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Klarer Kurs 0319

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KLARERKURS<br />

MAGAZIN FÜR BERUFLICHE TEILHABE 03/2019<br />

TITELTHEMA<br />

Außenarbeit: Sprungbrett<br />

in den Arbeitsmarkt?<br />

Erinnerungsarbeit als Peerprojekt<br />

AWO SONNENSTEIN gGmbH, Pirna<br />

Ernstmachen mit Inklusion<br />

Flughafen München GmbH<br />

Interaktiv und grenzenlos: Klangpuzzle-Kunstwerk<br />

Mainfränkische Werkstätten gGmbH<br />

Felix Müller, lichter°meer/<br />

Die Ostholsteiner gGmbH, Eutin<br />

12. Jahrgang Einzelheftpreis 9,50 € ISSN 1867-6693 www.53grad-nord.com


FRAGEN/<br />

Was macht Sie stark?<br />

/INHALT/<br />

/EDITORIAL/<br />

24<br />

Tischlampe<br />

Boje: lichter°meer/<br />

Die Ostholsteiner,<br />

Eutin<br />

20<br />

Gelebte Vielfalt: Flughafen München GmbH<br />

▲ „Mein Ehrenamt, weil ich dadurch Anerkennung und<br />

Wertschätzung erfahre. Und mein Kampf mit meiner psychischen<br />

Erkrankung macht mich auch stark“<br />

ERIK VOGEL, EU-RENTNER, DRESDEN<br />

▲ „Wenn ich bei der Diakonie Neustadt behinderte Menschen<br />

bei Urlaubsfahrten unterstütze oder wenn ich mit ihnen koche<br />

und bastle und sie dabei Spaß haben, das macht mich stark“<br />

▲ „Positive Begegnungen machen mich stark. Meine Familie<br />

und das Gefühl von Zugehörigkeit“<br />

IRIS HELBIG, BERUFSBILDUNGSBEREICH DER AWO PIRNAER WERKSTÄTTEN<br />

▲ „Wenn ich weiß, dass ich meine sieben Sinne zusammen<br />

hab’, dass ich weiß, was ich mache und wie ich es mache“<br />

MICHAEL SKALDA, WERKSTATT EISFELD/AUSSENARBEITSPLATZ<br />

▲ „Mein Umfeld macht mich stark – meine Freunde, Bekannten<br />

und professionellen Begleiter. Und mein Selbstbewusstsein, das<br />

ich durch meine Beraterarbeit gewonnen habe“<br />

02<br />

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42<br />

43<br />

Was macht Sie stark?<br />

Aktuelles<br />

TITELTHEMA<br />

Der Außenarbeitsplatz: Sprung in den Arbeitsmarkt?<br />

Wie kann Vermittlung aus der WfbM in eine dauerhafte<br />

Festanstellung gelingen?<br />

BILDUNG<br />

Sprechen über den Massenmord<br />

AWO SONNENSTEIN gemeinnützige GmbH, Pirna<br />

„Die App bereichert einfach den Bildungsalltag“<br />

OWB Oberschwäbische Werkstätten gem. GmbH, Mengen<br />

ARBEIT<br />

„Wenn die Firma es wirklich will, kann das klappen<br />

mit der Inklusion“<br />

Flughafen München GmbH<br />

Ein eigenes Lichtermeer<br />

Die Ostholsteiner gGmbH, Eutin<br />

ENTWICKLUNG<br />

Gelebte Inklusion<br />

Osnabrücker Werkstätten der Heilpädagogischen Hilfe<br />

Die entscheidende Herausforderung<br />

Strategisches Personalmanagement und der Anpassungsdruck<br />

von Werkstätten<br />

Interview mit Martin Ossenberg, Iserlohner Werkstätten gGmbH<br />

Was und wie viel verdienen Werkstattbeschäftigte?<br />

Gastkommentar: Dr. Jochen Walter<br />

„Man muss immer das Beste daraus machen!“<br />

Mein Arbeitsplatz: Michael Skalda<br />

Die verbindende Kraft des Klangs<br />

Mainfränkische Werkstätten gGmbH, Würzburg<br />

Comic: Workman<br />

Impressum<br />

LIEBE LESERINNEN, LIEBE LESER, das Titelthema dieser<br />

Ausgabe schaut darauf, wie Vermittlungen aus der<br />

Werkstatt in dauerhafte Festanstellung gelingen können.<br />

Sind Außenarbeitsplätze dabei hilfreich? Ein Blick<br />

in die Statistik ist ernüchternd: Trotz 20 000 bis 25 000<br />

Einzel- und Gruppenaußenarbeitsplätzen liegen die<br />

Übergangszahlen in feste Beschäftigung immer noch bei<br />

unter 0,2 Prozent. Was hindert also an der Vermittlung<br />

und was bedeutet das für Außenarbeitsplätze? Ab Seite 6<br />

Unter dem Titel „Sprechen über den verdrängten<br />

Massenmord“ berichten wir über ein außerordentliches<br />

Projekt der AWO Sonnenstein in Pirna: Dort werden<br />

Menschen mit Beeinträchtigungen zu Peer-Referenten<br />

ausgebildet, die in Leichter Sprache an die „Euthanasie“-<br />

Morde in Pirna erinnern und durch die Gedenkstätte<br />

Sonnenstein führen. Ab Seite 12<br />

Inklusion in der Arbeitswelt − nur eine Wunschvorstellung<br />

von „Gutmenschen“? Nein, meint die Flughafen<br />

München GmbH und setzt auf gelebte Vielfalt im<br />

Unternehmen selbst. Wie ihr besonderes Konzept aussieht,<br />

erfahren Sie ab Seite 20.<br />

Außerdem schauen wir bei den Oberschwäbischen<br />

Werkstätten in Mengen zu, die die Leichter-Lesen-App<br />

von Capito im Berufsbildungsbereich einsetzen. Mit der<br />

App entscheiden Leser selbst, auf welchem von vier<br />

Sprachniveaus sie Texte lesen möchten. Und wir besuchen<br />

„Die Ostholsteiner“: Die Werkstatt ist jetzt mit<br />

einer neuen Produktlinie unter dem Namen lichter°meer<br />

− fein designte, besondere Leuchten − am Markt.<br />

Wir berichten über „gemischte Gruppen“ bei den<br />

Osnabrücker Werkstätten, in denen Menschen mit Behinderung<br />

aus Tagesförderstätte und Werkstatt gemeinsam<br />

arbeiten. Wir sprechen mit Martin Ossenberg,<br />

Geschäftsführer der Iserlohner Werkstätten, über das<br />

wichtige Zukunftsthema Personalmanagement.<br />

Und eine<br />

besondere Klangreise führt<br />

uns nach Würzburg. Aber<br />

lesen Sie selbst!<br />

Wir wünschen entspannte<br />

wie interessante Lektüre!<br />

PETRA KIEHLE, EU-RENTNERIN, PIRNA<br />

BIRGER HOHN, BERATER BEI DER ERGÄNZENDEN UNABHÄNGIGEN<br />

TEILHABEBERATUNG (EUTB) DRESDEN<br />

GRID GROTEMEYER<br />

02 M E I N U N G E N<br />

K L A R E R K U R S 0 3 / 1 9<br />

K L A R E R K U R S 0 3 / 1 9<br />

I N H A L T / E D I T O R I A L<br />

03


AKTUELLES<br />

Grenzenlos Kultur: Rimini Protokoll/Helgard Haug mit „Chincilla Arschloch, waswas“<br />

Grenzenlos Kultur vol. 21 − Theaterfestival in Mainz<br />

Rudolf-Freudenberg-<br />

Preis 2020<br />

DER RUDOLF-FREUDENBERG-PREIS steht 2020 unter<br />

dem Motto „Konzepte zur Beschäftigung von Menschen<br />

mit seelischer Behinderung in Inklusionsunternehmen“.<br />

Mit diesem Schwerpunkt richten sich<br />

die bag if und die Freudenberg Stiftung an Inklusionsunternehmen,<br />

die erfolgreich einen hohen Anteil<br />

von Menschen mit seelischer Behinderung<br />

beschäftigen und bereit sind, ihre Erfahrungen an<br />

Dritte weiterzugeben. Unternehmenskonzepte, die<br />

Inklusionsfirmen bis zum 15. Dezember 2019 einreichen<br />

können, sollten Rahmenbedingungen und<br />

Faktoren darstellen, die zur erfolgreichen Beschäftigung<br />

dieser Zielgruppe beitragen. Der Preis ist mit<br />

5 000 Euro dotiert. Die Preisverleihung findet am<br />

18. März 2020 in Dortmund im Rahmen der LWL-<br />

Messe der Inklusionsunternehmen und der CEFEC-<br />

Konferenz der bag if statt. Weitere Informationen:<br />

www.bag-if.de/rudolf-freudenberg-preis/ ❚<br />

Kämpfer für die Interessen der<br />

Werkstattbeschäftigten.<br />

Zum Tod von Martin Kisseberth<br />

WAS IST HEIMAT? Ein Land, eine Region? Das<br />

Vertraute, das Überschaubare? Die 21. Ausgabe<br />

von Grenzenlos Kultur steht unter der<br />

Frage, was „Heimat(en)“ für uns heute bedeuten<br />

– auch und gerade für Menschen mit<br />

Behinderung. Mit dabei unter anderem: Rimini<br />

Protokoll, RambaZamba, Theater<br />

Thikwa und das Künstlerinnenkollektiv<br />

CONNECT 2018 – 2020<br />

04 A K T U E L L E S<br />

hannsjana, Stephanie van Batum und Stacyian<br />

Jackson. Ebenso i can be your translator<br />

und Dennis Seidel. Und weil an den<br />

Theatern in Bezug auf Barrierefreiheit oft<br />

viel Luft nach oben ist, berichten im Festival-<br />

Symposium Theater barrierefrei gestalten<br />

Expertinnen und Experten mit und ohne Behinderung<br />

von ihrer gelebten Erfahrung mit<br />

KÜNSTLERINNEN UND KÜNSTLER mit Behinderungen<br />

sind auch in Deutschland seit Jahrzehnten<br />

eine feste Größe. Bislang allerdings<br />

haben sich hauptsächlich die sozialen Träger<br />

dafür stark gemacht, die Kunst behinderter<br />

Menschen in allen Sparten zu fördern. Berührungspunkte<br />

mit Kulturinstitutionen gibt es<br />

nur vereinzelt und zum größten Teil projektbezogen.<br />

Damit Künstlerinnen und Künstler mit<br />

einer Behinderung verstärkt im Kulturbetrieb<br />

präsent sind, müssen Begegnungen stattfinden,<br />

von denen beide Seiten profitieren können.<br />

Genau das will CONNECT, ein von eucrea<br />

gestartetes Projekt: In Hamburg, Niedersachsen<br />

und Sachsen kooperieren Künstlergruppen<br />

aus Einrichtungen für Menschen mit<br />

Behinderungen in allen Sparten der Kunst<br />

mit Museen, Kunstvereinen, Schauspielhäusern,<br />

freien Spielstätten und anderen Kulturhäusern<br />

und erproben Formen der Zusammenarbeit.<br />

Ihre Künstlerische Prozesse<br />

dokumentieren sie in Werkpräsentationen,<br />

Ausstellungen und anderen öffentlichen Formaten.<br />

Angestrebt wird dabei eine langfristige<br />

Zusammenarbeit zwischen Künstlergruppen<br />

und Kulturinstitutionen. Im Juni<br />

2020 steht ein bundesweiter Summit auf der<br />

Agenda. Informationen:<br />

www.eucrea.de/connect-2018-2020 ❚<br />

der barrierefreien Gestaltung von Theater.<br />

Sie diskutieren über Audiodeskription, Gebärdensprachdolmetschen,<br />

Leichte Sprache,<br />

Rollstuhlzugänglichkeit und Relaxed Performances.<br />

Das Theaterfestival findet vom 12.<br />

bis 22. September 2019 im Staatstheater<br />

Mainz statt. Informationen:<br />

www.grenzenlos-kultur.de/ ❚<br />

Neue REHADAT-Publikationen<br />

zur Teilhabe<br />

REHADAT hat zwei neue Wissensreihen veröffentlicht:<br />

„Ich sehe das einfach anders“ thematisiert<br />

die berufliche Teilhabe von<br />

Menschen mit Sehbehinderung oder Blindheit.<br />

„Klare Sprache statt Klischees“ informiert<br />

über die Situation von Menschen mit<br />

Autismus im Berufsleben. REHADAT hat im<br />

Vorfeld Befragungen von betroffenen Menschen<br />

durchgeführt, deren Ergebnisse in die<br />

Broschüren eingeflossen sind. Die Wissensreihen<br />

beantworten Fragen wie: Welche Grundinformationen<br />

über die Behinderung sind im<br />

Arbeitsleben von Bedeutung? Wie können Arbeitsplätze<br />

gestaltet werden? Welche Maßnahmen<br />

sind sinnvoll? Was für Hilfsmittel<br />

können eingesetzt werden? Welche Tipps<br />

geben Fachleute und Betroffene? Wer kann<br />

Betriebe und Beschäftigte unterstützen? Die<br />

REHADAT-Wissensreihen und die Ergebnisse<br />

der Umfragen finden sich unter:<br />

http://rehadat.link/publikationen ❚<br />

K L A R E R K U R S 0 3 / 1 9<br />

LWL informiert online und<br />

am Telefon zum BTHG<br />

WEIL SICH MIT DEM BTHG wichtige Zuständigkeiten<br />

ändern, bietet der Landschaftsverband Westfalen-<br />

Lippe (LWL) auf zwei Wegen Unterstützung für<br />

Menschen mit Behinderung an: Eine Internetseite<br />

bietet Antworten auf Fragen rund um das BTHG in<br />

leicht verständlicher Sprache. Ein weiterer Bereich<br />

der Seite richtet sich mit Informationen insbesondere<br />

an gesetzliche Betreuer. Für Leistungserbringer<br />

und andere Experten stehen darüber hinaus umfangreiches<br />

Hintergrundwissen und weitergehende<br />

Erläuterungen zur Verfügung. Das zweite Angebot<br />

des LWL ist eine Telefon-Hotline. Dort kann jeder anrufen,<br />

der Fragen zum BTHG hat, egal ob persönlich<br />

Betroffener, Angehöriger oder Inklusionsexperte.<br />

Das geschulte Personal wird Fragen im Vorfeld klären<br />

und so auch die Hilfeplaner des LWL entlasten.<br />

Das LWL-Wissensportal zum BTHG ist abrufbar<br />

unter www.bthg2020.lwl.org. Die Telefon-Hotline<br />

ist Montag bis Donnerstag von 8 bis 20 Uhr unter<br />

0251 5915115 erreichbar. ❚<br />

K L A R E R K U R S 0 3 / 1 9<br />

LIEBER MARTIN KISSEBERTH, ich spreche dich heute mit „du“ an, obwohl<br />

wir das zeitlebens nie taten. Irgendwie hatten wir den richtigen Zeitpunkt<br />

dazu verpasst.<br />

Du hast Mitte Juni dieses Jahres nach einer sich schnell entwickelnden<br />

Krankheit den Planeten verlassen. Zu schnell und zu plötzlich, um das<br />

wirklich begreifen zu können. Als gelernter Rettungssanitäter hast du vielen<br />

Menschen helfen können, nur dir selbst nicht so recht. Seit Jahren<br />

konnten wir beobachten, wie du dich manchmal leicht, doch meist mit<br />

großer Anstrengung durch die Bundesrepublik bewegtest, um dich für die<br />

in Werkstätten beschäftigten Menschen einzusetzen. Du fehlst.<br />

In deine Klugheit, deine Ausdrucksfähigkeit und deine Zielstrebigkeit<br />

haben viele Menschen mit Behinderung ihre Hoffnungen gesetzt und<br />

dich in wichtige Vertretungspositionen gewählt. Als Vorsitzender Gesamtwerkstattrat<br />

ELBE und LAG Werkstatträte Hamburg sowie als Vorstand<br />

Werkstatträte Deutschland hast du beste Interessenvertretung<br />

gemacht, verhandelt, gestritten, referiert. Auf all diesen Ebenen sind wir<br />

uns in unseren jeweiligen Funktionen auf Augenhöhe begegnet, fast<br />

immer miteinander, ja und auch mal gegeneinander. Wir haben uns respektiert<br />

und gemocht, so wie es dir mit deinen GesprächspartnerInnen<br />

meist auch erging. Dein Wort zählte. Du fehlst.<br />

Die Stärkung der Stellung der Werkstatträte im neuen Bundesteilhabegesetz<br />

und die Finanzierung der Werkstatträte Deutschland zählen zu<br />

deinen großen Engagements und Erfolgen. Den geplanten gemeinsamen<br />

Vortrag zu den neuen Vermittlungsstellen können wir nun nicht mehr<br />

halten. Du fehlst.<br />

Als gebürtige Hessen teilten wir die Liebe zum Regional-/Ex-Bundesligaverein<br />

Kickers Offenbach, du fanatischer als ich. Vor allem bewahre ich<br />

deinen wunderbaren Humor, dein verschmitztes Lächeln und deine klare<br />

Sicht der Dinge als Bild von dir in mir. Das bleibt. ANTON SENNER ❚<br />

A K T U E L L E S<br />

05


TITELTHEMA/VERMITTLUNG<br />

Wie kann Vermittlung<br />

aus<br />

der WfbM in<br />

eine dauerhafte<br />

Festanstellung<br />

gelingen?<br />

Der Außenarbeitsplatz:<br />

Sprungbrett in den<br />

ersten Arbeitsmarkt?<br />

AUSSENARBEITSPLÄTZE, Betriebsintegrierte Arbeitsplätze, Betriebsintegrierte<br />

Beschäftigung − viele Bezeichnungen und alle meinen<br />

dasselbe: ausgelagerte Werkstattplätze in Betrieben des ersten<br />

Arbeitsmarkts. Sie gibt es schon sehr lange, ihre Funktion: Wahlmöglichkeiten<br />

zu eröffnen und Werkstattbeschäftigten den Weg zu<br />

erleichtern, von der Werkstatt in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung<br />

zu wechseln. Außenarbeit im Portfolio einer Werkstatt<br />

erhöht die Attraktivität bei ihren Kunden, den Menschen mit Behinderung,<br />

und gilt als unverzichtbar für den Erhalt der Konkurrenzfähigkeit<br />

spätestens dann, wenn sich Andere Anbieter in der<br />

Nachbarschaft niederlassen. Viele, aber nicht alle Werkstätten haben<br />

inzwischen einen „virtuellen“ Bereich aufgebaut, manche sogar mit<br />

einem Anteil von bis zu 30 oder 35 Prozent. Die Zahl ist allerdings<br />

mit Vorsicht zu genießen, nicht immer geben Werkstätten an, was sie<br />

als Außenarbeitsplatz werten: auch eine Stelle im werkstatteigenen<br />

Café oder in einer in der ganzen Stadt eingesetzten Gartengruppe?<br />

Die BAG WfbM erhebt zurzeit die Anzahl von Außenarbeitsplätzen,<br />

endgültige Ergebnisse liegen noch nicht vor. Es zeichnet sich aber ab,<br />

dass sich die Anzahl zwischen 20 000 und 25 000 Gruppen- und Einzelaußenarbeitsplätzen<br />

bewegt. Das sind ca. 8 Prozent der etwa<br />

280.000 Beschäftigten im Arbeitsbereich. In vielen Bundesländern<br />

regeln die Leistungsträger mit Zielvereinbarungen, wie viele Außenarbeitsplätze<br />

und/oder Übergänge Werkstätten schaffen müssen.<br />

Doch trotz Positivtrend in der Außenarbeit steigen die Zahlen der<br />

Übergänge bundesweit kaum an, liegen sie immer noch bei unter 0,2<br />

Prozent. Was ist also dran an den Außenarbeitsplätzen?<br />

06 T I T E L T H E M A<br />

ERSTES KONZEPT<br />

DER AUSSENARBEITSPLÄTZE<br />

Hessen war das erste Bundesland, das sie bereits 1986 einführte.<br />

Anders als heute waren sie auf maximal zwei Jahre befristet, spätestens<br />

dann sollte eine reguläre sozialversicherungspflichtige Beschäftigung<br />

folgen. Sie waren ebenso wie Werkstätten nicht als<br />

Dauereinrichtungen geplant. Parallel dazu finanzierte der Landeswohlfahrtsverband<br />

