cool, dass E-Hockey ein schneller Sport ist. Ich<br />
bin ein Typ, der nicht gerne verliert. Die Nationalmannschaft<br />
ist mein grosses Ziel. Es wäre ein<br />
Erlebnis, dort zu spielen. Dann weiss man erst,<br />
ob man top ist.<br />
E-Hockey ist eigentlich recht sicher. Eine der Gefahren<br />
ist, dass der Rollstuhl kippt. Ich hoffe, dass<br />
ich nie umkippen werde, das könnte zu schweren<br />
Verletzungen führen. Aber das passiert nur<br />
sehr selten und ich fahre so, dass es hoffentlich<br />
nicht dazu kommen wird. Ich kenne meine Grenzen.<br />
Für mich ist es schwer nachvollziehbar, was<br />
Menschen mit Behinderung motiviert, Extremsport<br />
zu betreiben und hohe Risiken einzugehen.<br />
Gleichzeitig fasziniert mich ihr Mut.<br />
Salto im Rollstuhl<br />
Drei Ausnahme athleten mit Behinderung beeindrucken<br />
mich besonders. Einer von ihnen ist Aaron<br />
Wheelz. Er macht mit dem Rollstuhl Backflips und<br />
Doublebackflips. Dabei dreht er sich rückwärts in<br />
der Luft um 360° und landet mit viel Glück wieder<br />
auf den Rädern. Bei einem Doublebackflip dreht<br />
er sich sogar zweimal in der Luft, bevor er aufknallt.<br />
Das ist extrem schwierig. Im Internet kann<br />
man seine Sprünge und seine Ausdauer bewundern.<br />
Wenn er stürzt, probiert er es weiter, bis er<br />
den Sprung schafft. Er zeigt keine Angst und ist<br />
der absolute Draufgänger. Mit meinem E-Rollstuhl<br />
würde das nicht gehen, er wäre viel zu langsam.<br />
Dem Echo folgen<br />
Ein anderer Extremsportler ist Andy Holzer. Er besteigt<br />
weltweit die höchsten Berge, und das obwohl<br />
er blind ist! Unfassbar. Holzer hat ein sehr<br />
gutes Gehör. Er kann sich am Ton der Begleiter<br />
orientieren, zudem stösst er Schnalzlaute mit<br />
der Zunge aus. Durch das Echo der Laute findet<br />
er heraus, wie es um ihn herum aussieht. Er hat<br />
schon sechs der sieben höchsten Berge bestiegen.<br />
Ihm fehlt allerdings noch der Mount Everest.<br />
Er ist bereits einmal gescheitert und wird es wieder<br />
probieren. Wenn ich ihn etwas fragen könnte,<br />
dann dies: Hast du keine Angst vor dem Sterben?<br />
Zurück ins Leben schwimmen<br />
Der dritte Ausnahme athlet ist Phillipe Croizon.<br />
Er überlebte einen Stromschlag von 20‘000 Volt.<br />
Normalerweise ist man tot. Es mussten ihm Arme<br />
und Beine amputiert werden. Danach wollte er<br />
nicht mehr leben. Über eine Fernsehdokumentation<br />
entdeckte er das Schwimmen. Mittlerweile ist<br />
Phillipe Croizon Langstreckenschwimmer. Er nutzt<br />
beim Schwimmen Prothesen mit langen Flossen.<br />
Damit überquerte er bereits einmal den Ärmelkanal.<br />
Um die 30 Kilometer zu überwinden, trainierte<br />
er zwei Jahre lang hart.<br />
Auf mich hören<br />
Das Extremste, was ich je gemacht habe, war<br />
mit dem E-Rollstuhl auf die Eisfläche einer Kunsteisbahn<br />
zu gehen. Am Anfang fand ich das nicht<br />
lus tig, aber nach einer Weile hat es richtig Spass<br />
gemacht. Manche Menschen wünschen sich, dass<br />
ich mir mehr zutraue und mutiger werde. Ich bin<br />
aber eher der vorsichtige Typ und finde das nicht<br />
schlimm. Jeder muss selbst entscheiden, was er<br />
sich zutraut. Wenn ich mit der Rampe in den Bus<br />
fahre, gebe ich nicht Vollgas. Ich fahre nur im<br />
Schritttempo, damit ich nicht von der Rampe fliege.<br />
Im E-Hockey wünsche ich mir manchmal, mutiger<br />
zu werden. Für mich ist es meist in Ordnung,<br />
vorsichtig zu sein. Es passieren weniger Unfälle,<br />
ich kassiere im Hockey keine Karten. Wenn ich<br />
über Fussgängerschwellen fahre, gebe ich acht,<br />
dass es mich nicht durchschüttelt. Ich passe auf<br />
mich und meinen Rollstuhl auf.<br />
•<br />
INFOS ZU DEN PERSONEN<br />
Aaron Wheelz: aaronfotheringham.com<br />
Andy Holzer: andyholzer.com<br />
Phillipe Croizon: philippe-croizon-consulting.com
DAS REDAKTIONSTEAM<br />
(v.l.n.r) Francesco Tunzi, Sarmed Hussain, Mateo Tomic, Loris Lang (llan),<br />
Steven Deblander, Rahel Ebneter, Michael Groer, Dave Inhelder,<br />
Tomislav Tomic, Leslie Weiss, Annete Plammoottil (apla), Pascal Degonda,<br />
Frank Grüninger, Lukas Fischer, Jessica Mone
<strong>Pause</strong> <strong>2015</strong> 19<br />
Praktikum im ersten Arbeitsmarkt<br />
ERSTE SCHRITTE<br />
Von der Armee über die Fachhochschule, den Verein Behinderten-<br />
Reisen Zürich bis zur Agentur für Webdesign: Vier Lernende der<br />
<strong>MEH</strong>-Ausbildung zeigen, dass ihre Arbeitskraft in jeder<br />
Branche einsetzbar ist.<br />
Von Annete Plammoottil<br />
«MEINE ARBEIT<br />
WIRD GESCHÄTZT.»<br />
Name: Rahel Ebneter<br />
Praktikumsort: Armeelogistikcenter<br />
