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Leseprobenheft BuchBerlin 2019

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Leseproben<br />

Erstellt für die <strong>2019</strong><br />

aus<br />

Werken von<br />

Rosa ANANITSCHEV<br />

In der sibirischen Kälte<br />

Andersrum<br />

Renate ZAWREL<br />

Schattenglück<br />

Zuckerwatte und Christbaumherz<br />

Il Vesuvio<br />

Barbara SIWIK<br />

Aqua Tofana<br />

Der Schatz aus der Truhe<br />

Wohin du gehen wirst<br />

Der unwegsame Pfad der Zeit<br />

1


Nachdruck und Vervielfältigung nur mit ausdrücklicher<br />

Genehmigung der Autorinnen.<br />

Copyright - <strong>2019</strong>, Rosa Ananitschev, Renate Zawrel,<br />

Barbara Siwik<br />

2


Rosa Ananitschev<br />

4<br />

In der sibirischen Kälte – Auszug<br />

9<br />

Andersrum– Auszug<br />

19<br />

Renate Zawrel<br />

24<br />

Schattenglück - Bijela kuća<br />

29<br />

Zuckerwatte und Christbaumherz<br />

37<br />

Il Vesuvio - Die Ehrenwerte Gesellschaft<br />

45<br />

Barbara Siwik<br />

52<br />

Aqua Tofana<br />

57<br />

Der Schatz aus der Truhe<br />

65<br />

Der unwegsame Pfad der Zeit<br />

75<br />

Wohin du gehen wirst 87<br />

3


Rosa Ananitschev<br />

4


Rosa Ananitschev (geb. Schütz) erblickte das Licht der Welt im<br />

März 1954 in einem deutschen Dorf in Westsibirien (Gebiet<br />

Omsk). Ende 1992 kam sie mit ihrer Familie nach Deutschland.<br />

Sie arbeitet als Bibliotheksassistentin in der Stadtbücherei<br />

Lüdenscheid, den Beruf Bibliothekarin hat sie noch in Russland<br />

erlernt und viele Jahre ausgeübt.<br />

Seit 2010 veröffentlicht Rosa Ananitschev Kurzgeschichten und<br />

Autobiografisches in digitaler Form.<br />

2014 erschien ihr erstes gedrucktes Buch (Novelle ›Andersrum‹),<br />

das sich mit dem Thema ›Kindesmissbrauch‹ befasst.<br />

Neuausgabe: ePubli 2018, ISBN: 978-3-746741-13-0<br />

In autobiografischen Texten setzt sich die Autorin intensiv mit<br />

ihrer Kindheit und Vergangenheit auseinander.<br />

Diese Texte beinhaltet auch ihr zweites Buch ›In der sibirischen<br />

Kälte‹, das im Mai 2016 im Karina-Verlag erschienen ist.<br />

ISBN: 978-3-903056-85-5.<br />

Außerdem ist Rosa Ananitschev in mehreren Anthologien mit<br />

ihren Texten und Kurzgeschichten vertreten.<br />

Homepage: www.rosa-andersrum.de<br />

Blog: www.rosasblog54.wordpress.com<br />

5


Text hier eingeben<br />

6


Das kleine Mädchen, …<br />

… das auf dem Coverbild scheinbar so unbeschwert einen Wintertag<br />

genießt, hat auf seinem Weg zum Erwachsenwerden viel erlebt. Es ist ein<br />

Werdegang mit vielen Hindernissen und Unbillen. Teilweise finden diese<br />

ihren Ursprung in der Zeit, der Herkunft und politischen Lage, in der diese<br />

Biografie ihren Anfang nimmt: 1954 in einem Dorf in Westsibirien.<br />

Rosa Ananitschev erzählt von Erlebnissen, die ihr besonders gut in<br />

Erinnerung geblieben sind: schöne und glückliche, traurige und tragische<br />

oder auch solche, die erst im reifen Alter aus der Tiefe aufstiegen und die<br />

Geschehnisse ihres Lebens in ganz anderem Licht erscheinen ließen. Die<br />

Erkenntnis, was den Depressionen zugrunde liegt, die sie seit ihren<br />

Kindheitstagen begleiten, löst zwiespältige Gefühle aus. Es braucht Zeit, bis<br />

die Autorin zu der Einsicht kommt, dass die kleine Rosa von damals ein<br />

Verschweigen nicht verdient hat, sondern vielmehr die Wahrheit und<br />

uneingeschränkte Anerkennung dafür, dass sie trotz allem, was ihr<br />

widerfahren war, die Willenskraft besaß, ihren Weg zu gehen.<br />

Vielleicht stellt das Mädchen auf dem Cover die kleine Rosa dar? Gewiss –<br />

sie hätte von so herrlicher Winterkleidung nicht einmal zu träumen gewagt<br />

… und doch – ihrem Wesen nach ist sie es. Hin und wieder vergaß sie<br />

nämlich alles Schwere um sich und in sich, tobte und wirbelte im Schnee<br />

umher und fühlte sich leicht und frei – ganz in ihrem Element, ganz in ihrem<br />

