Typisch Posener
978-3-86859-593-2
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KATRIN VOERMANEK
Typisch Posener
Typisch Posener 7
Häusergeschichten 19
Haus Cramer 29
„Ich verliebte mich, als ich
auf das Haus zuging …“
Haus Mohrbutter 35
„Kann man hier noch
Schaden verhindern?“
Liebermann-Villa 43
„Einspruch im Namen
der Kultur“
Diakonissenkrankenhaus / 47
Kunstquartier Bethanien
„Baukritik muss sein!“
Rudolf-Virchow-Krankenhaus 57
„… dann werden wir uns
eben weiter streiten.“
Universum-Kino / 71
Schaubühne am Lehniner Platz
„… denn es ist am Ende
nicht alles gut.“
Kino Babylon 81
„Da is Musike drin.“
West und Ost, Alt und Neu 92
Neue Nationalgalerie 99
„… um es einmal hart zu sagen,
eine Krambude.“
ICC 111
„Einen Staubsauger haben wir bisher
nicht für Architektur gehalten.“
Wie Julius Posener 121
Architekturkritiker wurde
Epilog – Architekturkritik als Instrument 140
Anhang 142
6
Julius Posener an seinem Schreibtisch, circa 1985
7
Typisch Posener
Julius Posener hat Häuser gerettet, Preise bekommen, und an
der Berliner Rehwiese ist ein kleiner Platz nach ihm benannt.
In seinem Arbeitszimmer saßen Leguane, sein Großneffe ist der
renommierte Koch Yotam Ottolenghi. Er hat ein ganzes Leben lang
publiziert, gelehrt und sich engagiert. Menschen, die Julius Posener
persönlich erlebt haben, bekommen einen verklärten Gesichtsausdruck,
wenn sie von ihm sprechen. Seine Texte lesen sich anders
als andere. Braucht es mehr Gründe, um sich an diesen besonderen
Menschen zu erinnern oder ihn kennenlernen zu wollen?
Heimliche Erinnerungen heißen die vermutlich 1957 in Malaysia verfassten
Memoiren Julius Poseners, in denen er die ersten knapp 50
Jahre seines Lebens Revue passieren lässt. Sie erschienen 2004,
acht Jahre nach dem Tod des Doyens der deutschen Architekturkritik,
wie er allenthalben genannt wird. Herausgegeben hat sie sein
Sohn, der Publizist Alan Posener. Das Manuskript war lange unentdeckt
geblieben, gelagert in einer Orangenkiste. So hatte Julius
Posener es seinem Sohn erst kurz vor seinem Tod zu lesen gegeben.
Im Kapitel „Wie man keine Doktorarbeit schreibt“ berichtete er, ein
Promotionsvorhaben begonnen, aber nie wirklich ernsthaft betrieben
und schließlich aufgegeben zu haben. Auch dieses Buch basiert
auf den Recherchen für eine Dissertation. Nun ist es ein Lesebuch
geworden – und das macht Sinn: Julius Poseners wohl schönste
Hinterlassenschaft ist seine Sprache. Er ist immer viel mehr ein
Erzähler als ein Wissenschaftler gewesen, und so ist sein Schaffen
in einer Textsammlung gut aufgehoben. Zu vieles tat „J. P.“, wie
er seine Briefe zu unterschreiben pflegte, aus dem Bauch heraus.
Zu wenig lag ihm an einem stringenten theoretischen Überbau, an
validierbaren Thesen, an der Konsistenz seiner Bewertungen, was
ihm selbst bewusst war und was ihm manche seiner Zeitgenossen
durchaus vorwarfen. Vieles, was er als Architekturkritiker, Lehrer
14
Publikum, einem im Sich-Entziehen geübten Justizsenator oder
wem sonst entgegenstellt.“ 8
Wenn J. P. Architektur beschrieb, dann erzählte er von sich und
seinen Begegnungen mit Häusern, von seinen Erinnerungen und
Assoziationen. Er drückte mit klaren und verständlichen Worten aus,
wie die Architektur auf ihn wirkte, was ihm gefiel und was nicht.
Posener richtete direkte Fragen an seine Leser und trat in seinen
Texten unter Verwendung eines Autoren-Ichs, das er auch in einen
Pluralis Majestatis verpackte, in Erscheinung. Dabei schrieb er aber
nicht hoheitlich-abgehoben, sondern so, dass man sich als Leser in
das Wir aufgenommen fühlt und der Eindruck entsteht, man schaue
sich das Beschriebene gerade gemeinsam mit ihm an.
Analogien und Verweise
Im biografischen Teil am Ende dieses Buches ist nachzulesen, wie
Julius Posener und seine beiden Brüder in ihrem großbürgerlichen
und musischen Elternhaus eine umfassende Bildung erfuhren. Dies
schimmert unaufdringlich durch all seine Texte hindurch, sei es im
beiläufig eingestreuten Goethe-Zitat, in einer Analogie, die er zwischen
einem Gebäude und einer musikalischen Komposition herstellte,
oder wenn er Mendelsohn mit dem jungen Beethoven verglich.