Dauer: 12 Monate<br />
Pensum: 1 Tag pro Woche<br />
ich zu meinem Arbeitsplatz komme, werde ich von<br />
einem Schild gefragt, ob mein Gewehr gesichert<br />
ist. Ich sortiere verschiedene Ausrüstungsgegenstände,<br />
z. B. Uniformen, welche die ehemaligen<br />
Rekruten abgegeben haben. Diese kontrolliere ich<br />
auf vergessene Gegenstände. Zudem sortiere ich<br />
Abzeichen nach Gebrauchszustand und bereite<br />
sie für eine erneute Ausgabe vor.<br />
Im Moment ist meine Arbeit sehr leicht, das<br />
macht mir Spass, weil ich dann schnell arbeiten<br />
kann. Ich sehe, was ich gemacht habe. Meine<br />
Arbeit ist wichtig, wäre ich nicht da, würde sie<br />
von Mitarbeitern ohne Behinderung erledigt. Ich<br />
weiss, dass es nicht bloss eine Beschäftigung ist,<br />
sondern dass meine Arbeit auch geschätzt wird.<br />
Das gibt mir ein gutes Gefühl.<br />
Alle Lernenden, die ein zweites Ausbildungsjahr<br />
finanziert bekommen, machen mindestens vierzig<br />
Tage lang ein Praktikum ausserhalb des <strong>MEH</strong>. Das<br />
ist eine Herausforderung für alle Lernenden sowie<br />
für das Ausbildnerteam. Es ist nicht einfach, ein<br />
Praktikum im ersten Arbeitsmarkt zu finden. Wir<br />
müssen einige Hürden überwinden. Erstens muss<br />
der Arbeitsbetrieb rollstuhlgängig sein. Zweitens<br />
benötigen viele von uns einen Computerarbeitsplatz,<br />
was die Praktikumssuche weiter erschwert.<br />
Diese Probleme sind jedoch oft sekundär, meist<br />
gibt es mehr Möglichkeiten als gedacht. Wenn<br />
man uns lässt, leisten wir tolle Arbeit, ob wir<br />
etwas recherchieren, Daten erfassen oder telefonieren.<br />
In fast jedem Betrieb gibt es Arbeit, die<br />
wir Menschen im Rollstuhl erledigen können. Ich<br />
hatte ein spannendes Praktikumsjahr und hoffe,<br />
dass auch künftige Lehrlinge die Möglichkeit haben<br />
werden, im ersten Arbeitsmarkt ein Praktikum<br />
zu machen. Ich berichte mit drei weiteren<br />
Lernenden über die Erfahrungen, die wir in unseren<br />
Betrieben sammeln konnten.<br />
Ich bin dank Vitamin B zu meiner Praktikumsstelle<br />
gekommen. Mein Vater arbeitet im Armeelogistikcenter<br />
Othmarsingen und hatte dort seinen Chef<br />
gefragt. Meine Arbeitszeiten sind flexibel. Meist<br />
arbeite ich einen Tag pro Woche. Ich darf meine<br />
<strong>Pause</strong>n selbst einteilen. Das ist für mich manchmal<br />
schwierig, weil ich es vergesse, <strong>Pause</strong> zu machen.<br />
Meine Arbeitskollegen erinnern mich immer<br />
wieder daran. Sie sind sehr hilfsbereit. Die weitergehende<br />
Betreuung wird durch meinen Vater abgedeckt.<br />
Ich arbeite in einer riesigen Halle. Bevor
20 <strong>Pause</strong> <strong>2015</strong> <strong>Pause</strong> <strong>2015</strong> 21<br />
«ICH WUSSTE<br />
NICHT, OB ICH DIE<br />
ERWARTUNGEN<br />
ERFÜLLEN KANN.»<br />
Name: Dave Inhelder<br />
Ein Vorteil ist, dass ich im Praktikum mit dem<br />
gleichen Programm arbeiten darf wie in der Ausbildung,<br />
es heisst Dreamweaver. Ich freue mich<br />
darüber, wenn ich etwas Neues hinzulerne. Ich<br />
setze mich gerade mit einer weiteren Computersprache<br />
namens ColdFusion auseinander. Diese<br />
ist zwar kompliziert, aber sehr spannend. Mein<br />
Praktikum gefällt mir sehr, ich kann so eine Erfahrung<br />
nur weiterempfehlen.<br />
«DIE AUFGABEN<br />
SIND VIELSEITIG.»<br />
Name: Loris Lang<br />
Praktikumsort: ZHAW<br />
Dauer: 9 Monate<br />
Pensum: 2 halbe Tage pro Woche<br />
Ich mache das Praktikum in der Zürcher Hochschule<br />
für Angewandte Wissenschaften im Toni<br />
Areal. Leslie, meine Praktikumsbegleiterin des<br />
<strong>MEH</strong>, hat bei der ZHAW angefragt, ob es eine<br />
Praktikumstelle gibt. Mein Vorstellungsgespräch<br />
lief gut, obwohl ich sehr nervös war. Am ersten<br />
Arbeitstag haben sie mit mir zuerst meinen Arbeitsplatz<br />
eingerichtet. Ich brauche vor allem Hilfe<br />
beim Einschalten des Computers und beim Öffnen<br />
der Türen, sonst kann ich selbstständig arbeiten.<br />
Eine meiner Aufgaben ist es, Adressen und Kontakte<br />
zu aktualisieren, zu recherchieren und zu<br />
ergänzen. Ich bearbeite die Rückläufer, das sind<br />
Briefe, die von der Post nicht zugestellt werden<br />
konnten. Wenn die Adresse nicht stimmt, dann<br />
schaue ich zuerst bei uns im System nach, ob die<br />
Adresse bereits angepasst wurde. Wenn das nicht<br />
der Fall ist, muss ich die neue Adresse recherchieren.<br />
Zudem gestalte ich die Geburtstagskarten für<br />
die neuen Mitarbeiter oder bearbeite Bilder. Das<br />
macht mir sehr viel Spass.<br />
Die Arbeit ist vielseitig und ich arbeite in verschiedenen<br />
