solitaire factory - Museum der immateriellen Werte
Kunstprojekt seit 1992
Kunstprojekt seit 1992
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Carsten Busse<br />
<strong>solitaire</strong> <strong>factory</strong> <strong>Museum</strong> <strong>der</strong> <strong>immateriellen</strong> <strong>Werte</strong>
<strong>solitaire</strong> <strong>factory</strong> (Carsten Busse, Fritz Selbmann, Thomas Wauer)<br />
Im Mai 1992 begann <strong>solitaire</strong> <strong>factory</strong> die Werkgruppe „<strong>Museum</strong> <strong>der</strong> <strong>immateriellen</strong> <strong>Werte</strong>“.<br />
Gerade in ihrer Frühphase war die Arbeit an diesem Werkkomplex ein wichtiger Indikator für die Stilfindung<br />
und Selbstdefinition <strong>der</strong> Künstlergruppe.<br />
Carsten Busse (Hsg.)<br />
edition zeitfäule 2019
<strong>solitaire</strong> <strong>factory</strong><br />
<strong>Museum</strong> <strong>der</strong> <strong>immateriellen</strong> <strong>Werte</strong><br />
Proletarische Kunst im Kontext<br />
<strong>der</strong> postmo<strong>der</strong>nen Dienstleistungsgesellschaft
Die 1991 von Carsten Busse (*1965) und Thomas Wauer<br />
(*1965) gegründete Leipziger Künstlergruppe ist eines <strong>der</strong><br />
interessantesten und innovativsten Teams innerhalb <strong>der</strong><br />
sächsischen Kunstszene. Sein Hauptarbeitsmerkmal ist<br />
eine inhaltliche Multimedialität, die sich nicht auf einen<br />
effektvollen Einsatz verschiedener Techniken beschränkt,<br />
son<strong>der</strong>n, und dies scheint im Licht <strong>der</strong> Erfahrung <strong>der</strong> documenta<br />
X beson<strong>der</strong>s wichtig, über die künstlerischen Möglichkeiten<br />
zentrale soziale Themen aufgreift. Kunst ist für <strong>solitaire</strong><br />
FACTORY Einmischung. Das Team vessucht mit Malerei,<br />
Grafik, Collage, Video, Installation, Inszenierung, Aktionen<br />
etc. den schwerer gewordenen Diskurs gesellschaftlicher<br />
Belange wie<strong>der</strong> in Gang zu setzen. Dafür nutzen sie das gesamte<br />
Repertoire <strong>der</strong> heute auf uns einstürzenden Dingwelt,<br />
Ideologien und Wertgeflechte und vernetzen es gekonnt mit<br />
historischen Erfahrungen. Themenfel<strong>der</strong>, die bisher eine<br />
wichtige Rolle spielten, können etwa so umrissen werden:<br />
Revolutionstheorien, Stalinismus, die sich verän<strong>der</strong>nde Arbeitswelt,<br />
sich verän<strong>der</strong>nde Sozialstrukturen, Rechtsradikalismus,<br />
<strong>Werte</strong>verfall, Zukunftsvisionen, Konsumverhalten,<br />
Kommunikationstechniken, Kommunikationspervertierung,<br />
Kommunikationsverfall, Kultur <strong>der</strong> Werbung und ihre Folgen,<br />
Geschichtsdarstellung und -verfälschung.<br />
Was in dieser Aufzählung wie die Inhalte eines soziologischen<br />
Seminars klingt, gibt freilich nur die inhaltliche Unterschicht<br />
<strong>der</strong> Arbeiten wie<strong>der</strong>. Die künstlerische Eigenart besteht in<br />
einer durchaus ungewöhnlichen, zutiefst ironischen Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
und einer uns scheinbar geläufigen und daher<br />
zu schnell im Munde geführten Begriffswelt. Die eingesetzten<br />
Bild- und Begriffsstrukturen werden durch überraschende<br />
und verfremdende Kombinationen so zusammengefügt,<br />
dass breite Irritationsfel<strong>der</strong> entstehen. Ihr Gesamtkonzept,<br />
von ihnen selbst als „<strong>Museum</strong> <strong>der</strong> <strong>immateriellen</strong> <strong>Werte</strong>“ bezeichnet,<br />