Universum.<br />

ISBN: 978-3-903056-85-5 – EUR 13,90<br />

7


8


In der sibirischen Kälte – Auszug<br />

Aus Sibirien ins Sauerland<br />

An einem bitterkalten Tag, am 4. Dezember 1992, saß ich endlich<br />

mit meiner Familie im Flugzeug, das den Kurs nach Deutschland<br />

hielt. Darüber schrieb ich bereits. Nicht nur mein sehnlichster<br />

Wunsch ging in Erfüllung, sondern auch der meines Mannes und<br />

unserer Kinder. Fast zwei Jahre hatten wir auf diesen Moment<br />

gewartet – eine lange Odyssee, die mit viel Formalitäten, aber<br />

auch Kampf und Bangen verbunden war.<br />

Nostalgie. Nostalgija – russisch ausgesprochen – ein Wort, das in<br />

dem Land, aus dem ich komme, viel thematisiert wird und für das<br />

Volk von großer Bedeutung ist. Es drückt am besten das Gefühl<br />

der Sehnsucht nach der Heimat aus, der verlorenen Heimat. Viele<br />

russische Schriftsteller, sowohl bekannte als auch unbekannte,<br />

beschrieben es in ihren Romanen und Gedichten, besonders<br />

diejenigen, die gezwungen waren, fernab von Russland zu leben.<br />

Vermutlich ist dies in der heutigen Zeit etwas anders geworden,<br />

denn fast jeder Ausgewanderte hat die Wahl, in der Fremde zu<br />

bleiben oder, wenn die Sehnsucht überhandnimmt, sich für eine<br />

Rückkehr zu entscheiden. Zumindest aber darf er das Land<br />

immer wieder besuchen.<br />

Ich habe nie den Wunsch verspürt, nach Russland zurückzukehren;<br />

nicht einmal den Urlaub wollte ich dort verbringen.<br />

Und doch habe ich es vor elf Jahren getan. („Die Reise zurück“)<br />

Es war wie das Eintauchen in meine frühen Albträume,<br />

faszinierend und quälend zugleich.<br />

Auch mein Heimatdorf besuchte ich. Auf dem Boden der<br />

Vergangenheit zu stehen, das Haus zu sehen, in dem ich<br />

aufgewachsen war, das Grab meiner Mutter auf dem völlig<br />

überwucherten Teil des Friedhofs zu suchen und zu finden und<br />

9


den kleinen Blumenstrauß auf die Granitplatte zu legen – das<br />

waren Emotionen ohnegleichen. Auch jetzt, während ich<br />

schreibe, muss ich mit den Tränen kämpfen, weil ich diese Bilder<br />

so klar vor Augen habe, weil plötzlich so viele Gefühle da sind …<br />

Keiner kann sich seinen Geburtsort aussuchen. Wir werden in die<br />

Welt hineingeboren und müssen uns in ihr zurechtfinden. War es<br />

mein Glück oder Unglück, als Deutsche in Russland geboren zu<br />

werden?<br />

Wahrscheinlich beides.<br />

Als Kind habe ich mich oft gefragt, warum gerade ich?<br />

Warum meine Eltern? Warum deren Vorfahren?<br />

Und manchmal wünschte ich mir dann, jemand anderer zu sein.<br />

Ich war nicht nur ‚fremd‘ in diesem Land, sondern fühlte mich<br />

auch im Dorf als Außenseiter (was allerdings ebenso auf meine<br />

Geschwister zutraf).<br />

Es lag vor allem daran, dass unsere Mutter nicht zu den<br />

Einheimischen zählte und daher nie so richtig dazugehörte. Sie<br />

war – ich schrieb es schon – 1933 aus der Ukraine nach Sibirien<br />

deportiert worden und hatte unseren Vater erst im Dorf<br />

kennengelernt.<br />

Die Familie unserer Mutter sprach einen Dialekt, der sehr dem<br />

Schwäbischen glich. Wir Kinder benutzten zu Hause ihre<br />

Sprache. Der Dialekt unseres Vaters war ein anderer. Die<br />

Dorfbewohner bezeichneten sich selbst als Belomeser.<br />

Im Spiel mit den anderen Dorfkindern verwendete ich anfangs<br />

die Muttersprache (im wahrsten Sinne des Wortes), wurde aber<br />

oft genug deswegen ausgelacht. Vaters Dialekt wollte ich nicht<br />

sprechen und so habe ich mich ziemlich früh der russischen<br />

Sprache bedient. Da gab es dann nichts mehr zu lachen und bald<br />

sprach ich auch daheim fast ausschließlich Russisch.<br />

10


Das Leben im Dorf in den 50er und 60er Jahren verlief einfach,<br />

besser ausgedrückt – ärmlich und voller Entbehrungen. Unsere<br />

Familie besaß nicht viel und die Kinder mussten sich mit ihren<br />

Wünschen ganz hinten anstellen. Natürlich sorgten die Eltern<br />

dafür, dass wir genug zu essen hatten, aber alles andere …<br />

Als Kind konnte ich meine Spielzeuge an den Fingern abzählen<br />

und als Jugendliche hatte ich kaum Kleidung zum Wechseln,<br />

obwohl das Geld dafür ganz sicher ausgereicht hätte. Fürwahr –<br />

es gab wichtigere Sachen als eine Puppe oder später ein neues<br />

Kleid.<br />

Als erwachsene Frau hätte ich mir in der Stadt, in der ich mit<br />

meiner Familie lebte und als Bibliothekarin arbeitete, finanziell<br />

einiges leisten können, wäre da nicht ein weiterer Engpass<br />

aufgetreten – das ’Defizit‘, ein allseits bekanntes Phänomen der<br />

sowjetischen Wirtschaft, der Mangel an allem in sämtlichen<br />

Branchen.<br />

Noch heute denke ich beim Einkaufen unwillkürlich daran, wie<br />

deprimierend leer die Läden in Omsk waren und was für eine<br />

Fülle hier überall herrscht. Und wenn ich unseren Kleiderschrank<br />

öffne, vergleiche ich dessen Inhalt oft mit dem des Schrankes von<br />

damals, der nicht einmal halb so groß war, in den aber die<br />

Kleidung für vier Familienmitglieder bequem hineinpasste und<br />

auch noch Platz übrigblieb.<br />

Ich kann sagen, dass ich mich in Russland wegen meiner<br />

Nationalität nie besonders diskriminiert fühlte. Bei der älteren<br />

Generation war das natürlich ganz anders. die Deutschen mussten<br />

zu Stalins Zeit viel erleiden, wurden mit den Faschisten ’in einen<br />

Topf ’ geworfen, zumindest aber als ’Beilage‘ angesehen und<br />

dementsprechend behandelt. Alle im europäischen Teil des<br />

Landes wohnenden Deutschen wurden 1941 nach Sibirien<br />

verbannt und die auf diese Art Deportierten durften nur im<br />

11


ihnen zugewiesenen Ort leben; ihn zu verlassen – egal wohin,<br />

egal warum – war im besten Fall allein mit einer Sondergenehmigung<br />

erlaubt.<br />

Ich entdeckte neulich ein Dokument in russischer Sprache im<br />

Internet, eine sogenannte Einverständniserklärung. Darin stand –<br />

sinngemäß übersetzt:<br />

Ich … bestätige hiermit, dass ich in diesen Ort … für alle<br />

Ewigkeit verbannt bin; mir ist auch bewusst – falls ich meinen<br />

Wohnsitz ohne Erlaubnis verlasse, werde ich mit zwanzig Jahren<br />

Lagerarbeit bestraft.<br />

Unterschrift …<br />

Freiwillig wurde diese Erklärung ganz bestimmt nicht abgegeben.<br />

Wer sollte damit wohl einverstanden sein? Mir fehlten die Worte,<br />

als ich den Inhalt dieser wenigen Zeilen richtig begriff …<br />

Übrigens wurden die in Russland lebenden Deutschen erst 1956<br />

– nach Stalins Tod – von ihrer kollektiven Mitschuld am Zweiten<br />

Weltkrieg freigesprochen und durften sich wieder frei im Land<br />

bewegen. In den Ort, in dem sie einmal ihr Zuhause hatten,<br />

kehrte jedoch kaum einer von ihnen zurück. Zu tief saß die<br />

Angst vor neuen Verfolgungen und außerdem waren sie dort<br />

nicht willkommen, denn die Häuser, die sie einst bewohnt oder<br />

besessen hatten, waren längst im Besitz von Fremden, mitunter<br />

sogar von ihren früheren Nachbarn, die das Glück hatten, keine<br />

Deutschen zu sein.<br />

Was mir in dieser oben erwähnten Einverständniserklärung sofort<br />

ins Auge fiel – sie war von einem Mann mit dem Nachnamen<br />

Hetterle unterzeichnet worden – das war auch der Mädchenname<br />

meiner Mutter. Leider ist es mir nicht gelungen, herauszufinden,<br />

ob es wirklich um einen Verwandten handelte. Jedoch habe ich<br />

mir vorgenommen, mich demnächst eingehender mit der<br />

Ahnenforschung zu befassen …<br />

12


Ja, für die Russland-Deutschen hatte das Wort Heimat mehrere<br />

›Gesichter‹, darunter ziemlich hässliche, wie ich versucht habe zu<br />

schildern.<br />

Auch mir fehlte die feste Bindung an dieses Land, das sich stolz<br />

mit dem Namen Vaterland brüstete.<br />

Zuweilen überkam mich in Russland das seltsame Gefühl, als<br />

gäbe es in meinem tiefsten Inneren eine angeborene Erinnerung;<br />

ich bildete mir sogar ein, etwas Schemenhaftes ausmachen zu<br />

können …<br />

Eine fremde Straße? … Fremdartige Häuser? … Dunkles Grün<br />

in der Abenddämmerung? …<br />

Im Verlauf einer Unterhaltung mit meiner Arbeitskollegin zum<br />

Thema Heimat – es war vielleicht um 1982 – gestand ich, dass ich<br />

mir insgeheim wünschte, ich könne wenigstens einmal durch eine<br />

Stadt gehen und die Menschen ringsum nur Deutsch reden hören.<br />

Die Kollegin war ob dieses seltsamen Wunsches sehr verwundert.<br />

Vermutlich dachte sie: ‚Die spinnt doch!‘<br />

Nun, gesponnen oder nicht: Zehn Jahre später wurde mein<br />

Traum wahr. Das hätte auch ich damals nicht für möglich<br />

gehalten.<br />

Nein, ich sehne mich nicht zurück, würde nie mehr in Russland<br />

leben wollen, denn mein Herz sagt mir: Dort wärst du tief<br />

unglücklich, dort hättest du dein Leben nie so leben können, wie<br />

du es für richtig hältst, dort hättest du dich verstecken, deine dir<br />

eigene Natur verleugnen müssen. Und vor allem wärst du dort nie<br />

den Ursachen deiner Depressionen und Panikanfälle auf den<br />

Grund gegangen, hättest nie gelernt, sie zu bewältigen. Du wärst<br />

in deinem schlimmsten Albtraum gefangen geblieben.<br />

Mein Herz sagt mir: Deine Heimat ist hier – in dem<br />

sauerländischen Städtchen Hemer, wo du dich wohl und zuhause<br />

fühlst.<br />

13


Aber wenn ich meiner inneren Stimme aufmerksam lausche, höre<br />

ich, dass sie mir dennoch etwas zuflüstert, das ich nicht vergessen<br />

sollte: Es gibt in deinem Herzen auch einen Ort, der in weiter,<br />

weiter Ferne liegt – ein winziges Fleckchen Erde in einem riesigen<br />

Land, wo du geboren wurdest und die Welt kennenlerntest.<br />

Und dann denke ich an die schönen Momente meiner Kindheit –<br />

die Dorfstraßen und Wiesen mit ihren Abenteuern, die Streifzüge<br />

durch die Wälder auf der Suche nach Erdbeeren, Brombeeren<br />

und Pilzen, ich denke an meine beste Freundin und daran, wie<br />

viel mir die Freundschaft mit ihr bedeutete. Ich sehe die<br />

Menschen, die trotz harter Schicksalsschläge nicht zerbrachen, die<br />

Kraft fanden, weiterzuleben. Und dann sage ich mir selbst – ja,<br />

auch das kleine Dorf in Sibirien wird immer seine besondere<br />

Bedeutung behalten. Vor vielen Jahren habe ich es verlassen, ging<br />

fort, um auf den Spuren meiner Vorfahren in meine Ur-Heimat<br />

zurückzukehren, das Land, in dem der Beginn dieser Spuren<br />

leider nicht mehr auszumachen ist.<br />

Fragte mich jemand, wo meine Heimat nun wirklich ist, so weiß<br />

ich im ersten Moment keine Antwort darauf.<br />

Vielleicht ist dies ein Ansatz: Heimat ist überall dort, wo ich von<br />

Liebe und Frieden umgeben bin.<br />

14


Das Buch enthält 50 ergreifende Geschichten, die von verschiedensten<br />

Heldenmomenten des Lebens erzählen. Opfer sein<br />

─ das hat viele Facetten: Mobbing, häusliche Gewalt, Missbrauch,<br />

aber auch Krieg, Krankheiten, Sucht, Comingout, oder aber auch<br />

das Opfer seiner selbst zu sein. Die Anthologie zeigt mit ihren<br />

Geschichten auch die Heldenmomente, die Überwindung der<br />

Opferrolle. Sie beinhaltet ein breites Spektrum von Lebensereignissen<br />

und möchte Betroffene ins Gespräch bringen. <br />

Das Buch dient zudem einem guten Zweck. 60 % vom Erlös<br />

gehen an die folgenden drei gemeinnützigen Vereine:<br />

re-empowerment, Quarteera und Anuas. <br />

Herausgeberin: Petra Schaberger, Q5 Verlag. <br />

Im Buch enthalten: „Offener Brief“ von Rosa Ananitschev.<br />

<br />

ISBN: 978-3-981985-71-9<br />

15


16


Eine Geschichte, die sich irgendwann vor vielen Jahren<br />

zugetragen hat … wenn sie der Realität entspringt. Ob dem so ist,<br />

mag der Leser für sich entscheiden. Doch das Thema, das dem<br />

Inhalt des Buches zugrunde liegt, ist brandaktuell.<br />

Auf ganz besondere Weise wird in „Andersrum“ die Problematik<br />

des sexuellen Missbrauchs – insbesondere im Familienkreis –<br />

behandelt. Was sich beinahe wie ein Märchen liest, hat mit dem<br />

genannten Genre wenig zu tun und lässt den Blick in die Seele<br />

eines Kindes zu, das vorerst vergeblich versucht, Erlebtes zu<br />

verdrängen und zu vergessen.<br />

Erst ein rätselhafter Fremder kann Lisa aus der Reserve locken<br />

und verhilft ihr mit Verständnis und dem vermittelten Gefühl,<br />

immer für das Kind da zu sein, das Trauma aufzuarbeiten und<br />

sich zu wehren.<br />

„Andersrum“ hat seinen Ursprung 1958, irgendwo in einem<br />

deutsch-russischen Dorf, doch ereignen sich gleichgeartete Fälle<br />

viel zu oft auch in heutiger Zeit und nicht selten in unmittelbarer<br />

Umgebung.<br />

Das Buch soll uns feinfühliger machen im Bezug darauf,<br />

Anzeichen für sexuelle Übergriffe besser zu erkennen. Nicht<br />

wegsehen und reagieren kann vielleicht helfen, Dinge zu<br />

verhindern, die einem Kind nie angetan werden sollten.<br />

ISBN: 978-3-746741-13-0 EUR 6,99<br />

<br />

17


18


Andersrum– Auszug<br />

Das Licht<br />

Die folgende Geschichte spielt sich in einem kleinen Dorf ab, das<br />

in einem weiten Land zwischen vielen Birkenwäldern liegt.<br />

Die Menschen in der Siedlung arbeiten hart und müssen viel Leid<br />

und Ungerechtigkeiten ertragen.<br />

Auch die kleine Lisa kämpft sich tapfer durch das Leben. Sie hat<br />

ihr ganz persönliches, schweres Päckchen zu tragen.<br />

Wir schreiben das Jahr 1958.<br />

Wie so oft wird Lisa mitten in der Nacht wach. Sie hat etwas<br />

geträumt, kann sich allerdings nicht mehr erinnern, was es war.<br />

Sie weiß nur – es war schlimm; der Albtraum nahm ihr Herz in<br />

den eisernen Griff und jetzt, wieder befreit, schlägt es schnell<br />

und hämmernd in ihrer Brust.<br />

Lisa hat im Schlaf geweint und spürt noch die Nässe im Gesicht.<br />

Ein Schluchzen entfährt ihr, als sie tief ein- und ausatmet. Ihr<br />

Herz beginnt sich allmählich zu beruhigen.<br />

Da hört sie eine Stimme, die nicht von außen zu kommen<br />

scheint, sondern direkt in ihrem Kopf sitzt: „Hallo, Lisa!“<br />

Das Mädchen hält den Atem an und lauscht angestrengt in sich<br />

hinein. Aber sie hört nur das gewohnte leise Schnaufen und<br />

Schnarchen ihrer Geschwister. Dann dreht sie sich auf den Rücken.<br />

Es ist nicht ganz düster im Zimmer. Der Mondschein von draußen<br />

hinterlässt einen hellen Streifen auf dem Holzfußboden und erfasst<br />

auch die dunkle Gestalt, die auf dem Rand des Bettes sitzt.<br />

„Hab keine Angst“, sagt erneut die Stimme in Lisas Kopf. Ohne<br />

es begründen zu können, weiß das Mädchen sofort, dass sie zu<br />

dieser Erscheinung gehört.<br />

19


Das Kind hat gar keine Angst – der Fremde ist zwar vollständig<br />

in Schwarz gehüllt, aber überhaupt nicht furchterregend.<br />

„Wer bist du? Was machst du hier?“, flüstert Lisa erstaunt.<br />

„Ich bin gekommen, um dir deinen größten Wunsch zu erfüllen“,<br />

antwortet die wohlklingende Stimme. „Du hast doch einen?“<br />

Lisa setzt sich langsam auf und schaut die Gestalt an. Dann<br />

schüttelt sie den Kopf und raunt: „Das kannst du nicht. Das<br />

kann nicht mal der liebe Gott.“<br />

Ein plötzlicher Verdacht kommt in ihr auf und sie fragt<br />

vorsichtig: „Du bist doch nicht Gott?“<br />

Sie hätte schwören können, dass der Fremde schmunzelt, obwohl<br />

sie sein Gesicht nicht sieht.<br />

Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten. „Nein, der bin ich<br />