(LWV) zusätzliche Stellen für ‚Fachkräfte für<br />

Außenarbeitsplätze‘ neben dem regulären Personalschlüssel der<br />

Werkstätten, die solche Außenarbeitsplätze akquirierten und dort<br />

die Werkstattbeschäftigten auch begleiteten. Magnus Schneider,<br />

ehemaliger Geschäftsführer der Lebenshilfe Gießen und damals<br />

im Vorstand der hessischen LAG WfbM, erinnert sich: „Schon damals<br />

wurde klar, dass das Modell nicht so funktioniert, wie wir<br />

uns das gedacht hatten. Es gab zwar jede Menge Außenarbeitsplätze,<br />

aber nur wenig Übergänge in reguläre Verhältnisse. Die<br />

Beschäftigten auf Außenarbeitsplätzen hatten sich allerdings gut<br />

integriert. Bei strenger Auslegung des Konzepts hätten die Beschäftigten<br />

nach zwei Jahren wieder zurückgemusst in die Werkstatt,<br />

weil die Betriebe sie nicht übernahmen.“ Das wollte<br />

niemand und so schaffte man die zeitliche Befristung ab und<br />

führte das Modell unter dem Namen ‚Arbeiten im Verbund‘ weiter.<br />

Seit einer Gesetzesänderung 2008 gelten Außenarbeitsplätze<br />

als dauerhaft ausgelagerte Werkstattplätze. Doch trotz grundsätzlicher<br />

Entfristung verfehlte dieses Modell sein Ziel: Außenarbeitsplätze<br />

blieben bis auf wenige Ausnahmen Dauerzustand, die i<br />

i Übergänge kaum beförderten. Die Gründe dafür liegen vor allem<br />

in der Struktur der Werkstätten.<br />

DIE ZIELKONFLIKTE<br />

DER WERKSTATT<br />

Werkstätten müssen drei Ziele verfolgen, die sich gegenseitig stören:<br />

u Sie sollen als rehabilitative „Durchgangseinrichtung“ Menschen<br />

mit Behinderung qualifizieren, fördern und befähigen, im ersten<br />

Arbeitsmarkt zu arbeiten.<br />

u Sie sollen betriebswirtschaftlich organisiert sein, wie Wirtschaftsbetriebe<br />

arbeiten und 70 Prozent des Gewinns als Arbeitsentgelt<br />

an die Beschäftigten ausschütten.<br />

u Und sie haben die Aufgabe der Vermittlung: Sie sollen Beschäftigte<br />

aus der Werkstatt möglichst in sozialversicherungspflichtige<br />

Beschäftigung bringen.<br />

Nimmt man den Vermittlungsauftrag ernst, leidet darunter der<br />

„Wirtschaftsbetrieb Werkstatt“: Wenn viele leistungsfähige Menschen<br />

mit Behinderung die Werkstatt in Richtung Arbeitsmarkt<br />

verlassen, läuft die Werkstatt Gefahr, nicht mehr konkurrenzfähig<br />

zu sein. Denn Leistungsträger sichern die Produktivität der Werkstatt,<br />

die die immer anspruchsvolleren Aufträge immer schneller<br />

„in time“ erledigen müssen. Die Leistungsträger sorgen zugleich<br />

mit ihrer Arbeit dafür, dass auch Leistungsschwächere ein Arbeitsentgelt<br />

über dem Grundbetrag erhalten. Würden die Beschäftigtenzahlen<br />

wegen der Übergänge zurückgehen, so die Befürchtung<br />

vieler Werkstätten, drohe obendrein Personalabbau, weil die Fachkraftstellen<br />

nicht mehr refinanziert seien. Werkstätten haben also<br />

ein ökonomisches Eigeninteresse am „Behalten“ ihrer Beschäftigten<br />

und allen voran ihrer Leistungsträger, bilanziert Manfred Gehrmann*<br />

1 . Auf Außenarbeitsplätzen bleibt den Werkstätten zumindest<br />

der meist nur geringfügig gekürzte Kostensatz erhalten.<br />

Das widersprüchliche Tripelmandat der Werkstätten hindert sie<br />

daran, sich als Übergangseinrichtung zu begreifen, die Menschen<br />

mit Behinderung, die noch nicht oder noch nicht wieder regulärer<br />

Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt nachgehen können, genau<br />

dazu durch Rehabilitation befähigt. Ein Verbleib in WfbM, ein auf<br />

Dauer angelegter Werkstattplatz war vom Gesetzgeber nur für die,<br />

die nicht im ersten Arbeitsmarkt arbeiten können, vorgesehen. Dieser<br />

differenzierte Personenkreis wurde, schreibt Detlef Springmann,<br />

Geschäftsführer der Lebenshilfe Braunschweig, 2013 in seinem Artikel<br />

Die Zukunft der Werkstatt: Werkstätten als Übergangseinrichtung*<br />

2 , „in vielen Werkstätten (…) auf ein einziges Merkmal<br />

reduziert: auf die unterstellte Unmöglichkeit, jemals erwerbsfähig<br />

zu sein. Das ist eine Bankrotterklärung für Qualität und Wirkung<br />

ihrer Eingliederungsleistungen.“ Die Antizipation der Unmöglichkeit<br />

scheint den dauerhaften Verbleib in der Werkstatt zu legitimieren<br />

ebenso wie die Behauptung, Menschen mit Behinderung und<br />

Werkstattfähigkeit könnten allenfalls auf Außenarbeitsplätzen in<br />

Betrieben des ersten Arbeitsmarkts arbeiten. Für die „Dauerhaftigkeit“<br />

macht Springmann drei andere Gründe aus: Die Organisation<br />

Werkstatt habe Vorrang vor dem Individuum, die Veränderungsbereitschaft<br />

bei Werkstattträgern und Leitungen sei ungenügend und i<br />

07<br />

K L A R E R K U R S 0 3 / 1 9 K L A R E R K U R S 0 3 / 1 9 T I T E L T H E M A


i<br />

das unbekannte Neue führe zur Furcht vor dem Abbruch einer<br />

langjährigen realen oder vermeintlichen Stabilität, alles dazu angetan,<br />

„um Werkstatt als Dauereinrichtung zu konservieren und abzusichern“.<br />

Der Fehler liege darin, dass Werkstätten wie Wirtschaftsbetriebe<br />

geführt würden. Um ökonomisch „überlebensfähig“<br />

zu sein, darf sich Werkstatt also nicht als rehabilitative Übergangseinrichtung<br />

begreifen, müssen Werkstattbeschäftigte als dauerhaft<br />

voll erwerbsgemindert gelten und auch Außenarbeitsplätze als dauerhafte<br />

angelegt sein.<br />

FORDERUNGEN<br />

AN DIE POLITIK<br />

Um die Werkstätten aus ihrem Zielkonflikt zu befreien, ist politischer<br />

Veränderungswille gefragt. Das BTHG stellt zwar das<br />

Belange von Menschen mit Behinderung, auf die Fahnen geschrieben.<br />

Neben einer Reform der Werkstättenverordnung lassen sich indes<br />

konkrete Schritte seitens der Werkstätten unternehmen, ihrem „Ur-<br />

Auftrag“ beizukommen. Wie Organisationsstruktur der Werkstatt<br />

und Vermittlungserfolge zusammenhängen, beschreibt Malte Teismann<br />

unter anderem in einem Gastkommentar für KLARER KURS<br />

2/2019: Es brauche grundsätzlich eine „Geschäftsführung, die den<br />

(Re)Habilitationsauftrag fordert und fördert. Um die bestehenden<br />

Zielkonflikte zu minimieren und die Zahl der Übergänge zu erhöhen,<br />

empfiehlt sich eine klare Trennung der Organisationsformen.“<br />

Das bedeutet, die Werkstatt braucht einen eigenständigen Fachdienst,<br />

dessen Aufgabe die Vermittlung ist und zwar unabhängig<br />

von den Zwängen, unter denen das Werkstattpersonal, Sozialarbeiter<br />

i<br />

kennenlernen. Den Arbeitgebern machen die Jobcoachs gleich zu<br />

Anfang klar: Ziel ist immer die Übernahme in sozialversicherungspflichtige<br />

Arbeit. „Nach vier Wochen kann ein Handwerksmeister<br />

sagen, ob es klappt oder nicht. Wenn ja, folgt ein Langzeitpraktikum“,<br />

berichtet Carsten Raters, Jobcoach beim Caritas-Verein, „und<br />

dann das Gespräch übers Budget für Arbeit.“ Entscheidend ist,<br />

meint Sinnigen, dass im BBB bereits Veränderung als Zustand und<br />

nicht Dauerhaftigkeit wie in der WfbM gelebt werde, das entwickle<br />

eine Eigendynamik: „Der Teilnehmer weiß, nach 27 Monaten ist<br />

hier Schluss. Dann geht sein Nachbar ins Praktikum, auch der<br />

nächste und ein anderer ist im Langzeitpraktikum. Und dann will er<br />

auch in einem Betrieb arbeiten.“<br />

Außenarbeitsplätze sind das Mittel der Wahl im Arbeitsbereich:<br />

Erst Praktikum, dann Außenarbeitsplatz und spätestens nach einem<br />

sere Nachhaltigkeit liegt bei 91 Prozent!“<br />

Das Besondere: Wedel nutzt von Beginn an<br />

für alle Vermittlungen den Eingliederungszuschuss<br />

nach SGB III. „Damit sind die Beschäftigten<br />

wirklich im Arbeitsmarkt und<br />

gelten als erwerbsfähig.“ Am Budget für<br />

Arbeit kritisiert er, dass Übergänger im<br />

SGB IX und damit in der vollen Erwerbsminderung verblieben. „Aus<br />

einem Budget heraus wird der Schritt in echte Erwerbsfähigkeit<br />

schwierig. Vor allem schwerstbehinderte Menschen sollten doch ins<br />

Budget kommen, und jetzt sind es in der Praxis wohl die, die man eigentlich<br />

anders vermitteln kann.“ Weil für Wedel grundsätzlich die<br />

Vermittlung das Ziel ist, sieht er die gängige Praxis skeptisch: „Ich<br />

warne immer vor unbefristeten Außenarbeitsplätzen, die sind schnell<br />

„Um Zielkonflikte zu minimieren und die Zahl der Übergänge zu erhöhen, empfiehlt sich eine klare Trennung der Organisationsformen“<br />

Wunsch- und Wahlrecht der Menschen mit Behinderung in den<br />

Mittelpunkt, setzt auf Personenzentrierung statt auf eine Ausrichtung<br />

an den Interessen der Institution. Durch die Zulassung von<br />

Konkurrenz durch Andere Anbieter will man das Monopol der<br />

Werkstätten aufbrechen und mit dem Budget für Arbeit Übergänge<br />

in den ersten Arbeitsmarkt schaffen. Bislang aber ist die Umsetzung<br />

des neuen Gesetzes eher schleppend angelaufen, Nachbesserungen<br />

seitens Politik und Gesetzgebung stehen in vielen Punkten aus.<br />

Als Grund für die schlechte Vermittlungsquote wird oft die<br />

„fehlende Aufnahmebereitschaft des Arbeitsmarkts“ angeführt:<br />

Er gebe die Beschäftigung von voll erwerbsgeminderten Menschen<br />

nicht her, es gebe überdies kaum Arbeitsplätze mit einfachen<br />

Tätigkeiten, die Menschen mit Behinderung ausführen<br />

könnten. Dabei ließe sich die „Aufnahmebereitschaft“ beispielsweise<br />

durch drastische Erhöhung der Ausgleichsabgabe − eine<br />

politische Entscheidung − anstoßen: Noch können sich Wirtschaftsbetriebe<br />

von der Beschäftigung von Menschen mit Behinderung<br />

durch ein „Taschengeld“ freikaufen. Die Anhebung der<br />

Ausgleichsabgabe haben sich viele Politiker von den Grünen bis<br />

zu Jürgen Dusel, dem Beauftragten der Bundesregierung für die<br />

und Fachkräfte für Arbeits- und Berufsförderung, stehen: „Sobald<br />

man in seiner Arbeit Ziele und Umstände von anderen Kollegen, Arbeitsbereichen<br />

etc. mitdenken muss, wird Arbeit ineffizient und<br />

schwierig. Diejenigen, die dann darunter leiden, sind diejenigen, die<br />

von vornherein die geringste Macht im Prozess haben, nämlich die<br />

Beschäftigten.“ Organisatorisch „entkoppeltes“ Personal für die unterschiedlichen<br />

Ziele und geeignete Übergangsstrategien sind also<br />

für Werkstätten, die Beschäftigte in den ersten Arbeitsmarkt vermitteln<br />

wollen, unabdingbar.<br />

VERMITTLUNG GEHT DOCH:<br />

ALTENOYTHE<br />

„Allein 18 Übergänge aus dem Berufsbildungs- und dem Arbeitsbereich<br />

ins Budget für Arbeit sind uns 2018 gelungen“, erzählt Ralf<br />

Sinnigen, Leiter des Berufsbildungsbereichs des Caritas-Vereins Altenoythe<br />

in Niedersachsen. In der Werkstatt arbeiten rund 800 Beschäftigte,<br />

etwa 100 Teilnehmer besuchen den BBB. Was macht den<br />

Erfolg aus? Der BBB verfügt über einen werkstattexternen Standort,<br />

pro Jahr absolvieren die Teilnehmer mindestens ein mehrwöchiges<br />

Praktikum und das, bevor sie die Produktionsbereiche der WfbM<br />

Jahr wird mit dem Arbeitgeber über das Budget gesprochen. Oberstes<br />

Ziel ihrer Arbeit ist die Vermittlung. Carsten Raters: „Das ist<br />

manchmal schwierig, denn wir brauchen auch gute Arbeit für die<br />

Menschen, für die es keine Alternative zur Werkstatt gibt. Intern<br />

haben wir die Unterstützung der Leitung, das wird mehr und mehr<br />

in der Werkstatt gelebt.“ Der Außenarbeitsplatz kann ein Sprungbrett<br />

in den ersten Arbeitsmarkt sein, wenn „man das Ziel der Vermittlung<br />

verfolgt. Wir schließen aber auch einen dauerhaften<br />

Außenarbeitsplatz nicht aus für den Personenkreis, dessen Leistungsfähigkeit<br />

dort erreicht ist. Denn unsere Ziele sind allein personenbezogen,<br />

nicht institutionell begründet.“<br />

VERMITTLUNG OHNE<br />

AUSSENARBEITSPLATZ<br />

Jemand, der es anders macht, ist Thomas Wedel, Geschäftsführer der<br />

Boxdorfer Werkstatt mit ca. 190 Beschäftigten in Berufsbildungsund<br />

Arbeitsbereich in Nürnberg und zuständig für das Thema Rehabilitation<br />

und Integration. Seit 20 Jahren vermittelt er Beschäftigte in<br />

sozialversicherungspflichtige Arbeit, ohne Außenarbeitsplätze oder<br />

Budget für Arbeit: „Mittlerweile sind es über 50 Personen und un-<br />

dauerhaft. Deshalb bieten wir gar keine an. Wenn man aber Außenarbeit<br />

macht, sollte man zumindest nach einem halben Jahr darüber<br />

reden, wie es weitergehen kann.“ Auch bei den Boxdorfern ist Veränderung<br />

Normalitätsprinzip: Jeder Beschäftigte kann jederzeit im<br />

Haus wechseln, drei Monate einen anderen Bereich ausprobieren<br />

und, wenn es passt, bleiben. „Der Wechsel, ob drinnen oder nach<br />

draußen, wird bei uns gelebt, da muss ich niemanden werben.“<br />

UNABHÄNGIGE<br />

FACHDIENSTE<br />

Unabhängige Fachdienste, die Menschen mit Behinderung in den<br />

ersten Arbeitsmarkt vermitteln, gibt es noch nicht viele in Deutschland.<br />

Aber dort, wo es sie gibt, schaffen sie sehr erfolgreich Wahlmöglichkeiten<br />

und Zugänge zum ersten Arbeitsmarkt und zeigen,<br />

dass auch Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf vermittelbar<br />

sind. Wie die Hamburger Arbeitsassistenz, die seit 27 Jahren Menschen<br />

mit Lernschwierigkeiten in feste Arbeitsverhältnisse vermittelt,<br />

wie ISA Initiative Sinnvolle Arbeit in Venne/Bramsche oder<br />

ACCESS in Nürnberg und Erlangen. Andrea Seeger, ACCESS-Geschäftsführerin,<br />

nutzt für die Vermittlung viele Instrumente wie das<br />

i<br />

i<br />

08 T I T E L T H E M A K L A R E R K U R S 0 3 / 1 9 K L A R E R K U R S 0 3 / 1 9<br />

T I T E L T H E M A 09


i<br />

Persönliche Budget, Unterstützte Beschäftigung<br />

und auch das Budget für Arbeit. Auch<br />

Beschäftigte aus Werkstätten begleiten die<br />

Fachdienstmitarbeiter in Betrieben über<br />

mehrere Monate in eng unterstützten<br />

Langzeit-Praktika. Ziel ist immer der Übergang,<br />

und anders als in Werkstätten ist der<br />

Außenarbeitsplatz „für uns nur das letzte Mittel“, sagt sie und fügt<br />

kritisch an: „Wenn für Werkstatt-Außenarbeitsplätze bei Arbeitgebern<br />

Stundensätze bis zum Mindestlohn in Rechnung gestellt werden,<br />

muss man sich fragen, was eigentlich davon abhält, einen<br />

regulären Arbeitsvertrag abzuschließen.“ Fachdienste vermitteln<br />

Menschen mit Lernschwierigkeiten sehr viel erfolgreicher als Werkstätten.<br />

Das mag vor allem daran liegen, dass sie auf keinen Werkstatt-Arbeitsbereich<br />

zurückgreifen können und sich deshalb viel<br />

inklusiver zu arbeiten, als ihnen das in einer Werkstatt möglich ist.<br />

Wir fragen uns manchmal aber schon, warum dann kein Übergang<br />

stattfindet, Menschen also zu lange auf einem Außenarbeitsplatz verweilen.“<br />

Wenn man den Zeitpunkt verpasst habe, zu dem ein Übergang<br />

vollzogen werden muss, setze ein Gewöhnungseffekt bei allen<br />

Beteiligten ein. Außerdem sei dann eine Übernahme für Arbeitgeber<br />

oftmals nicht mehr lukrativ: „Aus der finanziellen Perspektive eines<br />

Arbeitgebers erscheint der ausgelagerte Arbeitsplatz manchmal lukrativer<br />

als eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Das<br />

kann dann ein Vermittlungshemmnis sein.“ Auch dass Menschen,<br />

die das Potenzial hätten, in sozialversicherungspflichtige Arbeit zu<br />

wechseln, auf dauerhaften Außenarbeitsplätzen nur arbeitnehmerähnliche<br />

Rechte und damit deutlich weniger Rechte als die regulären<br />

Mitarbeiter haben, kritisiert Baar. Schlecht, wenn Außenarbeitsplätze<br />

in Konkurrenz zu sozialversicherungspflichtiger Arbeit stehen.<br />

i<br />

DIE BUDGETDECKELUNG<br />

IN HAMBURG<br />

Auch in Hamburg arbeitet der zuständige Leistungsträger, die Behörde<br />

für Arbeit, Soziales, Familie und Integration (BASFI), mit<br />

Zielvereinbarungen. 2015 beschloss die Behörde mit den Elbe-<br />

Werkstätten eine Deckelung des Trägerbudgets und einen Abbau der<br />

Belegungszahlen. Anton Senner, damaliger Geschäftsführer der<br />

Elbe-Werkstätten erinnert sich: „Unser Gesamtbudget für alle Plätze<br />

wurde eingefroren. Die jährlich durch Kostensteigerung, Inflationsrate<br />

und Personalkostensteigerung entstehenden Mehrausgaben<br />

haben wir kompensiert durch einen Abbau von Plätzen. Bei im<br />

Schnitt angenommenen zwei Prozent Mehrkosten im Jahr mussten<br />

wir also zwei Prozent Plätze abbauen. Im ersten Jahr haben wir im<br />

Arbeitsbereich von 2 400 Plätzen 30 abgebaut. Und wir haben auch<br />

abgebaut, weil wir zunehmend Menschen ins Budget gebracht<br />

nur dann den Weg in Festanstellung, wenn die Werkstatt sie als Anfang<br />

einer Entwicklung und nicht als deren Ziel begreift: Voraussetzung<br />

ist der ernste Wille, zielstrebig und konsequent Übergänge zu<br />

schaffen. Die Einsicht beruht auch auf Erfahrungen aus einer zumeist<br />

als belebend empfundenen Konkurrenz: Denn dass die Elbe-<br />

Werkstätten schon lange im Thema Außenarbeit und Übergänge<br />

unterwegs sind, verdanken sie auch ihrem „Mitbewerber“ um die<br />

Gunst der Kunden: der Hamburger Arbeitsassistenz.<br />

FAZIT<br />

Um erfolgreich zu vermitteln, braucht es Macher, die sich auch persönlich<br />

engagieren, die Wünsche der Menschen mit Behinderung als<br />

Auftrag betrachten und sie mit Nachdruck verfolgen. Aufgrund ihrer<br />

Zielkonflikte aber tun sich Werkstätten schwer, Beschäftigte über Außenarbeit<br />

hinaus in den ersten Arbeitsmarkt zu bringen. Das wird<br />

„Es müssen Strategien entwickelt werden, wie man Werkstattplätze sukzessive abbauen kann“<br />

klarer und entschiedener auf die Qualifizierung in Betrieben mit<br />

dem Ziel einer Festeinstellung ausrichten. In Städten wie Köln,<br />

Nürnberg oder Hamburg kooperieren die Fachdienste mit Werkstätten.<br />

Dort sind die Vermittlungszahlen deutlich höher als in anderen<br />

Regionen der Republik.<br />

STEUERUNG DURCH<br />

DEN LEISTUNGSTRÄGER<br />

Im Einzugsgebiet des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL),<br />

dem zuständigen Leistungsträger der Eingliederungshilfe, gibt es<br />

rund 2 500 Außenarbeitsplätze, eine Quote von 6,5 Prozent. Grundsätzlich<br />

legt der LWL mit jeder Werkstatt in einer Zielvereinbarung<br />

fest, wie viele Außenarbeitsplätze sie neu schaffen und wie viele<br />

Übergänge sie pro Jahr anbahnen muss. Außenarbeitsplätze können<br />

Sprungbretter in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung sein,<br />

wenn sie zielgerichtet auf Übergänge angelegt und entsprechend begleitet<br />

würden, meint Hartmut Baar vom LWL-Inklusionsamt in<br />

Münster. „Natürlich werden Außenarbeitsplätze auch genutzt, um<br />

Menschen mit schweren Behinderungen die Möglichkeit zu geben,<br />

10<br />

Um dennoch möglichst viele Menschen mit Behinderung aus<br />

Werkstätten in den ersten Arbeitsmarkt zu bringen, setzt der LWL<br />

auf Integrationsfachdienste und unabhängige, qualifizierte Jobcoachs,<br />

die er auch selbst ausbildet. Der IFD ist von der Anbahnung<br />

bis zum sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz eingebunden,<br />

unterstützt den gesamten Prozess gemeinsam mit der Werkstatt und<br />

bleibt danach Ansprechpartner für die Betriebe. Die Begleitung und<br />

Unterstützung vor Ort übernehmen bei Bedarf Jobcoachs, beauftragt<br />

von den IFDs. Baar: „Wir machen auch entsprechende Zielvereinbarungen<br />

mit den Integrationsfachdiensten.“<br />

In Westfalen-Lippe setzt man also auf sanften Druck durch Zielvereinbarungen,<br />

mit denen man die Werkstätten in Bewegung bringen<br />

will, auf eine neue ganzheitliche Teilhabeplanung, die den<br />

Menschen in den Mittelpunkt rückt, und stärkt die Kooperation von<br />

Werkstätten und Integrationsfachdiensten. Ein Netz von freiberuflichen<br />

Jobcoachs, die vom IFD in den Übergangsprozess einbezogen<br />

werden, macht Sinn, Baar: „Mit unserem Konzept in Westfalen-<br />

Lippe sind wir erfolgreich, das werden wir nun gemeinsam mit den<br />

Werkstätten und den Integrationsfachdiensten weiter steigern.“ i<br />

haben.“ Ein Stellenabbau bei den Fachkräften ließ sich verhindern,<br />

weil die Werkstatt zugleich anerkannte Trägerin im Budget für Arbeit<br />

ist und die Menschen, die aus der Werkstatt ins Budget gehen,<br />

weiterhin betreut. Budget- und Platzzahl-Deckelung hatten zur<br />

Folge, dass die Werkstatt sich enorm bewegen musste und tatsächlich<br />

mehr und mehr Beschäftigte vermittelte. „Das hat bei uns in<br />

Hamburg gut funktioniert.“ Dass auf Dauer angelegte Außenarbeitsplätze<br />

nicht zu Übergängen führten, müsse man allerdings<br />

nicht nur den WfbM anlasten: Firmen, sagt Senner, hielten auch oft<br />

an Außenarbeit fest, weil ihnen dabei alles abgenommen würde, und<br />

auch die Eltern fänden sie gut, weil die Werkstatt als Option offen<br />

bliebe. Solchermaßen aufgestellte Außenarbeitsplaẗze zementierten<br />

aber das System. „Auch wenn der neue Staatenbericht der UN für<br />

Deutschland das harsche Urteil über die WfbM von 2017 zumindest<br />

abgemildert hat, müssen dennoch verbindliche Ausstiegsszenarien,<br />

zumindest Strategien entwickelt werden, wie man Werkstattplätze<br />

sukzessive abbauen kann.“<br />

Außenarbeitsplaẗze, konstatiert Sven Neumann, Koordinator Außenarbeit<br />

und Budget für Arbeit bei den Elbe-Werkstätten, eröffnen<br />

sich nicht ändern, solange das Prinzip der Dauerhaftigkeit für Werkstätten<br />

und Außenarbeit nicht infrage gestellt wird. Vermittlung wird<br />

mit der Werkstatt − von wenigen Leuchttürmen einmal abgesehen −<br />

nur unter spezifischen Bedingungen funktionieren: Es braucht den<br />

Druck der Leistungsträger, vor allem eine Platzzahlbegrenzung, wie<br />

das Beispiel Hamburg zeigt, damit sich Werkstätten bewegen und Beschäftigte<br />

in Betriebe des ersten Arbeitsmarkts vermitteln, auch um<br />

Platz zu schaffen für Nachrücker. Gleichzeitig braucht es ein flächendeckendes<br />