Programmen: CRM (Datenbank), Photoshop,<br />
InDesign, Adobe Acrobat und Microsoft Outlook.<br />
Ich freue mich sehr, dass ich das Praktikum<br />
machen kann.<br />
«DAS PRAKTIKUM<br />
IST ERST DER<br />
ANFANG.»<br />
beitsplatz aussieht. In den ersten paar Tagen<br />
durfte ich zuschauen, wie sie Bestellungen entgegennehmen<br />
und richtig eintragen, worauf<br />
ich achten muss etc. Als ich erfuhr, dass noch<br />
zwei weitere Mitarbeiter im Rollstuhl im Büro<br />
arbeiten, war ich sehr erleichtert. Ich wusste<br />
nun, dass ich als Rollstuhlfahrerin keine<br />
Schwierigkeiten haben würde. Meine Arbeits-<br />
Praktikumsort: Bestview<br />
Dauer: 12 Monate<br />
Pensum: 2 halbe Tage pro Woche<br />
Ich mache mein Praktikum bei Bestview, einem<br />
Unternehmen, das Websites und Intranet-Lösungen<br />
designt und erstellt. Am Anfang konnte ich<br />
mir noch nicht vorstellen, was auf mich zukommen<br />
würde. Dementsprechend war ich an mei nem<br />
ersten Tag ein wenig nervös. Ich wusste nicht,<br />
welche Aufgaben man mir geben würde und ob<br />
ich die Erwartungen erfüllen kann. Die Nervosität<br />
legte sich schnell, weil die Leute der Firma von<br />
Anfang an super mit mir umgegangen sind. Mein<br />
Arbeitsplatz ist perfekt für mich. Alle Tische im<br />
Büro sind elektrisch höhenverstellbar, auch ich<br />
kann sie selbstständig bedienen. Die anderen<br />
Mit ar bei ter können so auch im Stehen arbeiten.<br />
Bis jetzt klappt alles gut. Ich darf sogar an den<br />
Kunden-Websites mitarbeiten. Ich arbeite viel mit<br />
CSS-Code, einer Computersprache, mit der die<br />
Ge staltung eines Webprojekts umgesetzt wird.<br />
Name: Annete Plammoottil<br />
Praktikumsort: VBR Z<br />
Dauer: 12 Monate<br />
Pensum: 2 halbe Tage pro Woche<br />
Ich hatte riesen Glück bei meiner Praktikumssuche.<br />
Seit 2013 fahre ich mit dem Verein<br />
Behinderten-Reisen Zürich (VBRZ) zur Ausbildung<br />
und als ich von meiner Praktikumssuche<br />
erzählte, machte mir ein Fahrer den Vorschlag,<br />
den Geschäftsführer des VBRZ zu kontaktieren.<br />
Daraufhin rief ich den Geschäftsführer an,<br />
schickte ihm meine Bewerbungsunterlagen<br />
und bekam so meine Praktikumsstelle.<br />
Im August 2014 habe ich beim VBRZ mein<br />
Praktikum begonnen. Zu meinen Aufgaben gehören<br />
unter anderem das Schreiben und Kontrollieren<br />
von Bestellungen, das Eintragen ins<br />
Dispo-Programm, das Beantworten der Mails.<br />
Am ersten Praktikumstag war ich ein bisschen<br />
aufgeregt, da ich nicht wusste, wie mein Ar-<br />
kollegen sind sehr freundlich und hilfsbereit.<br />
Ich brauche beim Einrichten meines Arbeitsplatzes<br />
Hilfe, d.h. zum Ein- und Ausschalten<br />
des PCs, zum Einrichten des Tastaturtischs<br />
und zum Bereitlegen von Unterlagen, Bestellschein,<br />
Block und Stift. Bevor das Praktikum<br />
anfing, musste ich einige Dinge organisieren.<br />
So habe ich die Spitex aufgeboten, damit sie<br />
mich während der <strong>Pause</strong> unterstützen, die Finanzierung<br />
des Praktikumswegs geklärt und<br />
den Arbeitsplatz so eingerichtet, dass ich möglichst<br />
selbstständig arbeiten kann.<br />
Die Arbeit im Büro macht mir sehr viel Freude,<br />
daher habe ich mich entschlossen, nach meiner<br />
Ausbildung in <strong>MEH</strong>, eine kaufmännische<br />
Ausbildung zu machen und Fuss im ersten Arbeitsmarkt<br />
zu fassen. Ich bin jetzt auf der Suche<br />
nach einer Lehrstelle und hoffe, dass ich<br />
für den Sommer 2016 einen Ausbildungsplatz<br />
finde.<br />
•
<strong>Pause</strong> <strong>2015</strong> 23<br />
Der FCZ und sein treuster Fan<br />
EIN BUND<br />
FÜRS LEBEN<br />
Frauen können nicht einparken, brauchen Schuhe, um glücklich<br />
zu sein. Frauen sind immer am Quatschen, interessieren sich<br />
nicht für Fussball, kennen die Regeln nicht und haben keine<br />
Ahnung, was Abseits ist. Doofe Klischees! Mit Barbies habe ich<br />
nie gespielt. Ich bin mit den Jungs vom FCZ aufgewachsen.<br />
Von Jessica Mone<br />
Wenn andere baden gehen, kann ich nicht mitgehen.<br />
Aber im Stadion live dabei sein, das geht.<br />
Ich wurde vor 18 Jahren mit einer Cerebralen<br />
Lähmung geboren. Daher bin ich auf einen Handrollstuhl<br />
angewiesen. Als kleines Kind habe ich<br />
meinen Rollstuhl gehasst. Ich habe am Anfang<br />
sogar geweint, wenn ich in den Rollstuhl musste.<br />
Ich war noch keine zwei Jahre alt, als ich das<br />
erste Mal ins Letzigrund durfte. Mein Bruder hat<br />
beim FCZ gespielt und mich immer ins Training<br />
mitgenommen. Wir haben neben der Familie von<br />
Ricardo Rodríguez gewohnt. Ich bin mit den drei<br />