nicht. Betest du denn oft zu Gott?“<br />

„Mama sagt, ich muss jeden Abend vor dem Schlafengehen<br />

beten, dann wird der liebe Gott mich gernhaben und über mich<br />

wachen.“ Ein tiefer Seufzer entringt sich dem Mädchen. „Aber<br />

das will ich gar nicht. Dass er über mich wacht, meine ich. Ich<br />

bitte ihn nur …“ Lisa verstummt.<br />

„Worum ersuchst du Gott? Erzähl mir doch mal von deinem<br />

Wunsch“, bittet die einfühlsame Stimme.<br />

Erneutes tiefes Luftholen, das aus tiefster Seele kommt. Lisas<br />

Stimme wird immer leiser und ist kaum hörbar. „Das ist ein ganz<br />

ernster Wunsch.“ Sie sucht eine Weile nach dem passenden Wort.<br />

„Ein ganz anderer Wunsch, weil … weil es kein Ding ist.“<br />

Plötzlich stehen Tränen in ihren Augen. „Ich wünsche mir, froh<br />

zu sein“, flüstert sie, und ein unterdrücktes Weinen lässt ihre<br />

Schultern zucken.<br />

Der Fremde streichelt dem Mädchen beruhigend über die<br />

weichen Locken. „Weine nicht, Kleines. Das kriegen wir hin.<br />

Versprochen.“<br />

20


Lisa hebt den Kopf, in ihren Augen glänzen Tränen. Ungläubig<br />

blickt sie in das schwarze Gesicht. „Das kannst du? Echt? Dann<br />

bist du ja noch allmächtiger als Gott!“ Das Wort „Allmächtig“<br />

hat sie von den Erwachsenen oft gehört und weiß, was es<br />

bedeutet.<br />

Wieder spürt Lisa auf seltsame Weise das Lächeln des Fremden,<br />

als er antwortet: „Allmächtiger vielleicht nicht, aber ich kann<br />

Einiges. Am besten, wir fangen gleich an, an deinem Wunsch zu<br />

arbeiten. Komm, wir gehen nach draußen.“<br />

Die dunkle Gestalt erhebt sich vom Bett des Kindes. Selbst das<br />

Licht des Mondes vermag ihr kein Gesicht zu geben.<br />

„Jetzt? Im Dunkeln?“, argwöhnt Lisa, rutscht aber schon<br />

bereitwillig aus dem Bett.<br />

Der Fremde nimmt sie an die Hand. „Wo sind denn deine<br />

Schuhe?“, will er wissen.<br />

„Die sind im Schrank. Ich laufe im Sommer immer barfuß“,<br />

erklärt das Kind.<br />

„Dann muss ich dich aber auf den Arm nehmen, draußen ist es<br />

jetzt ganz schön feucht.“ Er hebt Lisa hoch und sie erstarrt, von<br />

plötzlicher Scheu erfasst. Behutsam drückt der Fremde das Kind<br />

an sich. „Ich tue dir nichts. Vertrau mir.“<br />

Lisa schmiegt sich vorsichtig an seine Brust. Das tut gut und sie<br />

fühlt sich auf einmal sehr wohl und sicher.<br />

Ohne ein Geräusch zu verursachen, huschen der Mann und das<br />

Mädchen aus dem Haus. Niemand hört oder bemerkt etwas.<br />

Im Garten bleibt der Fremde stehen und schaut zum Himmel<br />

empor. Auch Lisa hebt den Kopf.<br />

„Siehst du da oben die vielen Sterne?“, fragt die dunkle Gestalt.<br />

„Ja! Ich weiß auch, dass es Sonnen und Planeten sind“, antwortet<br />

das Mädchen mit hörbarem Stolz in der Stimme. „Das hat mir<br />

meine Schwester erzählt.“<br />

21


„Genau so ist es. Und sieh mal, der helle Stern da!“ Er deutet<br />

nach oben. „Auf dem wohnt auch so ein Mädchen wie du.“<br />

Lisa wird neugierig. „Ist es auch sechs Jahre alt? Heißt es auch<br />

Lisa?“<br />

Obwohl die Kleine sein Gesicht durch den schwarzen Stoff nicht<br />

sieht, ahnt sie, dass der Fremde lächelt, als er antwortet: „Nicht<br />

unbedingt Lisa – aber vielleicht … Asil?“<br />

„Oh ja – das ist mein Name, nur andersrum!“ Lisa lacht, der<br />

Name Asil gefällt ihr ausgesprochen gut.<br />

„Du bist ein kluges Mädchen!“, sagt der Fremde anerkennend.<br />

„Ist Asil auch manchmal traurig?“, will das Kind wissen.<br />

„Manchmal ja“, erwidert die Gestalt in Schwarz. „Besonders aber<br />

dann, wenn du traurig bist.“<br />

Lisa zupft leicht an dem Gewand des Mannes. „Woher weiß sie das?“<br />

„Nun, sie spürt es. Asil und du, ihr seid zwei Seelenverwandte.“<br />

„Was bedeutet das?“<br />

„Das ist wie bei Freunden. Zwei gute Freunde verstehen sich oft<br />

auch ohne Worte und fühlen, was der andere fühlt“, erklärt der<br />

Fremde.<br />

„Ich habe keine Freundin“, gesteht Lisa betrübt und senkt den Blick.<br />

„Die kommt noch – eines Tages“, verspricht der Dunkelgekleidete.<br />

„Du wirst es sofort wissen, wenn du sie siehst.“<br />

Schnell wechselt Lisa das Thema. „Sag mal, warum versteckst du<br />

dein Gesicht?“<br />

Der Fremde zögert ein wenig. „Ich sage es dir ganz ehrlich. Ich<br />

darf mein Gesicht den Erdlingen nicht zeigen. So sind die<br />

Regeln.“<br />

Beim Wort „Erdlinge“ blickt Lisa nach oben zu den Sternen,<br />

dann wieder in das schwarze Gesicht. Eine Erkenntnis leuchtet in<br />

ihren Augen auf, aber sie behält sie für sich, fragt stattdessen:<br />

„Kannst du denn gut sehen, wenn deine Augen verdeckt sind?“<br />

22


Ein Kichern ist zu hören und anschließend: „Oh doch, ich sehe<br />

alles sehr gut.“<br />

Lisa bemerkt etwas auf der Brust des Fremden und setzt an:<br />

„Was ist …?“ Dann stoppt sie die Frage und ihre nächsten Worte<br />

klingen ein wenig vorwurfsvoll: „Du hast mir noch gar nicht<br />

gesagt, wie du heißt.“<br />

„Stimmt. Entschuldige“, antwortet die schwarze Gestalt. „Du<br />

kannst mich einfach Duh nennen.“<br />

Lisa macht große Augen. „Duh … so wie ich und du?“<br />

„Ja, so ungefähr.“<br />

„Dein Name gefällt mir“, sagt Lisa zufrieden. „Also Duh, was ist<br />

das hier, das so grün leuchtet?“ Sie berührt die Stelle auf dem<br />

Umhang. „Es ist hart. Ist das ein Kästchen?“<br />

Bereitwillig erklärt Duh: „Das ist ein kleines Gerät, das meine<br />

Sprache für dich übersetzt und deine für mich.“<br />

Das Mädchen wundert sich. „Verstehst du denn kein Deutsch? Auch<br />

kein Russisch? Ich kann schon gut Russisch sprechen“, fügt sie stolz<br />

hinzu. „Kann das Kästchen auch andere Sprachen übersetzen?“<br />

„Ja, alle Sprachen der Welt.“<br />

Lisa schüttelt beeindruckt den Kopf und lehnt sich an Duhs<br />

Schulter: „Du riechst gut“, murmelt sie.<br />

„Ich habe mich extra für dich fein gemacht.“<br />

Lisa ist zwar erst sechs Jahre alt, aber versteht den Scherz und<br />

antwortet gespielt ernst: „Für Mädchen müssen die Jungs sich<br />

eben fein machen.“<br />

„Gut erkannt, Kleine“, murmelt Duh.<br />

Lisa wird müde und der Fremde trägt sie wieder ins Haus, in ihr<br />

Bett. Sie löst sich nur ungern aus seinen Armen. Bevor der Schlaf<br />

sie endgültig überwältigt, flüstert sie: „Danke, Duh …“<br />

„Wofür denn, Kleines?“<br />

„Dafür, dass du so lieb bist.“<br />

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Renate Zawrel<br />

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Renate Zawrel<br />

wurde 1959 in Wien geboren und übersiedelte 1993 mit ihrer<br />

Familie nach Oberösterreich in das wunderschöne Ennstal.<br />

Die Erstausgabe von ›Il Vesuvio‹ präsentierte sie im April 2011.<br />

Es folgten im Verlag Sarturia Veröffentlichungen von mehreren<br />

Kurzgeschichten, sowie die Krimi-Trilogie ›Damendoppel‹.<br />

Ebendort war Renate Zawrel Herausgeberin der Kinderbuchreihe<br />

›Märchen unterm Regenbogen‹ und der Sarturia-<br />

Märchenbibliothek.<br />

Seit 2016 Mitarbeiterin im Karina-Verlag, Vienna.<br />

Kurzgeschichten in den Büchern der Reihe ›Respekt für dich‹,<br />

sowie Mitautorin der Flügel-Trilogie (Thriller), Teamleiterin des<br />

Fantasyprojekts ›Magic‹, Herausgeberin der Märchenbücher<br />

›Sternenreihe‹<br />

›Schattenglück – Bijela kuća‹ erlebte 2016 im Karina-Verlag,<br />

Vienna, eine Neuauflage.<br />

2018 wurde der Thriller ›Zuckerwatte und Christbaumherz‹ im<br />

Karina-Verlag veröffentlicht.<br />

Im Selfpublishing wird die Kinderbuchreihe ›Paulinchens und<br />

Onkel Paulchens Märchenwelt‹ herausgegeben - innerhalb dieser<br />

Reihe die Serie der Umweltbücher.<br />

https://www.renate-zawrel.at<br />

www.facebook.com/Renate.Zawrel<br />

<br />

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Amely lebt in einer von Gewalt dominierten Beziehung. Die<br />

daraus resultierenden Selbstzweifel münden in Resignation …<br />

Die junge Frau und Mutter eines Sohnes gibt sich selbst die<br />

Schuld für alles, was ihr Dasein zur Hölle macht.<br />

Es bedarf eines einschneidenden Erlebnisses und einer gehörigen<br />

Portion Mut, sich aus diesem Kapitel ihres Lebens zu befreien<br />

und einen Neustart zu wagen.<br />

ISBN 978-3-903161-00-9 EUR 14,90<br />

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Schattenglück - Bijela kuća<br />

Andjela, die Urenkelin Amelys, wird deren Aufzeichnungen aus ihrem<br />

Leben, das lange unter einem dunklen Schatten stand, zu einem Roman<br />

verarbeiten, der in der Gegenwart spielt …<br />

Die Einlösung einer ›Wettschuld‹, wenn man es so bezeichnen will, führt die<br />

Österreicherin Amely nach München. Dort trifft sie auf einen Mann, der<br />

ihr Herz berührt. Aber sie weiß, dass sie die Gefühle zu ihm in ihrem<br />

Herzen begraben muss. Amely ist verheiratet … wenngleich die Ehe auch<br />

die Hölle ist. Und … Amely entschließt sich zu einem folgenschweren<br />

Schritt.<br />

„Es gibt nicht mehr viel ‚weiter‘. Er ist in dieser Nacht bei mir<br />

geblieben und hat mich am Vormittag zum Zug gebracht. Das<br />

war es dann!“ Amelys Stimme schwankte als sie beteuerte: „Aber<br />

ich bereue nichts. Gar nichts. Nicht eine Sekunde.“<br />

Und dann folgte etwas, das Marianne, Amelys Freundin, ihres<br />

Zeichens Anwältin, zu allerletzt erwartet hätte!<br />

Amely erklärte: „Ich möchte die Scheidung. Und ich will, dass du<br />

mich vertrittst. ER soll mein Leben nicht mehr bestimmen<br />

dürfen.“ Sie missverstand das Erstaunen der Freundin. „Schau<br />

mich nicht so an“, verteidigte sie sich. „Von Marko habe ich<br />

weder Telefonnummer noch Adresse. Wir werden uns nie mehr<br />

sehen. Er ist nicht der Grund für die Scheidung, aber er hat den<br />

Ausschlag für meinen Entschluss gegeben. Er hat mir gezeigt,<br />

was es heißt, geliebt zu werden, wenn er es vielleicht auch nicht<br />

so empfunden hat. Mir ist klar geworden, dass ich nicht mehr<br />

dulden werde, dass ER mich und das Kind seelisch und<br />

körperlich zerstört.“ Amelys flehender Blick traf Marianne.<br />

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„Wirst du mir helfen? Wirst du einen Weg finden, dass ich, dass<br />

wir, endlich in Ruhe leben können?“<br />

Wie lange schon hatte sie auf die Freundin eingeredet? Und<br />

dieser Marko Urbanić schaffte es an einem Wochenende. Respekt!<br />

Marianne fragte dennoch: „Bist du dir hundertprozentig sicher?<br />

Nicht, dass du nach der ersten Verhandlung wieder einen<br />

Rückzieher machst. Dein künftiger EX“, formulierte sie mit<br />

Genugtuung, „wird alle Register ziehen. Doch sei unbesorgt,<br />

meine Argumente werden besser und stichhaltiger sein. Wir<br />

werden auf allen Ebenen siegen und du wirst ein Leben führen<br />

können, wie du es dir schon so lange wünschst.“<br />

Sie hielt Amely die Hand entgegen und die schlug ein.<br />

„Ja, ich steh es durch!“, versprach sie. „Es muss nun genug sein.“<br />

Während sie erzählte, war Amely so aufgewühlt gewesen, dass sie<br />

sogar darauf vergaß, Tränen zu vergießen. Nun war die<br />

Anspannung gewichen und Marianne hielt eine bitterlich<br />

Weinende im Arm. Die Freundin schluchzte und bebte, denn sie<br />

hatte soeben eine Entscheidung getroffen, die ihr weiteres Leben<br />

bestimmen würde.<br />

Marianne aber erkannte, dass Amely in ihrem Leben zum ersten<br />

Mal wirklich geliebt hatte und geliebt worden war.<br />

Mariannes Brief löst eine Flut an Katastrophen aus:<br />

Neugierig, warum ausgerechnet Marianne ihm einen eingeschriebenen<br />

Brief schickte, beeilte sich Roman, ihn vom Postamt<br />

abzuholen. Vielleicht hatte die Mutter ihm ja irgendetwas schon<br />

zu Lebzeiten vererbt. Keinen Gedanken verschwendete der Mann<br />

daran, dass dieses Schreiben in irgendeinem Zusammenhang mit<br />

seiner Frau stehen könnte. Die hatte er schließlich fest im Griff.<br />

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Er führte ein bequemes Leben. Die Mutter unterstützte ihn,<br />

wenn er sich wieder einmal ein neues Prestige-Auto zulegen<br />

wollte, eine luxuriöse Armbanduhr oder welche Annehmlichkeit<br />

auch immer. Er selbst war froh, dass er sich nicht um sie<br />

kümmern musste. Gegenüber seinen Kumpanen bezeichnete er<br />

sie als ›alten Drachen‹ und in dieser Eigenschaft informierte sie<br />

ihn über jeden Schritt, den Amely tat.<br />

Seine weiblichen Begleiterinnen wechselte Roman wie die<br />

Hemden. Sie mussten gut im Bett sein, mehr interessierte ihn an<br />

diesen Frauen nicht. Was die eigene betraf, so freute er sich<br />

darauf, es ihr wieder einmal so richtig ‚zu besorgen’, sobald die<br />

Schwiegereltern abgereist waren. Er wusste, dass er Amelys Seele<br />

traf, wenn er sie mit brutaler Gewalt nahm oder seine perversen<br />

Spiele mit ihr trieb; ebenso, dass sie wegen Michael nicht zu<br />

schreien wagte. Auch für diesmal hatte er sich gewisse Bosheiten<br />

ausgedacht, da ihm die Mutter ausführlich über Amelys Verhalten<br />

seit ihrer Rückkehr aus Deutschland berichtet hatte. Diesmal<br />

würde ihre Beherrschung zusammenbrechen, ob das Kind in der<br />

Nähe war oder nicht. Es würde eine Weile dauern, ehe sie sich<br />

‚danach‘ wieder auf die Straße wagen konnte. Sie sollte erfahren,<br />

nein, erspüren, was geschah, wenn man ihm Widerstand leistete.<br />

Er unterschrieb den Reco-Brief. Mit zweideutigem Lächeln<br />

machte er der Frau am Schalter ein Kompliment, das sie zum<br />

Erröten brachte, und verließ in bester Laune das Postamt.<br />

Sein Grinsen gefror, als er den Inhalt des Briefes überflog.<br />

In rechtsfreundlicher Vertretung von Frau Amalie Berg, wohnhaft in …<br />

Roman übersprang persönliche Daten … teile ich Ihnen mit, dass meine<br />

Mandantin eine sofortige Lösung des ehelichen Verhältnisses anstrebt.<br />

Gemäß der §§83,84,105,201 StGB liegt Ihrerseits eine schwere<br />

Eheverfehlung vor, insbesondere durch die Tatsache der Anwendung<br />

körperlicher Gewalt und Zufügen von schwerem seelischen Leid. Sie werden<br />

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daher eingeladen, zwecks Besprechung der notwendigen Schritte, gemeinsam<br />