Bildung ist die wesentliche Quelle, aus der sich seine Artikel
und Vorlesungen speisen. Sie hat es ihm ermöglicht, Architektur
stets in einem breiteren Kontext zu betrachten und ihren Stellenwert
in Kategorien außerhalb der Welt des Bauens einzuordnen. Posener
hat ein Gebäude nie als singuläres Ereignis irgendwo am Straßenrand
wahrgenommen. Für ihn gehörten immer die Nachbarschaft
und die Stadt einschließlich (lokal-)politischer oder wirtschaftlicher
Rahmenbedingungen als Bezugsgrößen dazu – wenn nötig auch die
gesamte Baugeschichte und die anderen schönen Künste. Nikolaus
Kuhnert und Anh-Linh Ngo, die Herausgeber der Zeitschrift Arch+,
hoben seine Fähigkeit hervor, Architektur in politische und kulturelle
Zusammenhänge einzuordnen, was seine „Architekturgeschichte
zu Gesellschaftsgeschichte“ mache. 9
Emotionalität
Was Poseners Texte ebenfalls von anderen unterscheidet, ist Emotionalität.
Um Gebäude zu beschreiben, pflegte er keinen harten und
kantigen Stil. Es war schon früh ein sanfter Klang, der seine Sprache
Typisch Posener
15
auszeichnete. Als J. P. den Text „Stuhl oder Sitzmaschine“ schrieb,
war er gerade einmal 28 Jahre alt, hier ein kurzer Auszug:
„Wenn man sich nicht scheut, die Freude einmal zu analysieren,
die man in einer guten, menschlichen Umgebung empfindet,
so wird man schnell merken, dass es nicht das Komplizierte
ist, das befriedigt, nicht das Raffinierte, auch nicht das restlos
Durchkonstruierte. Was man begrüßt, was einen warm werden
lässt, ist vielmehr das Zwanglose im Umgang von Mensch und
Ding, das Zutrauliche, Ruhige dieses Umganges. Es ist die
Sicherheit mit der die Sachen an ihrem Platz stehen, die Klarheit,
mit der sie ihren einfachen Zweck erfüllen und aus drücken,
die Würde und Heiterkeit, die ihnen eigen ist, weil sie am
engsten zu uns gehören, die helle, menschliche Gegenwart.“ 10
Dieser Mut zu emotionaler Wortwahl setzt auch den Ton in späteren
Texten, in denen Häuser mal „liebenswert“, „großmütig“ und
„gelassen“ sind, aber auch „schrecklich“ oder „glitschig“. Sie „erregen“
J. P., er „liebt“ sie, ist von ihnen „begeistert“ oder gar „verzaubert“.
Humor
Architekturkritik ist oft eine humorlose Angelegenheit. Nicht so bei
Julius Posener. Mit seiner Art zu sprechen und zu schreiben hat er
auch deswegen viele Menschen erreicht, weil er seinen Sinn für
Humor einzusetzen wusste – von leiser Ironie bis zum krachenden
Scherz. So nahm er in einem Gespräch mit Manfred Sack den Architekten
Hugo Häring auf den Arm:
„Julius Posener: Das ist nicht genau das, was Hugo Häring
gemeint hatte, der ja der entschiedenste Funktionalist gewesen
ist.
Manfred Sack: Der ja eine der eigenwilligsten Koryphäen des
Neuen Bauens, mehr wohl: des ‚organhaften‘ Bauens in den
Zwanziger Jahren war.
Julius Posener: Häring hat gesagt, dass sich, wenn man die
rein praktische Aufgabe genau genug durchdenke, die Form von
selbst ergebe. Dass er nie so gearbeitet hat, ist etwas anderes.
Wenn man das berühmte Gut Garkau am Pönitzer See, nördlich
18
Auszug aus einem Original-Manuskript von Julius Posener, 1987
19
Häusergeschichten
Die Häusergeschichten speisen sich aus verschiedenen Quellen:
den Büchern von und über Julius Posener, den Archiven
der Medien, in denen er publizierte, vor allem aber aus seinem
im Baukunstarchiv der Akademie der Künste in Berlin verwalteten
Nachlass. Die Arbeit mit diesem Material öffnet den Blick in eine
Welt des Schreibens und Publizierens, die es heute nicht mehr gibt.
Es war eine Zeit ohne Laptop und Drucker, Scanner und Kopierer,
Smartphone und soziale Medien. Ein Großteil des Archivbestands
sind auf einer mechanischen Schreibmaschine getippte Manuskripte,
oftmals im Durchschlag. Wer das nicht mehr kennt: Wenn
man früher einen Brief verfasste und diesen wegschickte, war dies
das Original. Man hatte auf keiner Festplatte und in keiner Cloud
eine Kopie dessen, was man geschrieben hatte. Deswegen stellte
man vor der Erfindung von Kopierern und Scannern einen Durchschlag
zum Verbleib in den eigenen Unterlagen her, in der Regel
mithilfe von sogenanntem Durchschlag- oder Kohlepapier. Dieses
legte man zwischen das Original und ein zweites, oftmals dünneres
Papier, und durch eine spezielle Beschichtung wurde der von Hand
geschriebene oder der getippte Inhalt auf das zweite Blatt übertragen.