Rodríguez-Brüdern aufgewachsen und mein Bruder<br />
absolvierte mit Ricardo die Nachwuchsabteilung.<br />
Beim Fussball haben sie mich rumgetragen<br />
oder aufs Spielfeld gesetzt. Meine Mutter hat mir<br />
alte Kleider angezogen, damit sie mich ins Tor<br />
setzen konnten. Ich sah nach jedem Spiel aus<br />
wie ein kleines dreckiges Schweinchen. Manchmal<br />
kam ich auch mit einem blauen Auge nach<br />
Hause, weil ich den Ball an den Kopf bekommen<br />
hatte. Ich fand es trotzdem immer sehr lustig.<br />
Meine Mutter musste mich danach immer in die<br />
Badewanne setzen. Eines Tages habe ich mit den<br />
drei Rodriguez-Brüdern «Fangis» gespielt. Dabei<br />
hat mich Francisco aus Versehen von der Treppe<br />
geschubst. Ricardo wurde sehr wütend und hat<br />
ihm eine Lektion erteilt. Ihre Mutter hat mir daraufhin<br />
mein Lieblingsessen gekocht.<br />
Südkurve<br />
Randalieren und prügeln, Pyros im Stadion zünden<br />
– typisch Südkurve? Für mich ist das vor allem ein<br />
Klischee. Ich nehme die Südkurve anders war. Sie<br />
nehmen mich, so wie ich bin, und stellen meine<br />
Behinderung nicht in den Vordergrund. Ich kann<br />
mich normal fühlen. Manchmal habe ich trotzdem<br />
den «Behindi-Bonus». Wenn ich mit den Fans der<br />
Südkurve nach dem Spiel an der Halltestelle auf<br />
den Bus warte, machen sie mir Platz, damit ich<br />
zuerst einsteigen kann, bevor sie sich in den Bus<br />
zwängen. Sie sind sehr hilfsbereit. Wenn mir ir-
24 <strong>Pause</strong> <strong>2015</strong> <strong>Pause</strong> <strong>2015</strong> 25<br />
gendwo Treppen in die Quere kommen, tragen sie<br />
Kopf. Wer ist in der Startaufstellung? Was wird<br />
mich. Bei den Feiern zu Meistertiteln oder Cupsiegen<br />
setzen sie sich ein, dass ich vorne dabei<br />
die Südkurve heute wohl singen? Welche Choreos<br />
haben sie vorbereitet? Welcher meiner Jungs wird<br />
Kurz und bündig<br />
sein kann. Manchmal darf ich auch bei der Choreographie<br />
mitreden. Sie finden es toll, dass ich<br />
mich so für Fussball interessiere. Leider darf ich<br />
im Letzigrund nicht bei der Kurve sitzen, weil es<br />
laut Polizei zu gefährlich ist. Man schiebt mich in<br />
den Familiensektor ab.<br />
Immer dabei<br />
ein Tor schiessen? Wie wird das Spiel ausgehen?<br />
Dabei werde ich nur noch nervöser und kann den<br />
Anpfiff kaum erwarten. Manchmal darf ich bei der<br />
Mannschaft auf der Bank sitzen. Ich bin trotz Rollstuhl<br />
überall dabei, ich war sogar in Madrid. Auch<br />
in München war es toll. Dort bin ich mit den Fans<br />
vom Bahnhof zum Stadion gegangen und habe<br />
Party gemacht. Wir sorgten für Stimmung und<br />
IRON CATS: SPORT AUF<br />
HÖCHSTEM NIVEAU<br />
llan – E-Hockey ist eine der wenigen Sportarten,<br />
die für E-Rollstuhlfahrer geeignet ist. Für<br />
viele Menschen mit Muskeldystrophie vom Typ<br />
DAS KLEINE<br />
SCHWARZE<br />
Von Loris Lang<br />
Ich mache im Moment eine schwierige Phase<br />
haben auf dem Marienplatz gesungen. Die Fans<br />
Duchenne stellt E-Hockey die einzige Möglichkeit<br />
durch und bin recht frustriert, weil meine Cere-<br />
haben mir mit dem ÖV geholfen. Auch der Cup-<br />
dar, einen Mannschaftssport auszuüben. Für die<br />
brale Lähmung immer schlimmer wird und ich<br />
Sieg 2014 war ein Erlebnis. Bei der Cup-Feier ha-<br />
Spieler ist dieser Sport ein Mittelpunkt im ihrem<br />
starke Schmerzen habe. Die Ärzte wissen nicht,<br />
ben sie mir Platz gemacht. Ich durfte ganz nach<br />
Leben. Die Sportart hat sich in den letzten Jahren<br />
woher die Schmerzen kommen. Das Spital ist<br />
vorne, damit ich alles sehen konnte. Die Mann-<br />
stark entwickelt. Es gibt sogar Europa- und Welt-<br />
mein zweites Zuhause. In dieser schwierigen Zeit<br />
schaft hat mir zugewinkt und dann haben wir alle<br />
meisterschaften. Unsere Iron Cats-Mannschaft<br />
helfen mir der Fussball und der FCZ sehr. Wenn<br />
mit der Mannschaft den Titel gefeiert. Ich war voll<br />
Zürich mischt auch international mit. Viele E-<br />
ich Fussball schaue, kann ich meine Schmerzen<br />
dabei.<br />
Rollstühle sind dafür jedoch ungeeignet. Um gut<br />
und meine Sorgen für 90 Minuten vergessen.<br />
Ich freue mich jede Woche aufs Neue, wenn ich<br />
Leidenschaft<br />
spielen zu können, benötigt man Sportrollstühle.<br />
Diese werden jedoch von der IV nicht finanziert.<br />
weiss, dass mein Verein am Wochenende spielt.<br />
Auf der Wohngruppe gibt es immer wieder Dis-<br />
Die hohen Kosten müssen zu grossen Teilen von<br />
Ich bin jedes Mal so aufgeregt wie ein kleines<br />
kussionen und Streit wegen meiner grossen Lei-<br />