mit Ihrem Rechtsvertreter am Mittwoch, dem 13.Jänner diesen Jahres in<br />

meiner Kanzlei vorzusprechen.<br />

Hochachtungsvoll<br />

Dr. Marianne Bräuer<br />

Erstes Opfer seiner Aggression wurde eine am Boden liegende<br />

Getränkedose. Wütend trat er auf sie ein, bis sie nur mehr ein<br />

flaches Stück Blech war. Roman riss das Handy aus der<br />

Hosentasche und wählte, zitternd vor Zorn, Amelys Nummer …<br />

dreimal, viermal, fünfmal vergeblich: ‚Der gewünschte Teilnehmer ist<br />

im Moment nicht erreichbar. Wollen Sie eine Nachricht hinterlassen ...’<br />

Ungeduldig wartete er den Signalton ab und hinterließ eine<br />

Tirade wüster Beschimpfungen und Drohungen, die er mit ‚Du<br />

bist tot!’ beendete. In seiner unbezähmbaren Wut bedachte er<br />

nicht, dass ihm gerade diese Worte zum Verhängnis werden<br />

konnten. Seine Frau über das Festnetz zu erreichen, wagte er<br />

nicht, er fürchtete ihre Eltern.<br />

In seiner Wohnung angekommen, warf er die Tür ins Schloss,<br />

dass die Wand bebte. Die ›Entschädigungszahlung‹ für diesen<br />

herausfordernden Fetzen Papier würde Amely nicht unbeschadet<br />

überstehen.<br />

Anwalt … Anwalt …<br />

Roman überlegte krampfhaft: Er hatte keinen Freund, der Anwalt<br />

war. Eigentlich hatte er gar keine Freunde, höchstens Kumpel, die<br />

ihm kaum helfen würden, wenn es hart auf hart kam. Er blätterte<br />

das Telefonbuch mehr mals nach einem geeigneten<br />

Rechtsbeistand durch, doch die Wut ließ ihn keinen klaren<br />

Gedanken fassen. Morgen würde er sein Glück aufs Neue<br />

versuchen. Amely und ihre bescheuerte Anwältin hatten die<br />

Rechnung ohne ihn gemacht.<br />

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Weihnachtliche Düfte locken Kinder wie Erwachsene auf den<br />

Wiener Christkindlmarkt.<br />

An einem der Verkaufsstände arbeitet Hannah. Hinter ihrem<br />

schrillen Äußeren verbirgt sich eine junge Frau, deren Kindheit<br />

kein Honiglecken war. Aufgewachsen in einem Waisenhaus,<br />

musste sie erfahren, dass Liebe und Zuneigung unerfüllte<br />

Herzenswünsche bleiben.<br />

Dem Waisenhaus steht Georgine Häusler vor. Ihr ist Hannah ein<br />

Dorn im Auge – und das nicht nur aufgrund der provokativen<br />

Art, die diese an den Tag legt.<br />

Ein Kind des Waisenhauses verschwindet auf unerklärliche Weise<br />

im Tiergarten Schönbrunn, ein Verbrechen kann nicht<br />

ausgeschlossen werden. Mit allen Mitteln versucht Georgine<br />

Häusler, Hannah dafür verantwortlich zu machen. Ein weiteres<br />

Kind wird als vermisst gemeldet … und bald darauf fehlt auch<br />

von Hannah jede Spur.<br />

Von Weihnachtsfrieden ist keine Rede mehr, als sich der wahre<br />

Charakter der Heimleiterin herauskristallisiert, der ein Tierpfleger<br />

und ein korrupter Polizist zur Seite stehen.<br />

Über all dem schwebt der Wunsch eines Jungen im<br />

›Herzerlbaum‹, der den weihnachtlichen Rathauspark schmückt.<br />

ISBN: 978-3-96443-113-4 EUR 13,90<br />

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Zuckerwatte und Christbaumherz<br />

Im Tiergarten Schönbrunn.<br />

Die Uhr des Tierpflegers Heinz Pfader zeigte noch nicht einmal<br />

achtzehn Uhr.<br />

Die spezielle Nachtführung, für die sich die ›Arbeitsgemeinschaft<br />

Biologie‹ der Schüler der Neuen Mittelschule aus dem achten<br />

Gemeindebezirk angemeldet hatte, würde um neunzehn Uhr<br />

starten. Stefan Lindner und Georg Hanaus sollten die Mädchen<br />

und Buben sowie die beiden Lehrbeauftragten zu den<br />

nachtaktiven Tieren begleiten.<br />

»Heute bekommt’s wieder Besuch, meine Schönen«, rief Pfader über<br />

den Zaun des Wolfsgeheges. Ein Paar bernsteinfarbener Punkte<br />

tauchten aus dem Dunkel auf, begleitet von einem leisen Knurren.<br />

»Schon gut, Amio«, brummte der Pfleger beruhigend. »Es dauert<br />

nicht lange, dann habt ihr wieder Ruhe vor den neugierigen<br />

Fratzen.«<br />

Für Heinz Pfader waren Kinder unliebsame Störenfriede und<br />

heute war es soweit, ein Exempel zu statuieren. Das erwies sich<br />

aus seiner Sicht als durchaus notwendig, abgesehen davon, dass er<br />

ja im Auftrag handelte …<br />

Die Schüler samt den Lehrern näherten sich mit ihren Führern<br />

dem Wolfsgehege.<br />

Jasmina aus der Sonnenherberge trödelte ein wenig hinter der<br />

Gruppe her.<br />

»Mädchen!«, rief Professor Schütze ungeduldig. »Komm endlich,<br />

wir wollen nicht immer auf dich warten.«<br />

»Ich komme schon, muss mir nur den Schnürriemen neu binden«,<br />

antwortete Jasmina.<br />

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»Dann beeile dich.« Die Umrisse des Biologie-Lehrers verschmolzen<br />

mit der Dunkelheit.<br />

Jasmina war allein und das beunruhigte sie nun doch, denn es<br />

waren Geräusche zu hören … Sie versuchte angestrengt, das<br />

Dunkel mit ihren Blicken zu durchdringen.<br />

Kiesel knirschten unter harten Sohlen.<br />

Erleichtert atmete Jasmina auf. Sicher kam der Professor sie<br />

holen. Unerwartet blendete sie das Licht einer Taschenlampe.<br />

»Bitte nicht, Professor!«, bat sie und hielt abwehrend die Hand<br />

vor die Augen.<br />

»Nix Professor«, knurrte eine böse Stimme …<br />

Die Professoren Schütze und Hofer reihten ihre Schüler<br />

inzwischen ahnungslos vor dem Wolfsgehege auf, wie die<br />

Tierpfleger Lindner und Hanaus es angewiesen hatten. Die<br />

Schülerinnen und Schüler erhielten Nachtsichtgeräte und<br />

benutzten sie gemäß den Anweisungen der Angestellten des<br />

Tierparks.<br />

Bald hörte man verhaltene Ausrufe wie ›Boah!‹ ›Cool!‹ und all jene<br />

Wörter, die eben gerade ›in‹ waren, wenn man seiner<br />

Begeisterung Ausdruck verleihen wollte.<br />

»Scheiße!«, rief eine Jungenstimme plötzlich laut.<br />

»Martin, mäßige dich!«, zischte Professor Hofer.<br />

»Geht nicht, Professor!«, gab der Bursche mit rauer Stimme<br />

zurück. »Ich hab’ grad beobachtet, wie eins der Viecher was<br />

hinter den Busch zog, das wie ein Mensch aussah …«<br />

»So ein Quatsch«, knurrte Hofer. »Wo willst du das gesehen<br />

haben?«<br />

Martin drückte das Nachtsichtgerät des Lehrers so weit nach<br />

links, dass dieser ungefähr den Busch im Visier haben musste,<br />

den er meinte.<br />

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Gerold Hofers Hand begann zu zittern. »Schütze«, krächzte er.<br />

»Schau mal oder schau lieber nicht. Ich weiß nicht, was besser<br />

ist.«<br />

Schütze schaute. Bei anderen Lichtverhältnissen hätte man wohl<br />

gesehen, wie er blass wurde. So verwunderte höchstens, dass der<br />

Mann sich haltsuchend an das Gatter lehnte. Er keuchte und<br />

stammelte, nur für den Lehrerkollegen hörbar: »Von Verfütterung<br />

eines … Menschen … war aber in der Nachtführung … nicht die<br />

Rede. Das ist ja wie … in einem … Horrorfilm.«<br />

Die Schüler hatten mitbekommen, dass etwas geschehen sein<br />

musste und schwenkten ihre Geräte in die Richtung, in welche die<br />

Professoren und mittlerweile auch die beiden Zoo-Führer<br />

starrten.<br />

»Herr Professor«, stotterte ein Mädchen verunsichert, »ist … ist<br />

das … wirklich ein … Mensch, den die Wölfe …?«<br />

Die Frage wurde unterbrochen … Unerwartet erhob sich<br />

schauriges Heulen. Ein einzelner Wolf hatte es angestimmt, aber<br />

nach und nach fielen andere ein.<br />

Georg Hanaus verständigte über Handy eilig das Sicherheitspersonal<br />

des Tierparks. Zehn Minuten später flammten<br />

Suchscheinwerfer auf. Der blattlose Strauch im Gehege stand nun<br />

grau im gleißenden Licht. Schleifspuren, abgebrochene Zweige<br />

und unter dem dürren Geäst wurden deutlich Teile eines roten<br />

Schnürstiefels sichtbar.<br />

»Jasmina!«, schrie Schütze in plötzlicher Erkenntnis, wem der<br />

Stiefel zuzuordnen war.<br />

Totenstille. Keiner wagte zu reden. Alle horchten gespannt,<br />

hofften auf Antwort.<br />

Das Geheul der Wölfe verstummte. Die Tiere verschwanden<br />

lautlos im dichten Gehölz.<br />

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»Ein abschreckendes Beispiel ist immer gut«, murmelte Heinz<br />

Pfader in den dicken Schal hinein, den er um den Hals trug.<br />

»Immer! Nicht wahr, Amio?« Er klopfte an den stabilen Zaun des<br />

Wolfsgeheges und schlurfte davon. Ein starrer Blick aus<br />

bernsteinfarbenen Augen folgte ihm. Der Leitwolf kehrte zu<br />

seinem Rudel zurück. Die Sonderration Fleisch würde die Tiere<br />

noch eine Weile beschäftigen.<br />

Schneeflocken sanken lautlos zur Erde und bedeckten alle<br />

Spuren, falls welche vorhanden gewesen waren …<br />

*<br />

Als Hannah durch das Portal in die Eingangshalle des Heims trat,<br />

warteten dort schon ›Georgie‹ und der dümmlich-arrogante<br />

Polizist Lampert auf sie. Triumphierend verkündete der<br />

›Hausdrachen‹: »Du bist verhaftet. Sigi nimmt …« Erschrocken<br />

hielt die Häusler inne und beeilte sich, ihren Fehler zu<br />

korrigieren. »Inspektor Lampert wird dich gleich mitnehmen.«<br />

Der Versprecher hatte ausgereicht, um bei Hannah alle<br />

Alarmglocken läuten zu lassen: Daher wehte der Wind! ›Georgie‹<br />

und der Polizist steckten unter einer Decke.<br />

Lampert gab sich keine Mühe, höflich zu sein. Jetzt konnte er es<br />

diesem blöden Weib heimzahlen. »Entführung eines Minderjährigen.<br />

Und halte gefälligst die Klappe! Du hast nichts zu<br />

vermelden. Mitkommen!« Er packte Hannah am Unterarm und<br />

wollte sie mit sich ziehen. Nur so einfach lief das nicht. Hannah<br />

befreite sich mit einem Ruck und versuchte, durch das Portal zu<br />

entkommen. Aber davor hatte sich die Heimleiterin aufgebaut.<br />

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Als Hannah an ihr vorbeieilen wollte, packte sie zu, erwischte die<br />

Fliehende und rammte ihr durch Anorak und Pullover hindurch<br />

eine Spritze in den Oberarm.<br />

Ehe Hannah recht begriff, was ihr geschah, sackte sie zusammen<br />

und fiel wie ein Stein zu Boden. »Verschwinde mit ihr! Aber<br />

schnell!«, zischte Georgina Lampert zu. »Es darf dich keiner<br />

sehen!« Sie drückte ihm ein Kuvert in die Hand. »Die Anzahlung;<br />

Rest wie vereinbart.«<br />

Lampert steckte das Päckchen ein, schulterte die bewusstlose<br />

Hannah und verschwand durch den Hintereingang … Dort hatte<br />

er den Lieferwagen abgestellt und den Motor laufen lassen.<br />

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Der Regisseur Ronald Graham plant sein Filmprojekt vor der<br />