In Poseners Nachlass finden sich zehntausende Manuskripte und
Briefe, die über ihren Inhalt hinaus auch etwas über die Umstände
vermitteln, unter denen sie entstanden sind. Manche sind auf
Schreibmaschinen mit englischer Tastatur getippt, was an den fehlenden
Umlauten und dem doppelten S zu erkennen ist, das unser
Schriftzeichen ß ersetzte. (Für dieses Buch wurde die Schreibweise
in allen Zitaten allerdings an die neue deutsche Rechtschreibung
angepasst.) Manche Manuskriptseiten weisen die typischen Löcher
auf, die mechanische Schreibmaschinen ins Papier schlugen,
zum Beispiel beim i-Punkt, wenn man sie in Eile, mit zu großem
28
Haus Cramer im wiederhergestellten Zustand, 1979
Das Haus mit abgestützten Giebelwänden, 1967
29
Haus Cramer
„Ich verliebte mich, als ich
auf das Haus zuging …“
Es gibt ein Haus in Berlin, das in seiner persönlichen Bedeutung
für Julius Posener alle anderen überragt. Es war im architektonischen
Sinne seine erste große Liebe und Sinnbild einer Idylle, die
er selbst verloren hatte. Die Rede ist vom Haus Cramer von Hermann
Muthesius, fertiggestellt 1913 in Dahlem an der Ecke der Straßen
Pacelliallee und Im Dol. Muthesius hatte es für den jüdischen
Kaufmann Hans Cramer und dessen Familie auf einem über 4000
Quadratmeter großen Grundstück gebaut. Ein imposantes Haus mit
Bruchstein-Fassaden und hoch aufragenden, sanft gewellten Giebeln.
Mehrere Pergolen verweben es mit dem weitläufigen Garten.
Es gilt als beispielhafte Umsetzung der Muthesius’schen Ideale vom
Wohnen, die der Architekt aus der Analyse englischer Landhäuser
abgeleitet hatte. Julius Posener sah dieses Haus als junger Student,
und es war eine eindrückliche Begegnung, die er in seinen Heimlichen
Erinnerungen beschrieb:
„Eines Tages nahm ich an einer Exkursion teil, die einer unserer
Dozenten an der TH organisiert hatte. Wir fuhren hinaus nach
Dahlem und besichtigten dort nur zwei Häuser. Das erste der
beiden war von Hermann Muthesius entworfen worden, dem
Mann, der im Jahr meiner Geburt den englischen Landhausstil
in Deutschland eingeführt hatte. Ich hatte noch nie eine Arbeit
von ihm gesehen, und das Haus Cramer, auf das wir jetzt
zugingen, zählte nicht zu seinen besten. Doch in dem Augenblick,
in als wir uns dem Eingang in der Bruchsteinmauer aus
grobem, grauem Kalkstein näherten, stand für mich bereits
fest, dass ich es ‚himmlisch’ fand. Die Erfahrung entsprach etwa
der plötzlichen Verliebtheit eines Heranwachsenden und war
ebenso wenig eindeutig fassbar. Am nächsten Tag ist der junge
Mensch häufig nicht mehr in der Lage, die Augenfarbe seiner
34
Haus Mohrbutter, 1968
35
Haus Mohrbutter
„Kann man hier noch
Schaden verhindern?“
„3.11.1983
Lieber Herr Engel,
vor dem Haus Mohrbutter, Schlickweg 6 in Zehlendorf, Architekt
Hermann Muthesius (1912) lagern niedersächsische Dachpfannen
für eine Neueindeckung. Sie sind graubraun im Ton und
in der Form von den grauen Pfannen, welche ursprünglich auf
dem Dach lagen – und noch liegen – stark unterschieden. Das
Haus ist durch seine Lage auf dem spitzwinkligen Eckgrundstück
an der Klopstockstraße eine Landmarke in der Schlachtenseegegend,
und es wird nach der Eindeckung mit den niedersächsischen
Pfannen ziemlich anders aussehen als bisher.
Steht das Haus unter Schutz?
Kann man hier noch Schaden verhindern?
Mit bestem Gruß,
Ihr Julius Posener“ 1
Beim Lesen dieses Briefes tauchen sofort Bilder vor dem inneren
Auge auf: Wie Julius Posener bei einem Spaziergang durch
die Nachbarschaft am Schlachtensee im Vorgarten von Haus Mohrbutter
zufällig die aufgestapelten Dachziegel entdeckt, wie er die
Gefahr für das Muthesius-Haus erkennt, nach Hause eilt, um sich
an die Schreibmaschine zu setzen und sogleich dem damaligen Landeskonservator
Helmut Engel zu schreiben. Wie schnell wäre das
heutzutage mit einem Smartphone und einem Instagram- Account
erledigt?
Schon auf den ersten Blick unterscheidet sich das Haus Mohrbutter
von früheren Muthesius-Landhäusern. Der Architekt baute
es 1912/13 für den Künstler Alfred Mohrbutter als Wohnhaus mit
Ateliergebäude. Der Entwurf des Hauses fällt in eine interessante
Umbruchphase in Muthesius’ Schaffen, nachdem dieser vom
42
Die verlassene Liebermann-Villa, 1971
43
Liebermann-Villa
„Einspruch im Namen
der Kultur“
Die Villa des Malers Max Liebermann am Ufer des Wannsees ist
seit 2006 ein Museum. Bereits zwei Jahre zuvor konnte sie zeitweise
besichtigt werden. Die Zeitung Die Welt schrieb damals: „30
Jahre mussten vergehen, bis aus einer Idee des Architekturkritikers
Julius Posener Wirklichkeit wurde.“ 1 Auch um dieses Haus hat sich
Posener also verdient gemacht, wenn auch mit viel Zeitverzug.