gründet nicht etwa in <strong>der</strong> Ablehnung einer sich<br />
entwickelnden Welt, son<strong>der</strong>n in einer produktiven, wohl aber<br />
kritischen Begleitung dieser Entwicklung. Ein wichtiger Punkt<br />
kommt schließlich hinzu – <strong>solitaire</strong> FACTORY verlässt mit ihren<br />
Arbeiten die vielfach noch gepflegte lokale Nabelschau<br />
und bezieht globale Aspekte in die Arbeit ein. Ihr Thema ist<br />
letztlich die postindustrielle Gesellschaft, die gerade noch<br />
in <strong>der</strong> Vergangenheit ankert, aber schon neue Wertsysteme<br />
sucht. Auf diesem Weg dürften die frischen, respektlosen,<br />
kuriosen, immer aber ernsthaft gedachten Interventionen<br />
von <strong>solitaire</strong> FACTORY eine glückliche Hilfe für Positionsbestimmungen<br />
sein.<br />
Dr. phil. habil. Peter Guth, 1998
MUSEUM DER IMMATERIELLEN WERTE<br />
Im Mai 1992 hatte <strong>solitaire</strong> <strong>factory</strong> die Möglichkeit, im Rahmen <strong>der</strong> <strong>Museum</strong>stage eine Aktion im <strong>Museum</strong> <strong>der</strong> bildenden Künste in<br />
Leipzig zu iszenieren. Diese Aktion, die wir mit Bezugnahme auf den Ort „<strong>Museum</strong> <strong>der</strong> <strong>immateriellen</strong> <strong>Werte</strong>“ nannten, bildete den<br />
Ausgangspunkt für eine ganze Reihe von Aktivitäten zum Thema <strong>Museum</strong>. Der Titel wurde schnell zum Begriff für eine ganze Werkgruppe,<br />
welche von 1992 bis 1994 die Arbeit <strong>der</strong> Gruppe bestimmte und auch später gelegentlich weitergeführt wurde.<br />
Gerade für die Anfangszeit von <strong>solitaire</strong> <strong>factory</strong> war das „<strong>Museum</strong> <strong>der</strong> <strong>immateriellen</strong> <strong>Werte</strong>“ bedeutsam für die Stilfindung und<br />
Selbstdefinition <strong>der</strong> Künstlergruppe. Denn ausgehend von den Medien Fotografie/Malerei/Installation fand die Arbeit ihre für die<br />
Zukunft entscheidende Hinwendung zur Nutzung des öffentlichen Raumes und zur Einbeziehung des Publikums. Der bewusst<br />
temporäre Charakter vieler <strong>solitaire</strong>-<strong>factory</strong>-Arbeiten sowie die inhaltliche Bezogenheit auf aktuelle Themen hatten in diesem<br />
Werkkomplex ihre Wurzeln. Der Erfolg <strong>der</strong> Aktionen (gemessen an <strong>der</strong> Bereitschaft des Publikums sich aktiv zu beteiligen) führte<br />
dazu, dass die Gruppe – von Ausnahmen wie <strong>der</strong> Gemäldeserie „Bil<strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Wissenschaft“ (ab 1992) o<strong>der</strong> dem Projekt „N.E.W.S.“<br />
(ab 1995) – die Produktion von Kunstwerken im klassischen Sinne eher nebenbei betrieb, gewissermaßen als Illustration für die<br />
zahlreichen miteinan<strong>der</strong> korrespondierenden Einzelaktionen. Diese wie<strong>der</strong>um, erweitert um temporäre Installationen und einige<br />
Performances, bildeten den Grundstock für das Baukastensystem, mit dem <strong>solitaire</strong> <strong>factory</strong> an ihrem sich permanent verän<strong>der</strong>nden<br />
Gesamtwerk arbeitete.<br />
Zu Anfang handelte es sich dabei vorrangig um eine Reihe von Fragebogenaktionen, welche sich mit Begriffen <strong>der</strong> Ethik und des<br />
Alltags befassten und mittels Verwendung inszenierter Fotografien sowie dem Einsatz von readymades unterstützt wurden. Die<br />
Fragen bezogen sich einerseits auf den Umgang im Allgemeinen und an<strong>der</strong>erseits auf gesellschaftliche bzw. persönliche Befindlichkeiten.