Kulisse des schlummernden Vulkans. Ein Film, der das<br />

verschwommene Bild der Camorra, der Mafia in Neapel<br />

beleuchten soll. Wie steht Don Carlos, der Pate, jedoch dazu?<br />

Er stellt Bedingungen – eine davon ist tödlich.<br />

Nebst Filmkulisse birgt das Haus von Sir Lindsay, dem<br />

englischen Lord, zudem ein Geheimnis: Maria! Wie glühend<br />

roter Lavastrom begleitet der Name durch die Geschichte.<br />

Doch welche Rolle ist Marie zugedacht in diesem blutigen Spiel<br />

um Macht, Korruption und … Liebe?<br />

ISBN 978-3-745022-72-8 EUR 21,99<br />

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Il Vesuvio - Die Ehrenwerte Gesellschaft<br />

Auf dem Kai tummelten sich neben streunenden Katzen, die<br />

gierig nach jedem Happen schnappten, auch Kinder, die sich<br />

verstohlen hier und da einen Fisch schnappten und mit ihm<br />

davonrannten, nicht einholbar für die schimpfenden Fischer, die<br />

ja letztendlich bei ihrer Ware bleiben mussten. Die Kisten, deren<br />

Deckel oft nur einen Spaltbreit offenstanden, enthielten Fische,<br />

Langusten und Muscheln.<br />

Frauen mit großen Körben wählten aus dem reichen Angebot.<br />

Das Geräusch der vielen Stimmen hörte sich an wie das<br />

Rauschen der Meeresbrandung, zumal weder Karl noch Ronald<br />

ein Wort verstanden. Über allem lag der intensive Geruch von<br />

Fisch.<br />

Unversehens stieß Landmann Graham an und wies nach vorn.<br />

»Sieh mal, wer da ist!« Nur er bemerkte, dass sich sein Puls<br />

beschleunigte, dennoch befürchtete er, man könne es geradezu<br />

sehen.<br />

Wenige Meter von ihnen entfernt stand Marie, die junge Frau, der<br />

sie gestern bei Sir Edward begegnet waren.<br />

Lachend und ungezwungen unterhielt sie sich mit dem Fischer,<br />

scheute sich nicht, die Fische selbst aus den großen Behältern<br />

herauszuholen und besiegelte deren Kauf mit Handschlag. Die<br />

fangfrischen Tiere wurden in Nylonsäckchen verpackt und in<br />

einen großen Korb gelegt.<br />

Mit dem Handrücken strich Marie sich eine widerspenstige<br />

Strähne aus dem Gesicht und packte dann den Korb, um ihn<br />

aufzuheben. Karl war mit wenigen Schritten bei ihr.<br />

Marie erschrak, als so plötzlich jemand neben ihr auftauchte und<br />

nach dem Henkel griff. Sie reagierte automatisch und schlug mit<br />

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der Faust zu … Erst danach erkannte sie die Situation und fuhr in<br />

tödlicher Verlegenheit zurück. »Oh, es tut mir ja so leid«, rief sie.<br />

»Wie hätte ich ahnen sollen, dass Sie es sind. Ich dachte, es sei<br />

einer dieser flinkfingrigen Burschen. Mister Landmann, bitte<br />

entschuldigen Sie.« Marie wusste nicht, was sie noch sagen oder<br />

tun sollte.<br />

Der Schlag hatte gesessen. Karl – in gebückter Haltung –<br />

bemühte sich, eine regelmäßige Atmung zustande zu bringen.<br />

Ronald stand einige Meter entfernt und schnappte ebenfalls nach<br />

Luft, jedoch vor Lachen. Es hatte aber auch zu komisch<br />

ausgesehen, als die kleine Lady dem großen Mann eine Breitseite<br />

verpasste, dorthin, wo es Mann am schmerzhaftesten trifft!<br />

Auch Giuseppe der Fischer hatte seine Kappe nach hinten<br />

geschoben, kratzte sich das Kinn und grinste unverschämt. Er<br />

mochte Marie, die schon seit langer Zeit bei ihm die Fische<br />

kaufte. Sie wusste genau, was sie wollte und zahlte gern einen<br />

vernünftigen Preis. Er hatte es inzwischen aufgegeben, ihr mehr<br />

Euros zu berechnen. Das funktionierte nicht bei dieser Frau.<br />

Außerdem gefiel es ihm, dass sie italienisch sprach, sich nie zu<br />

fein war, selbst mit anzupacken, obwohl man bei ihrer grazilen<br />

Erscheinung eher dazu neigte, gleich hilfsbereit zur Stelle zu sein,<br />

wie soeben dieser junge Mann. Aus seiner Jackentasche holte<br />

Guiseppe eine kleine Flasche und hielt sie dem noch immer mit<br />

dem Schmerz Kämpfenden hin, der wohl das erste Mal in seinem<br />

Leben von einer Frau geschlagen worden war und dann noch …<br />

na ja …<br />

»Bere!«, forderte er Karl freundlich auf und hielt ihm die Flasche<br />

unter die Nase.<br />

»Sie sollen trinken, das hilft«, übersetzte Marie. »Giuseppes<br />

Grappa ist gut, fast schon Medizin.«<br />

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Karl nahm dankbar einen kräftigen Schluck. Zu kräftig! Statt<br />

sofortiger Besserung fehlte ihm urplötzlich wiederum die Luft<br />

und er erlitt einen Hustenanfall.<br />

Ronald, der inzwischen neben der Gruppe stand, traten Tränen<br />

der Heiterkeit in die Augen. Einer seiner Filmhelden sah hier<br />

gerade gar nicht wie ein verwegener Mafioso aus, eher wie eine<br />

ausgepresste Zitrone.<br />

Dankend nahm auch er die Flasche entgegen, die ihm der Fischer<br />

reichte, der nun ebenfalls herzlich lachte. Puh, das war vielleicht<br />

ein Zeug! »Himmel! Was trinkt ihr da? Das brennt ja wie Feuer.«<br />

Giuseppe verstand nicht, was der Fremde sagte, konnte sich aber<br />

denken, was die Worte bedeuteten und lachte erneut.<br />

Der Grappa brannte Ronald bis in den Magen hinunter, von dort<br />

jedoch breitete sich eine wohltuende Wärme in seinem Körper<br />

aus.<br />

Marie war inzwischen zu ihrem Auto gelaufen, das nur wenige<br />

Meter entfernt stand und kam mit einer Flasche Mineralwasser<br />

zurück. Schuldbewusst beugte sie sich zu dem hustenden und<br />

prustenden Karl hinunter, der noch immer nach Luft schnappte,<br />

und reichte ihm die Plastikflasche. Als er abwinkte, sprach sie ihm<br />

gut zu: »Das ist nur Mineralwasser, ehrlich. Bitte, trinken Sie in<br />

kleinen Schlucken.«<br />

Endlich griff er zu und nippte sehr vorsichtig an dem klaren<br />

Nass. Er hatte ehrlich gezweifelt, dass es sich wirklich um Wasser<br />

handelte. Langsam fühlte er eine Besserung und vermochte sich<br />

aufrichten. Doppeltes k.o. war der richtige Ausdruck dafür, was<br />

ihm soeben widerfahren war. Als er endlich wieder aufrecht zu<br />

stehen vermochte, traf sein Blick auf den besorgten<br />

Gesichtsausdruck von Marie. In ihren Augen flackerte noch<br />

immer Erschrecken und etwas wie Angst.<br />

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Sie war heute ungeschminkt und auf ihrem Gesicht zeigten sich<br />

hektische rote Flecke. Der üppige Rollkragen des Pullis schien<br />

ihren Kopf verschlucken zu wollen und eine Windböe zerrte an<br />

ihrem aufgesteckten Zopf.<br />

Karl drängte es, die Hand zu heben und Marie über die Wange zu<br />

streichen, sie zu trösten, wie man es bei einem Kind tut, das<br />

ungewollt eine Dummheit begangen hat. Im letzten Moment<br />

besann er sich und verlangte nur den Verschluss der Wasserflasche.<br />

Als Marie ihm die Kappe reichte, berührten sich ihre Hände und<br />

es war, als spränge ein elektrischer Funke über. Gedankenschnell<br />

fuhren beider Hände auseinander und der Plastikverschluss fiel zu<br />

Boden. Beide bückten sich, gleichzeitig, und – stießen nun auch<br />

noch mit den Köpfen zusammen.<br />

Giuseppe und Ronald – abwechselnd am Grappa nippend –<br />

beobachteten die beiden interessiert, grinsten einvernehmlich und<br />

gaben jeweils ihre Meinung kund – für den einen so<br />

unverständlich wie für den anderen. Aber sie waren sich<br />

vollkommen einig: Wer den Schaden hatte, brauchte für den Spott<br />

nicht sorgen …<br />

Marie hatte inzwischen ein krebsrotes Gesicht und das Karls<br />

näherte sich der gleichen Farbe. Er murmelte fast nicht<br />

Verständliches, das gleichzeitig wie eine Entschuldigung und wie<br />

›das gibt’s doch nicht‹ klang. Immerhin hatte er es geschafft, die<br />

Flasche wieder zu verschließen und Marie zu reichen.<br />

Wie kam es nur, dass er so unvermittelt auf eine Frau reagierte?<br />

Er wusste nichts von ihr, außer, dass sie hervorragende Petit<br />

Fours machte, ihre Finger – wenn auch unbeabsichtigt – seinen<br />

Nacken berührt hatten, dass sie einen treffsicheren Schlag auf<br />

edle Körperteile ausführen konnte, ihr Kopf eine richtig harte<br />

Nuss war und – dass sie ausdrucksvolle Augen besaß, Haar, das<br />

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zum Streicheln einlud, Hände, die man in die seinen nehmen<br />

wollte, einen Körper, den man augenblicklich zu umarmen<br />

wünschte und … Karls Magen zog sich warnend zusammen.<br />

Wann hatte er das letzte Mal solche Gefühle für eine Frau<br />

gehabt?<br />

Marie hatte sich gefangen; sie griff nach dem Korb mit den<br />

Fischen und eilte – in der anderen Hand die Wasserflasche – auf<br />

den Kombi zu. In ihrem Hals saß ein Kloß. Wahrscheinlich hätte<br />

sie den Rest Grappa in der Flasche leeren müssen, um ihn<br />

fortzuschwemmen. Distanz war das Einzige, das helfen würde.<br />

Daher wollte sie so schnell wie möglich von diesem Mann fort,<br />

der sie so aus dem Konzept brachte. Sie hatte sich geschworen,<br />

nie mehr solche Gefühle zuzulassen, wie sie sich ihr nun<br />

aufdrängten. Zornig über sich selbst warf sie die Fische in die<br />

große Kühlbox, die sich im Kofferraum des Kombis befand. Und<br />

ihr seelischer Zustand besserte sich erst recht nicht, als Karl<br />

schweigend neben sie trat und ihr beim Beladen half.<br />

Zum Glück ahnte sie nichts von den Bildern in seinem Kopf …<br />

Er sah sich Marie in die Arme nehmen, sah, wie er sie entkleidete<br />

und auf die freie Ladefläche des Kombis bettete … Einen<br />

Augenblick schloss er die Augen, meinte zu spüren wie ihr Mund<br />

den seinen berührte, seine Finger durch ihr Haar glitten, das sich<br />

anfühlte wie …<br />

»Mister Landmann, ist Ihnen nicht gut? Ich würde gern den<br />

Kofferraumdeckel zumachen.« Jetzt erst registrierte er, dass Marie<br />

auf ihn einredete. Sie musste ihn schon einige Male angesprochen<br />

haben, denn ein besorgtes Lächeln lag auf ihrem Gesicht, das die<br />

normale Farbe zurückgewonnen hatte.<br />

»Natürlich, ja. Ich war nur etwas … abwesend. Soll ich helfen?«,<br />

bot er höflich an.<br />

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»Lieber nicht.« Marie wehrte in komischem Entsetzen ab. »So gut,<br />