Der jüdische Maler Max Liebermann, 1847 in Berlin geboren und
1935 auch dort verstorben, hatte sich 1910 in der heutigen Colomierstraße
3 vom Architekten Paul O. A. Baumgarten einen Landsitz
bauen lassen. Dort verbrachte er mit der Familie den Sommer,
während er im Winter meist in seinem Palais am Pariser Platz lebte.
Der Garten der Villa ist in vielen Bildern des Malers verewigt – die
Max-Liebermann-Gesellschaft zählt mehr als 200 Gemälde, die
unterschiedlichste Stimmungen und wechselnde Bepflanzungen
auf dem 7000 Quadratmeter großen Seegrundstück zeigen.
Über die bewegte Geschichte des Hauses nach dem Tod des Malers
ist auf der Webseite des Trägervereins des heutigen Museums zu
lesen: „1940 wurde Martha Liebermann von den Nationalsozialisten
gezwungen, das Grundstück an die Deutsche Reichspost zu verkaufen,
die in der Villa ein Schulungslager für ihre weibliche Gefolgschaft
einrichtete. Gegen Ende des Krieges diente das Haus als Lazarett.
Nach 1945 wurde die Liebermann-Villa gemeinsam mit der benachbarten
Villa Hamspohn zur chirurgischen Abteilung des Städtischen
Krankenhauses Wannsee. Das ehemalige Atelier Max Liebermanns
fungierte als Operationssaal.“ 2 1951 erhielt die Familie das Haus
zurück und verkaufte es einige Jahre später an das Land Berlin.
1971 kommt Julius Posener ins Spiel. Unter der launigen Überschrift
„Liebermann und die Froschmänner“ veröffentlichte er einen Text
im Tagesspiegel. 3 Der Garten des Sommerhauses, das zwischenzeitlich
leer gestanden hatte, war zu jenem Zeitpunkt nach seinem
46
Kunstquartier Bethanien, 1989
Entwurf für eine Wohnbebauung hinter dem
Bethanien von Sigrid Kressmann-Zschach,
DIE WELT, 19.3.1969, S. 18
47
Diakonissenkrankenhaus /
Kunstquartier Bethanien
„Baukritik muss sein !“
Rund um das heutige Kunstquartier Bethanien in Berlin-Kreuzberg
rankt sich eine Posener-Legende, die bei den Recherchen
für diese Häusergeschichte eine Entzauberung erfahren hat. Auf
einer Gedenkveranstaltung des Berliner Werkbunds für J. P. in der
Akademie der Künste am Hanseatenweg hatte Ulrich Conrads von
einer Posener’schen Heldentat im Jahr 1967 berichtet. Damals war
gerade bekannt geworden, dass dem Diakonissenkrankenhaus am
Mariannenplatz Gefahr durch Abriss drohte:
„Julius Posener und ich haben uns verschworen und gesagt, das
kann nicht passieren, dass dieses Gebäude hier verschwindet. Wir
haben uns im Werkbund Verstärkung geholt und versucht, diese
Sache zu retten. Wir haben mit Scharf [dem damaligen Berliner Landesbischof]
und mit vielen Menschen gesprochen. Ich weiß nicht
mehr, wer auf die Idee gekommen ist, zu sagen, dann müssen wir
nach Bonn gehen ins Parlament. Und das haben wir auch gemacht.
Wir haben dem Parlament geschrieben, und – oh Wunder – die
gesamtdeutsche Kommission des Bundestags hat sich der Sache
angenommen und ist unserer Einladung gefolgt. […] Sie reisten an
und wurden von keinem anderen als Julius Posener durch dieses
Gebäude geführt. Und diese Führung kann man sich eigentlich nur
so vorstellen, wie man Warzen bespricht. Ganz ungeheuer überzeugend,
mit dieser unaufgeregten und dennoch akzentuierten, kräftigen
Betonung dessen, worauf es ankam. Die Kommission fuhr
nach Bonn zurück und hat dem Senat auferlegt, der Architektin,
die inzwischen den Abbruch der Seitenflügel bereits beim Landesdenkmalpfleger
durchgebracht hatte und die hier geplant hatte, das
Gelände mit bis zu 16-geschossigen Wohntürmen zu bebauen, das
Projekt wieder zu entreißen, den Schwestern die fünf Millionen
Altersgeld zu geben und dieses Gebäude zu übernehmen. So kann
man sagen, dass es Julius Posener war, der dieses Haus gerettet
56
Rudolf-Virchow-Krankenhaus, 1988, im Vordergrund noch erhaltene Pavillons von Ludwig Hoffmann
57
Rudolf-Virchow-Krankenhaus
„… dann werden wir uns
eben weiter streiten.“
Der Kampf gegen die Zerstörung von Bauten des Rudolf-
Virchow-Krankenhauses (RVK), zu Beginn des 20. Jahrhunderts
von Ludwig Hoffmann erbaut, hielt Julius Posener über mehrere
Jahre hin weg in Atem. In der Debatte, die in der Stadt ab 1986
hohe Wellen schlug, zog er alle Register, nutzte strategisch die ihm
zur Verfügung stehenden Medien und Foren, von der Tageszeitung
bis zum Rundfunk, vom Denkmalbeirat bis zum Werkbund, sowie
mehrere öffentliche Auftritte, darunter eine Ausstellungseröffnung,
das Schinkelfest und eine Preisverleihung, um zur Rettung aufzurufen.
Er korrespondierte intensiv mit Kollegen der Presse, die er zu
einem gemeinschaftlichen Vorgehen gegen den Abriss animierte.