den Spielern und ihren Familien übernommen<br />
Kind. Am Morgen vor dem Match stehe ich früh<br />
denschaft, dem Fussball. Bei mir fliessen auch<br />
werden. Daher braucht es auch Sponsoren, die<br />
auf und sitze nervös vor dem Kleiderschrank.<br />
mal die Tränen. Meine Zimmernachbarin interes-<br />
einen Beitrag leisten. Weitere Informationen fin-<br />
Ich überlege mir genau, was ich anziehen möch-<br />
siert sich leider nicht für Fussball. Manchmal flie-<br />
den Sie unter: www.iron-cats.ch.<br />
te. Manchmal ziehe ich mich fünfmal um, bis es<br />
gen die Fetzen! Wir mussten sogar Zimmerregeln<br />
passt. Mir gehen dabei tausend Sachen durch den<br />
einführen. Auch mit den Betreuern meiner Gruppe<br />
habe ich oft hitzige Diskussionen. Sie finden<br />
es nicht gut, wenn ich unter der Woche an einen<br />
Fussball-Match gehe. Sie haben das Gefühl, dass<br />
EIN ABENTEUERPARK<br />
FÜR ROLLSTUHLFAHRER<br />
Bei kaltem Wetter können E-Rollstuhlfahrer mit der Steuerung<br />
ihres Rollstuhls Probleme bekommen, weil die Hände<br />
vor Kälte steif werden. Dies führt so weit, dass manche<br />
es für mich gefährlich werden könnte oder ich mit<br />
apla – In Luzern wurde 2014 der Rodter Park er-<br />
die Kontrolle über den Rollstuhl verlieren oder nicht mehr<br />
PARTNERSCHAFT<br />
ZWISCHEN FCZ UND <strong>MEH</strong><br />
den falschen Leuten «abhänge»... Ich darf nur im<br />
Ausnahmefall später ins Bett gehen. Ich versuche<br />
immer, mich durchzusetzen – mit meinem Dickkopf<br />
oder meinem Charme. Verbieten mir die Be-<br />
öffnet – ein Natur- und Abenteuerpark für Kinder,<br />
Jugendliche und Erwachsene mit und ohne Behinderung.<br />
Die Initiative für diesen Park ergriff die<br />
Stiftung Rodtegg für Menschen mit körperlichen<br />
fah ren können. Zum Glück gibt es eine Handheizung für<br />
E-Rollstuhlfahrer. Diese kann direkt an die Stromversorgung<br />
des Rollstuhls angeschlossen werden. Sie produziert einen<br />
warmen Luftstrom, der die Hand warm halten soll.<br />
Jessica, die Autorin des oben stehenden Artikels, begann im Au-<br />
treuer oder die Gruppenleiterin an den FCZ-Match<br />
Behinderungen. Der neue Park ist barrierefrei und<br />
Tomislav verwendet die Handheizung regelmässig. Seiner<br />
gust <strong>2015</strong> ein einjähriges Praktikum beim FCZ. Sie freut sich sehr<br />
zu gehen, ist das für mich der Weltuntergang.<br />
soll als Ort der Begegnung für Menschen mit und<br />
Meinung nach könnte sie noch verbessert werden: «Wenn<br />
auf die neuen Aufgaben.<br />
Zwischen der Werkstätte des <strong>MEH</strong> und dem FCZ besteht bereits<br />
Mein grosser Traum<br />
ohne Behinderung dienen. Im Rodter Park kann<br />
man gemeinsam spielen und Spass haben. Es gibt<br />
man mit dem E-Rollstuhl schnell fährt, ist die Heizung<br />
überfordert, weil kalte Luft an die Hand kommt.» Auch bei<br />
eine Partnerschaft. Seit 2014 verkauft der FCZ im Fanshop créa-<br />
Ich träume davon, mit den Spielern ins Trainings-<br />
unter anderem eine Nestschaukel, Rampen, eine<br />
starkem Wind nütze sie nicht viel. Auch die Steuerung der<br />
tion handicap-Produkte aus der Werkstätte des <strong>MEH</strong>. Der Erlös<br />
lager zu gehen. Ich habe schon sehr viel mit der<br />
Hängebrücke und ein Planschbecken, welches auf<br />
Heizung ist laut Tomislav ein Kritikpunkt. «Wenn man die<br />
kommt zu 100% dem <strong>MEH</strong> zugute.<br />
Mannschaft erlebt, aber im Trainingslager war ich<br />
der einen Seite nur wenige Zentimeter tief ist,<br />
Heizstufen verstellen will, muss man das manuell an der<br />
noch nie. Ich würde die Spieler bei ihren schweiss-<br />
damit auch Rollstuhlfahrer selbstständig durch-<br />
Heizung machen. Die Heizung kann also nicht vom E-Roll-<br />
www.creation-handicap.ch<br />
treibenden Trainingseinheiten mental unterstüt-<br />
fahren können. Der Park ist etwa so gross wie<br />
stuhl aus gesteuert werden. Darum brauche ich jemanden,<br />
www.fcz.ch<br />
zen. Manchmal komme ich mit einem Lächeln und<br />
zehn Tennisfelder und wurde durch die Rodtegg<br />
der mir hilft. Es wäre gut, wenn man die Heizung mit der<br />
meinen grossen Augen weiter, vielleicht hilft es<br />
Stiftung und Spenden finanziert.<br />
E-Rollstuhl-Steuerung kontrollieren könnte, damit man die<br />
mir auch diesmal.<br />
•<br />
Heizstufen auch selbstständig verstellen kann.» Gerade hier<br />
sei noch grosser Entwicklungsbedarf nötig. Tomislavs Fazit:<br />
«Die Hand heizung ist für mich dennoch ein unverzichtbares<br />
Hilfsmittel in der kalten Jahreszeit.»<br />
•
26 <strong>Pause</strong> <strong>2015</strong> <strong>Pause</strong> <strong>2015</strong> 27<br />