wie wir beide das heute können, schlage ich Ihnen letztendlich<br />

noch die Klappe auf den Kopf. Schadensersatzforderungen kann<br />

ich mir nicht leisten.« Sie hatte sich wieder im Griff und das war<br />

das Wichtigste.<br />

Der Wind trieb dunkle Wolken heran und einzelne Regentropfen<br />

fielen vom grauen Himmel.<br />

Giuseppe rief Marie etwas zu und deutete auf das Meer hinaus.<br />

Die Frau nickte und wandte sich an Karl, der noch immer wie ein<br />

Schatten neben ihr stand.<br />

»Ich bringe Sie beide ins Hotel. Es wird gleich regnen. Sehen Sie,<br />

Giuseppe schafft alles an Bord. Ich muss zwar noch einige<br />

Besorgungen machen, doch solange können Sie im Wagen<br />

warten.«<br />

Der Wellengang verstärkte sich, die Gischt spritzte über die<br />

Kaimauer.<br />

Auch die anderen Fischer brachten ihre Waren in Sicherheit und<br />

der zuvor dicht belaufene Kai lag bald wie leergefegt da. Man<br />

kannte hier die Vorzeichen des Wetters nur zu gut. Sobald der<br />

Wind über das Meer hereinpeitschte, war es besser, Schutz zu<br />

suchen.<br />

Ronald überlegte gar nicht erst, schob Karl zur Beifahrertür und<br />

ließ sich selbst auf die Rückbank fallen, was in Anbetracht<br />

dessen, dass die Parkplätze neben Maries Wagen bereits leer<br />

waren, nicht mehr so schwierig war. Fischgeruch wölkte im<br />

Lieferwagen.<br />

Ronald gingen bereits wieder sehr praktische Gedanken durch<br />

den Kopf: Diese Frau sprach perfekt italienisch, schien gut mit<br />

den Menschen hier auszukommen und Karl hatte ganz<br />

offensichtlich eine Schwäche für sie. Marie würde sich also<br />

wunderbar als Sprachmittlerin zwischen ihm und den<br />

50


Neapolitanern und vielleicht sogar als heimliche Geliebte Angelo<br />

Cortesas eignen, der rechten Hand des Padrone. Es hieß nur<br />

abwarten, bis sich die geeignete Gelegenheit ergab, ihr dies<br />

schmackhaft zu machen.<br />

Der Regen prasselte auf die Windschutzscheibe; die Scheibenwischer<br />

waren schon auf die schnellste Geschwindigkeit gestellt,<br />

um einigermaßen freie Sicht zu gewähren.<br />

Marie konzentrierte sich auf den Straßenverkehr und achtete<br />

nicht auf ihren Beifahrer. Sie hatte Francine angerufen, die<br />

sowohl die Bluse für sie, als auch für sich selbst einige Dinge<br />

erstanden hatte. Die Anzüge des Lords aus der gleich neben der<br />

Galleria liegenden Reinigung hatte sie bereits abgeholt. Der Gang<br />

zum mercato musste verschoben werden. Bei diesem Wetter<br />

waren die Markstände mit Sicherheit bereits geschlossen. Fehlten<br />

nur noch die Zigarillos für Frederic.<br />

Die Französin staunte nicht schlecht, als sie bemerkte, wen Marie<br />

aufgelesen hatte. Sie schlüpfte hochbeglückt rasch auf den Platz<br />

hinter Marie, neben Ronald Graham.<br />

»Wir bringen die Herren ins Hotel«, erklärte Marie. »Ehe der Bus<br />

kommt, sind die beiden bis auf die Knochen durchgeweicht.«<br />

»Ischt gut, ischt gar keine Problem.« Francine blinzelte Ronald zu.<br />

Vielleicht wurde der Regisseur auf sie aufmerksam und entdeckte<br />

sie! Eine Rolle beim Film – das klang wie Himmel auf Erden. »In<br />

welsche 'otel wohnen Sie?«, fragte sie neugierig.<br />

»Im Rex schönes Kind«, Ronald lächelte galant. Wenn er wollte,<br />

konnte er!<br />

51


Barbara Siwik<br />

52


Barbara Siwik<br />

Jahrgang 1939, geboren in Liegnitz, arbeitete nach dem Abitur zwecks<br />

›politischer Umerziehung‹, ein Jahr in einem volkseigenen Bau-Betrieb<br />

der ehemaligen DDR. Sie wollte Germanistik studieren, erhielt jedoch<br />

aus politischen Gründen keinen Studienplatz, deshalb absolvierte sie<br />

illegal ein sozialpädagogisches Fachschulstudium in West-Berlin.<br />

Drei Jahre war sie als Erzieherin nacheinander in einem Kinderheim in<br />

Calbe/Saale, einem Kindergarten in Halle/Saale und zuletzt in der freien<br />

religiösen Kinderbetreuung im Dekanat Torgau tätig.<br />

Nach der Heirat und der Geburt ihrer drei Töchter nahm sie ein<br />

vierjähriges Fernstudium an der Fachschule für Bibliothekare in Leipzig<br />

auf. Es folgte eine langjährige Tätigkeit als Dipl. Bibliothekarin in der<br />

Stadtbibliothek Merseburg, die sie von 1991 bis zu ihrem Ruhestand<br />

auch leitete.<br />

Die Autorin ist in zahlreichen Anthologien mit Gedichten, Märchen<br />

und Erzählungen vertreten.<br />

2008 gab der Schmöker-Verlag Garbsen das Lyrikbändchen »Highmatt-Land<br />

– satirische Gedichte« heraus, das auf Initiative des<br />

Schriftstellerkollegen Wolfgang Reuter entstand.<br />

2010 erschien im Fhl-Verlag Leipzig der Fantasy-Roman »Das Erbe des<br />

Casparius«, der 2015 im Sarturia-Verlag Unterensingen neu verlegt<br />

wurde. Noch im selben Jahr gab der Verlag die Roman-Fortsetzung<br />

»Das Buch der magischen Sprüche« heraus.<br />

Bunte Märchenbilder zaubert die Autorin in ihrem Buch »Die<br />

Märchenweberin«, das 2016 im Karina-Verlag Wien erschien. Im<br />

Oktober 2017 folgten das Fantasy-Jugendbuch »Der Schatz aus der<br />

Truhe« und im Februar 2018 die paranormalen Geschichten für<br />

Jugendliche und Erwachsene »Das nicht Greifbare«.<br />

Barbara Siwik lebt in Braunsbedra bei Merseburg. Sie ist Mitglied des<br />

Verbandes deutscher Schriftsteller Sachsen-Anhalt.<br />

Webseite: https://barbarasiwik.wixsite.com/wortkunst<br />

53


54


Der Mord an einer jungen Schauspielerin lässt weder ein Motiv<br />

noch einen Täter erkennen. Mit Sicherheit steht nur fest, dass die<br />

›Mordwaffe‹ sich ›Aqua Tofana‹ nennt – das bevorzugte Gift der<br />

Mörderinnen früher Jahrhunderte.<br />

Ein seit Jahren Verschollener scheint in diesem Fall eine wichtige<br />

Rolle zu spielen und so weiten sich die Ermittlungen bis in die<br />

USA aus.<br />

Als der Fall bereits ›kalt‹ zu werden beginnt, ergibt sich<br />

unerwartet eine Aufklärung des Verbrechens, die dem leitenden<br />

Ermittler buchstäblich auf den Schreibtisch flattert: Eine<br />

Anwaltskanzlei in Bologna schickt ihm im Auftrag eines<br />

Detektivs Notizen, die den Mord in völlig unvermutetem Licht<br />

erscheinen lassen …<br />

ISBN 978-3-966618-45-8 EUR 12,90<br />

<br />

55


56


Aqua Tofana<br />

Schlüsselszene<br />

Der Zuschauerraum des ›Frankfurter Schauspielhauses‹ war bis auf<br />

den letzten Platz gefüllt. Man gab Goethes ›Faust‹. Die Kerker-<br />

Szene näherte sich dem Höhepunkt und das Spiel damit auch<br />

dem Ende der Tragödie.<br />

Die Gretchendarstellerin Eliza Burger war eine bemerkenswerte<br />

Schauspielerin und die Vorstellung nicht zuletzt deshalb<br />

ausverkauft. Gleiches Interesse brachte das Publikum auch dem<br />

Faust-Darsteller entgegen, der sie soeben beschwor: »Besinne dich!<br />

Nur einen Schritt, so bist du frei!«<br />

Mephisto drohte ungeduldig, Faust zu verlassen, sofern dieser<br />

ihm nicht endlich folge. Dessen Blick aber war auf Gretchen<br />

gerichtet, die ihn wie einen Geist anstarrte. In ihren Augen lag<br />

blankes Entsetzen, als sie in höchster Not aufschrie: »Dein bin ich<br />

Vater … rette mich … ihr Engel … ihr heiligen Scharen ... lagert euch<br />

umher ... mich zu bewahren.«<br />

Röchelnd presste die Darstellerin mit letzter Kraft aus sich<br />

heraus: »Heinrich, mir graut’s vor dir!«<br />

Manchem Zuschauer lief bei diesem Szenario ein Schauer über<br />

den Rücken.<br />

Im grauen Büßerhemd, das Haar aufgelöst, sank Gretchen aufs<br />

Strohlager. Es schien, als wolle Faust zu ihr hineilen, aber<br />

Mephisto zerrte ihn mit sich.<br />

Langsam senkte sich der Vorhang, doch vergeblich wartete das<br />

textkundige Publikum auf den letzten, verzweifelten Ruf<br />

Gretchens: ›Heinrich … Heinrich …‹<br />

Nach einem Augenblick atemloser Stille brandete Beifall auf. Die<br />

Schauspieler erschienen jedoch nicht vor dem Vorhang, um den<br />

57


Applaus dankend entgegenzunehmen. Ungeduldig skandierte das<br />

Publikum schließlich: »Gret-chen, Gret-chen, Gret-chen ...«<br />

Endlich ließen sich Mephisto und Faust mit Frau Marthe sehen.<br />

Sie verbeugten sich mit einstudiertem Lächeln. Das Publikum<br />

applaudierte, wurde unruhig und skandierte erneut: »Gret-chen,<br />

Gret-chen ...«<br />

»Wir müssen's ihnen sagen«, zischte der Faustdarsteller Gert<br />

Becker, während er sich automatisch verbeugte. Sein Kollege Rolf<br />

Tender bejahte dies und schickte zugleich ein arrogantes<br />

Mephisto-Lächeln in die tobende Menge. Entschlossen trat<br />

Becker zwei Schritte vor und hob die Hand. Der Tumult<br />

verebbte. Seine Stimme klang angestrengt, als er informierte:<br />

»Verehrtes Publikum! Diese Begeisterung ehrt Eliza Burger sehr.<br />

Leider kann sie den Beifall nicht persönlich entgegennehmen. Sie<br />

erlitt einen Schwächeanfall.«<br />

Ausrufe des Bedauerns wurden laut, Blumen für die Schauspielerin<br />

auf die Bühne gereicht. Eliza Burger würde sie nie in<br />

Empfang nehmen – sie war tot.<br />

*<br />

Die Zeiger der Uhr standen auf Mitternacht. Erregt schritt der<br />

Direktor des ›Frankfurter Schauspielhauses‹ im Büro auf und ab. Auf<br />

seiner Stirn standen Schweißperlen. Er sprach mit sich selbst. Das<br />

tat er stets, wenn ihn etwas überforderte. Und was heute Abend<br />

geschehen war, reichte weit über seine Vorstellungskraft hinaus.<br />

»So ein Unglück«, murmelte er zum wiederholten Mal. »Eine<br />

Katastrophe. Nicht zu fassen.« Schließlich sank er doch in den<br />

Schreibtischsessel und starrte auf die leere Tischplatte.<br />

Wie ein Film liefen die Ereignisse des Abends vor seinem inneren<br />

Auge ab : Gegen zweiundzwanzig Uhr näherte sich die<br />

Vorstellung dem Ende. Wie üblich war er zur letzten Szene hinter<br />

den Kulissen erschienen. Dort standen zwei Techniker und die<br />

58


Nebendarsteller. Wenige Meter vor ihnen gebärdete sich die<br />

Burger auf der Bühne, als werde sie wirklich von Furien gejagt.<br />

Auch ihn hatte ein Schauer erfasst, als sie die Himmelsgeister<br />

anrief, als sie ganz zuletzt … nein, da spielte ihm die Textkenntnis<br />

einen Streich, wie man ihm versichert hatte. Im Unterschied zu<br />

den anderen glaubte er nämlich, den Nachruf ›Heinrich! Heinrich!‹<br />

gehört zu haben. Tatsächlich aber war dies nicht geschehen.<br />

Jedenfalls – nach Beckers und Tenders Abgang und dem Fallen<br />

des Vorhangs hätte auch Eliza auftauchen müssen, aber sie kam<br />

nicht. Becker war deshalb noch einmal auf die Bühne<br />

zurückgekehrt und bald darauf mit entsetztem Gesichtsausdruck<br />

erschienen, die offenbar Ohnmächtige auf den Armen. ›Ich weiß<br />

nicht, was passiert ist‹, hatte er gesagt und die schlaffe Last in die<br />

helfend ausgestreckten Arme der beiden Techniker gleiten lassen.<br />

Dann war er mit Tender und den anderen Darstellern vor den<br />

Vorhang geeilt, um den Applaus des Publikums entgegenzunehmen.<br />

So war es nun mal im Theater – die show musste<br />