Gerade diese Kommunikation hinter den Kulissen ist wegen ihrer
Unverblümtheit interessant – obwohl alle Mühe am Ende vergebens
war.
Ludwig Hoffmann war von 1896 bis 1924 Stadtbaurat von Berlin.
Zu jener Zeit galt man in diesem Amt noch als „der erste Architekt
seiner Stadt“, wie es der Journalist Günther Kühne in der Radiosendung
„Kunst auf Eins“ im RIAS treffend umschrieb. 1 Anders als
wir es heute kennen, verwaltete man das Bauen nicht, man baute
vor allem selbst. Hoffmann war es in seinem Amt persönlich vorbehalten,
gemeinsam mit dem berühmten Arzt Rudolf Virchow die
Pläne für ein großes Krankenhausareal im Bezirk Wedding zu entwickeln
und diese dann ab 1899 auch umzusetzen. Virchow verstarb
kurz vor der Fertigstellung der Anlage. Seine Witwe schrieb nach
der Eröffnung im Jahr 1906 einen Brief an Hoffmann, aus dem Günther
Kühne zitierte. Sie sei von der Besichtigung „tief bewegten und
dankerfüllten Herzens“ zurückgekehrt, in dem Bewusstsein, dass
dieses Krankenhaus „das herrlichste Denkmal“ bleiben werde,
das dem Verstorbenen jemals habe gesetzt werden können. Kaiser
Wilhelm II. soll sogar gegenüber Hoffmann bekannt haben: „Was
70
Schaubühne am Lehniner Platz, 1982
Der zu großen Teilen zerstörte Mendelsohn-Bau, 1979,
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.2.1979, S. 21
71
Universum-Kino /
Schaubühne am Lehniner Platz
„… denn es ist am Ende
nicht alles gut.“
Berlin gehörte im Europäischen Jahr des Denkmalschutzes 1975
mit mehreren Sanierungsgebieten zu den fünf Beispiel städten
der BRD. Umso wütender machte es Julius Posener, als ihm just in
jenem Jahr ein Dokument in die Hände fiel, auf dem ein Grundstück
am Kurfürstendamm zum Verkauf angeboten wurde. Dem Tagesspiegel
sandte er daraufhin folgendes Manuskript zu:
„Vor mir liegt ein interessantes Angebot. Die Firma Prox
Immobilie bietet ein Grundstück ‚in exklusiver Citylage‘ zum
Verkauf an. ‚Das unbelastete Grundstück ist mit einem abrissreifen
Althaus bebaut. Kaufpreis 5 Millionen.‘ Das abrissreife
Althaus ist das Kino am Lehniner Platz, Erich Mendelsohns
‚Universum‘.
In der Liste Berliner Baudenkmäler ist Mendelsohns Kino nicht
enthalten. Ein paar recht fragwürdige Gebäude stehen drin.
Mendelsohns Kino nicht. Die Liste bedarf der Überholung. Das
weiß auch der Landeskonservator. Anfrage: Kann man den
Mendelsohn-Bau unter Denkmalschutz stellen? ‚Theoretisch
ja‘, ist die Antwort: Die Stadt kann jedes Gebäude in ihre Obhut
nehmen, welches sie für ‚denkmalswert‘ erachtet. Aber da
ist der Kaufpreis von 5 Millionen. Macht der Besitzer Schwierigkeiten
– und das wird er: er will ja abreißen –, so müsste
die Stadt bereit sein, ihm das Haus abzukaufen. Ob sie dazu
imstande ist, kann ich nicht beurteilen. Ebenso wenig maße ich
mir an zu beurteilen, ob gewisse, sehr kostspielige Bauunternehmen
der jüngsten Zeit – Flughafen, Kongresszentrum – das
sind, was man gesunde Investitionen nennt. Nur dies: Für
Bauvorhaben, von denen sich die Stadt etwas verspricht, steht
Geld zur Verfügung (weit über eine Milliarde Mark). Aber fünf
Millionen lediglich dafür auszugeben, ein Meisterwerk der
80
Kino Babylon, 1991
Originalzustand des großen Saals nach Poelzig, 1929
81
Kino Babylon
„Da is Musike drin.“
Alle bisherigen Häusergeschichten haben sich in Julius Poseners
Heimat Westberlin zugetragen. Doch gibt es ein Projekt, das
ihn gleich nach der Maueröffnung in den Ostteil der Stadt führte.
Dort engagierte er sich ab 1990 für einen Bau von Hans Poelzig, seinem
hochgeschätzten Lehrer an der Technischen Hochschule Berlin.
Gemeinsam mit einigen Gleichgesinnten war J. P. bemüht, den
Rück-Umbau des 1928/29 errichteten Babylon-Kinos am heutigen
Rosa-Luxemburg-Platz in seinen Originalzustand zu erwirken. Einer
Versuchsanordnung gleich, ging es in diesem Fall um die Frage,
was im Denkmalschutz als richtig oder falsch zu bewerten sei, ob
im Konfliktfall die Zeitgeschichte Vorrang vor der Ästhetik haben
solle oder umgekehrt, die Ästhetik vor der Zeitgeschichte. Auch
beim Babylon bildeten sich zwei Lager: Die einen wollten authentische
historische Schichten bewahren, die sich in dem mehrfach
umgebauten Haus ablesen ließen. Die anderen, unter ihnen Julius
Posener, wollten einen verlorenen „originalen“ Bauzustand wiederherstellen,
dem sie einen höheren Wert beimaßen als allen späteren
Überformungen. Der letztlich gefundene Kompromiss – vorne
Poelzig, hinten Ostmoderne mit Goldrand – hätte Posener garantiert
nicht gefallen.