Ruedi<br />
Zwei Pioniere schreiben Geschichte<br />
MATHILDES<br />
SÖHNE<br />
Ruedis Neben -<br />
beschäftigung<br />
Wer ist hier der Chef?<br />
Sie wissen, wie es in einer Welt ohne Computer war. Sie sahen<br />
Präsidenten kommen und gehen. Sie erlebten Katastrophen<br />
und neue Erfindungen. Nach über einem Vierteljahrhundert im<br />
Einsatz für das <strong>MEH</strong> verabschieden wir zwei treue Seelen in<br />
ihren wohlverdienten Ruhestand. Von Dave Inhelder<br />
Schon fast eine Ewigkeit her starteten zwei junge<br />
Männer ihre Karriere im <strong>MEH</strong>. Einige munkeln<br />
sogar, dass sie Mathilde noch persönlich kannten.<br />
Alles begann im Jahr 1985. In der Ukraine war<br />
gerade der Kernreaktor in Tschernobyl explodiert<br />
und Michael Jackson veröffentlichte sein Album<br />
Thriller, als Ueli Schären ein Praktikum als Ergotherapeut<br />
im <strong>MEH</strong> begann. Kam er noch mit der<br />
Kutsche zur Arbeit oder gab es schon Fahrräder?<br />
Fast gleichzeitig fand die Eröffnung der Ausbildungsabteilung<br />
statt. Diese wurde damals noch<br />
als Pilotprojekt bezeichnet, weshalb man die Teilnehmenden<br />
Piloten nannte. Ueli hatte zu jener<br />
Zeit einen braunen Lockenkopf. Die Suche nach<br />
Fotos verlief leider erfolglos. Vermutlich wurde<br />
das Beweismaterial verbrannt.<br />
den Übergang der Heimleitung als reibungslos<br />
erlebte, war der Wechsel für Ueli anspruchsvoll.<br />
«Man muss sich den Veränderungen stellen»,<br />
sagte er dazu. Als das <strong>MEH</strong> 1997 zustimmt, neben<br />
Duchenne auch Klienten mit anderen Körperbehinderungen<br />
aufzunehmen, werden in Deutschland<br />
gerade die Weichen für den Euro gestellt.<br />
Ruedi dachte schon damals: «Das klappt nicht.»<br />
Im selben Jahr zog das <strong>MEH</strong> ins Kasernenareal<br />
um und Ueli bekam für die Ergotherapie endlich<br />
einen angemessenen Raum. Der Weg dahin<br />
war allerdings abwechslungsreich, man traf auf<br />
Hundekot und auf gebrauchte Spritzen. Auch die<br />
Technik machte Fortschritte. 1997 benutzte der<br />
erste Bewohner im <strong>MEH</strong> ein Atemhilfsgerät. In<br />
Japan erschien der Game Boy.<br />
Boxenstopp beim<br />
hauseigenen Pannendienst<br />
Der grosse Charmeur...<br />
War damit der Erste:<br />
Uelis iPod.<br />
Frank Zappa?<br />
Uelis Spielzeug!<br />
Immer ganz für die<br />
Klienten da...<br />
Der vielseitig<br />
talentierte «Professor»<br />
Ueli<br />
Hasen, Hühner und ein Mac<br />
Im Jahr 1990, als sich das <strong>MEH</strong> gerade auf Muskeldystrophie<br />
vom Typ Duchenne spezialisiert hatte,<br />
nahm Ruedi Hons seine Arbeit beim technischen<br />
Dienst auf. Erst 25 Jahre später wird Ruedi mit<br />
seiner Pensionierung in die Freiheit entlassen. Er<br />
musste fast ebenso lange darauf «verzichten»<br />
wie Nelson Mandela, der im Jahr von Ruedis Stellenantritt<br />
9078 km von Zürich entfernt nach 28<br />
Jahren Haft freigelassen wurde. Ruedi hatte zu<br />
Beginn weder eine Werkstätte noch ausreichend<br />
Werkzeug. Er musste sich sogar sein Büro selbst<br />
suchen und einrichten. Seither wechselte er fünfmal<br />
sein Büro. In den ersten Jahren machte er<br />
viel Gartenarbeit, eine Weile kam er sich vor wie<br />
ein Landwirt. Er setzte Obstbäume, fütterte die<br />
Hasen und die Hühner im <strong>MEH</strong>.<br />
Auch für Ueli sollte 1990 ein prägendes Jahr werden.<br />
Er musste einem Klienten den ersten Mac im<br />
<strong>MEH</strong> einrichten, damit er selbstständig arbeiten<br />
konnte. Etwa ein Jahr später verstarb der Klient<br />
und niemand wusste, was man mit dem Mac anfangen<br />
sollte. Das war der Moment, als Ueli beschloss,<br />
sich bezüglich Computer weiterzubilden.<br />
Das <strong>MEH</strong> profitiert bis heute davon.<br />
Abwechslung<br />
Im August 1996 übernahm Jürg Roffler die Leitung<br />
des <strong>MEH</strong>. Nach 18 Jahren in seinem Amt als<br />
Heimleiter erzählte er mir, dass Ueli und Ruedi<br />
sehr korrekte Menschen seien. Während Ruedi<br />
Informationswege<br />
Das <strong>MEH</strong> kam in Mode. Viele wollten einziehen<br />
und ab 2001 gab es eine Warteliste für den Wohnbereich.<br />
Im gleichen Jahr geschah 6323 km entfernt<br />
etwas ganz Schlimmes. Beim Anschlag auf<br />
das World Trade Center starben 2994 Menschen.<br />
Wie viele im <strong>MEH</strong> erfuhr auch Ueli von der Physio,<br />
was in New York geschehen war. Im Bereich<br />
Technik hingegen war es Ueli, der das <strong>MEH</strong> stets<br />
zuverlässig über Innovationen informierte. Eine<br />