Die Fragebögen selbst boten keinerlei Lösungen; Punktevergabe und pseudowissenschaftliche Auswertungen waren vollkommen<br />
willkürlich und hatten einzig den Sinn, die teilweise recht humorvollen Fragen mit <strong>der</strong> scheinbaren Ernsthaftigkeit einer seriösen<br />
demoskopischen Erhebung zu kombinieren. Dies führte dazu, dass die beteiligten Person sich sehr intensiv mit den angebotenen<br />
Begriffen auseinan<strong>der</strong>zusetzen. Eben diesen Prozess zu forcieren, sah <strong>solitaire</strong> <strong>factory</strong> in diesem Zusammenhang als das<br />
eigentliche Kunstwerk an. Sowohl die Fragebögen als auch die illustrierenden Fotografien und Objekte bildeten die Kulisse für den<br />
tatsächlichen künstlerischen Prozess, welcher sich letztlich in den Köpfen o<strong>der</strong> den Herzen <strong>der</strong> Beteiligten abspielte.<br />
Der Arbeit mit dem Mittel <strong>der</strong> Befragung kam zugute, dass die Bereitschaft, sich an <strong>der</strong>artigen Aktionen zu beteiligen, kurz nach<br />
<strong>der</strong> Vereinigung <strong>der</strong> beiden deutschen Staaten gerade im Osten Deutschlands noch sehr hoch war. Die Möglichkeit, seine eigene<br />
Meinung sagen zu können, war nach dem Zusammenbruch <strong>der</strong> DDR eine neue und interessante Erfahrung. Fragebögen boten in<br />
dieser Zeit die Illusion einer Partizipation an gesellschaftlichen Entwicklungen. Die Erkenntnis, dass die Umfragen <strong>der</strong> diversen<br />
Markt- und Meinungsforschungsinstitute nur darauf abzielten, die Ansichten <strong>der</strong> Menschen für die Analyse neuer Absatzmärkte<br />
bzw. für parteipolitische Interessen zu nutzen, ließ jedoch nicht lange auf sich warten. Spätestens Mitte <strong>der</strong> 90er Jahre wurden<br />
Fragebogenaktionen mit großem Misstrauen betrachtet und in <strong>der</strong> Regel gemieden.<br />
Der dadaistische Ansatz dieser frühen <strong>solitaire</strong>-<strong>factory</strong>-Projekte und die Präsenz <strong>der</strong> Künstler vor Ort als Ansprech- und Diskussionspartner<br />
sorgten jedoch bei allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern stets für eine entspannte Atmosphäre. Die Gespräche, die<br />
sich während <strong>der</strong> Befragungen zwischen den Beteiligten entwickelten, waren für die Künstlergruppe <strong>der</strong> wichtigste Teil <strong>der</strong> Aktionen.<br />
Das eigentliche Ausfüllen <strong>der</strong> Fragebögen, welche ohnehin kaum eine sinnvolle Auswertung zuließen, war in diesem Kontext<br />
nur <strong>der</strong> Einstieg in einen Diskurs zu verschiedenen Themen.<br />
Insofern war das „<strong>Museum</strong> <strong>der</strong> <strong>immateriellen</strong> <strong>Werte</strong>“ in <strong>der</strong> Regel selbst ein immaterielles Kunstwerk, das nur während <strong>der</strong> Dauer<br />
<strong>der</strong> Aktionen exisiterte.