Das Kino ist in eine fünfgeschossige Blockrandbebauung integriert
und war Teil eines städtebaulichen Plans von Hans Poelzig
für dieses Areal, das früher Bülow-Platz hieß und damals wie heute
von Oskar Kaufmanns 1915 erbauter Volksbühne beherrscht wird.
Deren bauliche Rahmung war 1925 Gegenstand eines Wettbewerbs.
Der Jury gehörte unter anderen auch Hermann Muthesius
an, es gewann der Architekt Johann Emil Schaudt. Aber noch bevor
es zur Umsetzung des Siegerentwurfs hätte kommen können,
trat Martin Wagner das Amt des Berliner Stadtbaurats an, der die
Ergebnisse des alten Verfahrens überholt fand und sich nicht an sie
92
West und Ost,
Alt und Neu
West und Ost
Außer den Plänen für das Kino Babylon erregten im Osten
Berlins auch der geplante Umbau der Neuen Wache unter
den Linden und der bereits zu Beginn der 1990er Jahre diskutierte
Wiederaufbau des Stadtschlosses das Interesse Poseners,
genauer gesagt, provozierten seine Kritik. Auch der Prozess des
Zusammenwachsens der Stadt ließ ihn nicht kalt, unter anderem
äußerte er sich kritisch zu den großen Bauvorhaben am Potsdamer
Platz:
„Ich weiß nur, wer nicht entscheiden soll: Daimler-Benz und
Sony. Man stelle sich das vor: Man kommt an eines der drei
wich tigsten Eingangstore des historischen Berlin, und wem
begegnet man? Einem Auto- und einem Videorekorderkonzern.“ 1
In einem Leserbrief an den Tagesspiegel nannte er den Potsdamer
Platz einmal „Daimler-Sony-Platz“ und fragte: „Wie lange wird es
noch dauern, bis Berlin Benzin heißen wird?“ 2
Zu jener Zeit war J. P. schon fast 90 und zunehmend gesundheitlich
beeinträchtigt, das muss man sich klar machen. Die allgemeine
Euphorie und Goldgräberstimmung, die über Berlin und den so
unverhofft anstehenden Bauaufgaben lagen, passten nicht zu seiner
Bedächtigkeit. Oder er passte nicht mehr in diese Zeit. Er publizierte
immer weniger, seine Themen, die Vororte und ihre Landhäuser,
gerieten aus dem Blickfeld, weil es plötzlich darum ging, die Mitte
der Stadt neu zu erfinden. Das Insel-Dasein Westberlins gehörte der
Vergangenheit an, Poseners Alleinstellung als mahnende Stimme
für das bauliche Erbe auch.
Als es um die Neue Wache ging, bezeichnete Posener das Vorgehen
des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl, als anmaßend.
93
Der Pavillon Unter den Linden, 1818 von Karl Friedrich Schinkel als
Wachgebäude errichtet, 1931 von Heinrich Tessenow zum Ehrenmal
umgestaltet, war nach den Zerstörungen durch den Krieg zu DRR-
Zeiten wieder aufgebaut worden, allerdings im Innenraum verändert.
Für Posener wäre jetzt, nach dem Fall der Mauer, nur eine Wiederherstellung
des Tessenow-Entwurfs in Frage gekommen, mit zwei
Leuchtern und einem auf einem Sockel liegenden Metallkranz. Dass
für die neue zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland
stattdessen eine im Maßstab deutlich veränderte Pieta von Käthe
Kollwitz aufgestellt wurde, fand er der Aufgabe des Ortes thematisch
nicht angemessen. Außerdem tue man der „innigen Skulptur“
der Künstlerin durch die vielfache Vergrößerung Gewalt an. 3
Ein wiederaufgebautes Stadtschloss, leicht schräg in die Achse der
„Linden“ gestellt, hielt er städtebaulich für einen Gewinn. Aber
inhaltlich hatte er große Bedenken, wie er in einem Brief gegenüber
einem Mitarbeiter der Akademie der Künste bekannte:
„Ich meine, der Neubau des Schlosses an der alten Stelle
werde peinlich wirken – und peinlich bleiben: Es wird nicht
so altern, wie das ursprüngliche Schloss gealtert ist. […]
Bedeutend scheint mir zu sein, dass das Schloss seit 1918 leer
wirkte. Es war zu nichts mehr da, und das spürte man, sobald
man eintrat. Das wird bei dem Neubau schlimmer sein. […]
Für jede geplante Nutzung wird das Schloss zu groß sein, zu
anspruchsvoll. Es ist, fürchte ich, in seiner endgültigen Form,
die auch ich erst nach der Abdankung des letzten Herrschers
gesehen habe, – und da wirkte es leer, – nicht wieder zum
Leben zu bringen.“ 4
Wie es aussieht, könnte er auch hier recht behalten.
Alt und Neu
Julius Poseners Herz schlug für das Alte. Nicht erst nach dem Mauerfall,
schon früher betrachtete er viele Neubauten eher skeptisch.