Netz unabhängiger Fachdienste, die Vermittlung zielstrebig<br />

verfolgen und damit endlich Wahlmöglichkeiten in der<br />

beruflichen Teilhabe und Alternativen zur Werkstatt für Menschen<br />

mit Behinderung schaffen. Und ja, eine nachhaltige Reform der<br />

Werkstättenverordnung ist längst überfällig. GG ❚<br />

ANMERKUNGEN<br />

*1 Manfred Gehrmann: Betriebe auf der Grenze. Integrationsfirmen und Behindertenwerkstätten<br />

zwischen Markt- und Sozialorientierung. Campus Verlag,<br />

Frankfurt/New York 2015<br />

*2 Detlef Springmann: Die Zukunft der Werkstatt: Werkstätten als Übergangseinrichtung.<br />

In: Teilhabe durch Arbeit. Ergänzbares Handbuch zur beruflichen Teilhabe von<br />

Menschen mit Behinderung. Lebenshilfe-Verlag, Marburg 2015<br />

T I T E L T H E M A K L A R E R K U R S 0 3 / 1 9 K L A R E R K U R S 0 3 / 1 9 T I T E L T H E M A<br />

11


BILDUNG/PEER-REFERENTEN<br />

Sprechen über<br />

den verdrängten<br />

Massenmord<br />

Verkohlte Mundharmonika als letztes Zeugnis eines Nazi-Opfers<br />

Iris Helbig, Erik Vogel, Birger Hohn und Melanie Wahl (v.l.) bei einer Probeführung<br />

➜ Thema: Menschen mit Beeinträchtigungen werden zu<br />

Peer-Referenten ausgebildet, die in Leichter Sprache<br />

an die „Euthanasie“-Morde in Pirna erinnern und durch<br />

die Gedenkstätte Sonnenstein führen<br />

➜ Einrichtung: AWO SONNENSTEIN gemeinnützige GmbH<br />

➜ Ort: Pirna<br />

12<br />

B I L D U N G : A W O S O N N E N S T E I N , P I R N A<br />

K L A R E R K U R S 0 3 / 1 9<br />

GANZ UNTEN, hinter den dicken Mauern des kühlen Kellerlabyrinths<br />

im Haus C 16, endet die Spur der kleinen farbigen Kreuze<br />

am Boden. Kreuz neben Kreuz auf Straßenasphalt und Kopfsteinpflaster<br />

gesprüht, führt sie von der Elbe durch die Pirnaer Innenstadt<br />

kilometerweit hoch zur einstigen Heil- und Pflegeanstalt<br />

Sonnenstein und zielstrebig die Steinstufen hinab bis in den zweiten<br />

der hell gekalkten Kellerräume des ehemaligen Männerkrankengebäudes.<br />

„Hier war die Gaskammer, getarnt als Dusche.“ Iris<br />

Helbig umreißt mit beiden Händen eine imaginäre „Wand mit<br />

Fenster“, die in den 1940er Jahren den gut 20 Quadratmeter gro-<br />

i<br />

ßen Raum geteilt hatte. „Vor dem Fenster haben die Tötungsärzte<br />

zugeschaut, wie die Menschen im Gas gestorben sind.“ 13 720 psychisch<br />

kranke, geistig und körperlich beeinträchtigte Menschen ließ<br />

Hitlers „Euthanasie“-Zentrale 1940/41 im Zuge der „Aktion T 4“<br />

als „lebensunwerte Esser“ an diesem Ort ermorden. Und in der<br />

Folge mehr als 1 000 KZ-Häftlinge. Die junge Frau aus dem Berufsbildungsbereich<br />

der Pirnaer Werkstätten auf dem Sonnenstein<br />

ist am düstersten Ort ihrer Führung angekommen. Dort, wo der zynische<br />

Nazi-Begriff „Tötungsanstalt“ schlagartig zur beklemmenden<br />

Realität wird.<br />

K L A R E R K U R S 0 3 / 1 9<br />

Iris Helbig erklärt, wie das Gas eingeleitet und nach den Morden<br />

abgesaugt wurde. Zeigt, wo die Leichenverbrenner den Opfern Goldzähne<br />

herausbrachen, ehe sie sie in die beiden Verbrennungsöfen im<br />

Raum nebenan schoben, von denen die freigelegten Fundamente im<br />

Boden zeugen. Führt weiter zu den Vitrinen mit alten Knöpfen, verkohlten<br />

Prothesen, kleinen Taschenkämmen, einer verschmorten<br />

Mundharmonika – letzte persönliche Zeugnisse, die von den ermordeten<br />

Menschen geblieben sind. Es ist Iris Helbigs vierter „Probelauf“<br />

als angehende Peer-Referentin, die in Leichter Sprache durch die<br />

Dauerausstellung der Gedenkstätte führt und an die perfide Mord- i<br />

B I L D U N G : A W O S O N N E N S T E I N , P I R N A 13


i maschinerie in der zur Tötungsanstalt umgebauten ehemaligen Heilund<br />

Pflegeeinrichtung erinnert.<br />

Nazi-Vergangenheit in Leichter Sprache Gemeinsam mit der Historikerin<br />

und Projektkoordinatorin Melanie Wahl und drei weiteren angehenden<br />

Peer-Referenten führt Iris Helbig heute zehn ihrer<br />

Werkstattkollegen durch die Ausstellungsräume der Gedenkstätte, die<br />

unmittelbar neben den Pirnaer Werkstätten steht. Vor knapp einem<br />

Jahr hat ihre Trägerin, die AWO SONNENSTEIN gemeinnützige<br />

GmbH, in Kooperation mit der Stiftung Sächsische Gedenkstätten/Gedenkstätte<br />

Pirna Sonnenstein und gefördert von der Aktion Mensch<br />

das Peer-Ausbildungsprojekt aufgelegt. Menschen mit Behinderungen<br />

können sich innerhalb von drei Jahren zu Peer-Referenten ausbilden<br />

lassen, um anschließend als Honorarkraft die dunkle Geschichte des<br />

Orts in Leichter Sprache zu vermitteln.<br />

Es war ein Start bei Null, sagt die Projektkoordinatorin der AWO<br />

SONNENSTEIN, Melanie Wahl. Auch das Konzept sollte mit den Peers<br />

in spe gemeinsam erarbeitet werden. Melanie Wahl verfasste einen<br />

Infoflyer in Leichter Sprache, schrieb Werkstattträger, Sozialverbände<br />

und Förderschulen in der Region an, um interessierte Gedenkstättenführer<br />

zu gewinnen. Iris Helbig war als Erste dabei. Seit 2017 arbeitet<br />

sie im Berufsbildungsbereich Holz der Pirnaer Werkstätten der AWO:<br />

„Es ist mir wichtig, neben meinem Werkstattarbeitsplatz noch weitere<br />

Aufgaben zu haben. Es ist schön, wenn ich etwas für die Bildung tun<br />

und Geschichtswissen an meine Kolleginnen und Kollegen weitergeben<br />

kann.“ Viele, die seit Jahren in der Werkstatt unmittelbar neben der<br />

Gedenkstätte arbeiten, wüssten nichts von den Gräueln, die das Nazi-<br />

Regime und ihre willigen Helfer vor gerade mal knapp 80 Jahren an<br />

diesem Ort verübten, sagt sie. Wüssten nichts vom geheimen Umbau<br />

der einstigen Heil- und Pflegeanstalt zur Tötungsanstalt von Menschen<br />

mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen. Für die AWO<br />

SONNENSTEIN ein wichtiges Motiv, das Peerprojekt zur Bildungsund<br />

Erinnerungsarbeit für Menschen mit Beeinträchtigungen anzustoßen.<br />

„In DDR-Zeiten haben wir in der Schule davon nichts gehört. Ich<br />

wollte mehr wissen“, sagt auch Petra Kiehle. So war die gehbehinderte<br />

EU-Rentnerin, die sich seit Jahren vielfältig bei Freizeitangeboten für<br />

behinderte Menschen engagiert, sofort dabei, als ihre Sozialarbeiterin<br />

von dem Ausbildungsprojekt erzählte. Erst nach 1989 wurde der fast<br />

vergessene Massenmord in Pirna zum Thema der öffentlichen Aufarbeitung,<br />

im Juni 2000 wurde die Gedenkstätte eröffnet. Sein Interesse<br />

an Geschichte und ein Besuch in der Gedenkstätte hat Erik Vogel zum<br />

Projekt stoßen lassen. Auch er ist EU-Rentner, engagiert sich unter anderem<br />

als Inklusionsbeauftragter der SPD in Dresden und als stellvertretender<br />

Landesvorsitzender der AG Selbst Aktiv. „Gerade jetzt, wo<br />

die Rechten wieder lautstark auf die Straße gehen, muss man alles tun,<br />

damit so etwas nicht wieder geschieht.“ Ähnlich formuliert es Birger<br />

Höhn, der als Berater bei der Ergänzenden Unabhängigen Teilhabeberatung<br />

(EUTB) in Dresden arbeitet. Er hat „Bezugspunkte zur eigenen<br />

Familiengeschichte“, die ihn für das Peer-Projekt motiviert haben:<br />

„Mich bewegt das emotional alles sehr.“<br />

Geschichtsunterricht zur Vorbereitung Sieben ganz unterschiedliche<br />

Menschen – vom Förderschüler über die Werkstattbeschäftigte bis zum<br />

EU-Rentner – hat Melanie Wahl inzwischen in ihrer Projektgruppe<br />

versammelt. Im Dezember vorigen Jahres haben sie sich zum ersten<br />

Mal getroffen und im 14-Tages-Rhythmus die ganze Geschichte des<br />

Sonnensteins und der Nazi-Ideologie aufgerollt: angefangen bei der i<br />

14<br />

Iris Helbig ist das Bildungsangebot für ihre Kollegen wichtig<br />

Blick in die Kellerräume, wo früher die Verbrennungsöfen standen<br />

Peer-Referentin Petra Kiehle erzählt von den berüchtigten grauen Bussen<br />

i Heil- und Pflegeanstalt Sonnenstein, die 1811 eröffnet wurde und bis<br />

zur Machtergreifung Hitlers als reformpsychiatrische, moderne Vorzeige-Einrichtung<br />

galt. Sie befassten sich eingehend mit Sozialdarwinismus,<br />

der Hitlers Ideologie von „Rassenhygiene“ den Nährboden<br />

bereitete, mit Propagandamethoden der NSDAP und Begrifflichkeiten<br />

wie „Gnadentod“ oder „erbkrank“. In ihren „Geschichtsstunden“<br />

setzten sie sich damit auseinander, wie behinderte Menschen als „nutzlose<br />

Esser“ diffamiert, aus dem ganzen Land in grauen Bussen mit abgeklebten<br />

Scheiben in die vermeintlichen Heil- und Pflegeanstalten<br />

verfrachtet und von Ärzten begutachtet wurden, deren einzige Aufgabe<br />

es war, plausible Todesursachen zu definieren. Lernten, wie Helfer in<br />

Serie vorformulierte „Trostbriefe“ an Angehörige verfassten und vorgetäuschte<br />

Todesumstände erklärten.<br />

Viele der geschichtlichen Details hat die Gruppe in ihre ganz eigene<br />

Konzeption der Führungen in Leichter Sprache aufgenommen. Kein<br />

einfacher Stoff. Einige der propagandistischen, hetzerischen Begriffe<br />

sind auf den ersten Blick nicht leicht zu vermitteln. Alle Besucher bekommen<br />

vorsorglich zu Beginn der Führung einen kleinen roten Zettel<br />

mit der Aufschrift „Halt! Leichte Sprache“ in die Hand gedrückt.<br />

„Wer etwas nicht versteht, kann einfach den Zettel hochhalten.“ Iris<br />

Helbig und Melanie Wahl heften zu Beginn der Tour Papierschilder<br />

mit gegensätzlichen Wortpaaren an die Wand und fragen ihre Besucher<br />

nach Beispielen: Was ist nützlich, was nutzlos? Was minderwertig,<br />

„Was wäre geschehen, wenn ich<br />

einige Jahre früher geboren wäre?“<br />

ERIK VOGEL, ANGEHENDER PEER-REFERENT<br />

was höherwertig? Was lebenswert und lebensunwert? Klingt „Gnadentod“<br />

gut oder schlecht? Kurz darauf, im Dachgeschoss der Gedenkstätte,<br />

sind es nicht mehr die harmlosen Beispiele wie „Eimer<br />

ohne Boden“ oder „Strümpfe mit Löchern“, die die Besucher als „nutzlos“<br />

aufgezählt haben. Es sind reale Menschen mit Beeinträchtigungen,<br />

die mit ihrem Namen, in Bildern und Biografien lebendig werden<br />

und von den Nazis in die Kategorie „nutzlos“, „minderwertig“, „lebensunwert“<br />

sortiert wurden. Hier wird auch der harmlos klingende<br />

„Gnadentod“ zum gnadenlosen Mord.<br />

Iris Helbig und Melanie Wahl erzählen von den Menschen, von ihren<br />

Familienangehörigen, die sich sorgten, lesen aus den Trostbriefen vor,<br />

die sie erhielten, antworten auf entsetzte Fragen und betroffene Kommentare<br />

ihrer Gäste. Kurz darauf, unten im Keller, hält es Erik Vogel<br />

nicht mehr aus und muss ins Freie. „Was wäre geschehen, wenn ich einige<br />

Jahre früher geboren wäre?“ Eine Frage, die er sich immer wieder<br />

stellt, wenn er in der Gedenkstätte die Schicksale der Ermordeten anschaut,<br />

sagt er. „Vor allem die der Kinder, die ihr Leben noch vor sich<br />

hatten.“ Dass sich gerade auch Menschen mit Behinderungen mit der<br />

Nazi-Vergangenheit auseinandersetzen, hält er für wichtig, vor den<br />

Führungen, die er absehbar selbst halten wird, hat er allerdings „ganz<br />

schön Muffe“, gibt er zu.<br />

Drei Jahre Ausbildung Bis März 2021 läuft das Ausbildungsprojekt. Bis<br />

dahin sollen die Peers mit Faktenwissen und didaktischen Ansätzen so<br />

weit sein, dass sie immer zu zweit durch die Gedenkstätte führen und<br />

sich auch selbst organisieren, sagt Melanie Wahl. Noch feilen die angehenden<br />

Peer-Referenten an den Abläufen, setzen sich nach jeder Probeführung<br />

zusammen und besprechen mit Melanie Wahl, was gut oder<br />

weniger gut gelaufen, was noch verbessert werden könnte.<br />

Am Elbhang-Wald hinter der Gedenkstätte ist die Resonanz der Besuchergruppe<br />

aus den Pirnaer Werkstätten der AWO durchweg positiv.<br />

„Sehr traurig“, aber auch „sehr interessant“ lauten die Kommentare.<br />

Die Gäste spüren auch nichts von der Nervosität ihrer Guides. Dort, wo<br />

Hitlers Helfer unbeobachtet die Asche der verbrannten Opfer achtlos<br />

den Hang hinunter, zwischen die Bäume kippten, sind alle angehenden<br />

Referenten spontan mit Redebeiträgen an der Reihe. Jeder von ihnen<br />

hält die Kopie eines Ausstellungsdokuments hoch und fasst wesentliche<br />

Informationen zusammen oder stößt ein Gespräch darüber an.<br />

Am Ende der Tour setzen sich Besucher und Peers zusammen, Melanie<br />

Wahl und Iris Helbig legen Bilder zum Gehörten und Gesehenen<br />

auf den Tisch. Jeder kann einen Stein auf das Bild legen, dessen<br />

Geschichte ihn am meisten bewegt hat. „Behaltet das, was euch aufgewühlt<br />

hat und belastet, nicht für euch“, gibt Iris Helbig ihren Kollegen<br />

mit auf den Weg. „Darüber sprechen hilft.“ AS ❚<br />

Bildet die Peer-Guides aus: Projektkoordinatorin Melanie Wahl<br />

KONTAKT<br />

AWO SONNENSTEIN, PIRNA, gemeinnützige GmbH<br />

Melanie Wahl, Projektkoordinatorin<br />

Schlosspark 9-12, 01796 Pirna<br />

Melanie.Wahl@awo-sonnenstein.de<br />

Tel.: 03501 797230<br />

www.awo-sonnenstein.de<br />

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K L A R E R K U R S 0 3 / 1 9<br />

B I L D U N G : A W O S O N N E N S T E I N , P I R N A 15


BILDUNG/DIGITALE MEDIEN<br />

„Die App bereichert einfach<br />

den Bildungsalltag“<br />

➜ Thema: Mit der Capito-App werden Texte am Arbeitsplatz und in der Schulung leichter verständlich<br />

➜ Einrichtung: OWB Oberschwäbische Werkstätten gem. GmbH ➜ Ort: Mengen<br />

Rollenwechsel: Als Experten erklären BBB-Teilnehmer<br />

den Besuchern vom Rudolf-Sophien-Stift die App<br />

ES IST HEISS im Schulungsraum am OWB-<br />

Standort in Mengen. Das einstöckige Fabrikgebäude<br />

liegt in einem weitgehend baumlosen<br />

Gewerbegebiet im Donautal und hat sich in der<br />

Sommersonne kräftig aufgeheizt. Die Plätze in<br />

Reichweite des Standventilators sind deshalb besonders<br />

begehrt. Vier junge Männer und eine<br />

Frau sitzen gemeinsam mit Bildungsbegleiter<br />

Christian Bader um weiße Bürotische herum, die<br />

dicken Aktenordner mit Schulungsunterlagen an<br />

den Plätzen. Daneben hat jeder ein DIN-A4-großes<br />

Tablet liegen. „Persönliche Hygiene“ heißt das<br />

Kapitel, das heute dran ist. Und während Christian<br />

Bader zu erläutern beginnt, worum es dabei<br />

alles gehen wird, schnappt sich Lara Rautenberg<br />

ihr Tablet. Ein paar Mal Wischen und Klicken,<br />

und schon hat sie über die Capito-App den entsprechenden<br />

Code im Ordner abfotografiert.<br />

Über solche QR-Codes werden ganze Kapitel und<br />

einzelne Schulungsunterlagen auf das Gerät<br />

hochgeladen. „Dann kann ich hier auf ‚leichter<br />

lesen’ klicken, damit ich es besser verstehe“, demonstriert<br />

die 19-Jährige. Und schon hat sie eine<br />

einfachere Version des Schulungsstoffes auf dem<br />

Display. Aber nicht nur eine: Über die App werden<br />

sowohl der Originaltext als auch drei leichtere<br />

Versionen in abgestuften Sprachniveaus zur Verfügung<br />

gestellt. „Ich nehm’ immer das ‚leichter zu<br />

lesen’“, sagt Lara Rautenberg, „das ist Stufe A2“.<br />

Informationen aufs Handy laden Die junge Frau<br />

mit dem blonden Pagenschnitt beherrscht den<br />

Umgang mit Tablet und App perfekt und ist doch<br />

erst seit Mai dabei. Sie steckt noch im Eingangsverfahren,<br />

einer dreimonatigen Orientierungsphase.<br />

„Da geht es in erster Linie darum, Stärken<br />

und Schwächen herauszufinden und auch Vorlieben<br />

zu ermitteln“, erklärt Bildungsbegleiter Bader.<br />

Danach entscheidet sich dann, in welchem Berufsfeld<br />

sie die folgenden zwei Jahre verbringen<br />

will. Im Berufsbildungsbereich der Oberschwäbischen<br />

Werkstätten stehen die Bereiche „Lager und<br />

Logistik“, „Hauswirtschaft“ oder „Metall“ zur<br />

Auswahl.<br />

Entschieden hat sich Lara Rautenberg noch<br />

nicht. Im Metall-Bereich hat sie gesehen, wie man<br />

Teile stanzt. Das hat ihr gefallen. „Oder der Reinraum<br />

wär’ spannend, wo man die Sachen fürs<br />

Krankenhaus macht.“ Dort werden unter besonderen<br />

hygienischen Bedingungen Medizinprodukte<br />

verpackt. Arbeiten darf man hier nur in<br />

Schutzkleidung, und rein kommt man nur durch<br />

eine spezielle Schleuse. Fürs Ein- und Ausschleusen<br />

gibt es genaue Regeln, die verhindern<br />

sollen, dass unzulässig viele Schmutzpartikel in<br />

den fusselfreien Arbeitsbereich gelangen. Das<br />

entsprechende Kapitel dazu hat sich Lara Rautenberg<br />

auch schon in ihre App geladen. „Ich<br />

hab’ das dann auch auf dem Handy und kann<br />

das mit nach Hause nehmen“, erklärt sie. So<br />

kann sie sich die Vorschriften immer wieder<br />

durchlesen, die entsprechenden Bilder dazu hat<br />

sie bereits im Kopf.<br />

„Vor einem guten Jahr haben wir damit begonnen,<br />

die Capito-App in unseren Werkstätten zu<br />

nutzen“, berichtet Bernd Heggenberger, Leiter des<br />

Bereichs Bildung und Arbeitsförderung. Damit<br />

sind die OWB einer von zwei Werkstattträgern in i<br />

bilal mechkit:<br />

„Ohne App<br />

wär’s für mich<br />

schwieriger“<br />

Lernen klappt gut mit der Capito-App: Bilal Mechkit<br />

16 B I L D U N G : O W B O B E R S C H W Ä B I S C H E W E R K S T Ä T T E N G E M . G M B H , R A V E N S B U R G K L A R E R K U R S 0 3 / 1 9 K L A R E R K U R S 0 3 / 1 9<br />