davon war der iPod, der einen Monat nach dem<br />
Anschlag von Steve Jobs vorgestellt wurde. Ruedi<br />
beschäftigte sich damals noch nicht mit dem iPod,<br />
sondern mit seinem ersten Handy.<br />
Danke<br />
Mit schönen Erinnerungen blicken wir zurück und<br />
sagen Danke. Ueli, der du auch schon als zerstreuter<br />
Professor wahrgenommen wurdest. Du<br />
warst deinen Prinzipien treu und standhaft; auch<br />
wenn du Gegenwehr bekamst, hast du dich immer<br />
für die Interessen von uns Klienten eingesetzt.<br />
Ruedi, du warst immer der Dreh- und Angelpunkt<br />
des <strong>MEH</strong>, man konnte dich immer um<br />
etwas bitten und du versuchtest stets zu helfen.<br />
Nach dem Motto: «Wenn Sie einen Platten haben,<br />
rufen Sie einfach unseren hauseigenen Pannendienst<br />
an.» Tag und Nacht standest du uns immer<br />
zur Verfügung. Getreu deiner Devise: «Wenn du<br />
etwas in Angriff nimmst, lass dir genug Zeit und<br />
mach es ordentlich.»<br />
•
<strong>Pause</strong> <strong>2015</strong> 29<br />
Josef Müller im Interview<br />
FILMREIF<br />
Seit einem tragischen Autounfall ist Josef Müller querschnittsgelähmt.<br />
Doch er liess sich nicht bremsen und schaffte es in<br />
die Kreise der Schönen und Reichen. Dann kam der Absturz. Er<br />
verspekulierte Geld seiner Mandanten, unter anderem der Mafia.<br />
Im Gefängnis wurde ihm klar, dass Reichtum nicht alles ist.<br />
Von Rahel Ebneter<br />
Was, denken Sie, wäre anders gewesen,<br />
wenn Sie nicht im Rollstuhl sitzen<br />
würden?<br />
Das kann ich nicht beantworten. Was wäre, wenn<br />
ich keinen Unfall gehabt hätte? Was wäre, wenn<br />
du nicht mit deiner Behinderung auf die Welt gekommen<br />
wärst? Wir wissen es nicht. Ohne Rollstuhl<br />
hätte ich sicher weniger Abenteuer und Erlebnisse<br />
gehabt.<br />
Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie<br />
andere Leute um ihr Geld brachten?<br />
Ich habe nicht absichtlich jemanden betrogen und<br />
nie eine Bank überfallen. Ich habe es billigend<br />
in Kauf genommen! Als mir bewusst wurde, wie<br />
schlimm dies war, habe ich mich bei der Staatsanwaltschaft<br />
selbst angezeigt, um für meine Schulden<br />
geradezustehen. Es ist mir wichtig, mich nicht<br />
nur zu entschuldigen, sondern den Schaden soweit<br />
wie möglich wieder gutzumachen. Darum trete<br />
ich die Autorenhonorare meines Buches an die<br />
Gläubiger ab.<br />
Sie hatten Bargeld im grossen Stil<br />
geschmuggelt. War das nicht heikel?<br />
Klar hatte ich Angst, die Koffer könnten abhandenkommen.<br />
Ich war dafür nicht geeignet, weil<br />
ich viel zu nervös war! Ich bin immer mit vier<br />
Millionen gereist, in jeden Koffer ging eine Million.<br />
Mit den vier Koffern bin ich immer von Miami nach<br />
München gereist. Früher gab es kein Geldwäschereigesetz,<br />
weshalb ich damals keine Gesetze gebrochen<br />
habe.<br />
Wovor hatten Sie am meisten Angst?<br />
Angst hatte ich, als sich herausstellte, dass ich<br />
40 Millionen US Dollar an der Börse verzockt hatte,<br />
und herausfand, dass ich diese 40 Millionen<br />
nicht einer Person schulde, sondern einem Drogen-<br />
und Waffenkartell. Ich versuchte, es ihnen in<br />
Ruhe beizubringen. Sie haben mir mit dem Tode<br />
gedroht. Ich hatte wirklich Angst um mein Leben.<br />
Als alles aufflog, mussten Sie vor dem<br />
FBI flüchten? Geht das im Rollstuhl<br />
überhaupt?<br />
Ja, freilich geht‘s! Es ist für Menschen unvorstellbar.<br />
Fliehen heisst nicht, jemand rennt mir nach.<br />
Ich bin von Deutschland über Wien nach London<br />
und New York geflogen und von dort bis Miami<br />
gefahren. Das FBI und damals das bayerische<br />
Landeskriminalamt wussten nicht, wo ich war. Ich<br />
hatte Angst, dass sie nach mir fahnden. Ich konnte<br />
das Land verlassen, in England und in die USA<br />
einreisen und mich dort verstecken, um meine<br />
Unschuld zu beweisen. Dies ist mir gelungen.<br />
Sie haben sich dann gestellt und sind<br />
ins Gefängnis gekommen. Wie hat Ihre<br />
Gefängniszelle ausgesehen?<br />
Es gab damals in Wien keine behindertengerechte<br />
Zelle. Es war schwierig, auf die Toilette zu gehen.<br />
Duschen war einfacher. Ich wurde nach München<br />
Stadelheim verlegt, welches auch nicht behindertengerecht<br />
war. Ich war der erste Querschnittsgelähmte<br />
in ganz Bayern, der im Gefängnis war.<br />
Sie waren nicht darauf vorbereitet. Es wurde eine
30 <strong>Pause</strong> <strong>2015</strong> <strong>Pause</strong> <strong>2015</strong> 31<br />
Vernissage<br />
Zelle für mich gebaut. Die Zelle war so klein, dass<br />
ich mich im Handrollstuhl kaum umdrehen konnte.<br />