Die wichtigsten Aktionen waren die Befragungen im <strong>Museum</strong> <strong>der</strong> Bildenden Künste Leipzig (Mai 1992), im Stadtgeschichtlichen<br />
<strong>Museum</strong> Leipzig anlässlich des Kolloquiums „Räume für Kunst – Europäische <strong>Museum</strong>sarchitektur <strong>der</strong> neunziger Jahre (September<br />
1992), im Opernhaus anlässlich eines Präsentationstages Leipziger Vereine (Dezember 1992), vor <strong>der</strong> Moritzbastei in Leipzig (1993),<br />
in Leipzig Connewitz anlässlich <strong>der</strong> Aktionstage „Soziale Plastik Connewitz“ <strong>der</strong> Gruppe KunstCOOP (April 1993), am „Büro für Kunst“<br />
in Bielefeld (November 1993) und während des Ausstellungsprojekts „Verborgene Orte“ <strong>der</strong> Montag Stiftung für Kunst im Brückenturm<br />
<strong>der</strong> ehemaligen Ludendorff-Brücke in Erpel am Rhein (1999).<br />
Weiterhin zählen diverse Ausstellungen und Performances vor allem in Leipzig und Köln zum „<strong>Museum</strong> <strong>der</strong> <strong>immateriellen</strong> <strong>Werte</strong>“,<br />
ohne dass darauf immer speziell verwiesen wurde. Beispiele wären die Beteiliguung am Kunstfestival „Übergriff“ (Werk II, Leipzig,<br />
1992), die Ausstellung „Bil<strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Wissenschaft“ (Galerie Fiedler, Leipzig, 1993) sowie die peudowissenschaftlichen Dia-Ton-Vorträge<br />
„Bildung, Frost und Wissenschaft“ (Ring Galerie, Leipzig, 1992 und „Bildung – Wissenschaft – Gesundheit“ (Dogehaus Galerie,<br />
Leipzig, 1993).<br />
Carsten Busse, 1999/2018
Abgrenzung
Aggressivität
Dynamik
Ehrfurcht
Einsamkeit
Einsicht
Eitelkeit
Erleuchtung
Freiheit
Freundschaft
Geborgenheit
Gesundheit
Glück
Liebe
Pünktlichkeit
Selbstzucht
Stärke
Sturheit
Wissenschaft
<strong>Museum</strong> <strong>der</strong> bildenden Künste, Leipzig, 1992<br />
„<strong>Museum</strong> <strong>der</strong> <strong>immateriellen</strong> <strong>Werte</strong>“
Offizielle Auswertung <strong>der</strong> Aktion „<strong>Museum</strong> <strong>der</strong> <strong>immateriellen</strong> <strong>Werte</strong>“<br />
<strong>Museum</strong> <strong>der</strong> bildenden Künste, Leipzig, 24. Mai 1992<br />
Eingesetztes Material:<br />
- sechs beschriftete Tafeln mit inszenierten Fotos: „Ehrfurcht“, „Sturheit“, „Wissenschaft“, „Dummheit“, „Freiheit“, „Dynamik“<br />
-sechs Objekte (alle ohne Titel): Objekt 1: breitgetretene verrostete Bierdose auf Holzbrett, Objekt 2: medizinisches Holzmodell<br />
eines Fußes, Objekt 3: Holzschachtel mit Schiebedeckel mit Keramiktier (sehr hässlich), Objekt 4: medizinisches Holzmodell eines<br />
Fußes, Objekt 5: Statue „Kaiser Maximilian“ (ca. 3 m hoch, Bronze), Objekt 6: „Fundstück“ von Steffen Balmer (Holz, Metall)<br />
- Fragebögen, Auswertungsbögen mir drei verschiedenen Auswertungsstufen<br />
Sinn und Zweck <strong>der</strong> Aktion:<br />
Die Aktion bezog sich direkt auf das <strong>Museum</strong> <strong>der</strong> bildenden Künste im allgemeinen und auf den <strong>Museum</strong>stag im beson<strong>der</strong>en. Die<br />
bekanntermaßen etwas konzeptionslose Sammlungs- und Ausstellungspolitik des <strong>Museum</strong>s, also <strong>der</strong> Anhäufung „materieller <strong>Werte</strong>“<br />
sollte eine satirische Sammlung „immaterieller <strong>Werte</strong>“ entgegengesetzt werden, auf die das Publukum mittels <strong>der</strong> Fragebogenaktion<br />
reagieren musste, um die Zusammenhänge <strong>der</strong> ausgestellten Tafeln und Objekte überhaupt ergründen zu können. Ziel war,<br />
die BesucherInnen dazu zu bewegen, gedankliche Brücken zwischen verschiedenen Exponaten zu schlagen, die scheinbar nichts<br />
miteinan<strong>der</strong> zu tun haben. Die Fragebogenaktion selbst war dafür nur ein unterhaltsames Alibi.<br />