B I L D U N G : O W B O B E R S C H W Ä B I S C H E W E R K S T Ä T T E N G E M . G M B H , R A V E N S B U R G 17


maurice heinrich:<br />

„Ich probier’ auch<br />

mal den schwierigeren<br />

Text, aber leichter ist<br />

besser“<br />

marco stark:<br />

„Manchmal lese ist das<br />

selbst, aber lieber lass<br />

ich es mir vorlesen“<br />

lara rautenberg:<br />

„Es gibt ja echt viele<br />

Fremdworte, die wir<br />

nicht verstehen. Das<br />

wird uns dann alles<br />

erklärt“<br />

i<br />

Deutschland, die bereits dieses digitale Hilfsmittel<br />

des österreichischen Dienstleistungsunternehmens<br />

Capito aus Graz nutzen. Capito („ich habe<br />

verstanden“) stand bislang für eine zertifizierte<br />

Übersetzungsmethode von komplizierten Texten<br />

in Leichte Sprache. Auf Franchise-Basis gehören<br />

in Deutschland inzwischen zehn Unternehmen<br />

zum Capito-Netzwerk und bieten barrierefreie<br />

Informationsvermittlung als Dienstleistung an –<br />

in erster Linie Übersetzungen bereits vorhandender<br />

Texte, die nun eben auch per App genutzt<br />

werden können. Eines davon, Capito Bodensee,<br />

gehört zur OWB und sitzt am benachbarten<br />

Standort in Sigmaringen.<br />

Alle nutzen dieselben Unterlagen „Die App ist ein<br />

gigantisches Mittel, wenn man sieht, wie die<br />

Leute das aufnehmen und ernst nehmen. Das ist<br />

einfach schön.“ Wenn Bernd Heggenberger so ins<br />

Schwärmen gerät, leuchten seine Augen. Die<br />

Leute – damit meint er die Teilnehmerinnen und<br />

Teilnehmer des OWB-Berufsbildungsbereichs. 48<br />

Menschen durchlaufen darin derzeit Teilqualifizierungsmaßnahmen.<br />

Menschen mit Behinderung,<br />

aber auch Geflüchtete, EU-Ausländer und<br />

Langzeitarbeitslose aus bildungsfernen Milieus.<br />

„Wir machen die Maßnahmen gemischt, alle<br />

nutzen dieselben Unterlagen“, berichtet Heggenberger.<br />

Auch die Capito-App gehört, neben zwei<br />

weiteren Apps, zu den Standard-Arbeitsmitteln.<br />

Wer kein eigenes Smartphone besitzt, kann ein<br />

Tablet des Betriebs nutzen.<br />

Zu den Unterlagen, die das Team von Capito<br />

Bodensee bereits für die App übersetzt und geprüft<br />

hat, zählen Schulungsunterlagen und die<br />

persönlichen Arbeitsverträge des Berufsbildungsbereichs.<br />

„Die sind erst mal sehr komplex<br />

zu lesen, weil sie natürlich Agentur-für-Arbeitkonform<br />

sein müssen“, sagt Heggenberger. Auch<br />

hier erleichtert die App Zugang und Verständnis.<br />

„Sie müssen halt verstehen: Wenn ich krank bin,<br />

muss ich mich melden.“<br />

18 B I L D U N G : O W B O B E R S C H W Ä B I S C H E W E R K S T Ä T T E N G E M . G M B H , R A V E N S B U R G<br />

Viele beginnen wieder zu lesen Den Einsatz der<br />

App will Heggenberger nach und nach auf<br />

sämtliche Arbeitsfelder der OWB ausweiten. 650<br />

Menschen sind derzeit an sechs Standorten zwischen<br />

Donau und Allgäu beschäftigt. Arbeitsplatzbeschreibungen,<br />

Info-Schreiben, Arbeitsanweisungen<br />

– in der Capito-App soll sich künftig<br />

alles nachlesen lassen. Am unternehmensweiten<br />

Intranet wird bereits gebastelt. „Das<br />

Schöne an der App ist ja: Jeder Mensch kann<br />

sich selbst aussuchen, wie er etwas lesen will und<br />

versteht“, betont Heggenberger. „Und niemanden<br />

von uns geht es etwas an, wie der das liest.“<br />

Einen Nebeneffekt hat er im Berufsbildungsbereich<br />

bereits bemerkt: Gerade Menschen mit<br />

Lernschwierigkeiten würden die Themen Lesen<br />

und Schreiben häufig umgehen, vermutlich<br />

wegen früherer Misserfolge. „Inzwischen haben<br />

aber viele wieder begonnen zu lesen.“<br />

Der aufgeheizte Schulungsraum hat sich inzwischen<br />

gefüllt, die Lerngruppe hat Besuch<br />

bekommen. Eine Delegation vom Rudolf-Sophien-Stift<br />

aus Stuttgart tauscht sich mit der<br />

OWB über Digitalisierung im Arbeitsbereich aus<br />

und lässt sich auch den Umgang mit der Capito-<br />

App zeigen. „A2 ist gut“, sagt Marco Stark spontan.<br />

Eine andere Schwierigkeitsstufe wähle er<br />

selten, am liebsten lasse er sich die Texte vorlesen<br />

– und startet gleich die Sprachausgabe. „Auf Android<br />

funktioniert die Vorlesefunktion schöner als<br />

auf Apple“, wirft Bildungsbegleiter Christian<br />

Bader ein.<br />

„Ich probier’ auch mal den schwierigeren Text“,<br />

erklärt Maurice Heinrich den Besuchern, „aber<br />

leichter ist besser.“ Und Bilal Mechkit ergänzt:<br />

„Jeder Mensch kann sich selbst aussuchen,<br />

„Ohne App wär’s für mich schwieriger.“ Die jungen<br />

Männer sind alle zwischen 19 und 22 und im<br />

ersten BBB-Jahr. Samed Mehinovic berichtet stolz,<br />

dass er in der Nudelverpackung arbeitet, bereits<br />

den Hubwagen-Führerschein gemacht hat und<br />

auch schon an die Verpackungsmaschine durfte,<br />

mit der man eine ganze Palette Nudelkartons<br />

ringsherum in Folie einwickeln kann. Dann zeigt<br />

er den Besuchern noch seine eigenen Notizen:<br />

Viele Stellen aus der App hat er sich auf Papier abgeschrieben<br />

und auch die dazugehörigen Warnschilder<br />

abgemalt. „Gigantisch, wie die sich<br />

Gedanken machen und dazulernen“, schwärmt<br />

Bernd Heggenberger ein weiteres Mal. „Die App<br />

bereichert einfach den Bildungsalltag.“ Auch dass<br />

die Teilnehmer jetzt als Experten für die Anwendung<br />

anderen die App erklären, findet er großartig<br />

– ein Rollenwechsel, der Mut macht und<br />

Selbstbewusstsein gibt.<br />

Spannende Möglichkeiten Yvonne Frick leitet<br />

beim Rudolf-Sophien-Stift in Stuttgart den Bereich<br />

Berufliche Bildung. Beim Besuch in Mengen<br />

entdeckt sie durchaus spannende i<br />

K L A R E R K U R S 0 3 / 1 9<br />

wie er etwas lesen will und versteht“ BERND HEGGENBERGER, BBB-LEITER<br />

i<br />

Möglichkeiten, wie sich die Capito-App in<br />

ihrem eigenen Hause anwenden ließe. „Die verschiedenen<br />

Textstufen klingen ja zunächst reizvoll<br />

für diejenigen, die kognitiv nicht so fit sind“,<br />

meint Frick. „Dafür haben wir eher nicht so das<br />

typische Klientel.“ Das Rudolf-Sophien-Stift ist<br />

auf psychische Erkrankungen spezialisiert, ein<br />

Großteil der rund 500 Mitarbeiter in den Werkstätten<br />

hat einen Hochschulabschluss oder eine<br />

umfassende Ausbildung. „Allerdings gehen mit<br />

manchen Erkrankungen auch Lernschwächen<br />

einher“, sagt Frick, „und da könnte der Gebrauch<br />

der App vermutlich die Autonomie erhöhen.“<br />

Dabei denkt sie speziell an einen<br />

Mitarbeiter, der nicht mehr in der Lage ist, sich<br />

die Einstellungen der Waschmaschine zu merken.<br />

Eine Anleitung auf Papier habe wenig geholfen,<br />

mit einem Film dagegen käme er jetzt<br />

zurecht.<br />

Wie vielfältig die Anwendungsmöglichkeiten<br />

der App sein könnten, entdeckt auch Heggenberger<br />

immer mehr – und auch, wo Grenzen liegen.<br />

Bei der Nachbarfirma im Mengener<br />

Gewerbegebiet, einem Automobilzulieferer, sei<br />

K L A R E R K U R S 0 3 / 1 9<br />

Ist begeistert von den vielen Möglichkeiten der App: Bernd<br />

Heggenberger (m.) mit Marco Stark (l.) und Maurice Heinrich<br />

das Interesse an Anleitungen auf verschiedenen<br />

Sprachstufen groß: Mitarbeiter stünden oft vor<br />

Sprachbarrieren oder Verständnisschwierigkeiten,<br />

die damit überwunden werden könnten.<br />

„Was bei uns nicht funktioniert, ist der Speiseplan“,<br />

erinnert sich Heggenberger an seine ersten<br />

Versuche, die Capito-App einzusetzen.<br />

Schnell wurde klar: Bei vier verschiedenen Lieferanten,<br />

die täglich jeweils mindestens zwei unterschiedliche<br />

Menüs an verschiedene OWB-<br />

Standorte liefern, kommen die beiden Mitarbeiterinnen<br />

von Capito Bodensee mit dem<br />

Übersetzen nicht hinterher. „Da müsste ich eine<br />

Kraft allein dafür einstellen.“ Deshalb will Heggenberger<br />

den Einsatz der App jetzt erst einmal<br />

im Werkstattbereich ausweiten. GS ❚<br />

KONTAKT<br />

OWB Oberschwäbische Werkstätten gem. GmbH<br />

Bernd Heggenberger<br />

Leiter Bildung und Arbeitsförderung<br />

Jahnstraße 98, 88214 Ravensburg<br />

Tel.: 0751 36338-525<br />

bernd.heggenberger@owb.de<br />

www.owb.de<br />

Bildungsbegleiter Christian Bader<br />

LEICHTER LESEN AM SMARTPHONE<br />

Über die LL-App von Capito können<br />

Texte in vier verschiedenen Sprachniveaus<br />

abgerufen werden – je<br />

nach dem, wie diese zuvor hinterlegt<br />

wurden. Dazu öffnet man die<br />

App auf einem Smartphone oder<br />

Tablet und fotografiert dann mit<br />

der Kamera einen zum Text gehörigen<br />

QR-Code ab. Nach einer kurzen<br />

Ladezeit steht das Dokument bereit:<br />

zum einen im Original, zum<br />

anderen in drei vereinfachten Versionen.<br />

„Leicht zu lesen“ entspricht<br />

dabei der Stufe B1 nach dem vom<br />

Europarat festgelegten „Gemeinsamen<br />

europäischen Referenzrahmen<br />

für Sprachen“ (GeRS). Mit<br />

„Leichter zu lesen“ gelangt man zu<br />

einem Text der Stufe A2, mit „Sehr<br />

leicht zu lesen“ zu A1. Möglich ist<br />

sogar, auch eine englische Version<br />

zu hinterlegen. Daneben gibt es<br />

die Funktion, sich den Text über die<br />

Sprachausgabe des Betriebssystems<br />

vorlesen zu lassen. Es kann<br />

sogar ein Video in Gebärdensprache<br />

aufgerufen werden, sofern der<br />

Anbieter eines hinterlegt hat.<br />

Sämtliche Dokumente, die man<br />

einmal per QR-Code hochgeladen<br />

hat, bleiben gespeichert und lassen<br />

sich auch mit nach Hause nehmen.<br />

Dort kann man sie noch<br />

einmal nachlesen oder auch mit<br />

anderen Sprachstufen experimentieren.<br />

Daneben bietet der Hersteller<br />

der App, die Firma Capito aus<br />

dem österreichischen Graz, auch<br />

einen kostenlosen Themenkanal<br />

Nachrichten an. Darin werden<br />

jeden Nachmittag die wichtigsten<br />

Nachrichten des Tages veröffentlicht<br />

– ebenfalls in vier verschiedenen<br />

Sprachstufen.<br />

B I L D U N G : O W B O B E R S C H W Ä B I S C H E W E R K S T Ä T T E N G E M . G M B H , R A V E N S B U R G<br />

19


ARBEIT/INKLUSION<br />

„Wenn die Firma es wirklich<br />

will, kann das klappen<br />

mit der Inklusion“<br />

➜ Thema: Ein Betrieb realisiert das „Projekt<br />

Inklusion“<br />

➜ Unternehmen: Flughafen München GmbH<br />

„INKLUSION IN DER ARBEITSWELT? Das ist doch<br />

eine Wunschvorstellung von Gutmenschen. Die Realität<br />

sieht anders aus. Betriebe sind auf Gewinnmaximierung<br />

aus, das Thema Behinderung hat da keinen<br />

Platz.“ So lautet eine gängige Meinung. Die hohen<br />

Ausgleichszahlungen für nicht besetzte Schwerbehindertenplätze<br />

scheinen den Skeptikern recht zu geben.<br />

Einige Firmen wollen jedoch den Gegenbeweis antreten<br />

und schreiben das Thema Inklusion bewusst auf<br />

ihre Fahnen. Zu ihnen gehört die Flughafen München<br />

GmbH, die FMG.<br />

Barrierefreier Flughafen Flughäfen müssen schon aus<br />

wirtschaftlichen Gründen dem Thema Behinderung<br />

Beachtung schenken. Schließlich gehören behinderte<br />

Fluggäste zu ihren Kunden. Deshalb bemüht sich der<br />

Münchener Flughafenkonzern seit Jahren um Barrierefreiheit,<br />

hat u.a. ein taktiles Leitsystem für Sehbehinderte<br />

eingebaut und sensibilisiert seine Mitarbeiter<br />

in Schulungen für die besonderen Bedürfnisse<br />

behinderter Menschen. Dafür bekam er das Signet<br />

„Bayern barrierefrei – wir sind dabei“ verliehen.<br />

Zudem ist er als einer von drei Flughäfen in Deutschland<br />

mit dem Qualitätssiegel „Reisen für Alle“ zertifiziert.<br />

Das Thema Inklusion will der Flughafen jetzt auch<br />

in Bezug auf seine Mitarbeiterschaft in Angriff nehmen.<br />

Dazu beigetragen hat sicher die hohe Schwerbehindertenquote<br />

von elf Prozent, überwiegend<br />

langjährige Mitarbeiter, die im aufreibenden Flughafengeschäft<br />

erkrankt sind. Dass die Quote so hoch ist,<br />

ist ein Beleg dafür, dass die FMG das Ziel verfolgt,<br />

diese Beschäftigten im Unternehmen zu halten und<br />

ihre Arbeitsbedingungen anzupassen. Seit Jahren<br />

wurde Inklusion im FMG-Konzern von der Geschäfts-<br />

und Personalleitung gefördert: Der Begriff<br />

soll in Abläufen und Vorgaben beschrieben werden,<br />

die einen Standard definieren. Dabei geht es nicht nur<br />

um Personalthemen, sondern auch ums Bauen, um<br />

Büroausstattung oder Auftragsvergaben.<br />

20 A R B E I T : F L U G H A F E N M Ü N C H E N G M B H<br />

Der Motor des Inklusionsgedankens Der Kopf hinter<br />

den vielfältigen Aktivitäten heißt Willy Graßl. Der Arbeitswissenschaftler<br />

ist schon 31 Jahre bei der FMG<br />

beschäftigt und eine Institution: Bodenständig, kommunikativ,<br />

ein Teamplayer mit Überzeugungskraft. Jemand,<br />

der für seine Themen brennt. Schon früh war<br />

er Mitglied des Betriebsrats, wurde dessen Vorsitzender.<br />

2010 erhielt er von der Geschäftsleitung den Auftrag,<br />

das Gesundheitsmanagement neu zu strukturieren.<br />

Eine Aufgabe, der er sich mit Erfolg widmete.<br />

Aufgrund einer schweren Erkrankung musste Willy<br />

Graßl 2015 für ein halbes Jahr pausieren und erhielt<br />

den Schwerbehindertenstatus. 2018 wurde er Verantwortlicher<br />

für das Inklusionsthema. Er treibt es gemeinsam<br />

mit seiner Kollegin Petra Bauer voran, die<br />

bereits die Vorarbeiten geleistet hatte.<br />

Die Motive des Betriebs erläutert er so: „Es geht um<br />

die eigenen Schwerbehinderten, aber auch um die<br />

Neueinstellungen behinderter Kollegen. Wir brauchen<br />

gelebte Vielfalt. Die Botschaft lautet: Dieses Unternehmen<br />

stellt sich auf seine Mitarbeiter ein, ist flexibel<br />

und anpassungsfähig. Das macht uns zu einem attraktiven<br />

Arbeitgeber. In Zeiten des Fachkräftemangels<br />

ist das ein Mehrwert.“<br />

Die Weltoffenheit des Flughafens spiegelt sich in seinen<br />

Beschäftigten wider. Menschen aus 70 Nationen<br />

arbeiten hier. Willy Graßl: „Es gibt Busfahrer, Feuerwehrleute,<br />

Verkäufer, Tätigkeiten in der Gastronomie<br />

und im Hotel, eine eigene Klinik, eine Tischlerei und<br />

sogar eine eigene Brauerei. Drei Imker betreuen auf<br />

dem Flughafenareal 16 Bienenvölker.“ Alle Bemühungen<br />

drehen sich um das Wohl und die Sicherheit<br />

der Fluggäste und um pünktliche Starts und Landungen.<br />

Keine einfache Aufgabe bei über 400 000 Flugbewegungen<br />

im Jahr und 46 Millionen Passagieren.<br />

Willy Graßl: „Wir sind eine große Flughafenfamilie,<br />

die an 365 Tagen im Jahr ihr Bestes geben muss und<br />

aufeinander angewiesen ist.“<br />

Besuch vor Ort Wie das Thema Inklusion in diese spezielle<br />

Arbeitswelt passt und wie es in der Praxis gelebt<br />

wird, zeigt Willy Graßl dem KLARER-KURS-Reporter<br />

auf einer Rundtour durch das Flughafengelände.<br />

In einem der Funktionsgebäude ist die Poststelle un- i<br />

Vom Praktikum in die Festanstellung: Patrick Kühnel<br />

K L A R E R K U R S 0 3 / 1 9 K L A R E R K U R S 0 3 / 1 9<br />

A R B E I T : F L U G H A F E N M Ü N C H E N G M B H 21


Willy Graßl, verantwortlich für das Thema Inklusion<br />

Vorgaben beziehen sich auch auf ergonomische IT-<br />

Geräte, die Beleuchtung und das Raumklima. Ergänzt<br />

wird die neue Ausstattung durch eine Ergonomieberatung,<br />

die die optimale Einstellung garantiert.<br />

Szenenwechsel in eines der Mitarbeitercasinos im<br />

Terminal 2. Hier hat Willy Graßl das Thema Inklusion<br />

auf andere Weise realisiert. „Wir kooperieren mit der<br />

Künstlergemeinschaft Groupe Smirage der Stiftung<br />

Pfennigparade und bieten den Künstlern die Möglichkeit<br />

zu einer Dauerausstellung. Wir leasen ihre Bilder<br />

für ein Jahr, dann wechseln sie. Die Bilder stehen<br />

auch zum Verkauf.“ Zur Vernissage der Dauerausstellung<br />

„KUNST Flüge“ waren alle 26 Künstler eingeladen,<br />

überwiegend Rollstuhlfahrer. Ein Großereignis<br />

im sicherheitsrelevanten Teil des Flughafengebäudes.<br />

Flughafen- statt Werkstattarbeitsplatz In einer<br />

Waschhalle im Bereich Fahrzeugwartung steht Johann<br />

Pletschacher mit zwei seiner Schülerinnen. Er ist<br />

Werklehrer an der Fröbelschule der Lebenshilfe Frei-<br />

„Wir<br />

brauchen<br />

gelebte<br />

Vielfalt“<br />

WILLY GRASSL<br />

Lehrer Johann Pletschacher im Gespräch mit Willy Graßl, Carina Lindner und Adrienne Fihr (v.l.)<br />