Als er in jungen Jahren begann, für die L’Architecture d’Aujourd’hui
zu schreiben, habe die Avantgarde in ihm keinen Propagandisten
gehabt, schrieb Manfred Sack 1983 in der ZEIT. 5 Posener habe ihm
gegenüber bekannt: „Ich war schon sehr reaktionär“. Auch in Berlin
fiel er nicht als Fürsprecher des Neuen auf. Kaum zu glauben,
98
Neue Nationalgalerie, 1970
99
Neue Nationalgalerie
„… um es einmal hart zu sagen,
eine Krambude.“
Im September 1968 eröffnete an der Potsdamer Straße die Neue
Nationalgalerie und die Architekturwelt feierte die Heimkehr Ludwig
Mies van der Rohes nach Berlin. 1962 hatte der 1938 in die USA
ausgewanderte Architekt den Direktauftrag der Stiftung Preußischer
Kulturbesitz für das Museum erhalten, der Baubeginn erfolgte 1965.
Für 2020 ist die Wiedereröffnung des Hauses nach denkmalgerechter
Sanierung durch das Büro David Chipperfield Architects angekündigt.
Das Gebäude hat längst den Status einer Ikone, es gilt als Meilenstein
des Museumbaus. Wer kennt und schätzt sie nicht, die „heilige
Halle“, ihre wunderbaren Raumerlebnisse, ihr schwebendes
Dach? Zahllose Ausstellungen haben hier stattgefunden, von Piet
Mondrian bis Otto Piene, von Alberto Giacometti bis Jeff Koons,
von Oswald Mathias Ungers bis Rem Koolhaas. Unvergessen die
Besucherschlangen, die sich 2004 anlässlich des MoMA-Gastspiels
um das Gebäude wickelten. 2015 verabschiedete die Gruppe Kraftwerk
den Bau mit einer Serie von Konzerten in die Sanierungspause.
Aus heutiger Sicht sakrosankt und über fast jede Kritik erhaben,
brachte der Bau in seiner Entstehungszeit manchen Kritiker heftig
ins Schlingern. Wie sollte man sich positionieren? Nun hatte man
endlich einen Mies in Berlin, noch dazu einen so beeindruckenden.
Die Besucher strömten in Scharen. Wer wollte da gleich wieder in
die Suppe spucken? Gleichzeitig war es nie ein Geheimnis, dass
Mies den Entwurf in wesentlichen Merkmalen nicht eigens für Berlin
entwickelt hatte. Er griff auf einen ungebauten Vorschlag für den
Rum-Hersteller Bacardi in Santiago de Cuba zurück, den er zuvor
schon für das Museum Georg Schäfer in Schweinfurt abgewandelt
hatte. Und es war klar, dass der Bau für seinen eigentlichen Zweck,
das Ausstellen von Kunst, keine allzu guten Bedingungen bot.
110
ICC, 1980
111
ICC
„Einen Staubsauger
haben wir bisher nicht für
Architektur gehalten.“
„‚Was halten Sie‘, fragt ich den Fahrer
– Er steuert verschlossenen Gesichts –
‚Vom Kongresszentrum dort, dem neuen?‘
Er sagt lakonisch: ‚Nichts‘.
O Fahrer, Du magst einst bereuen
Dein karges verneinendes Wort.
Am Kongresszentrum dort, dem neuen
Da bauen sie munter fort.
Sie bauen, so sagt man, die Zukunft.
Man sagt das vielleicht etwas schnell.
Denn unfertig wie’s ist, ist’s Vergangenheit schon:
Es ist nicht einmal sensationell.“ 1
Wen wird jetzt noch wundern, dass Julius Posener mit dem
zwischen 1975 und 1979 erbauten Internationalen Con -
gress Centrum (ICC) von Ralf Schüler und Ursulina Schüler- Witte
nichts anfangen konnte. Für ihn war es keine Sensation. Mehr
noch, an anderer Stelle schrieb er, er habe es gefürchtet und sogar
gehasst. Es sei keine besondere Architektur, so sein hartes Urteil,
allenfalls ein Designobjekt, ein aufwendiger Apparat ohne Sinn. In
diesem Bau sei alles Räumliche durch Organisation ersetzt worden,
was Jaques-Tati- Fantasien in ihm auslöste. Als Besucher
bewege man sich nicht durch das Haus, sondern werde „prozessiert“.
Vor allem aber hielt Posener das ICC für den Ausdruck eines
politischen Willens – und zwar eines aus seiner Sicht völlig verfehlten
Willens.
„Das ICC ist eine genau und gut konstruierte Maschine für
einen Zweck, den ich nur als politischen Zweck begreifen kann:
Symbol einer Berlin-Politik, welche sich, dessen bin ich sicher,
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Familie Posener und Bedienstete vor dem Haus in der Karlstraße (heute Baseler Straße), circa 1908
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Wie Julius Posener
Architekturkritiker wurde
arum Julius Posener nach seiner Rückkehr nach Berlin im
W Jahr 1961 seinen Kampf für das bauliche Erbe aufnahm und
warum er schrieb, wie er schrieb, lässt sich zu großen Teilen aus seiner
Biografie ableiten, vor allem aus den prägenden ersten Berliner
Jahren bis 1933.
Eine glückliche Kindheit im Berliner Südwesten
Julius Posener wurde am 4. November 1904 in Berlin geboren. In
seinen Lebenserinnerungen Fast so alt wie das Jahrhundert 1 gab
er als Adresse seines Geburtshauses „Potsdamer Straße 118 b“ an.