laufen, selbst wenn die Welt einstürzte, was ja der Wahrheit in<br />

diesem Fall ziemlich nahe gekommen war, wie sich herausstellte.<br />

Während Becker das Publikum informierte, hatten die Techniker<br />

die Schauspielerin in den Aufenthaltsraum getragen und er hatte<br />

per Handy seinen Hausarzt angerufen, der in der Nähe wohnte.<br />

Der war auch in kürzester Zeit erschienen und stellte fest, was<br />

alle inzwischen ahnten – Eliza lebte nicht mehr.<br />

›Die Polizei muss her‹ hatte der Arzt gesagt und jemand – ja, wer<br />

eigentlich? – hatte im Präsidium angerufen. Zu diesem Zeitpunkt<br />

war ihm bereits alles über den Kopf gewachsen.<br />

Das Publikum ahnte von den Vorgängen hinter der Bühne zum<br />

Glück nichts und verließ das Theater wie stets in Gelassenheit.<br />

Die Polizei dagegen befand sich immer noch im Gebäude.<br />

Warum zum Teufel? Weil die Burger zu jung war, um ›einfach so‹<br />

59


zu sterben? Es traf doch oft noch jüngere Leute, ohne dass<br />

deshalb eine Untersuchung von Amts wegen stattfand ...<br />

Und an dieser Stelle fiel dem Direktor ein, dass es auch noch ein<br />

›morgen‹ und ›übermorgen‹ für das Schauspielhaus gab, an dem<br />

›Faust‹ aufgeführt werden musste – und zwar in veränderter<br />

Gretchenbesetzung. Das bedurfte einiger Arrangements und war<br />

etwas, woran er sich festhalten konnte, etwas, worauf er sich<br />

verstand. Trotz später Stunde griff der Direktor zum Telefon ...<br />

Am anderen Ende der Leitung meldete sich niemand.<br />

»Auch das noch!«, stöhnte er. Aber man konnte der Larivière<br />

schließlich nicht vorschreiben, wo sie sich nachts aufzuhalten<br />

hatte. Dabei war sie ihm doch vor zwei Stunden geradezu in die<br />

Arme gelaufen.<br />

60


Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die sich in jener<br />

Grauzone bewegen, von der sich kaum ein Zeitgenosse sicher ist,<br />

ob er sie akzeptieren oder ignorieren soll – Heimsuchungen<br />

durch das personifizierte Böse, Kontakte mit Geistern, die<br />

lebensecht wirken, Zeit- und Raumveränderungen, in die er<br />

hineingerät, magische Kräfte, die sein Tun beeinflussen.<br />

Vordergründig ist er stolz auf seinen nüchternen Verstand.<br />

Warum wünscht er sich dann insgeheim, einen Blick hinter all<br />

jene Dinge werfen zu können, die es eigentlich gar nicht gibt?<br />

Die vorliegenden Geschichten – mögen sie nun möglich oder<br />

unmöglich, ernst oder heiter sein – sind aus dem Bestreben<br />

heraus entstanden, der Vorstellung von einem magischphantastischen<br />

Weltbild, die so manchen Menschen im<br />

Verborgenen begleitet, Nahrung zu geben.<br />

ISBN 978-3-961116-72-0 EUR 13,90<br />

61


62


Grüne Kreide ist nicht immer das, wonach sie aussieht, vor allem<br />

dann nicht, wenn sie sich unversehens in Nebel auflöst.<br />

Vier Jugendliche erleben durch sie wundersame Dinge. Sie stellen<br />

fest, dass auch Märchen ihren normalen Alltag besitzen, reisen<br />

rückwärts in die Zeit und machen die Erfahrung, dass so manche<br />

Überlieferung fragwürdig ist.<br />

Eins allerdings bleibt wahr – in jeder Legende steckt ein<br />

Körnchen Wahrheit. Langweilig sind dagegen Reisen in die<br />

Zukunft, denn worauf sollte man noch gespannt sein, wenn man<br />

schon alles weiß?<br />

Gelegentlich jedoch sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft<br />

so dicht ineinander verwoben, dass selbst ein wacher Verstand<br />

den Durchblick verliert.<br />

ISBN 978-3-961116-59-1 EUR 13,90 <br />

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64


Der Schatz aus der Truhe<br />

Jugendliteratur Fantasy<br />

An diesem Nachmittag betrat Janus zum ersten Mal den<br />

Dachboden.<br />

„Du lieber Himmel, der ist ja voller Gerümpel“, staunte er und<br />

deutete dann auf die kleine Tür an der Wand. „Ist sie das?<br />

Dahinter fällt man doch direkt nach draußen.“<br />

„Falsch! Dahinter liegt eine unbekannte, magische Welt“,<br />

berichtigte Ulla. „Es kommt nur darauf an, das Richtige auf die<br />

Tür zu schreiben.“<br />

Tori drückte vorsichtig die Klinke nieder.<br />

Ulla griente. „So einfach geht’s nicht.“ Sie holte die Kreide und<br />

den Schlüssel aus der Truhe und blickte den Bruder auffordernd<br />

an.<br />

Janus rief: „Worauf wartest du? Ich will den mittelalterlichen<br />

Markt in Hamburg auch sehen, von dem du mir erzählt hast.“<br />

Ben schüttelte den Kopf. „Kein Markt. Wie wär’s mit der<br />

Wackerburg? Ich meine, in einer Zeit, als dort die Raubritter ihr<br />

Unwesen trieben. Wisst ihr noch, wie enttäuscht wir waren, weil<br />

die im Dorf nicht mal etwas über die Wacker-Brüder wussten?“<br />

Janus war mit diesem Ziel sofort einverstanden, nur Tori<br />

erkundigte sich beklommen: „Können die uns sehen?“<br />

Ulla nickte. „Ja. Es ist, als seien wir Menschen aus dieser Zeit.“<br />

Das gefiel Tori nicht sehr; unsichtbar bleiben wäre ihr lieber<br />

gewesen.<br />

„Wann haben die Wacker-Brüder denn gelebt?“, wollte Janus<br />

wissen.<br />

65


„Die Burg ist im Jahr 1590 abgebrannt“, sagte Ulla. „Ich hab’s<br />

neulich erst in einem Sagenbuch nachgelesen. Darin ist auch von<br />

dem Schatz die Rede, der dort noch liegen soll.“<br />

Sie setzte die Kreide an und schrieb WACKERBURG VOR<br />

DEM BRAND 1590. Während sie die Jahreszahl auf das<br />

Türchen setzte, murmelte sie das Sprüchlein. Es waberte grün<br />

und dann war die Schrift verschwunden. Ulla steckte den<br />

Schlüssel ins Schloss und ließ Tori öffnen. Mit vor Aufregung<br />

zitternder Hand kam die Freundin der Aufforderung nach. Aus<br />

der Öffnung gähnte ihnen Dunkelheit entgegen.<br />

„Wir sind im Verlies gelandet“, vermutete Janus. „Was machen<br />

wir ohne Licht?“<br />

„Ich hole Kerzen.“ Ben sauste die Bodentreppe hinunter in die<br />

Küche. Er hatte Glück – Lisa war nicht da, also musste er sich<br />

keine Ausrede einfallen lassen. Er wusste, wo Kerzen und<br />

Streichhölzer aufbewahrt wurden. Null Komma nichts war er<br />

wieder bei den anderen.<br />

Während seiner Abwesenheit hatte Ulla einige Rollen Schnur aus<br />

dem alten Schrank gekramt, die ihr schon beim ersten<br />

Bodenbesuch ins Auge gefallen<br />

waren. „Kellergänge sind ja was Ähnliches wie ein Labyrinth“,<br />

erklärte sie. „Nicht, dass wir uns auf dem Rückweg verirren.“<br />

Ben zündete drei Kerzen an und drückte je eine Tori und Janus in<br />

die Hand. „Ich gehe mit Ulla voraus“, bestimmte er.<br />

Ulla band die Schnur an der Innenklinke des Türchens fest und<br />

Ben leuchtete ihr beim Laufen. Janus und Tori folgten. Selbst bei<br />

Kerzenlicht war es in dem engen, muffig riechenden Gang<br />

ziemlich duster. Die erste Rolle war bald aufgebraucht und Ulla<br />

knüpfte eine weitere Schnur an. Einige Male gelangten sie an<br />

Abzweigungen, entschieden sich jedoch, im Hauptgang zu<br />

66


leiben. Auch die dritte Schnurrolle kam noch zum Einsatz, denn<br />

die finstere Röhre führte um einige Ecken.<br />

Endlich wurde es vor ihnen ein wenig heller und dann standen<br />

die vier am Fuß einer schmalen, ausgetretenen steinernen Treppe.<br />

Oberhalb erkannten sie Fackelschein.<br />

„Vorsicht!“, warnte Ulla leise. „Wo Licht ist, sind Menschen.“<br />

Über die Treppe gelangten sie in die Eingangshalle der Burg.<br />

Dort roch es nach verbranntem Pech, Braten und Klosett.<br />

„Igitt!“, flüsterte Tori und hielt sich die Nase zu.<br />

Laute Stimmen drangen an ihr Ohr, obgleich in der Halle kein<br />

Mensch zu sehen war. Also kamen sie wohl aus der Etage<br />

darüber. Ulla band das Schnurende an einen der rostigen Haken,<br />

die massenweise aus der Wand ragten. Die anderen löschten die<br />

Kerzen und legten sie auf<br />

den Stufen ab. Mit Herzklopfen schlichen alle im Gänsemarsch<br />

erst durch die Halle und dann über eine schmale Treppe ohne<br />

Geländer, die an der Wand entlang führte, nach oben. Dort tat<br />

sich eine ähnliche Halle auf wie unten, ebenfalls von Fackeln<br />

erhellt, die schrecklich qualmten und den<br />

Raum mit grauem, stinkenden Nebel füllten. An einem klobigen<br />

Tisch in der Mitte des Raumes hockten auf klobigen Schemeln<br />

drei vor Schmutz starrende, wüste Gesellen. Einer davon schien<br />

besonders groß und stark zu sein.<br />

„Die Wacker-Brüder“, flüsterte Ben Janus zu.<br />

Entlang der Wand, nahe der Treppe, zog sich eine breite,<br />

hochbeinige massive Holzbank hin. Sie lag in tiefem Schatten und<br />

bot den vier Eindringlingen<br />

genügend Platz, um darunterzukriechen. Die Männer am Tisch<br />

achteten nicht auf ihre Umgebung. Sie waren ziemlich betrunken<br />

und stritten heftig. Was sie sich an den Kopf warfen, war nicht zu<br />

verstehen, aber es klang drohend. Zwei ebenso schmutzige,<br />

67


heruntergekommene Gestalten stolperten von der anderen Seite<br />

des Saales herein und brachten zwei Weinkrüge. Einer schenkte<br />

dem Riesen ein, der andere dessen Brüdern, die johlend tranken<br />

und sich nachschenken ließen.<br />

Auf der Tischplatte blinkte und funkelte Gold und Silberzeug.<br />

„Beute! Und sie streiten darum“, wisperte Ulla.<br />

Der Riese erhob sich taumelnd – Himmel war das ein Ungetüm!<br />

Krachend fiel der Schemel um. Auch seine Brüder versuchten, in<br />

die Höhe zu kommen, aber stattdessen fielen sie wie nasse Säcke<br />

von ihren Sitzen herunter. Die Knechte luden sich die Säufer<br />

schweigend auf die Schultern und schleppten sie weg. Der Riese<br />

aber lachte dröhnend und schadenfroh, griff einen Ledersack von<br />

den Dielen auf und schob das funkelnde Zeug hinein, das auf<br />

dem Tisch lag. Es klimperte und klirrte. Dann schulterte er den<br />

Sack und trampelte mit unsicherem Schritt an der Bank vorüber<br />

die Treppe hinunter in die Halle.<br />

„Ein Wunder, dass der die Stufen findet“, flüsterte Janus.<br />

„Der ist ans Saufen und an die Treppe gewöhnt“, vermutete Ben.<br />

„Was ist?“, wisperte Ulla. „Schleichen wir ihm hinterher?“<br />

Doch Tori wollte das Versteck unter der Bank auf keinen Fall<br />

verlassen und Janus entschied: „Entweder alle oder keiner.“<br />

Die Entscheidung erwies sich als richtig, denn der Unhold – ganz<br />

gewiss der Gero der Legende – kam zurück. Er grölte etwas<br />

Unverständliches und wiederum erschienen die Knechte. Gero<br />

öffnete eine Truhe an der gegenüberliegenden Wand und<br />

entnahm ihr drei weitere prall gefüllte Ledersäcke. Er und die<br />

beiden zwielichtigen Gestalten luden sie sich auf die Schultern<br />

und stapften die Treppe hinunter.<br />

„Himmel!“, flüsterte Ulla. „Das ist der Schatz. Gero bringt ihn in<br />

Sicherheit. Ich will sehen, wohin.“ Die vier krochen nun doch<br />

unter der Bank hervor und schlichen in die Halle hinunter. Sie<br />

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war leer, aber das Portal zum Burghof stand offen. Draußen war<br />