i tergebracht. Hier sind Tätigkeiten zusammengefasst,<br />

die der Betrieb aus den üblichen Abläufen verlagert<br />

hat. Die Absicht: Arbeitsplätze für Mitarbeiter zu<br />

schaffen, die aufgrund der körperlichen oder psychischen<br />

Belastung erkrankt sind. Christian Ostermaier<br />

ist der Teamleiter. Er zählt die Aufgaben seiner<br />

Abteilung auf: „Neben der Postverteilung verwalten<br />

wir das Büromaterial, kaufen ein, übernehmen die Getränkeversorgung,<br />

Kurier- und Botenfahrten.“ Christian<br />

Ostermaier war in der Bodenabfertigung tätig<br />

und ist selber vor einigen Jahren erkrankt. „Woanders<br />

hätte ich wahrscheinlich das Unternehmen verlassen<br />

müssen. Hier konnte ich in diese Abteilung wechseln<br />

und mein Chef hat mich nach einiger Zeit zum Leiter<br />

gemacht. Das hat mir neues Selbstvertrauen gegeben<br />

und mich gesundheitlich stabilisiert.“<br />

In der Verwaltung treffen wir Michael Berger. Er ist<br />

Sportwissenschaftler, kümmert sich um das Thema<br />

Ergonomie am Arbeitsplatz und gehört schon seit<br />

2012 zum Team von Willy Graßl. Die Arbeitsplatzausstattung<br />

war schon eines der Themen im Projekt<br />

Gesundheitsmanagement und ist bei der Erstellung<br />

des Inklusionskonzeptes wieder von Bedeutung. Es<br />

geht um Gesundheitsprophylaxe, aber auch darum,<br />

die Büromöbel auf jeden Bedarf anzupassen. Dazu hat<br />

Michael Berger einen Standard für den Konzern entwickelt.<br />

Beispiel: Jeder neu angeschaffte Schreibtisch<br />

ist elektrisch höhenverstellbar, sodass Menschen unabhängig<br />

von ihrer Größe oder auch Rollstuhlfahrer<br />

ihn nutzen können. Michael Berger: „Durch feste Rahmenverträge<br />

mit ergonomiebewussten Herstellern<br />

konnten wir den Standard sogar kostengünstiger umsetzen.<br />

Den Bestellvorgang haben wir zentralisiert und<br />

beschleunigt, es gibt keinen Wildwuchs mehr.“ Die<br />

22 A R B E I T : F L U G H A F E N M Ü N C H E N G M B H<br />

sing und leitet hier an jedem Dienstag ein Betriebspraktikum<br />

an. Heute reinigen die jungen Damen mit<br />

Hingabe einen Smart, der zum Fuhrpark der FMG gehört.<br />

Sie waschen die Scheiben, saugen Staub, putzen<br />

die Armaturen. „Wir öffnen unseren Schülern den Zugang<br />

zum Arbeitsmarkt,“ erläutert der Lehrer. „In der<br />

Werkstufe absolvieren sie jeden Dienstag ihren Praxistag<br />

in einem Betrieb und zwei Wochen im Jahr zusätzlich<br />

ein Blockpraktikum.“ Der Flughafen ist unter<br />

den Praktikumsmöglichkeiten der Schule erste Wahl.<br />

Nicht nur wegen seines guten Images, sondern auch<br />

wegen des guten Kantinenessens, wie Praktikantin<br />

Adrienne Fihr verschmitzt eingesteht: „Mittags gibt es<br />

hier auch immer eine Pizza zur Auswahl. Da freu ich<br />

mich die ganze Woche drauf.“ Für die Zeit nach der<br />

Schule haben die Schülerinnen klare Berufsvorstellungen.<br />

„Ich will Verkäuferin werden“, gibt sich<br />

Adrienne Fihr entschlossen und die etwas zurückhaltendere<br />

Carina Lindner will in den Kindergarten: „Ich<br />

möchte auf jeden Fall mit Kindern arbeiten.“ Die Aussichten,<br />

dass sich ihre Berufswünsche erfüllen, stehen<br />

gut, sagt ihr Lehrer: „25 Prozent der Schulabgänger<br />

finden einen Arbeitsplatz außerhalb der Werkstatt.“<br />

In der Nebenhalle spritzt Patrick Kühnel mit dem<br />

Hochdruckreiniger den Unterboden eines schweren<br />

Transportfahrzeuges ab. Er gehört zu denjenigen, die<br />

den Sprung aus den Praktika in eine Festanstellung<br />

geschafft haben. „Ich wollte diesen Arbeitsplatz unbedingt<br />

haben und hab’ mich mächtig reingehängt“, erinnert<br />

sich der heute 25-Jährige. Sein Chef und<br />

Anleiter ist Thomas Philippi. Der weiß, was er an dem<br />

jungen Mann hat: „Patrick arbeitet selbstständig und<br />

ist zuverlässig. Er liebt seine Arbeit und ist so gut wie<br />

nie krank.“ Thomas Philippi ist mit seiner zupacken-<br />

i<br />

Michael Berger kümmert sich<br />

als Sportwissenschaftler um<br />

das Thema Ergonomie am Arbeitsplatz.<br />

Alle neu angeschafften<br />

Schreibtische sind<br />

höhenverstellbar<br />

K L A R E R K U R S 0 3 / 1 9<br />

i den Art eine Vaterfigur für die jungen Leute. „Als ich<br />

Praktikanten von der Förderschule nehmen sollte, war<br />

ich anfangs skeptisch“, gibt er zu. „Ich wusste nicht,<br />

um welche Behinderungen es sich handelt. Heute bin<br />

ich froh, mich dafür entschieden zu haben.“ Besonders<br />

eine Praktikantin mit Downsyndrom hat er in bester<br />

Erinnerung. „Sie war so fröhlich und offen, da ging<br />

jedem das Herz auf.“ Auch mit den Festangestellten<br />

habe er nur gute Erfahrungen gemacht. Er ist sich sicher:<br />

„Wenn die Firma es wirklich will, dann geht viel,<br />

dann kann das klappen mit der Inklusion. Jeder hat<br />

seine Fähigkeiten und wenn man die Leute richtig einsetzt,<br />

profitiert auch das Unternehmen davon.“<br />

Willy Graßl schmunzelt bei diesen Sätzen, denn<br />

genau das ist die Botschaft, die er und seine Kollegin<br />

mit dem Inklusionsprojekt vermitteln wollen:<br />

„Schauen wir beim Thema Behinderung nicht immer<br />

auf die Einschränkung, sondern auf den Nutzen für<br />

den Betrieb.“ Bei der Personalgewinnung hat er nicht<br />

nur Behinderteneinrichtungen wie die Freisinger Lebenshilfe<br />

oder die Pfennigparade im Blick, er initiiert<br />

auch die Kontakte mit der Firma Auticon, einer Firma,<br />

die Menschen im Autismus-Spektrum als IT-Consultants<br />

vermittelt. Oder mit dem österreichischen Unternehmen<br />

MyAbility, das Studierenden mit Behinderung<br />

die Chance zum betrieblichen Einstieg gibt. Und<br />

Petra Bauer hat dafür gesorgt, dass die Flughafen<br />

München GmbH Mitglied im Unternehmensforum<br />

wurde, einem Zusammenschluss namhafter Firmen,<br />

die behinderten Menschen eine Anstellung ermöglichen<br />

und Aktionspläne für ihren Betrieb entwickeln.<br />

Inklusion muss Alltag werden Die Verschriftlichung<br />

von Standards und Vorgehensweisen ist der Weg, den<br />

K L A R E R K U R S 0 3 / 1 9<br />

Willy Graßl schon bei seinem Erfolg im Gesundheitsmanagement<br />

gegangen ist. In wenigen Jahren baute er<br />

eine eigene Abteilung, in der 14 Themen zusammengefasst<br />

waren, die vorher im Konzern eher stiefmütterlich<br />

behandelt wurden: Arbeitsmedizin und die<br />

psychosoziale Beratungsstelle gehörten dazu, Gesundheitskurse<br />

und Betriebssport, die Personalverpflegung<br />

mit den fünf Betriebskantinen, aber auch die<br />

Kinderkrippe, die Sozialberatung oder die Dienstkleidung.<br />

Bei kostenintensiven Entscheidungen wusste<br />

Willy Graßl die Geschäftsleitung auf seiner Seite und<br />

so wurde der Flughafen in Sachen Gesundheitsmanagement<br />

zu einem Vorzeigeunternehmen, das 2017 den<br />

renommierten Corporate Health Award gewann.<br />

Mit dem offiziellen Auftrag seines Chefs, dem Personalleiter<br />

Dr. Robert Scharpf, und mit der erforderlichen<br />

finanziellen Ausstattung für das Thema Inklusion<br />

definiert er nun wieder die zugehörigen Themenfelder,<br />

sucht Experten, die mit ihm gemeinsam<br />

die Entwicklung vorantreiben, und schafft Strukturen,<br />

die in schriftlichen Standards und in einem Konzernrahmenvertrag<br />

festgeschrieben werden. Standards und<br />

Vertrag sind für ihn aber nur Hilfen: „Entscheidend<br />

ist, dass sich Inklusion in den Köpfen festsetzt, dass sie<br />

an jedem Arbeitsplatz gelebt wird. Das Thema darf<br />

nicht an meiner Person oder der meiner Kollegin hängen,<br />

sonst habe ich mein Ziel nicht erreicht.“ Wie der<br />

Betrieb heute Gesundheitsmanagement lebt, so soll<br />

das Thema Inklusion ebenfalls selbstverständlich werden.<br />

Ein solcher Prozess erfordert einen langen Atem,<br />

wie Willy Graßl weiß: „Die Casino-Sanierung hat<br />

Jahre gedauert.“ Die Zeit gibt er sich. Spätestens wenn<br />

er in Rente geht, soll die Flughafen München GmbH<br />

ein Leuchtturmbetrieb für Inklusion sein. DB ❚<br />

Für jeweils ein Jahr<br />

geleast: Kunstwerke der<br />

Groupe Smirage der Stiftung<br />

Pfennigparade<br />

KONTAKT<br />

Flughafen München GmbH<br />

Willy Graßl<br />

Postfach 231755<br />

85326 München-Flughafen<br />

Tel.: 089 97564210,<br />

willy.grassl@munich-airport.de<br />

A R B E I T : F L U G H A F E N M Ü N C H E N G M B H<br />

23


ARBEIT/EIGENPRODUKT<br />

Ein eigenes<br />

Lichtermeer<br />

Handgefertigt: Tischlampe Boje<br />

➜ Thema: Gute Arbeit für Werkstattbeschäftigte<br />

durch Eigenprodukte<br />

➜ Einrichtung: Die Ostholsteiner gGmbH<br />

➜ Ort: Eutin, Heiligenhafen<br />

STEVEN, PLANKE, POLLER UND BOJE heißen<br />

sie und der maritime Bezug ihrer Namen macht<br />

schnell klar, woher sie kommen: von der Küste,<br />

genauer: aus Schleswig-Holstein. Sie sind fein designte,<br />

besondere Leuchten, die in verschiedenen<br />

Werkstätten von Die Ostholsteiner produziert<br />

werden. Unter dem klangvollen Namen „lichter°meer“<br />

vermarktet die Werkstatt aus Ostholstein<br />

ihre neue Eigenproduktserie, die in einer<br />

frisch gegründeten Arbeitsgruppe in der Heiligenhafener<br />

Werkstatt der Ostholsteiner endmontiert<br />

wird.<br />

Zur Arbeitsgruppe gehört Sascha Kranz, der<br />

sich in der Heiligenhafener Montagehalle gerade<br />

über Steven beugt: „lichter°meer gefällt mir richtig<br />

gut“, findet der 35-Jährige. Er sei stolz auf seine<br />

Arbeit und das Projekt. „Vor diesem Job habe ich<br />

15 Jahre in der Aktenvernichtung gearbeitet.“ Er<br />

schraubt die Leuchte routiniert auf das fertig angelieferte<br />

Holzelement, dann montiert er Kabel<br />

und Wandhalterung. „In der Gruppe fühle ich<br />

mich wohl“, strahlt er, „hier möchte ich lange bleiben.“<br />

Spricht’s und konzentriert sich auf die<br />

nächste Leuchte.<br />

Treibholz-Optik. Wer sich das aktuell günstigste<br />

Modell Boje auf den Tisch stellen will, muss dafür<br />

knapp 100 Euro bezahlen. „Qualität hat seinen<br />

Preis“, kommentiert Projektleiter Hansjörg Fischenbeck.<br />

Bernd Meyer (Name v. d. Red. geändert) hat für<br />

lichter°meer sogar die Werkstatt gewechselt. Vorher<br />

war er bei Die Ostholsteiner in Oldenburg,<br />

gute zehn Kilometer von Heiligenhafen entfernt.<br />

„Die Arbeit hier ist sehr vielseitig, was mir besonders<br />

gefällt: Wir können unser Produkt von Anfang<br />

bis Ende begleiten, wenn wir das wollen.“<br />

Nach einem Praktikum in Heiligenhafen habe er<br />

sich „um die Stelle bei lichter°meer gerissen“. Und<br />

bekommen. Nun ist der 61-Jährige zunächst für<br />

die Montage der Planke zuständig: So wie sein<br />

Kollege Sascha Kranz den Steven montiert, montiert<br />

er die Hängelampe. Fachlich hochqualifiziert<br />

− unter anderem ist er Schlossermeister, hat Vermessung<br />

gelernt, in der E-Technik und der Tischlerei<br />

gearbeitet und war auch schon Mediengestalter<br />

− hat Bernd Meyer mit dieser Stelle seinen<br />

Traumjob gefunden. Und auch privat hat er dazugewonnen,<br />

wie er mit einem Augenzwinkern<br />

sagt: „Ich sitze eine Stunde pro Tag weniger im<br />

Werkstattbus.“ Warum er dann nicht früher gewechselt<br />

habe? Wegen der Arbeit, die sei in Oldenburg<br />

für ihn zuerst deutlich interessanter und<br />

passender gewesen. Aber mit lichter°meer in Heiligenhafen<br />

ist ihm die Entscheidung leicht gefallen.<br />

Montiert die komplette Lampe: Henrik Schönherr<br />

Produktion im Verbund Jeder der vier Standorte<br />

arbeitet mit seinem Gewerk an den Leuchten mit.<br />

In Eutin etwa wird der Eisenfuß für das Modell<br />

Poller geschweißt und pulverbeschichtet. Oldenburg<br />

kümmert sich um Boje: Die Werkstatt verbindet<br />

Sichtbeton, LED-Leuchte und Holzelement.<br />

In Heiligenhafen wird endmontiert, verpackt<br />

und versandt, Schwentinental unterstützt<br />

mit seinem Bürobereich beim Marketing. Komponenten,<br />

die im eigenen Haus nicht gefertigt<br />

werden können, werden in enger Partnerschaft<br />

von den Preetzer Werkstätten gefertigt.<br />

Das Design der Leuchten liegt im aktuellen<br />

Treibholz-Trend. Boje ist eine Tischleuchte, Steven<br />

ist eine Wandleuchte, Planke eine Hänge- und<br />

Poller eine Stehleuchte. Allen gemein ist die Beleuchtungstechnik,<br />

also energieoptimierte Niedervolt<br />

LED, und das Thema gealtertes Holz in<br />

Neue Arbeitsinhalte Viele Werkstätten ziehen sich<br />

aus der Eigenproduktion zurück, anders Die Ostholsteiner,<br />

die sich vor rund zwei Jahren entschlossen<br />

haben, den Bereich Eigenprodukte als<br />

zusätzliche Säule der Produktion aufzubauen und<br />

damit weniger von Aufträgen Dritter abhängig zu<br />

sein. Zwar übernehmen sie auch weiterhin Aktenvernichtung,<br />

führen klassische Montage- und Verpackungsarbeiten<br />

durch, kochen, waschen, bearbeiten<br />

Metall und pulverbeschichten, aber mit den<br />

Eigenprodukten entstehen zusätzliche „unterschiedliche,<br />

neue und interessante Arbeiten für<br />

Menschen mit Beeinträchtigungen“, meint Hansjörg<br />

Fischenbeck, bei Die Ostholsteiner für Controlling<br />

und Projektmanagement zuständig, „für<br />

verschiedene Gewerke und an unterschiedlichen<br />

Standorten.“ Dennoch, Eigenprodukte sind kein<br />

einfaches Geschäft, der Projektleiter ist überzeugt:<br />

24 A R B E I T : D I E O S T H O L S T E I N E R G G M B H , E U T I N<br />

K L A R E R K U R S 0 3 / 1 9<br />

K L A R E R K U R S 0 3 / 1 9<br />

A R B E I T : D I E O S T H O L S T E I N E R G G M B H , E U T I N<br />

i<br />

120 cm hoch: Stehlampe Poller<br />

25


„Mit unseren Eigenprodukten<br />

entstehen interessante Arbeiten<br />

für die Beschäftigten“<br />

HANSJÖRG FISCHENBECK<br />

i „Wenn nicht alle im Haus an einem Strang ziehen,<br />

kann das nichts werden.“ Man müsse sowohl<br />

die Geschäftsführung mit guten Konzepten überzeugen<br />

als auch die einzelnen Werkstattleitungen<br />

und Arbeitsbegleiter mit ins Boot holen.<br />

Prototypen aus der Garage Wenn Hansjörg Fischenbeck<br />

über lichter°meer spricht, strahlt er mit<br />

seinen Leuchten um die Wette. „Anfangs war es<br />

nicht leicht, die Skeptiker im Unternehmen von<br />

meinen Ideen zu überzeugen“, sagt er, „aber ich<br />

bin aufgrund meiner Erfahrung in anderen Häusern<br />

davon überzeugt, dass Eigenprodukte der<br />

richtige Weg sind.“ Bis zur Endfertigung in Heiligenhafen<br />

dauerte es aber noch rund eineinhalb<br />

Jahre. Als begeistertem Radler, der auch schon mal<br />

über die Alpen fährt, ging ihm jedoch die Puste<br />

nicht aus: „Die Entwürfe der einzelnen Leuchten<br />

habe ich zu Hause am Wochenende in meiner Garage<br />

gebaut“, lacht Fischenbeck. Montags, wenn<br />

er dann mit seinen Ergebnissen in die Eutiner Geschäftsstelle<br />

gekommen sei, habe er nicht nur positive<br />

Reaktionen geerntet. „Mit den Menschen,<br />

die ich von lichter°meer begeistern konnte, haben<br />

wir dann intensive Überzeugungsarbeit in allen<br />

Werkstätten geleistet.“ Das hat sich gelohnt.<br />

Parallel zur Entwicklung seiner Leuchten setzten<br />

sich Fischenbeck und seine Kollegen mit dem<br />

Thema Marketing und Vertrieb von Eigenprodukten<br />

auseinander. Und er fand die richtigen<br />

Leuchtmittel und gute Verpackungslösungen.<br />

„Viele LED-Teile haben wir anfangs im Internet<br />

bestellt“, doch das habe seine Schattenseiten.<br />

„Manchmal kam eine ganz andere Leuchte als die<br />

bestellte an.“ Die hatte − obwohl identisch beschrieben<br />

− andere Maßen und die gut entwickelten<br />

Arbeitsanleitungen waren Makulatur.<br />

„Wir haben viel gelernt“, meint Fischenbeck mit<br />

einem Lächeln. <strong>Kurs</strong>änderung war auch bei der<br />

Namensgebung angesagt: Hatten die Ostholsteiner<br />

ihre vier Leuchten zuerst und schlicht nach<br />

den Werkstätten benannt, in denen sie entstehen<br />

− Eutin, Oldenburg, Schwentinental und Heiligenhafen<br />

−, gaben sie ihnen alsbald neue Namen:<br />

Den maritimen Bezug hatte der hausinterne Bereich<br />

„Öffentlichkeitsarbeit“ eingebracht.<br />

Produkttest in Nürnberg Im März dieses Jahres<br />

schließlich war es so weit: lichter°meer stellte auf<br />

i<br />

Henrik Schönherr, Christian Lühr bei der Lampenkontrolle; Christian Keitel, Sascha Kranz bei Packarbeiten<br />