Mit dem Rollstuhl in einer Gefängniszelle ist es<br />
noch extremer als ohne.<br />
Wie lange sassen Sie?<br />
Sitzen tue ich schon seit 41 Jahren, aber im Gefängnis<br />
war ich fünf Jahre und vier Monate!<br />
Wie war die Zeit für Sie im Gefängnis?<br />
Wenn man im Gefängnis sitzt, bekommt man normalerweise<br />
eine Arbeit zugeteilt. Bei mir war das<br />
nicht möglich, weil die Werkstatt nicht behindertengerecht<br />
war. Deshalb habe ich ein Theologie-<br />
Fernstudium absolviert. Es war in gewisser Weise<br />
die schönste Zeit meines Lebens. Ich hatte viel<br />
Zeit ohne Verpflichtungen. Ich hatte drei Schreibtische,<br />
einen Flatscreen-Fernseher, eine Kaffeemaschine,<br />
einen Computer, ein höhenverstellbares<br />
Bett. Mir ging‘s relativ gut. Ich war nicht in<br />
einer Zelle, sondern in einem Haftraum.<br />
Wie haben die anderen Häftlinge<br />
auf Sie reagiert?<br />
Es war natürlich so, wie wenn ich ein Mensch von<br />
einem anderen Stern wäre. Eine Behinderung ist<br />
im Gefängnis sehr ungewöhnlich. Ich habe mich<br />
verhalten wie sonst auch. Die anderen waren offen<br />
und sehr hilfsbereit, aber es war sehr ungewöhnlich.<br />
Also es war nicht so, dass Sie<br />
ausgegrenzt wurden?<br />
Nein, überhaupt nicht, ich hätte mich überall eingeklinkt.<br />
In Josef Müllers Leben gab‘s nie Ausgrenzung.<br />
OPTISCHE TÄUSCHUNG<br />
Von Francesco Tunzi<br />
Armer Behinderter.<br />
Denkst du, der versteht<br />
überhaupt, was<br />
er da sieht?<br />
Wow, cooles<br />
Bild!<br />
Vielleicht hat ihn<br />
jemand hier vergessen?<br />
Gefällt mir auch. Ich habe<br />
eine Handtasche mit einem<br />
ähnlichem Muster.<br />
Dann sollten wir<br />
das dem Fundbüro<br />
melden.<br />
VOM FBI GEJAGT,<br />
VON GOTT BEKEHRT<br />
Josef Müller wuchs in Deutschland<br />
in einer bürgerlichen Familie auf.<br />
Sein Vater war Kriminalbeamter. Mit<br />
17 Jahren hatte er einen schweren<br />
Autounfall und ist seitdem querschnittsgelähmt.<br />
Er machte dennoch<br />
den Pilotenschein und wagte<br />
den Sprung in die Tiefe beim Bungee<br />
Jumping. Er wurde erfolgreicher<br />
Steuerberater und umgab sich mit<br />
Luxus. Nach dem Aufstieg kam der<br />
Fall. Er landete im Gefängnis. Dort<br />
studierte er Theologie und fand den<br />
Weg zu Gott.<br />
Das erste Mal habe ich Josef Müller<br />
in einer Fernsehsendung gesehen.<br />
Seine Geschichte faszinierte mich.<br />
Ich habe ihm eine E-Mail geschrieben<br />
und ihn gefragt, ob ich ihn interviewen<br />
könnte. Bereits fünf Tage<br />
später trafen wir uns in einem Zürcher<br />
Hotel zum Interview.<br />
Wenn Sie Theologie studiert haben,<br />
welche Bedeutung hat dann Gott<br />
in Ihrem Leben?<br />
Früher gar keine, weil du mit viel Geld dein eigener<br />
Gott bist! Ich dachte, ich muss mich selber<br />
lieben, damit mich wenigstens einer liebt. Jetzt<br />
habe ich erfahren, dass Gott mich liebt. Es gibt<br />
nichts Schöneres, als immer von jemandem geliebt<br />
zu werden, auch wenn ich ihn nicht sehen<br />
kann. Trotzdem weiss ich, er ist da. Viele Leute<br />
suchen Liebe, wie ich damals, in Sex, Drogen,<br />
Alkohol, Ehre und Luxus, wo ich sie nicht gefunden<br />
habe. Umso mehr ich besass, umso leerer<br />
wurde es in mir. Diese Lücke konnte ich mit nichts<br />
füllen.<br />
In welcher Situation fällt es Ihnen<br />
schwer, mit dem Rollstuhl umzugehen?<br />
Ich fahre alleine Auto und warte dann auf jemanden,<br />
der mir den Rollstuhl aus dem Kofferraum<br />
hebt. Es fällt mir schwer, da ich ein ziemlich<br />
ungeduldiger Mensch bin und alles sofort erledigt<br />
werden muss. Wartezeit ist das Schlimmste!<br />
Was wollten Sie schon immer einmal<br />
gefragt werden?<br />
Ich bin schon alles gefragt worden, (grins) schamlos<br />
in jeder Weise. Aber ich habe auch kein Problem<br />
damit. Wie es mir gesundheitlich geht, ist eine<br />
selten gestellte Frage. Das finde ich schade. •<br />
Wahrscheinlich nicht.<br />
Kurz darauf<br />
Hey...Ciao<br />
Francesco!<br />
Schön, dich an<br />
meiner Vernissage<br />
zu sehen.<br />
?<br />
?<br />
Genau! Das Phänomen rückt<br />
konzeptuell in die Nähe des<br />
Trompe-l’œil im Barock, mit<br />
arkadischen Aussichten …<br />
Meinst du?<br />
Und, wie gefällt<br />
dir mein<br />
neues Bild?<br />
Sehr, Sandro! Wie immer,<br />
ein grosser Wurf.<br />
Ja, klar! Das Spiel<br />
mit den Illusionen.<br />
Ich hab mich<br />
vom Dazzle-Stil<br />
inspirieren lassen.<br />
Das habe ich vermutet.<br />
Wusstest du, dass der<br />
Stil dem analytischen<br />
Kubismus entlehnt ist?<br />
Äh …<br />
Ha, ha!<br />
Verstehst du das?