Verlauf <strong>der</strong> Aktion:<br />
Die Aktion begann 9.30 Uhr und dauerte bis 16.30 Uhr. Es nahmen etwa 150 BesucherInnen teil. Das war weit mehr als erwartet.<br />
Auffallend war, dass sie die Befragung sehr ernst nahmen, trotz <strong>der</strong> offensichtlich unernsten Fragestellungen. Die Befragung war so<br />
angelegt, dass die TeilnehmerInnen etwa 20 Minuten beschäftigt waren, obwohl nur zwölf Exponate zur Verfügung standen. Obwohl<br />
die Punktzahl für die angekreuzten Antworten willkürlich festgelegt war, wurde schnell ein Trend zu niedrigen Punkten deutlich,<br />
was für die Aktion selbst jedoch unwesentlich war.<br />
...<br />
Eine große Anzahl BesucherInnen versuchte nach o<strong>der</strong> bereits während <strong>der</strong> Aktion mit uns ins Gespräch zu kommen; lei<strong>der</strong> hatten<br />
wir keine Möglichkeit, diese Gespräche auf Tonband zu dokumentieren.<br />
Carsten Busse, Thomas Wauer, 1992
Oper Leipzig, 1992: „Vereinstest“<br />
Moritzbastei Leipzig, 1992:<br />
„Progressive Tradition o<strong>der</strong> traditionelle Progressivität“
Connewitzer Kreuz, Leipzig, 1992<br />
Büro für Kunst, Bielefeld, 1993: „Worauf warten Sie?“
Ring Galerie, Leipzig, 1992<br />
„Bildung, Frost und Wissenschaft“<br />
Dogenhaus Galerie, Leipzig, 1993<br />
„Bildung, Wissenschaft, Gesundheit“<br />
Aktion für zwei Dia-Projektoren mit antiquierten Illustrationen aus Lexika und Enzyklopädien sowie 70er-Jahre-Urlaubsdias,<br />
welche die Schönheiten <strong>der</strong> Natur und des Landlebens dokumentierten (Blumen, Blüten, Schafe, Ziegen, Gänse u.a.) sowie einem<br />
Tonbandvortrag mit einem populärwissenschaftlichen Text zum Thema Darmverstopfung.
Brückenturm <strong>der</strong> ehemaligen Ludendorff-Brücke (auch bekannt als „Brücke von Remagen“)<br />
Beteiligung am Ausstellungsprojekt „Verborgene Orte“ <strong>der</strong> Montag Stiftung für Kunst, Erpel am Rhein, 1999<br />
„Der Rote Stern“<br />
Die Fragebogenaktion in Erpel bezog sich direkt auf unsere Installation „Der Rote Stern“ und unterschied sich bereits stark von<br />
früheren Befragungen. Für die Ausstellung in Erpel, gelegen am östlichen Ufer des Rheins, ließen wir im Vorfeld Gratispostkarten in<br />
verschiedenen Orten am Rhein verteilen, auf welcher nach <strong>der</strong> Bekanntheit eines Adenauer-Zitats gefragt wurde. Einer Anekdote<br />
nach hatte <strong>der</strong> spätere Bundeskanzler beim Überqueren <strong>der</strong> Deutzer Brücke in Köln die Vorhänge seines Eisenbahnabteils mit <strong>der</strong><br />
Bemerkung zugezogen, in Köln Deutz – also am östlichen Ufer des Rheins – fänge <strong>der</strong> Bolschewismus an. Für Rheinlän<strong>der</strong> ist die<br />
östliche Rheinseite im volkstümlichen Sprachgebrauch die „schäl Sick“, also die „schlechte Seite“.<br />
Die Ludendorffbrücke war <strong>der</strong> erste Rheinübergang <strong>der</strong> US-Army im Zweiten Weltkrieg. Alle Versuche <strong>der</strong> Wehrmacht, die Brücke<br />
vor dem Anrücken <strong>der</strong> Amerikaner zu sprengen waren fehlgeschlagen. Den amerikanischen Soldaten gelang die Einnahme <strong>der</strong><br />
strategisch wichtigen Eisenbahnbrücke, welche jedoch nach kurzer Zeit aufgrund ihrer Beschädigungen durch Sprengversuche und<br />
Bombardierung zusammenbrach. Nach dem Krieg wurde dieses Ereignis von Hollywood verfilmt; die Brücke und die Stadt Remagen<br />
am Westufer des Rheins wurden durch den Film „Das Wun<strong>der</strong> von Remagen“ mit Yul Brunner weltberühmt. Tatsächlich hatte<br />
die Bevölkerung <strong>der</strong> auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite des Rheins gelegenen Gemeinde Erpel deutlich mehr Opfer zu beklagen, wurde aber in<br />
<strong>der</strong> Geschichtsschreibung weitgehend vergessen.