Das Haus existiert heute nicht mehr, es gehörte damals der Familie
mütterlicherseits. Großvater Julius Oppenheim, nach dem der
Enkel auch benannt ist, hatte ein größeres Vermögen durch Immobiliengeschäfte
erworben. Posener konnte das Haus und dessen
Umbau durch den Architekten Bruno Schmitz aus späterer Anschauung
zwar recht detailliert beschreiben, doch geprägt hat ihn diese
innerstädtische Berliner Umgebung kaum. Er war nur ein Jahr alt,
als die Familie nach Lichterfelde-West umzog. Schon 1905 begann
also, wenn auch noch unbewusst, die enge Bindung Poseners an
den Vorort als lebenslange Heimat.
Sein 1862 geborener Vater Moritz Posener war Maler, seine 1872
geborene Mutter Gertrud Posener brachte ein ererbtes Familienvermögen
mit in die Ehe, was der Familie ein großbürgerliches
und unbeschwertes Leben im grünen Südwesten Berlins ermöglichte.
J. P. hatte zwei Brüder, Karl und Ludwig, der eine war zwei,
der andere sechs Jahre älter als er. Zunächst wohnte die Familie
in der Holbeinstraße in Lichterfelde in einem Haus, mit dem Julius
Posener wenig positive Erinnerungen verband: „düster und weitläufig“
sei es gewesen. Missbilligende Erwähnung fanden in seiner
Beschreibung unter anderem ein großer modriger Garten, riesige
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Epilog – Architekturkritik
als Instrument
Julius Poseners Begriff von Architekturkritik war weit gefasst. Nie
zielte sie darauf ab, geneigte Zeitungsleser zum Frühstück oder
am Sonntagnachmittag auf dem Sofa mit schönen Formulierungen
zu erbauen. Seine Architekturkritik war für den Alltag gemacht. Sie
fand nicht nur im Feuilleton, sondern auch im Lokalteil und der Leserbriefspalte
statt. Und nicht nur in der Zeitung und in Büchern, sondern
auch im Rundfunk und im Fernsehen, im Hörsaal, auf Podien
und bei Stadtspaziergängen. Sie war informativ und beschreibend,
aber selten ohne Appell. Posener benutzte Architekturkritik, um
etwas zu erreichen, als Publizist und zugleich als Hochschullehrer
und Vertreter wichtiger Institutionen in seinen zweiten Berliner Jahren.
In Poseners Nachlass finden sich Stellen, in denen er einen
Brief als „Instrument“ bezeichnet oder von einem Buch, zu dem
er beigetragen hat, explizit als positiv gemeintes „Werk der Propaganda“
spricht. Er wusste stets, was er durch das Geschriebene
erreichen wollte, auch wenn am Ende nicht alle seine Initiativen und
Kampagnen zum gewünschten Erfolg führten.
„Ach, so einen wie ihn bräuchten wir heute wieder!“, sagten viele
meiner Gesprächspartner bei der Recherche zu diesem Buch.
Warum? Was hatte Posener, was unsere gegenwärtige Architekturkritik
vermissen lässt?
Da ist zum einen die Vielfalt der „Werkzeuge“, die er benutzte.
Es sind die zahlreichen Bühnen, auf denen er gleichzeitig spielte:
Lehre, Journalismus, öffentliche Ämter. Es ist die Tatsache, dass er
sich als Autor nicht im Verborgenen hielt, sondern als Person sichtbar
machte und sich mutig aus der Deckung seiner Schreibstube
herausbegab. Dann ist da dieses niemals demonstrativ zur Schau
gestellte Bildungsfundament, auf dem seine Argumente standen.
Und es ist nicht zuletzt die Schönheit seiner Sprache. Der Blick
zurück auf so viele, aus unterschiedlichen Zeiten stammende und
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für verschiedene Zielgruppen verfasste Beiträge belegt, was Julius
Posener auszeichnete – seine erzählerische und „bekennende“
Art der Architekturkritik, seine weniger auf Details als vielmehr die
Wirkung eines Baus bezogene Betrachtungsweise, seine bewusst
nicht abgeklärt formulierten, auch Veränderungen unterlegenen,
ganz persönlichen Urteile, die er immer wieder wagte. Er zeigte in
seinen Texten und Vorträgen Mut zur Begeisterung, zu subjektiver
Bewertung und einfachen, klaren Worten. Er gab seinen Lesern und
Zuhörern Hinweise, worauf sie achten sollten, versuchte ihnen die
Augen zu öffnen und ihren Blick auf das Wesentliche zu lenken. Eine
mäkelige Grundhaltung, verschwurbelte Formulierungen oder abgehobene
Verweise sind in seinen Texten nicht zu finden.
Wenn es etwas gibt, was wir heute von Posener lernen können,
dann dies: Architektur ist immer ein Politikum. Architekturkritik ist
keine Randsportart im vielleicht ohnehin aussterbenden gedruckten
Zeitungsfeuilleton. Sie gehört in viel mehr Medien, zurück ins Radio,
in Podcasts und andere schnelle Social-Media-Kanäle. Sie ist nichts,
was nur für einen kleinen, elitären Leserkreis gemacht sein darf,
oder, noch größere Verschwendung, nur die schreibende Kollegenschaft
beeindrucken will. Im Geiste Julius Poseners ist sie öffentliches
Engagement und Aktivismus – ein kraftvolles Instrument, das
den Lauf der Dinge verändern kann. Architekturkritik wirkt!