26 A R B E I T : D I E O S T H O L S T E I N E R G G M B H , E U T I N<br />

K L A R E R K U R S 0 3 / 1 9 K L A R E R K U R S 0 3 / 1 9<br />

i<br />

der Werkstätten-Messe in Nürnberg aus, eine Premiere<br />

für Die Ostholsteiner: „Dort wollten wir<br />

unsere neuen Produkte präsentieren, wollten<br />

selbst sehen, wie das Publikum das lichter°meer<br />

aufnimmt, ob unsere Leuchten ankommen und<br />

wir den Markt richtig eingeschätzt haben“, erinnert<br />

sich Fischenbeck. Knapp 40 Leuchten hatten<br />

sie dabei − und stellten schon am Aufbautag fest,<br />

dass ihre Produkte das Zeug zum Publikumsliebling<br />

haben: Sie hätten alle direkt verkaufen können.<br />

„Und wir waren deutlich zu günstig“, findet<br />

der Produktentwickler. Die Qualität der Arbeit<br />

und das besondere Design machten andere Preise<br />

möglich.<br />

Mit nach Nürnberg zur Messe fuhren auch Heiligenhafens<br />

Abteilungsleiterin Liane Pitzschel und<br />

Arbeitsbegleiter Christian Lühr. Der 47-Jährige<br />

leitet seit zehn Jahren die Montage- und Kreativgruppe<br />

in Heiligenhafen gemeinsam mit einer<br />

Kollegin. Und als vor zwei Jahren die Geschäftsleitung<br />

alle Werkstatt-Tüftler und Kreativ-Engagierte<br />

dazu aufforderte, Eigenprodukte fürs<br />

Arbeits- und Beschäftigungsportfolio zu entwickeln,<br />

setzten beide das schnell um. „Wir haben<br />

begonnen, Taschen aus Segeltuch und Anziehhilfen<br />

für Neoprenanzüge zu nähen und lokal zu<br />

verkaufen“, erzählt der begeisterte Wassersportler.<br />

Als er nach der Messe gefragt wurde, ob er in Heiligenhafen<br />

eine neue Gruppe für die Endmontage<br />

des lichter°meers aufbauen würde, „habe ich nicht<br />

lange nachgedacht und ‚Ja‘ gesagt“. Innerhalb kurzer<br />

Zeit fand sich das neue, kleine Team zusammen:<br />

Eine tolle Truppe, freut sich der engagierte<br />

Arbeitsbegleiter, „alle sind hochmotiviert und mit<br />

vollem Elan bei der Sache“.<br />

Lieber weniger, aber dafür gut Über Verkauf und<br />

Vertrieb der Leuchten machen sich Die Ostholsteiner<br />

keine Sorgen. Neben dem Verkauf im eigenen<br />

Werkstattladen bewerben sie die edlen<br />

Lichtspender über ihre Website lichterpunktmeer.de<br />

und im Onlineshop von Die Ostholsteiner,<br />

dort können sie auch bestellt werden. „Aktuell<br />

arbeiten wir die vorhandenen Aufträge der Messe<br />

ab“, sagt Fischenbeck. So schaffe die Montagegruppe<br />

zwischen fünf und zehn Leuchten pro Tag.<br />

Qualität braucht eben seine Zeit. Anfragen gab es<br />

aber auch schon für 200 Stück en gros. „Da mussten<br />

wir passen − und zwar leichten Herzens.“ Ein<br />

Holz für die lichter°meer-Produkte<br />

hochwertiges Produkt ist und bleibt das Ziel: „lieber<br />

weniger und dafür gut“.<br />

Und wie geht es nun weiter? „Heiligenhafen<br />

boomt“, sagt Liane Pitzschel, „und das wird lichter°meer<br />

auch tun.“ Das neue Projekt tue der Einrichtung<br />

gut. Angestoßen durch das Projekt<br />

haben Die Ostholsteiner neue Strukturen geschaffen<br />

und das Angebot an interessanten Arbeitsplätzen<br />

deutlich erweitert. So wurden zum<br />

Beispiel die Arbeitsgruppen anders zugeschnitten,<br />

damit lichter°meer gut starten und Christian Lühr<br />

und sein Team sich in die neue Materie einarbeiten<br />

konnten. „Das hat nicht allen Mitarbeitern gefallen“,<br />

konstatiert Liane Pitzschel, „aber jetzt sind<br />

alle mit der Umstellung durchaus zufrieden.“<br />

Auf dem Parkplatz vor der Werkstatt liegen<br />

Holzreste, säuberlich auf einem Haufen, Reste des<br />

alten Heiligenhafener Museumsstegs. Balken und<br />

Bretter, die jahrzehntelang als Seglersteg Wind<br />

und Wellen ausgesetzt waren und im Salzwasser<br />

langsam alterten, Patina und die eine oder andere<br />

Seepocke ansetzten. Und die Fantasie der Ostholsteiner<br />

anregen: „Aus dem Material machen wir<br />

eine neue Produktlinie“, schwärmt Hansjörg Fischenbeck<br />

begeistert. „Das werden absolute Unikate<br />

im lichter°meer.“ Im großen Meer der<br />

kommerziellen Leuchten ist lichter°meer schon<br />

jetzt ein Einzelstück. UW ❚<br />

Hansjörg Fischenbeck und Liane Pitzschel<br />

KONTAKT<br />

Die Ostholsteiner gGmbH<br />

Hansjörg Fischenbeck<br />

Siemensstr. 17, 23701 Eutin<br />

Tel.: 04521 7993-34<br />

fischenbeck@die-ostholsteiner.de<br />

www.lichterpunktmeer.de<br />

A R B E I T : D I E O S T H O L S T E I N E R G G M B H , E U T I N<br />

27


ENTWICKLUNG/GEMISCHTE GRUPPEN<br />

Gelebte Inklusion<br />

➜ Thema: Menschen mit Behinderung aus Tagesförderstätte und Werkstatt<br />

arbeiten gemeinsam in gemischten Gruppen<br />

➜ Einrichtung: Osnabrücker Werkstätten der Heilpädagogischen Hilfe<br />

➜ Ort: Hilter, Sutthausen<br />

„HELMUT, LASS MAL LOS“, sagt Susanne<br />

Kuhn und reicht Dimitri Plutznikov einen<br />

Weidenzweig, den er in ein Weidengebinde<br />

einflechten will. Sie nimmt Helmut Westerwiede<br />

den nächsten Zweig ab und reicht ihn<br />

weiter: „Schau mal, Dimitri, so musst du den<br />

Zweig durchstecken.“ Helmut Westerwiede<br />

kriegt sich gar nicht mehr ein vor Lachen<br />

und hält den nächsten Zweig so lange fest, bis<br />

die Gruppenleiterin schließlich kleinere Stücke<br />

davon abschneidet. Dimitri Plutznikov<br />

flechtet sie nach und nach ein, drückt hier<br />

und dort noch ein wenig nach, derweil Susanne<br />

Kuhn sanft Helmuts Hand löst: „Helmut<br />

Westerwiede aus Westerwiede, lass den<br />

Zweig los.“ Der lässt plötzlich locker, sie hat<br />

nicht damit gerechnet, der Zweig fällt runter,<br />

Helmut strahlt. „Schlitzohr“, sagt Susanne<br />

Kuhn. Kurz darauf kommen die Kollegen<br />

Oliver Michel und Simone Petri (beide<br />

Namen v. d. Red. geändert) vorbei, sie haben<br />

in der Mittagspause Fußball gespielt. „Wie<br />

geht es dir, Chef“, fragt Oliver und Simone<br />

herzt Helmut gleich, streicht ihm liebevoll<br />

übers Haar, „du siehst ja aus wie Räuber Hotzenplotz“,<br />

grinst sie. Die drei gehören zur<br />

Garten- und Weideflechtgruppe in Hilter, einem<br />

Standort der Osnabrücker Werkstätten:<br />

21 Beschäftigte, 3 Fachkräfte auf 2,5 Stellen,<br />

eine „durchmischte“ Gruppe: Menschen mit<br />

unterschiedlich hohem Unterstützungsbedarf<br />

aus Tagesförderstätte und Werkstatt arbeiten<br />

hier gemeinsam. Das ist etwas Besonderes.<br />

Menschen, die ein sogenanntes „Mindestmaß<br />

an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung“<br />

nicht erbringen können, werden in<br />

besonderen Gruppen betreut, die als Tagesförderstätten<br />

oder Förder- und Betreuungsgruppen<br />

(FuB) teils an WfbM angegliedert,<br />

teils in anderer Trägerschaft separat organisiert<br />

sind: Menschen mit höherem Assistenzbedarf<br />

sind noch einmal besonders<br />

separiert. In der Behindertenhilfe hat sich<br />

deshalb die Auffassung durchgesetzt, eine<br />

unter der WfbM angesiedelte zweite Einrichtungsstruktur<br />

müsse, wegen weiterer<br />

Aussonderung, abgebaut werden. Das<br />

BTHG folgt dieser Auffassung nicht, son- i<br />

28<br />

Flechtarbeiten: Helmut Westerwiede, Susanne Kuhn und Dimitri Plutznikov (v.l.)<br />

E N T W I C K L U N G : H E I L P Ä D A G O G I S C H E H I L F E O S N A B R Ü C K K L A R E R K U R S 0 3 / 1 9<br />

K L A R E R K U R S 0 3 / 1 9<br />

E N T W I C K L U N G : H E I L P Ä D A G O G I S C H E H I L F E O S N A B R Ü C K 29


Wenn Andreas Meyer aus dem Rollstuhl gehoben wird, helfen alle mit<br />

„Um Pflege kommt künftig bei uns niemand mehr herum“ ANNE BENAD, BEREICHSLEITUNG<br />