oben:<br />
Motiv <strong>der</strong> im Rheinland verteilten Gratispostkarten unter Verwendung<br />
eines Fotos einer DDR-Märchen-Schallplattenhülle<br />
unten:<br />
Blick von Erpel über den Rhein, am westlichen Rheinufer wehen<br />
auf den Brückentürmen, in welchenein Friedensmuseum besichtigt<br />
werden kann, die deutsche und die US-amerikanische Fahne<br />
Unser Konzept sah vor, den Adenauer-Ausspruch wörtlich zu nehmen.<br />
Auf einen <strong>der</strong> noch erhaltenen Brückentürme installierten wir<br />
für die sechs Wochen währende Ausstellung einen roten Stern mit<br />
einem Durchmesser von fünf Metern, welcher für großen Unmut in<br />
<strong>der</strong> weitgehend von <strong>der</strong> CDU dominierten Region sorgte. Die Fragebogenaktion<br />
suggerierte die Möglichkeit, dass nicht die Amerikaner,<br />
son<strong>der</strong>n die Soldaten <strong>der</strong> Sowjetarmee den Fluss zuerst erreichten<br />
und die UdSSR nach Kriegsende ihre Einflusssphäre bis zum Rhein<br />
ausweiten konnte. Es hätte unter diesen Umständen also eine riesige<br />
DDR im Osten und eine winzige Bundesrepublik im Westen geben<br />
können. Um diese Gedankenspiele, aber auch um die persönlichen<br />
Beziehungen <strong>der</strong> Teilnehmer zum „Vater Rhein“ drehte sich inhaltlich<br />
unsere Befragung, an <strong>der</strong> zahlreiche Ausstellungsbesucher<br />
teilnahmen.
Aktionen<br />
1992<br />
<strong>Museum</strong> <strong>der</strong> bildenden Künste, Leipzig, „<strong>Museum</strong> <strong>der</strong> <strong>immateriellen</strong> <strong>Werte</strong>“<br />
Stadtgeschichtliches <strong>Museum</strong> Leipzig, „<strong>Museum</strong> <strong>der</strong> <strong>immateriellen</strong> <strong>Werte</strong>“<br />
Ring Galerie, Leipzig, „Bildung, Frost und Wissenschaft“<br />
Opernhaus Leipzig, „Der Vereinstest“<br />
Moritzbastei, Leipzig, „Progressive Tradition o<strong>der</strong> traditionelle Progressivität“<br />
1993<br />
Dogenhaus Galerie, Leipzig, „Bildung, Wissenschaft, Gesundheit“<br />
Connewitzer Kreuz, Leipzig, „Worauf warten Sie?“<br />
Büro für Kunst, Bielefeld, „Worauf warten Sie?“<br />
1999<br />
Brückentürme <strong>der</strong> ehemaligen Ludendorff-Brücke, Erpel, „Der Rote Stern“<br />
Carsten Busse, Leipzig, 2019<br />
Texte: <strong>solitaire</strong> <strong>factory</strong>, Carsten Busse<br />
Fotografien: <strong>solitaire</strong> <strong>factory</strong>
edition zeitfäule