i dern legt nur eine engere Kooperation nahe,<br />

es bleibt bei der alten Struktur: Trennung<br />

der Bereiche.<br />

Gemischter Aufschlag 2011 Die Osnabrücker<br />

Werkstätten sind eine Werkstatt mit integrierter<br />

Tagesförderstätte. In den Fördergruppen<br />

werden Menschen mit hohem<br />

Unterstützungsbedarf aus der Tagesförderstätte,<br />

aber auch Werkstattbeschäftige mit der<br />

Hilfebedarfsstufe 4 und 5 betreut. 2011 begann<br />

die Werkstatt am Standort Hilter, die<br />

erste dieser Gruppen aufzulösen. „Das war<br />

der erste Schritt, um den Automatismus −<br />

jeder Mensch mit hohem Unterstützungsbedarf<br />

kommt in eine Fördergruppe − abzuschalten“,<br />

sagt Anne Benad, Bereichsleiterin<br />

der Osnabrücker Werkstätten. Inzwischen<br />

ziehen Schritt für Schritt andere Werkstattbetriebe<br />

nach und führen auch durchmischte<br />

Gruppen ein.<br />

Initiatorin des Projekts war Conny Kammann,<br />

die damalige Bereichsleiterin auch für<br />

den Standort in Hilter. Ihr Anliegen war es,<br />

der doppelten Aussonderung zu begegnen<br />

und besonders Menschen mit hohem Assistenzbedarf<br />

in den Mittelpunkt zu rücken,<br />

ihnen in inkludierenden Gruppen die<br />

Chance zu eröffnen, an Arbeitsprozessen,<br />

und sei es nur in winzigen Teilschritten, zu<br />

partizipieren und in seltenen Fällen die<br />

Werkstattberechtigung zu bekommen. Nach<br />

dem Weggang der einstigen Wegbereiterin<br />

übernahm Anne Benad die neu geschaffene<br />

Stelle der Koordinatorin der Intensivförderung<br />

und begleitet seitdem auch die Umsetzung<br />

an anderen Standorten.<br />

„Wir haben uns damals gefragt: Wie soll<br />

Inklusion in der Gesellschaft funktionieren,<br />

wenn wir es als Werkstatt nicht mal hinbekommen,<br />

die Menschen mit Behinderung an<br />

einem Ort gemeinsam zu begleiten und<br />

keine weitere Aussonderung zu betreiben?“,<br />

beschreibt Susanne Kuhn die Initialzündung<br />

für das Projekt. Die nötige Infrastruktur, um<br />

Pflege auch in Werkstattarbeitsgruppen zu<br />

gewährleisten − zusätzliche Pflegeräume und<br />

-bäder, Betten und Lifter − ließ sich rasch<br />

aufbauen, denn „wir hatten bereits weitere<br />

Pflegeräume geplant, sodass durchmischte<br />

Gruppen keinen Mehrbedarf verursachten“,<br />

meint Manuel Eisbrenner, Abteilungsleiter in<br />

der Werkstatt Hilter. Nächster Schritt: Beschäftigte<br />

und Mitarbeiter mussten vorbereitet,<br />

Fachkräfte für die zu übernehmende<br />

Pflege geschult werden.<br />

Die Angst vor der Pflege nehmen Die Schulungen<br />

drehten sich um die Themen Pflege,<br />

Ergotherapie, Logopädie und Kinästhetik. In<br />

der Pflegeberatung begleitete eine Pflege-<br />

Ausbilderin die Fachkräfte vor Ort: „Wir<br />

haben viel Hilfe an die Hand bekommen“,<br />

meint Rita Söger, Gruppenleiterin Raumpflege.<br />

„Wie muss ich bei Pflege mit den<br />

Menschen umgehen, wo stehe ich, wenn ich<br />

das Essen anreiche? Was mache ich bei<br />

Schluckbeschwerden?“ Am Anfang, sagt<br />

Anne Benad, täten sich reine Handwerker<br />

eher schwer mit dem Thema Pflege. Ihre Erfahrung:<br />

Die anfänglich ablehnende Haltung<br />

der Kollegen resultiere aus Unsicherheit, weil<br />

Wissen fehlte und Erfahrung. „Natürlich<br />

muss man auch verstehen, wenn Handwerker<br />

Pflege ablehnen und sagen, ich bin Elek-<br />

KONTAKT<br />

Osnabrücker Werkstätten<br />

Anne Benad, Bereichsleitung<br />

Industriestr. 17, 49082 Osnabrück<br />

Tel.: 0541 76028413<br />

a.benad@os-hho.de www.os-hho.de<br />

i<br />

i triker. So haben sie 20 Jahre gearbeitet. Trotzdem:<br />

Um Pflege kommt künftig bei uns niemand<br />

mehr herum.“ Und um den Spagat<br />

zwischen Wirtschaftlichkeit und angemessener<br />

Begleitung von pflegeintensiveren Gruppen<br />

besser zu gestalten, setzen die<br />

Osnabrücker künftig auf multiprofessionelle<br />

Teams. „Sicherlich sind die durchmischten<br />

Gruppen für die Mitarbeiter eine Herausforderung.<br />

Sie müssen das mittragen, sonst geht<br />

es nicht“, meint Manuel Eisbrenner. Die Erfahrung<br />

in Hilter: Sind die Menschen erst in<br />

der Gruppe „zusammengezogen“, wird es<br />

schnell zum Selbstläufer und zieht alle mit.<br />

Vom Betreuten zum Betreuer In Hilter wurden<br />

die Beschäftigten in den Morgenrunden<br />

auf die neuen Kollegen aus den Fördergruppen<br />

vorbereitet. Weil Tafö- und Werkstattgruppen<br />

ihre Räume im selben Gebäude<br />

haben, kennt man sich oft schon vom Sehen<br />

beim Mittagessen in der Kantine. Susanne<br />

Kuhn begleitete Helmut Westerwiede bei<br />

mehreren Schnupperbesuchen, oft vormittags,<br />

„das klappte auch mit den Beschäftigten<br />

sehr gut“, sagt die gelernte Heilerziehungspflegerin.<br />

Mit vier Teilnehmern der damaligen<br />

Intensivgruppe wechselte sie als Gruppenleiterin<br />

in die Garten- und Weidenflechtgruppe:<br />

„Im Sommer fahren viele der Beschäftigten<br />

mit meinem Kollegen Martin<br />

Ossegge raus. Die Beschäftigten, die es körperlich<br />

nicht mehr gut schaffen, und jene mit<br />

hohem Assistenzbedarf wie Helmut bleiben<br />

hier in der Flechtgruppe.“ Er profitiere sehr<br />

davon, Aufgaben zu haben. „Er übernimmt<br />

viele Teilschritte, macht Botengänge mit dem<br />

Rollstuhl.“ Seine Gruppenkollegen kümmern<br />

sich um ihn. Dieselbe Erfahrung macht<br />

auch Gruppenleiterin Rita Söger: Wenn ihre<br />

Reinigungsgruppe durchs Haus zieht und<br />

sauber macht, ist Andreas Meyer (Name v. d.<br />

Red. geändert) mit auf der Walz, dann streiten<br />

sich seine Kollegen darum, wer ihn wohin<br />

schieben, ihn in den Sitzsack legen darf. „Das<br />

Gruppengefüge hat sich verändert, auch<br />

wenn seine Arbeitsleistung gering ist, hat er<br />

großen Einfluss auf die Gruppe. Beschäftigte<br />

erleben sich selbst oft als Hilfeempfänger,<br />

nun können sie helfen und anderen etwas<br />

beibringen. Das fördert soziale Kompetenz.“<br />

Gemeinsame Arbeit: in Hilter Normalität.<br />

Und die Eltern? In Hilter kennen sie durchmischte<br />

Gruppen seit Jahren, entsprechend<br />

positiv sind sie gestimmt. Am Standort Sutthausen<br />

gab es bei neuen gemischten Gruppen<br />

zunächst Sorgen, was Pflege und auch Lärmpegel<br />

betraf. Die aber sind nach Gesprächen<br />

und der ersten Praxis verschwunden. „Und“,<br />

bemerkt Anne Benad, „seitdem wir die Spezialförder-<br />

und Intensivgruppen in Verpackungsgruppen<br />

umbenannt haben, sind alle<br />

völlig begeistert. Die alten Namen haben alle,<br />

besonders die Angehörigenbeiräte, als stigmatisierend<br />

empfunden.“<br />

Entscheidend: Wunsch und passende Arbeit<br />

„Es gibt Gruppen, in denen zwei Fachkräfte<br />

und zwei Praktikanten 28 Beschäftigte gut<br />

begleiten können, in anderen sind zwei Fachkräfte<br />

und zehn Beschäftigte sehr gefordert.<br />

Wir setzen deshalb auf eine Mischkalkulation:<br />

Die Standortrechnung muss aufgehen,<br />

nicht die einer jeden Gruppe“, erklärt Manuel<br />

Eisbrenner. „Wir schauen grundsätzlich nicht<br />

darauf, welchen refinanzierten Hilfebedarf<br />

jemand hat, sondern darauf, welchen<br />

Wunsch er hat und in welche Gruppenkonstellation<br />

er passt.“<br />

Welche Gruppe zu wem passt, hängt auch<br />

von den Arbeitsanforderungen ab. Seitdem<br />

Physio- und Ergotherapeuten dabei unterstützen,<br />

Arbeitsprozesse in kleinste Teilschritte<br />

runterzubrechen, steigt mit der Erfahrung<br />

auch das Angebotsspektrum. Anne<br />

Benad: „Gute Arbeit für die nicht so Leistungsstarken<br />

zu finden, ist grundsätzlich<br />

schwierig und keine Frage der Durchmischung.“<br />

Das klappt übrigens auch in Produktionsgruppen<br />

mit „wirtschaftlichem Outcome“:<br />

Vereinzelt arbeiten Menschen, die<br />

motorisch sehr eingeschränkt sind, im Rahmen<br />

ihrer Möglichkeiten in der Metallmontage<br />

mit als selbstverständlicher Teil der<br />

Engagieren sich für gemischte Gruppen: Anne Benad und Manuel Eisbrenner<br />

Gruppe. Den Spagat zwischen der Erfüllung<br />

anspruchsvoller Aufträge und Begleitung von<br />

Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf<br />

schaffen die Gruppen − weil sie es wollen.<br />

Der Pflegebedarf steigt in den Werkstätten<br />

Das Konzept der durchmischten Gruppen<br />

auch auf andere Standorte zu übertragen, ist<br />

„ein weiter Weg, besonders, was die Umbaumaßnahmen<br />

betrifft. Allerdings müssen wir<br />

grundsätzlich für die Pflege nachrüsten: Auch<br />

für Beschäftigte, die älter werden und deren<br />

Fähigkeiten abnehmen, brauchen wir Pflegebäder.“<br />

Inzwischen ist ein Gebäude in Sutthausen<br />

umgerüstet, ein weiteres wird folgen<br />

und in bestehende Gruppen werden nach<br />

und nach Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf<br />

aufgenommen. Alternativ, aber<br />

nicht automatisch, wird es in Osnabrück weiterhin<br />

kleine, nicht gemischte Gruppen für<br />

Menschen mit hoher Pflegebedürftigkeit<br />

oder Verhaltensauffälligkeiten geben.<br />

Werkstätten müssen sich künftig breiter<br />

aufstellen, denn wenn ihre leistungsfähigeren<br />

Beschäftigten die Werkstatt in Richtung Arbeitsmarkt<br />

verlassen − oder gar nicht mehr<br />

in die Werkstatt kommen −, muss es auch<br />

Arbeit für die, die bleiben, geben, für die, die<br />

einen höheren Assistenz- und Pflegebedarf<br />

haben. Mit ihrem Konzept gemischter Gruppen<br />

sind die Osnabrücker dafür gut gerüstet.<br />

Vor allem aber zeigen sie, dass „alle gemeinsam“<br />

unabhängig von der Leistungsfähigkeit<br />

des Einzelnen funktioniert, weil sie es wollen.<br />

Was die Politik im BTHG nicht schafft, leben<br />

sie seit Jahren in der Praxis. GG ❚<br />

30 E N T W I C K L U N G : H E I L P Ä D A G O G I S C H E H I L F E O S N A B R Ü C K<br />

K L A R E R K U R S 0 3 / 1 9<br />

K L A R E R K U R S 0 3 / 1 9<br />

E N T W I C K L U N G : H E I L P Ä D A G O G I S C H E H I L F E O S N A B R Ü C K 31


ENTWICKLUNG/STRATEGISCHES PERSONALMANAGEMENT<br />

Die entscheidende<br />

Herausforderung<br />

Werkstätten stehen zunehmend unter Druck, ihre<br />

Leistungen zu professionalisieren. KLARER KURS hat mit<br />

Martin Ossenberg, Geschäftsführer der Iserlohner<br />

Werkstätten gGmbH, über strategisches Personalmanagement<br />

und den Anpassungsdruck von Werkstätten gesprochen.<br />

32 E N T W I C K L U N G : I S E R L O H N E R W E R K S T Ä T T E N G G M B H<br />

K L A R E R K U R S 0 3 / 1 9<br />

KLARER KURS: Ein strategisches Personalmanagement verbindet<br />

man gemeinhin nur mit großen Wirtschaftsunternehmen.<br />

Warum wird dieses Instrument auch für eine Werkstatt für behinderte<br />

Menschen wichtig?<br />

MARTIN OSSENBERG: Ein entscheidender Grund ist die Demografie.<br />

Wir haben bei den Fachkräften eine große Breite<br />

im Alter zwischen 50 und 65. Auf Leitungsebene ist sogar<br />

nur die Dekade zwischen 55 und 65 vertreten. Das zweite<br />

große Thema ist der Fachkräftemangel, insbesondere aus<br />

dem Bereich Elektronik. Es ist sehr schwierig geworden,<br />

Menschen aus dem allgemeinen Arbeitsmarkt für unsere<br />

Aufgaben zu motivieren.<br />

KK: Weil die Konkurrenz der Privatwirtschaft zu übermächtig<br />

ist?<br />

MO: Zumindest, was das Finanzielle angeht. Elektriker wissen<br />

sehr gut, was sie wert sind. Da wären wir beim nächsten<br />

Punkt: Die finanziellen Ressourcen sind eine Herausforderung<br />

– immer weiter steigende Personalkosten versus gedeckelte<br />

Refinanzierung. Auch das Thema Digitalisierung<br />

spielt eine große Rolle. Sowohl im Kommunikationsbereich<br />

als auch im Bereich der unterstützten Fertigung.<br />

KK: Das heißt, die Kompetenzen, die ein Facharbeiter mitbringen<br />

muss, sind weitreichender, als es seinem klassischen Berufsbild<br />

entspricht?<br />

MO: Genau. Und dies trifft auf den Wandel auf dem Stellenmarkt.<br />

Ich kann mich noch gut erinnern, dass 100 Bewerbungen<br />

auf eine Gruppenleiterstelle vor Jahren keine<br />

Seltenheit waren. Inzwischen müssen wir Bewerbern unsere<br />

Stärken darlegen und nicht umgekehrt. Hinzu kommt, dass<br />

wir gerade hier in Nordrhein-Westfalen ein massives Imageproblem<br />

haben, seit bei RTL der Wallraff-Report über Gewalt<br />

in Werkstätten ausgestrahlt wurde. Wir haben<br />

daraufhin sogar mit RTL einen Fernsehbeitrag über ein positives<br />

Beispiel von Werkstatt gedreht, aber schlechte Nachrichten<br />

halten sich ziemlich hartnäckig.<br />

KK: Wie hilft ein strukturiertes Personalmanagement da<br />

weiter?<br />

MO: Es greift alle Herausforderungen auf. Die fünf zentralen<br />

Module lauten Personalgewinnung, Personalauswahl,<br />

Personalbindung, Personalentwicklung und Personalcontrolling.<br />

Wir sind vor sieben Jahren mit dem Projekt Personalmarketing<br />

gestartet und haben dafür aus unserem Team<br />

eine Mitarbeiterin mit dem Schwerpunkt Personalmanagement<br />

betraut. Ziel ist, uns als attraktiven Arbeitgeber zu<br />

präsentieren, unseren Bedarf an qualifiziertem Personal zu<br />

decken und damit unseren Unternehmenserfolg zu sichern.<br />

KK: Und wie erfüllt man so ein Programm mit Leben?<br />

MO: Es braucht ein strukturiertes Projektmanagement und<br />

man muss möglichst viele aus dem Unternehmen beteiligen<br />

– auch hierarchieübergreifend. Multiplikatoren müssen das<br />

Thema weitertragen und umgekehrt die Wünsche der Kolleginnen<br />

und Kollegen aus dem Haus einbringen. Aber es<br />

reicht nicht, ein Personalmanagement-System einzuführen<br />

und zu denken, dann wird alles besser. Das geht nur im<br />

K L A R E R K U R S 0 3 / 1 9<br />

Kontext der gesamten Unternehmensentwicklung. Dazu gehört<br />

zunächst vor allen Dingen eine gelebte Unternehmenskultur.<br />

Man muss sich mit Dingen wie Führungsstil<br />

auseinandersetzen mit der Frage, welches Menschenbild<br />

wollen wir vermitteln? Wollen wir weiterhin sagen, ein<br />

Mensch mit Behinderung ist derjenige, der von uns betreut<br />

wird, oder ist das ein Mensch, der von uns assistiert wird?<br />

Wir haben bei uns sehr viele Begrifflichkeiten umgestellt,<br />

um unseren Ansatz deutlich zu machen. Das Wort Betreuung<br />

spielt bei uns zum Beispiel keine Rolle mehr. Der Gedanke<br />

Assistenz muss im Unternehmen aber lange<br />

diskutiert und verfestigt werden.<br />

KK: Wo stehen Sie heute?<br />

MO: Wir sind noch mitten im Prozess, aber schon ganz gut<br />

aufgestellt. Wir haben den kooperativen Führungsstil etabliert.<br />

Abteilungsleitungen zeigen Personalbedarf an und sie<br />

sind auch dafür verantwortlich, das Personal zu bekommen.<br />

Das heißt, sie stoßen den Bewerbungsprozess an, verantworten<br />

den Auswahlprozess und geben den Impuls, um jemanden<br />

einzustellen.<br />

KK: Wie sieht das in der Praxis aus?<br />

MO: Für die Gewinnung von Fachkräften haben wir eine eigene<br />

Stelle für Recruiting aufgebaut. Man könnte dies<br />

durchaus auch als Vertriebsstelle bezeichnen. Die Mitarbeiterin<br />

hat die Aufgabe, uns bei Bewerbern attraktiv zu machen<br />

und sie für uns zu werben.<br />

„Karriereplanung gleich<br />

bei der Einstellung spielt eine<br />

zunehmend große Rolle“<br />

KK: Wie geht das?<br />

MO: Die Mitarbeiterin nutzt dafür zum Beispiel alle sozialen<br />

Netzwerke. Sucht man einen Produktionshelfer, kann man<br />

durchaus über ebay-Kleinanzeigen gehen, um Führungskräfte<br />

zu gewinnen, nutzt man Stepstone oder spricht jemanden<br />

gezielt über Xing oder Linkedin an. Wir arbeiten<br />

auch immer mal wieder mit einem Beratungsunternehmen<br />

zusammen, das für uns nach Fachkräften sucht. Eine große<br />

Rolle spielt inzwischen Kununu – die Bewertung von Unternehmen<br />

durch Mitarbeitende oder Ehemalige im Netz.<br />

Viele der Generation X und der Generation Millenium machen<br />

sich erst mal über diesen Weg schlau, bei wem sie sich<br />

bewerben.<br />

KK: Was macht Sie zu einem attraktiven Arbeitgeber?<br />

MO: Das beginnt beim Thema Tarif. Wir nutzen die gesamte<br />

Bandbreite des Tarifs, agieren flexibel mit Zulagen und Prämien,<br />

die mit besonderen Aufgaben verknüpft sind. Von den<br />

etablierten Eingruppierungen haben wir uns gelöst und versuchen,<br />

alles gleich in einen Personalentwicklungsprozess<br />

einzubinden. Man kann auch sagen Karriereplanung oder<br />

Talentförderung. Das spielt eine zunehmend große Rolle.<br />

E N T W I C K L U N G : I S E R L O H N E R W E R K S T Ä T T E N G G M B H<br />

33<br />

i


i<br />

KK: Was bedeutet das für die Werkstatt?<br />

MO: Über die Personalentwicklung haben wir mittlerweile in<br />

vielen Teams Experten sitzen. Ein Kollege hat sich zum Beispiel<br />

vor Jahren intensiv mit dem Thema Autismus-Spektrums-Syndrom<br />

befasst, hat Zusatzausbildungen gemacht<br />

und ist heute nicht nur bei uns, sondern in vielen Werkstätten<br />

in der Region als Ansprechpartner unterwegs. Dadurch<br />

haben wir gute Kontakte zum Autismus-Zentrum in Dortmund<br />

entwickelt, was wiederum dazu führte, dass vermehrt<br />

Anfragen für diesen Personenkreis kamen und wir inzwischen<br />

fast ideale Arbeitsbedingungen für diese Menschen<br />

vorhalten. Auf ähnliche Weise haben wir Angebote für Menschen<br />

mit herausforderndem Verhalten im Haus etabliert.<br />

Kollegen haben sich außerdem mit dem Thema Gewaltprävention<br />

auseinandergesetzt, mittlerweile haben wir 15 geschulte<br />

Part-Trainer zur Gewaltprävention, die ihr Wissen an<br />

Kolleginnen und Kollegen weitergeben.<br />

KK: Personalentwicklung erschließt also ganz neue Geschäftsbereiche?<br />

MO: Genau, das erweitert das Angebotsspektrum. Man<br />

könnte sagen, diese Themen gehören nicht zu unserem ursprünglichen<br />

Aufgabengebiet, aber damit ließe man auch die<br />

neue Anbietersituation außer Acht. Wir sagen nicht, wir<br />

brauchen erst Personal, um ein Angebot zu machen, sondern<br />

stellen personelle Ressourcen bereit, ermöglichen Schulungen<br />

und Fortbildungen und versuchen, ein Angebot zu erarbeiten.<br />

Aktuell ist Forensik ein großes Thema, mit dem sich einige<br />

Kollegen befassen, und wir ein Angebot dazu aufbauen<br />

wollen.<br />

KK: Wie durchlässig ist ihr System der Personalentwicklung für<br />

Menschen mit Beeinträchtigungen?<br />

MO: Die Möglichkeit gibt es auch. Wir haben einen jungen<br />

Mann motivieren können, eine Ausbildung als Fachkraft<br />

Lager/Logistik bei uns zu absolvieren. Aber dabei handelt es<br />

sich in der Tat noch um Einzelfälle.<br />

KK: Bleiben wir bei der Personalgewinnung. Womit punkten<br />

Sie noch als attraktiver Arbeitgeber?<br />

MO: Zum Beispiel mit der betrieblichen Altersvorsorge, die<br />

momentan nur vom Arbeitgeber getragen wird. Vergleicht<br />

man das mit Angeboten der normalen Versicherungswirtschaft,<br />

ist das allemal attraktiv. Des Weiteren haben wir Arbeitszeitkonten<br />

mit Gleitzeit. Kernzeit ist, wenn unsere<br />

Mitarbeitenden mit Beeinträchtigung vor Ort sind. Aber innerhalb<br />

dieser Einheit kann man flexibel arbeiten. Und wenn<br />

eine Fachkraft zum Beispiel die Entwicklungsplanung für Beschäftigte<br />

am PC dokumentieren will, ist das auch mal von zu<br />

Hause aus möglich.<br />

KK: Inwieweit ist Flexibilisierung innerhalb der Kernzeit denn<br />

möglich?<br />

MO: Flexible Arbeitszeiten haben wir zunehmend auch bei<br />

Mitarbeitenden mit Beeinträchtigung. Insbesondere bei ausgelagerten<br />

Arbeitsplätzen hat sich das etabliert. In unserem<br />

Cafébetrieb arbeiten wir im Schichtdienstbetrieb und bei<br />

Kulturangeboten arbeiten Kollegen auch abends und entscheiden,<br />

ob sie am nächsten Tag später anfangen oder die<br />

Zeit auf ihrem Gleitzeitkonto ansparen. Wir wünschen uns<br />

ein Mehrschichtsystem auch in anderen Bereichen.<br />

KK: Reicht das der Generationen X und Millenium,<br />

denen man nachsagt, besonderen Wert auf Work-Life-<br />

Balance zu legen?<br />

MO: Das nehmen wir auch wahr und reagieren nicht nur mit<br />

flexiblen Arbeitszeiten, sondern auch mit Teilzeitangeboten.<br />

Wir hatten vor einiger Zeit die Bewerbung einer Sozialarbeiterin,<br />

die am Ende sagte, es geht zwar um eine Vollzeitstelle,<br />

aber mir reichen 25 Stunden. Vor fünf Jahren hätten wir noch<br />

gesagt, „es war nett Sie kennenzulernen“. Heute wägen wir ab,<br />

ob uns die Kompetenzen, die jemand mitbringt, wichtiger<br />

sind. Auch bei unseren Mitarbeitern mit Beeinträchtigung<br />

haben wir zunehmend Teilzeitwünsche. Da versuchen wir,<br />

noch deutlich flexibler zu werden.<br />

KK: Wir haben bisher nur davon gesprochen, wie Sie um Fachpersonal<br />

buhlen. Andererseits müssen die Bewerber neben ihren<br />

fachlichen Qualitäten hohe soziale und kommunikative Kompetenzen<br />

oder Empathiefähigkeit mitbringen. Wie loten Sie diese<br />

Fähigkeiten bei der Bewerberauswahl aus?<br />

MO: Das ist ein sehr entscheidender Aspekt und die Herausforderung,<br />

eine Stellenausschreibung so zu formulieren,<br />

dass sie die Anforderungen an die Stelle realistisch wiedergibt<br />

und Bewerber auch anspricht. Tatsächlich haben wir<br />

inzwischen eine sehr appellative Form der Stellenausschreibung.<br />

Die Attraktivitätsfaktoren als Arbeitgeber stehen<br />

dabei mehr im Vordergrund als das, was wir von Bewerberinnen<br />

und Bewerbern erwarten. Um eine möglichst passende<br />

Personalauswahl treffen zu können, haben wir<br />

sogenannte Bewerbertage eingeführt, um unsere Anforderungen<br />

auszuloten. Wir strukturieren solche Tage mit einem<br />

gewissen Programm, das für alle Kandidatinnen und Kandidaten<br />

gleich ist, und am Ende des Tages gibt es eine Bewertung.<br />

Der Vorteil ist, dass sich mehrere Stellen im Unternehmen<br />

einen Eindruck von der Person verschaffen können. i<br />

i<br />

KK: Welche Menschen kommen dann letztlich zu Ihnen, sind<br />

das sozial engagierte Menschen, Idealisten, Leute, die nach<br />

einem Praktikum hängen bleiben?<br />

MO: Das ist gut zusammengefasst. Aber sie bleiben nicht<br />

zufällig hängen. Zum Recruiting gehört, dass wir ganz bewusst<br />

Werbung machen. Wir lassen uns bei jeder Ausbildungsmesse<br />

sehen, wir sind ja seit 15 Jahren Ausbildungsbetrieb<br />

und bilden von der Industriekauffrau bis zur Fachkraft<br />

Lager Logistik querbeet alles aus, was wir im Unternehmen<br />

benötigen. Wir versuchen, unsere eigenen<br />

Fachkräfte über Ausbildung an uns zu binden. Wir gehen<br />

in die Schulklassen, die sich für die Berufswahl vorbereiten,<br />

und bieten gemeinsam mit den Industrie- und Handwerkskammern<br />

an, eine Management-AG mit den Iserlohner<br />

Werkstätten durchzuführen. Wir haben inzwischen<br />

viele Stellen über eigene Azubis besetzt. Aktuell haben wir<br />

23 neue Auszubildende, sie stellen fast zehn Prozent der<br />

Gesamtbelegschaft. Aber auch für diese jungen Leute müssen<br />

wir attraktiv erscheinen, damit sie sich bewerben.<br />

„Wenn sich das Unternehmen<br />

um den Mitarbeiter kümmert,<br />

kümmert sich der Mitarbeiter<br />

auch um das Unternehmen“<br />

KK: Und wie gelingt es, das Personal auch zu halten?<br />

MO: Da sind neben Entwicklungsmöglichkeiten weiche<br />

Faktoren sehr entscheidend. Wenn sich das Unternehmen<br />

um den Mitarbeiter kümmert, kümmert sich der Mitarbeiter<br />

auch um das Unternehmen. Wir haben eine Seelsorgerin<br />

und Gesprächstherapeutin, die als Ansprechpartnerin<br />

für alle möglichen Probleme da ist. Sie hilft auch mit<br />

Kontakten, wenn jemand pflegebedürftige Eltern hat, Probleme<br />

mit Kindern. Wir legen sehr viel Wert darauf, dass<br />

sich Mitarbeitende über unser Unternehmen Rat holt. Außerdem<br />

machen wir viele Angebote im Bereich Gesundheitsmanagement,<br />

bieten regelmäßig Themenwochen an.<br />

Aktuell geht es um Mobbing. Voriges Jahr ging es um<br />

Sucht, Alkohol, Bewegung, Ernährung. Dazu arbeiten wir<br />

auch mit externen Anbietern. Die Angebote gelten für alle<br />

Mitarbeitenden im Unternehmen, wir kommunizieren sie<br />

über Plakate und PCs, die barrierefrei genutzt werden<br />

können.<br />

KK: Wie kommt das alles bei der Belegschaft an?<br />

MO: Wir befragen regelmäßig unsere Mitarbeitenden<br />

nach ihrer Arbeitszufriedenheit und nach psychischen<br />

Belastungsfaktoren des gesamten Arbeitsumfeldes (JOB-<br />

STRESS ANALYSIS, ITA-Benchmarking). Nach der aktuellen<br />

Befragung von diesem Jahr fällt das Urteil sehr positiv<br />

aus. Insbesondere die Arbeitszufriedenheit und eigene<br />

Arbeitsplatzsituation haben sich seit der vorherigen Befragung<br />

vor drei Jahren deutlich verbessert. Begründet wird<br />

dies zum einen mit dem Flexibilisieren der Arbeitszeit, aber<br />

gerade auch mit diesem „Kümmern“. Inwieweit fühle ich<br />

mich als Mitarbeiter in meinem Arbeitsumfeld wahrgenommen?<br />

Wie kann ich Probleme kommunizieren? Werde<br />

ich abgeholt und verstanden oder werde ich gleich abgestempelt<br />

als jemand, der nur quengelt und meckert. Das<br />

hat sich wesentlich verbessert, viele Mitarbeitende identifizieren<br />

sich sehr mit dem Unternehmen.<br />

KK: Viele Dinge, die Sie genannt haben, sind Standards in privaten<br />

Unternehmen. Kann sich Werkstatt vor diesem Anpassungsdruck<br />

und solchen Entwicklungsthemen verschließen?<br />

MO: Nein, das wird spätestens nach den veränderten Rahmenbedingungen<br />

durch das BTHG deutlich. Die Anforderungen<br />

der Leistungsträger an die Professionalisierung der<br />

Werkstätten werden weiter steigen, und wenn man nicht<br />

nur verlängerte Werkbank des Kunden sein will, muss man<br />

seine Leistung profilieren. Noch gelingt es Werkstätten zu<br />

wenig darzustellen, was sie wirklich können. Und eines<br />

können sie ganz besonders gut: die Entwicklung, Qualifizierung<br />

und Bildung von Menschen durch das Medium<br />

Arbeit. Das gilt für Mitarbeitende mit und ohne Beeinträchtigungen<br />

gleichermaßen.<br />

KK: Welche Rolle spielt dabei ein strukturiertes Personalmanagement?<br />

MO: Aus meiner Sicht stellt dieser Prozess das entscheidende<br />

Handlungsfeld für eine erfolgreiche Entwicklung<br />

auch von Werkstätten dar. Wir sehen es bereits zum Beispiel<br />

in der Pflege. Viele Angebote können wir nicht vorhalten,<br />

weil Personal fehlt. Es geht darum, Kompetenzen<br />

aufrechtzuerhalten und zu entwickeln, Nachfolge zu regeln,<br />

damit wir nicht an Qualität verlieren.<br />

KK: Holen Sie sich dabei auch Hilfe von außen?<br />

MO: Wir nutzen mehrere Beratungsfirmen für Schulungen<br />

und Coachingprozesse, eine für Personal und Organisation,<br />

eine weitere für inhaltliche Fragestellungen rund um<br />

unser Geschäft und eine für weiche Faktoren. Wir beteiligen<br />

uns über Unis und Hochschulen auch an Projekten, die<br />

öffentlich gefördert werden. Und wir haben fünf dual Studierende,<br />

die jeweils im Wechsel drei Monate in Villingen-<br />

Schwenningen Sozialwirtschaft studieren und drei Monate<br />

bei uns arbeiten. Das hat den Vorteil, dass Themen aus der<br />

Wissenschaft schnell Eingang in unser Unternehmen finden.<br />

Die Studierenden kümmern sich um übergreifende<br />

Themen wie Gesundheitsmanagement oder um Sonderprojekte<br />

wie Erklärvideos für Menschen mit Beeinträchtigungen,<br />

für die wir sonst kaum die notwendigen<br />

personellen und fachlichen Ressourcen hätten. ❚<br />

KONTAKT<br />

Iserlohner Werkstätten<br />

gGmbH<br />

Martin Ossenberg<br />

Geschäftsführer<br />

Giesestraße 35<br />

58636 Iserlohn<br />

Tel.: 02371 9766-145<br />

martin.ossenberg@iswe.de<br />

34<br />

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ENTWICKLUNG/GASTKOMMENTAR<br />

Was und wie viel verdienen<br />

Werkstattbeschäftigte?<br />

DER BUNDESTAG HAT IM JUNI das Gesetz zur Anpassung der<br />

Berufsausbildungsbeihilfe und des Ausbildungsgeldes beschlossen.<br />

Damit erhöht sich ab dem 01.08.19/01.08.20 das Ausbildungsgeld für<br />

Teilnehmer im Eingangsverfahren und Berufsbildungsbereich anerkannter<br />

Werkstätten für behinderte Menschen von 80 auf 117 Euro/<br />

119 Euro monatlich. Die Erhöhung des Ausbildungsgeldes hat auch<br />

Auswirkungen auf die Höhe des Grundbetrages für Beschäftigte im<br />

Arbeitsbereich einer WfbM. Der Grundbetrag ist gemäß SGB IX an<br />

die Höhe des Ausbildungsgeldes gekoppelt. Eine kurzfristige Steigerung<br />

von 80 auf 117 Euro hätte nicht wenige Werkstätten vor große<br />

finanzielle Herausforderungen gestellt. Daher hat der Bundestag auf<br />

Drängen vieler Akteure die Erhöhung „gestreckt“.<br />

Der Grundbetrag wird nun in vier Stufen angepasst und beträgt<br />

erst ab dem 01.01.23 dann mindestens 119 Euro. Außerdem wird die<br />

Bundesregierung beauftragt, in den nächsten vier Jahren unter Beteiligung<br />

der Werkstatträte, der BAG WfbM, der Wissenschaft und weiterer<br />

maßgeblicher Akteure ein transparentes, nachhaltiges und<br />

zukunftsfähiges Entgeltsystem zu entwickeln – hierfür hatte sich vor<br />

allem die BAG WfbM eingesetzt. Damit öffnet sich ein Zeitfenster für<br />

eine Reform des jahrzehntealten, kaum mehr durchschaubaren Systems<br />

der Vergütung von Werkstattbeschäftigten, das erkennbar an<br />

seine Grenzen gekommen ist: Die „gut gemeinte“ Erhöhung des<br />

Grundbetrags wäre bei sehr vielen Beschäftigten gar nicht angekommen<br />

und entweder über eine Absenkung des sogenannten Steigerungsbetrags<br />

oder über die Anrechnung auf die Grundsicherung<br />

ganz oder teilweise abgefischt worden. Die schätzungsweise 150 000<br />

in einer WfbM arbeitenden Grundsicherungsempfänger können sich<br />

zudem die Frage stellen, warum sie eigentlich jeden Tag arbeiten<br />

gehen, haben sie dadurch doch kaum mehr in der Tasche. Natürlich<br />

ist es unredlich zu behaupten, Werkstattbeschäftigte „verdienten“ nur<br />

durchschnittlich etwa 200 Euro im Monat, und zugleich die beträchtlichen<br />

Transferleistungen des Staates für diesen Personenkreis einfach<br />

zu verschweigen.<br />

Andererseits stellt sich unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten<br />

nicht nur angesichts der UN-BRK die Frage, ob Menschen mit<br />

Behinderung, die tagtäglich im Rahmen ihrer Möglichkeiten eine Arbeitsleistung<br />

erbringen, wirklich auf Sozialhilfe angewiesen sein<br />

müssen oder nicht besser einen Lohn bzw. ein Gehalt bekommen<br />

sollten, das unter bestimmten Bedingungen sogar zum Leben reicht.<br />

Welche möglichen Varianten sind bisher in der Diskussion aufgetaucht?<br />

Da ist zum einen die kräftige und dann regelmäßige Erhöhung<br />

des Arbeitsförderungsgeldes, also die staatliche Subvention des<br />

Grundbetrags. Da ist zum anderen die Bündelung aller Transferleistungen<br />

zu einem „Gehalt“, das wie aus einer Hand ausgezahlt wird,<br />

entweder pauschal oder mit entsprechender Einzelfallprüfung. Und<br />

da sind Varianten für ein (subventioniertes) auskömmliches Werkstatt-Einkommen,<br />

das sich etwa am Mindestlohn, an einem Rentenwert<br />

oder anteilig am Durchschnittslohn orientiert. Alle Varianten<br />

müssen u.a. hinsichtlich folgender Fragen abgeklopft werden: Wie ist<br />

das Verhältnis zwischen Transferleistungen und „Gehalt“, wie viel<br />

kommt wirklich beim Beschäftigten netto und anrechnungsfrei an,<br />

wie transparent und einfach nachvollziehbar ist das System, können<br />

zukünftig regelmäßige Steigerungen des Entgelts abgebildet werden,<br />

inwieweit fließen die Wirtschaftskraft der Werkstatt und die eigene<br />

Leistung in die Entgelthöhe mit ein? Das alles verspricht eine komplexe<br />

Debatte, die seriös und konstruktiv geführt werden muss,<br />

damit es am Ende auch ein gutes Ergebnis gibt.<br />

Was aus meiner Sicht auf keinen Fall passieren darf: dass die aufgestockte<br />

Erwerbsminderungsrente als Nachteilsausgleich entfällt.<br />

Denn als der liebe Gott bestimmt hat, wer von Geburt an oder später<br />

durch Unfall bzw. Krankheit behindert wird, hat sich wohl keiner<br />

von uns freiwillig gemeldet oder etwa laut „Hier!“ gerufen. Auch deshalb<br />

hat sich unsere Gesellschaft dafür<br />

entschieden, für Menschen mit Behinderung<br />

Nachteile auszugleichen, damit<br />

sie möglichst gleichberechtigt am gesellschaftlichen<br />

Leben teilhaben können.<br />

Vielleicht wäre es sogar klug,<br />

diesen Nachteilsausgleich unter bestimmten<br />

Bedingungen für eine etwaige<br />

Arbeitsmarktkarriere nach der<br />

Zeit in der Werkstatt an die Person zu<br />

„binden“. Dann verliert niemand ein<br />

„Rentenprivileg“, wenn er/sie von der<br />

WfbM in den allgemeinen Arbeitsmarkt<br />

wechselt. ❚<br />

DR. JOCHEN WALTER,<br />

Vorstand Stiftung Pfennigparade<br />

und Stellvertretender<br />

Vorsitzender der BAG<br />

WfbM<br />

SEIT ÜBER EINEM JAHR arbeite ich drei<br />

Tage in der Woche, Mittwoch bis Freitag,<br />

bei der Finanzberatung Mauersberger UG<br />

auf einem Außenarbeitsplatz der Wefa Eisfeld.<br />

Bei uns geht es um Finanzierungen,<br />

staatliche Förderungen, Geldanlagen, Bausparen<br />

und Kompositversicherungen wie<br />

Hausrat, Haftpflicht, Unfall oder auch KFZ.<br />

Mein Aufgabenbereich ist ziemlich groß:<br />

Ich bearbeite die Post, habe viel Kundenkontakt,<br />

erfasse die Verträge von neuen und<br />

von Bestandskunden in Excellisten mit<br />

ihren zugehörigen Maklerverträgen und<br />

sende die Liste regelmäßig an den Maklerpool<br />

in Marburg. Denn wenn jemand über<br />

uns einen Vertrag mit einer Versicherungsgesellschaft<br />

abschließen will, brauchen wir<br />

eine Maklervollmacht, die uns berechtigt,<br />

die Angelegenheiten in seinem Interesse zu<br />

erledigen. Falls derjenige noch andere Versicherungsverträge<br />

hat und es will, können<br />

wir mit der Vollmacht seine anderen Verträge<br />

mitbetreuen. Das wird für uns in Marburg<br />

hinterlegt und mit den einzelnen<br />

Gesellschaften geregelt. Außerdem übernehme<br />

ich im Sachbereich auch Abschlüsse<br />

im PC: zum Beispiel, wenn Kunden ihr<br />

Auto bei uns versichern möchten. Dann<br />

suche ich nach einer preisgünstigen Gesellschaft,<br />

und wenn die dem Kunden gefällt,<br />

erledige ich alle weiteren Vertragsgeschäfte.<br />

Unterschrieben wird heute gar nichts mehr:<br />

Der Kunde bekommt eine Police zugeschickt,<br />

fertig.<br />

Ich arbeite von acht bis halb drei und<br />

schmeiße das Büro oft ganz allein, weil Herr<br />

Mauersberger viele Außentermine hat. Also,<br />

Zeit für Langeweile habe ich nicht. Manchmal,<br />

wenn ich morgens komme, frühstücken<br />

wir erst zusammen. Auf meinem<br />

Schreibtisch liegen dann schon die Unterlagen,<br />

die ich bearbeiten soll, und Herr Mauersberger<br />

erklärt mir, was ich bei welchem<br />

Kunden erledigen muss. Am meisten gefällt<br />

mir der Umgang mit Menschen. Ich freue<br />

mich immer, wenn sich Menschen für einen<br />

guten Rat bedanken oder sich glücklich<br />

schätzen, wenn alles funktioniert. Beratungen<br />

übernehme ich nicht, aber ich unterhalte<br />

mich mit den Kunden, wenn ich<br />

Verträge vorbereitet habe. Oft kommen sie<br />

vorbei und fragen nach dem Stand der<br />

Dinge, dann rufe ich bei den jeweiligen Versicherungsgesellschaften<br />

an und fasse nach.<br />

Die Arbeit macht mir Spaß: Ich komme<br />

aus diesem Bereich, bin gelernter Industriekaufmann,<br />

war selber viele Jahre bei einer<br />

Vermögensberatungsgesellschaft und habe<br />

/MEIN ARBEITSPLATZ/<br />

Michael Skalda: Man muss immer<br />

das Beste daraus machen!<br />

viel Erfahrung. Ich besitze den Ausbilderschein<br />

und habe mich immer weitergebildet:<br />

Bildung ist der Baustein für die<br />

Zukunft! Nur kann ich heute gesundheitlich<br />

nicht mehr auf dem ersten Arbeitsmarkt<br />

die volle Leistung bringen. Seit<br />

sieben Jahren bin ich in der Werkstatt, seitdem<br />

ich auf dem Außenarbeitsplatz bin,<br />

aber nur noch montags und dienstags in<br />

der Industriemontage: Weil ich Werkstattrat<br />

bin, will ich für die Beschäftigten ansprechbar<br />

bleiben. Trotzdem wollte ich auch<br />

Veränderung, ein bisschen Abwechslung.<br />

Wenn man selber merkt, dass man gern<br />

noch mal was anderes probieren will, und<br />

wenn das dann auch noch funktioniert,<br />

dann ist es einfach schön. Mein Motto lautet:<br />

Das Leben genießen. Und, sag ich mal:<br />

Man muss immer das Beste daraus machen!<br />

Ich bin froh, dass Herr Mauersberger mir<br />

die Chance gegeben hat zu zeigen, was ich<br />

kann. Dass er zufrieden mit mir ist, ist mir<br />

sehr wichtig, und auch, dass wir uns gegenseitig<br />

mit Respekt behandeln. ❚<br />

KONTAKT<br />

Doreen Dietmann, Wefa Eisfeld<br />

Hintere Bahnhofstraße 1, 98673 Eisfeld<br />

Tel.: 03686 3937-15<br />

d.dietmann@diakoniewerk-son-hbn.de<br />

36 E N T W I C K L U N G : G A S T K O M M E N T A R K L A R E R K U R S 0 3 / 1 9<br />

K L A R E R K U R S 0 3 / 1 9 E N T W I C K L U N G : M E I N A R B E I T S P L A T Z 37


KULTUR/INKLUSIVES KLANGPUZZLE<br />

SPHÄRISCHE MUSIK schallt leise aus dem Chorraum, erfüllt das<br />

hohe, schlicht weiße Kirchenschiff der einst barock gestalteten Augustinerkirche<br />

mitten in der Würzburger Fußgängerzone. Klangkulisse<br />

für magische Theatermasken, großformatige Gemälde und Tonskulpturen,<br />

die behinderte Künstlerinnen und Künstler aus dem Würzburger<br />

Raum geschaffen haben und im Halbrund des Altarraums<br />

ausgestellt sind. „Heute back ich, morgen brau ich, übermorgen hol<br />

ich der Königin ihr Kind ...“ Beim Nähertreten tönt die Stimme deutlich<br />

aus dem Klangteppich, lässt aufzucken und auf die dämonische<br />

Maske „Myros“ schauen, die der Künstler Georg Brand in der Theaterwerkstatt<br />

Eisingen einst für das Stück Labyrinth geschaffen hat. Aus<br />

dem Hintergrund singt eine Stimme leise „Stille Nacht“, gefolgt von<br />

der Frage „Hast du heute Zeit?“. Besucher bleiben stehen, treten vor<br />

und zurück, heben die Arme und bemerken, dass jede ihrer Bewegungen<br />

neue Sätze, Gesänge, Geräusche auslöst. Im Nu sind alle ins<br />

Geschehen involviert, bewegen sich im spontanen Schreittanz umeinander<br />

und um die Ausstellungspodeste mit Masken und Tonskulpturen,<br />

in denen Lautsprecher und Bewegungsmelder montiert sind.<br />

„Klangpuzzle“ heißt die ungewöhnliche interaktive Kunst- und Klanginstallation,<br />

die der Würzburger Komponist und Klangkünstler Bur-<br />

kard Schmidl gemeinsam mit der Pädagogin und Musikerin Antje Arlt<br />

und Michael Wenzel, dem langjährigen Prokuristen der Mainfränkischen<br />

Werkstätten in Würzburg, auf die Beine gestellt hat.<br />

„Die erste Idee entstand aus dem Gedanken, dass ständig um Spenden<br />

und Unterstützung für Hilfsprojekte gebeten wird. Ich wollte den<br />

Spieß umdrehen und Menschen mit Behinderungen um eine Spende<br />

bitten – einen Klang.“ Aus der „schrägen Idee“ montierter Klangbeiträge,<br />

mit der Schmidl vor Jahren bei Michael Wenzel vorsprach, wurde<br />

2016 eine erste interaktive Kunst- und Klangausstellung bei den Mainfränkischen<br />

Werkstätten. „Die kam so gut an, dass wir das in größe- i<br />

In der Mitte hört man alles: Marcel Erbacher<br />

1 Enrico Illhardt<br />

und seine Masken<br />

(2+4)<br />

3 Valentina Sudweg<br />

5 Klangspender<br />

Marcel Erbacher<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

Meister des Klangs: Burkard Schmidl<br />

Die verbindende Kraft<br />

des Klangs<br />

➜ Thema: Menschen mit und ohne Behinderungen werden durch persönliche Klangspenden<br />

Teil eines großen, grenzenlosen Klang-Kunstwerkes<br />

➜ Einrichtung: Klangkünstler Burkard Schmidl und Mainfränkische Werkstätten<br />

gGmbH<br />

➜ Ort: Würzburg<br />

38 E N T W I C K L U N G : M A I N F R Ä N K I S C H E W E R K S T Ä T T E N G G M B H W Ü R Z B U R G<br />

K L A R E R K U R S 0 3 / 1 9<br />

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„Alle konnten mitmachen<br />

und mit ihrer Klangspende<br />

Teil des Projekts werden“<br />

ANTJE ARLT<br />

Michael Wenzel (m.) spricht mit Besuchern über die Klang- und Kunstinstallation, bei der niemand ausgeschlossen bleibt<br />

strang ablesen, welche Spende gerade zu hören ist. „Wann bin ich zu<br />

hören?“ Die Frage hat Schmidl während der knapp sechswöchigen<br />

Ausstellungsdauer immer wieder beantworten müssen. An allen Ausstellungstagen<br />

hat er Besuchergruppen und seine Klangspender durch<br />

die Ausstellung begleitet, die fast alle gekommen sind, um ihr großes<br />

Gemeinschaftswerk zu erleben, freudig den eigenen Beitrag zu hören<br />

oder den von Kollegen und Bekannten zu erkennen.<br />

Nicht alle Spender finden sich wieder. „Es waren einfach zu viele“,<br />

sagt Schmidl. Wie ein Lauffeuer hatte es die Runde gemacht, wie toll es<br />

sei, mitzumachen und eine Klangspende beizusteuern. „Ende Januar<br />

mussten wir die Sammlung abbrechen, weil wir sonst nie fertig geworden<br />

wären“, sagt Antje Arlt. Doch auch wer sich nicht im Klangpuzzle<br />

wiederfindet, gelohnt hat es sich für alle, ist sie überzeugt. Für<br />

sie waren die Aufnahmen das eindrücklichste Erlebnis: „zu sehen, was<br />

fünf bis zehn Minuten komplette Aufmerksamkeit bei Menschen bewirken<br />

können“. Am Ende seien alle stolz und glücklich gegangen.<br />

Währenddessen ist Enrico Illhardt im Kirchenraum eingetroffen. Als<br />

Schauspieler und Künstler engagiert er sich bei der Theaterwerkstatt<br />

Eisingen St. Josefs-Stift. Mehrere seiner Masken, die er für eigene Rollen<br />

gefertigt hat, sind in der Ausstellung zu sehen. Fast liebevoll betrachtet<br />

er jede einzelne, zigmal stand er mit ihnen auf der Bühne. Jetzt<br />

stehen sie auf dem Podest – auch für ihn ein Erlebnis, wie überhaupt<br />

das gesamte Projekt. Mit seinem Ensemble trat er zur Vernissage und<br />

beim „Zwischenspiel“ zur Halbzeit der Schau in der Kirche auf, ging<br />

auf die Zuschauer zu, schaute sie an, bis er auch ihnen ein Lächeln, eine<br />

Reaktion „entlockte“.<br />

Ausstellungsorte gesucht Auf den Weg für das ungewöhnliche Projekt<br />

haben sich auch Valentina Sudweg und Mechthild Strobel gemacht.<br />

Die beiden haben „extra für die Ausstellung“ einen <strong>Kurs</strong> in der Töpferwerkstatt<br />

der Mainfränkischen Werkstätten besucht, um neben<br />

den Künstlergruppen „Alte Waschküch“ des St. Josefs-Stifts, der Gemeinschaft<br />

Sant’Egidio oder des Fördervereins der Stiftung Menschen<br />

und Autismus eigene Arbeiten für das Großprojekt beizusteuern.<br />

Stolz stellen sie sich neben eine Figurengruppe, die im Team<br />

entstanden ist. „Auf dem Weg“ lautet der Titel. Immer wieder laufen<br />

die beiden nun an den Podesten mit Objekten vorbei, betrachten die<br />

Werke und hören auf die Klangkulisse aus den Lautsprechern. „Es ist<br />

sehr schön. Das macht stolz“, sagt Valentina Sudweg, während aus<br />

dem Off Würzburgs Dritte Bürgermeisterin Marion Schäfer-Blake<br />

mit eindringlich-hauchender Stimme „Alle Bürger sind gleich“ in<br />

den Kirchenraum tönt.<br />

„Total schön.“ Gabi Dauerer, Bereichsleiterin der Mainfränkischen<br />

Werkstätten, schaut sich um und strahlt. Sie ist mit Marcel Erbacher<br />

gekommen, der mit seinem Rollstuhl in die Mitte des Chors fährt, während<br />

sie immer wieder an den Objekten vorbeiläuft, bis alle Spenden<br />

1 Maske aus der<br />

Theaterwerkstatt<br />

Eislingen 2<br />

Antje Arlt 3, 4<br />

Beigesteuerte<br />

Werke: „Gespalten“<br />

und „Mummies“<br />

5 Michael<br />

Wenzel<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

i rem Umfang wiederholen und künstlerisch komplexer weiterentwickeln<br />

wollten.“ Aktion Mensch bewilligte die Finanzierung und mit<br />

der Würzburger Ordensgemeinschaft der Augustiner, bekannt für innovative<br />

Projekte und ihr Engagement für inklusive Themen, war<br />

schnell auch der Partner mit dem idealen Ausstellungsort mitten in der<br />

Stadt gefunden.<br />

Gigantisches Gemeinschaftsprojekt Die neue Spendensammlung des<br />

bewährten Teams konnte beginnen. Diesmal sollte sie ohne Grenzen<br />

sein. Ein gigantisches Gemeinschaftsprojekt, für alle offen, im Wortsinn<br />

inklusiv. „Wir haben hier im Würzburger Raum eine große Landschaft<br />

an Werkstätten, Inklusionsprojekten und Einrichtungen für<br />

Menschen mit Behinderungen“, sagt Antje Arlt, die von den Mainfränkischen<br />

Werkstätten inzwischen zur Wohnberatungsstelle der Lebenshilfe<br />

Mainfranken gewechselt ist. „Die Idee war, wirklich alle<br />

einzuladen, eine Klangspende abzugeben.“ Sie entwickelten einen Infoflyer<br />

zu Projektidee und Ablauf, verteilten das Faltblatt großflächig in<br />

der Region und Antje Arlt managte die Flut an organisatorischen<br />

Rück- und Absprachen, die darauf folgten: Wie spendet man einen<br />

40<br />

E N T W I C K L U N G : M A I N F R Ä N K I S C H E W E R K S T Ä T T E N G G M B H W Ü R Z B U R G<br />

Klang? Wo soll das stattfinden? Wie lange dauert das? Lässt sich das in<br />

den Arbeitsalltag integrieren?<br />

Fast ein Jahr lang ist Burkard Schmidl schließlich mit Mikro und<br />

Aufnahmegerät durch Werkstätten, Wohn- und Seniorenheime, Tagesförderstätten,<br />

Kindergärten oder Schulen gezogen, klapperte alle Inklusionsprojekte<br />

in der Region ab, fragte Vertreter der Lokalpolitik und<br />

des öffentlichen Lebens und bat um einen klingenden Beitrag. Von A<br />

wie die Theatergruppe „Augenblick“ über K wie Kulturreferat der Stadt<br />

Würzburg bis Z wie das Zentrum für Körperbehinderte in Würzburg<br />

hat Schmidl besucht.<br />

Eine aufregende, berührende Reise für alle Beteiligten, sagen Arlt und<br />

Schmidl, bei der sich der Untertitel des Ausstellungsprojekts „entlockt“,<br />

den die Augustiner Ordensbrüder mitentwickelt haben, teilweise als<br />

reale Beschreibung der akustischen Sammelaktion erwies. „Manche<br />

waren vor dem Mikro so aufgeregt, dass sie erst ganz blockiert waren.“<br />

Andere wieder wollten nur in der Gruppe Klänge produzieren, im Beisein<br />

ihres Gruppenleiters oder nur an ihrem Arbeitsplatz, wieder andere<br />

hatten sich mit Liedern, Geschichten oder Musikstücken so gut<br />

vorbereitet, als hätten sie nur darauf gewartet, vor ein Mikro zu treten. i<br />

K L A R E R K U R S 0 3 / 1 9<br />

i 30 Stunden Klangmaterial Schmidl erwies sich als Entlockungskünstler<br />

und geduldiger Zuhörer. 350 Klangspenden hat er in seiner monatelangen<br />

Tour eingesammelt, 30 Stunden „Material“ aufgenommen. Zu<br />

jeder Spende kann er eine Geschichte erzählen, sagt er und sprudelt los.<br />

Erzählt vom Mann mit Downsyndrom, der ihm auf der Flöte einen Ton<br />

gespendet hat – den einzigen, den er generell spielt. Von der Frau, die nie<br />

auch nur ein Wort spricht und ihm leise „Heidi, Heidi, deine Welt sind<br />

die Berge“ ins Mikro gesungen hat, dass ihrer Gruppenleiterin Tränen<br />

in die Augen schossen. Vom Spender, der ihm eine Stunde lang eine<br />

umfangreiche, alte Version des Rumpelstilzchens vortrug und im Anschluss<br />

noch den Froschkönig. Vom Auftritt des Chors und der Veeh-<br />

Harfen-Gruppe der Mainfränkischen Werkstätten. Vom jungen Mann,<br />

der als Spende seinen Verlobungsring auf der Tischplatte kreiseln ließ.<br />

Oder vom „Herrn der Papiere“, dem erst mal nichts einfiel, und auf<br />

Schmidls Vorschlag hin, doch etwas zu singen: zehn Minuten in schönsten<br />

Betonungsvarianten „Au ja, das wär schön“ ins Mikro sagte.<br />

Der Satz tönt neben einigen anderen „Feature-Sätzen“ in wiederkehrender<br />

Sequenz aus verschiedenen Lautsprechern durch die Kirche<br />

und sticht aus der Endlosschleife von sechs unterschiedlichen Melodiefolgen<br />

heraus, die Schmidl als Klangteppich komponiert hat und<br />

damit die Kunstwerke samt Klangspenden in wechselnden emotionalen<br />

Atmosphären erleben lässt. Ein aufwendiges Klangpuzzle, das<br />

Schmidl in ungezählten Stunden im Studio in kurze Sequenzen geschnitten<br />

und zusammengefügt hat. „Ich habe sicher viele Spenden bis<br />

zu 500-mal angehört, um sie in eine passende Folge zu bringen.“ Er<br />

zückt ein Bündel DIN-A4-Blätter – die Partitur seiner Klangkomposition.<br />

Für jedes der acht Ausstellungspodeste kann er nach einem Zeit-<br />

K L A R E R K U R S 0 3 / 1 9<br />

erklungen sind. Gemeinsam haben sie ihre Klangspenden abgegeben<br />

und wollten nun auch gemeinsam das Ergebnis sehen.<br />

Niemand soll ausgeschlossen bleiben. Den Ansatz der Ausstellung<br />

haben auch die Ordensbrüder ins Zentrum ihrer seelsorgerischen Arbeit<br />

gerückt, die Ausstellung in ihre Predigten einbezogen, aus der Gemeinde<br />

Begleitdienste organisiert, die Besucher und Klangspender<br />

über barrierefreie Zugänge in die Kirche lotsen. „Sie haben die Ausstellung<br />

auch zu ihrem Projekt gemacht und mitgeholfen“, sagt Michael<br />

Wenzel. Er sucht nun gemeinsam mit Antje Arlt und Burkard<br />

Schmidl weitere Ausstellungspartner in Deutschland, die die ungewöhnliche<br />

Kunst-Klanginstallation zeigen wollen. Am liebsten würde<br />

Wenzel mit dem Klangpuzzle auf Tournee gehen, um den inklusiven<br />

Ansatz ins Bewusstsein zu rücken: „Es ist so ein tolles Projekt, in dem<br />

so viel Arbeit steckt. Es wäre zu schade, es einfach einzumotten.“ AS ❚<br />

KONTAKT<br />

Burkard Schmidl, Komposition und Klangkunst<br />

97246 Eibelstadt, Tel.: 09303-990524<br />

klanggarten@t-online.de www.klanggarten.de<br />

Michael Wenzel michaelwenzel08@yahoo.de<br />

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COMIC/<br />

Der Comic stammt von Katja Wilhelmi, VIA Blumenfisch gGmbH, Berlin<br />

IMPRESSUM<br />

KLARER KURS – Magazin für berufliche Teilhabe<br />

Herausgeber: 53° NORD Agentur und Verlag<br />

Ein Geschäftsbereich der gdw mitte eG<br />

GmbH; 24-31: Axel Nordmeier; 37: Wefa Eisfeld; 38-41:<br />

Alex Kraus; 5, 6-11, 20-21, 28, 30, 32, 34, 36: istock<br />

Grafik-Design: Dietmar Meyer<br />

Bildbearbeitung: Ronald Fromme<br />

Druck: reha GmbH DruckCenter, Saarbrücken<br />

Redaktion KLARER KURS<br />

Magazin für berufliche Teilhabe<br />

Frankfurter Str. 227b, 34134 Kassel<br />

Tel.: 0561 475966-0; 0160 98343487<br />

info@53grad-nord.com www.53grad-nord.com<br />

Abonnement: KLARER KURS – Magazin für berufliche<br />

Teilhabe erscheint vierteljährlich.<br />

Das Jahresabonnement kostet 38 Euro.<br />

Abo-Service/Anzeigen: Tel.: 0561 475966-53<br />

Grid Grotemeyer (Chefredakteurin, GG, V.i.S.d.P.),<br />

Dieter Basener (DB), Gerhard Schindler (GS),<br />

Anita Strecker (AS), Uli Winter (UW)<br />

Fotos: 1: Axel Nordmeier; 4: Robert Schittko; 5: Werkstatträte<br />

Deutschland; 12-15: Michael Höhle; 16-19:<br />

Julia Klebitz; 20-23: Alex Friedel, Flughafen München<br />

Die Redaktion übernimmt keine Haftung für unverlangt<br />

eingesandte Manuskripte, Fotos und Illustrationen. Kein<br />

Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmigung<br />

des Herausgebers vervielfältigt oder verbreitet werden.<br />

Die nächste Ausgabe von KLARER KURS<br />

erscheint im November 2019<br />

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E N T W I C K L U N G : C O M I C<br />

K L A R E R K U R S 0 3 / 1 9<br />

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