Nacht, doch im Schein der Fackeln, die auch dort brannten,<br />

erkannten sie einen Karren und zwei eingespannte Pferde. Ein<br />

drittes Pferd<br />

stand aufgezäumt bereit. Gero von der Wacker gestikulierte mit<br />

den Knechten und kam dann allein auf das Portal zu. Eilig<br />

wichen die vier zurück und drückten sich in eine dunkle Nische<br />

zwischen der Wand und einem großen Schrank.<br />

Der Riese verteilte an vielen Stellen der Halle Pech, das er mit<br />

einer Holzkelle aus einem Bottich schöpfte. Auch der Schrank<br />

bekam davon eine Ladung ab, doch in die Nische schaute der<br />

Raubritter nicht. Aus bereitstehenden Säcken verstreute er<br />

gehäckseltes Stroh und stapfte dann in den Saal hinauf. Die vier<br />

folgten in sicherem Abstand und – auf den Stufen hockend –<br />

sahen sie ihn den Raum in gleicher Weise für einen Brand<br />

vorbereiten. Schemel, Tisch, Truhe und Bank wurden reichlich<br />

mit Pech bekleckst.<br />

„Gut, dass wir dort weg sind!“, hauchte Tori.<br />

Schließlich verließ Gero den Saal in der Richtung, aus der anfangs<br />

die Knechte gekommen waren. Auch Janus und Ben setzten sich<br />

in Bewegung, in der Absicht, den Riesen weiter zu beobachten.<br />

„Ich geh da nicht mit“, flüsterte Tori. „Ist mir zu gefährlich.<br />

Wenn wir uns in der Burg verlaufen …“<br />

Ulla gab ihr recht, aber die Jungen winkten ab. „Wir packen das!<br />

Verzieht euch in den Keller!“ Schon liefen sie quer durch den<br />

Saal. Die Mädchen schlichen wieder treppab, dicht an die Wand<br />

gedrückt, und quer durch die Halle zur Kellertreppe. Dort<br />

hockten sie sich auf die kalten, schmutzigen Stufen.<br />

„Nach der Legende setzt Gero von der Wacker jetzt die Kammer<br />

seiner Brüder in Brand. Nur passiert es nicht aus Unachtsamkeit,<br />

69


wie die Legende berichtet, er hat’s von vorn herein geplant“,<br />

flüsterte Tori.<br />

„Von wegen Dämon!“, pflichtete Ulla bei. „Mit so viel Pech<br />

bekleckert, brennt alles im Nu. Und mit dem Schatz haut der Kerl<br />

ab. Hast du ja gesehen.“<br />

„Aber es heißt, die drei Brüder seien gemeinsam …“<br />

„Mensch, Tori! Drei Männer sind den Flammen entkommen. Die<br />

Leute dachten, es seien die drei Brüder. Aber zwei von ihnen<br />

waren ja abgefüllt bis oben hin. Wie sollten die sich aufrappeln?<br />

Nee, nee! Der Kerl lässt sie brutzeln und murkst sicher später<br />

auch die Knechte noch ab. Deshalb hat nie wieder jemand was<br />

von den Wacker-Brüdern gehört.“<br />

Nach einer Zeit, die den Mädchen wie einen Ewigkeit vorkam,<br />

hörten sie es im oberen Saal rumoren und zischen, dann<br />

polterten schwere Tritte die Treppe herunter. Vorsichtig reckten<br />

Ulla und Tori die Hälse …<br />

Der Riese stürzte den Pechkübel in der Halle um, rannte von<br />

Fackel zu Fackel, riss sie aus den Halterungen und warf sie auf<br />

Stroh und Pech. Im Handumdrehen fing alles Feuer und der<br />

Brandstifter preschte aus der Halle. Sie hörten ihn etwas schreien,<br />

das wie ein Befehl klang, ein Pferd wieherte und dann knarrten<br />

Räder …<br />

Nun war nur noch das Knistern der Flammen zu vernehmen.<br />

„Der ist weg“, murmelte Ulla. „Die Burg gehört uns.“<br />

„Mir ist nicht nach Lachen“, jammerte Tori. „Wo bleiben die<br />

Kerle?“ Gerade da sprangen zwei Gestalten durchs Feuer und<br />

fielen mehr als dass sie rannten die Kellertreppe hinunter.<br />

„Weg von hier“, keuchte Janus.<br />

„Immer schön langsam“, bremste Ulla. „Wenn überhaupt, brennt<br />

es hier unten zuletzt.“<br />

70


„Aber wenn sich der Rauch hier sammelt, ersticken wir“, keuchte<br />

Ben und<br />

versuchte mit zitternder Hand, ein Streichholz zu entzünden. Es<br />

flackerte und erlosch. Mit einem zweiten und dritten erging es<br />

ihm ebenso.<br />

„Geht schon los“, knurrte er. „Die Kerzen können wir uns<br />

knicken.“<br />

Über ihnen rauschte hörbar das Feuer. Eilig hangelten sich die<br />

vier in der Finsternis an der Schnur zurück, erreichten glücklich<br />

das Türchen und Ben – als Letzter in der Reihe – drückte es<br />

aufatmend hinter sich zu.<br />

„Bin ich froh, wieder auf dem Dachboden zu sein“, gestand Tori<br />

und ließ sich auf einen alten Sessel fallen.<br />

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72


Der Lebensweg eines Menschen ist nicht vorhersehbar, denn<br />

nicht er selbst ist seines Glückes Schmied ─ die Zeit schwingt<br />

blind den Hammer. Sie fügt auch in diesem Roman zwei Familien<br />

zusammen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Die<br />

Wurzeln der einen Familie reichen bis ins 13. Jahrhundert zu<br />

einer Burg zurück, die der anderen krallen sich um Bedeutungslosigkeit.<br />

Doch auf dem unwegsamen Pfad der Zeit schlägt der<br />

Hammer des Schicksals auf die eine wie die andere emotionslos<br />

ein. Er formt und er zertrümmert Schlag um Schlag familiäres<br />

Glück auf dem Amboss der Weltgeschichte durch Krieg, Tod<br />

und Vertreibung. Nie wieder wird die Zeit Teile eines ehemals<br />

Ganzen in alter Weise zusammenfügen, nie wird sie letzte<br />

Klarheiten schaffen über den Verbleib eines Verschollenen.<br />

Tatsache ist am Ende nur, dass sie bereits neue Eisen im Feuer<br />

liegen hat, um sie zu bearbeiten, dass nichts endet, sich vieles nur<br />

ändert …<br />

ISBN 978-3-961119-25-7 EUR 29,90<br />

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74


Der unwegsame Pfad der Zeit<br />

Zeitgeschichtlicher Familienroman<br />

(Juni 1945 in Niederschlesien))<br />

Das Liegnitz, das sie verlassen hatten, gab es nicht mehr. Auf<br />

dem Ring lag so viel Papier wie im Winter Schnee auf den<br />

Uferwiesen der Katzbach. Wer auch immer so gewütet hatte – er<br />

schien alle Akten, die im Rathaus aufzufinden waren, auf dem<br />

Platz verstreut zu haben. Viele Gebäude in der Frauenstraße<br />

waren ausgebrannt. Es sah aber nicht nach einem Bombenangriff<br />

aus, eher nach Brandstiftung. Die Inneneinrichtung der Häuser<br />

lag zumeist zertrümmert als Müll auf der Straße. Der Geruch<br />

nach Brand und Verwesung schlug ihnen überall entgegen. Nur<br />

vereinzelt waren Menschen zu sehen, die auftauchten wie<br />

Gespenster und eilig wieder verschwanden.<br />

Endlich standen sie auf der Nepomukbrücke und spähten mit<br />

bangem Blick voraus: Ja, das Häuschen von Weigts stand noch.<br />

Unter dem Glockengeläut der Dreifaltigkeitskirche zogen die<br />

Heimkehrer durch die Gerichtstraße. Die Haustür des kleinen<br />

Gebäudes stand offen. Im Treppenhaus lag das Eigentum der<br />

Weigts und der Pohls umher. Es stank bestialisch, als befänden sie<br />

sich in einer Kloake. Letztendlich sollte sich das bewahrheiten.<br />

Die alte Frau Weigt hatte ihre Wohnung wohl doch verlassen, ehe<br />

die Russen einrückten. Wo mochte sie untergekommen sein? In<br />

dem verwüsteten Haus schien sich dennoch jemand aufzuhalten,<br />

denn die Treppe war freigeräumt. Die Wohnungstüren im<br />

Obergeschoss standen sperrangelweit offen, die Tür des<br />

separaten Mittelzimmers dagegen war abgeschlossen.<br />

Beklommen nahm Trudl ihre Wohnung in Augenschein: Überall<br />

lagen Wäsche, Kleidung, Bücher, zerbrochenes Geschirr und<br />

75


Mobiliar herum. Sämtliche Federbetten waren aufgeschlitzt<br />

worden. Die Federn bedeckten den Fußboden, vielfach vermischt<br />

mit Urin und Scheiße. Der bestialische Gestank machte das<br />

Atmen schwer. Es gab kaum eine größere Fläche, auf der sich<br />

kein Haufen befand. Was, um Himmels willen, waren das für<br />

Menschen, die sich hier ausgetobt hatten?<br />

Sie setzte Monika auf dem Wohnzimmertisch ab – eine von<br />

Fäkalien freie Fläche – stieg in ungläubigem Entsetzen zwischen<br />

dem Unrat umher und entdeckte, dass da auch Dinge<br />

herumlagen, die nicht ihr gehörten.<br />

Bei ihnen sähe es nicht besser aus, erfuhr sie von Käthe, die die<br />

Schaukel der Kinder ablieferte, Fremdgut gewissermaßen. Trudls<br />

Vater hatte am letzten Weihnachtsfest als Geschenk für die Enkel<br />

zwei Haken in das obere Futter der Schlafzimmertür eingedreht<br />

und eine Gitterschaukel daran aufgehängt. Bei geöffneter Tür ließ<br />

es sich zwischen Wohn- und Schlafraum nun so gut schaukeln<br />

wie im Sonnenland neben der Laube. Die Kinder hatten sich<br />

jedoch nur kurze Zeit an dem Geschenk erfreuen können, denn<br />

im Februar waren sie ja aus Liegnitz geflohen.<br />

Aus der Wasserleitung im Hausflur lief nur ein dünner Strahl. Ein<br />

Wunder, dass es überhaupt Wasser gab. Trudl schrubbte die<br />

Schaukel sauber, so gut es möglich war, hängte sie auf und setzte<br />

Moni hinein. Die Kleine war nun erst einmal beschäftigt. Eins der<br />

beiden Kinderstühlchen befand sich in noch brauchbarem<br />

Zustand. Darin saß Bärbel in der Nähe der Schlafzimmertür und<br />

schaute Moni beim Schaukeln zu.<br />

Trudl reinigte die Couch. Offenbar hatte die als Gelegenheit für<br />

gewisse Dienste gedient. Sie war mit typischen Flecken übersät,<br />

aber wenigstens nicht beschissen! Vorerst würden die Kinder<br />

leider auf dieser Couch schlafen müssen, denn für die<br />

Kinderbetten gab es weder Kissen noch Zudecken. Wenn sie es<br />

76


geschickt anstellte, rettete sie vielleicht noch Federn für ein<br />

dünnes Deckbett. Nähzeug war vorhanden, dafür hatte sich<br />

keiner interessiert.<br />

Bärbel hielt es nicht mehr auf dem Stühlchen, sie wollte<br />

unbedingt das Märchenbuch suchen. Trudl warnte: „Pass auf,<br />

wohin du trittst!”<br />

Das Kind balancierte um die Haufen und die schaukelnde Moni<br />

herum bis zum Kachelofen im Schlafzimmer. Dort schrie es<br />

wütend auf ...<br />

So schnell wie möglich versuchte Trudl ins Schlafzimmer zu<br />

gelangen, rutschte auf einem Haufen aus und bekam glücklicherweise<br />

die Schaukel zu fassen. Die Seile hielten! Moni lachte<br />

fröhlich, weil sie glaubte, das sei ein Spiel.<br />

Dann stand Trudl im Schlafzimmer und erkannte die Ursache für<br />

Bärbels Wutgeschrei: Das Märchenbuch lag in fast aufgelöstem<br />

Zustand auf dem Boden. Die Blätter waren herausgerissen und<br />

als Klopapier benutzt worden. Auf dem abgetrennten Buchdeckel<br />

machte sich ein eingetrockneter Scheißhaufen breit und ringsherum<br />

war es einmal sehr nass gewesen.<br />

„Ich hasse sie! Ich hasse sie!”, schluchzte Bärbel. Sie hatte Helmut<br />

Pohl nicht verstanden, als er ihr erklärte, was Hass sei. Jetzt<br />

wusste sie, wie sich das anfühlte. Diese Gemeinheit hatten<br />

Ungeheuer wie das in Komotau begangen!<br />

„Mäusl! Hör auf zu weinen”, tröstete Trudl. „Du bekommst ein<br />

neues Buch. Es wird genauso aussehen wie das alte, denn davon<br />

gibt es nicht nur eins.” Ihr Blick irrte umher, fiel auf die<br />

Spiegeltoilette und da erkannte sie das Bambi-Buch,<br />

offensichtlich unbeschädigt. Sie stieg über einen Haufen Federn,<br />

griff danach und hielt es hoch. „Sieh mal! Bambi ist noch da!”<br />

Bärbel ließ sich beruhigen. Trudl half ihr zum Stühlchen zurück<br />

und machte sich wieder ans Aufräumen. Sie kam nur langsam<br />

77


voran. Bis zum Abend schaffte sie es jedoch noch, ein dünnes<br />

Federbett für die Kinder zurechtzustopfen. Die heil gebliebenen<br />

Sofakissen steckte sie in Bezüge, die sie noch im Schrank<br />

vorgefunden hatte. Für das Federbett fand sich nichts Passendes.<br />

Die Kinder hatten Hunger. Woher sollte Trudl etwas Essbares<br />

nehmen? Als habe sie etwas geahnt, brachte Käthe zwei Gläser<br />

Pflaumenkompott herüber. Martha Vogt war bald nach der<br />

Ankunft mit den Töchtern im Keller verschwunden und sie<br />

hatten nach oben getragen, was an eingeweckten Vorräten noch<br />

zu finden war.<br />

„Da unten ist es sauberer als hier oben”, berichtete Käthe. „Es<br />

sind schon welche vor uns im Keller gewesen, aber die kannten<br />

Frau Weigts Lager für schlechte Zeiten nicht. Die Vorräte sind<br />

jetzt drüben bei uns. Sie werden ein Weilchen reichen, wenn wir<br />

sparsam sind.” Und dann erzählte sie, dass sich im Mittelzimmer<br />

ganz eindeutig jemand aufhalte. „Vater vermutet, dass es Trieblich<br />

ist. Offenbar will er von uns nicht gesehen werden.”<br />

Die Kinder schliefen, eins zu Häupten eins zu Füßen, auf der<br />

Couch. Trudl verbrachte die Nacht in einem heil gebliebenen<br />

Sessel, bedeckt mit ihrem Wintermantel, den sie unter einem<br />

Haufen Federn gefunden hatte. Sobald es draußen hell wurde,<br />

war sie wieder auf den Beinen, räumte und säuberte weiter. In der<br />

Waschküche im Hof lief das Wasser besser als oben im Hausflur.<br />

Sie füllte eine Wanne und walkte die Wolldecken durch.<br />

Nach einigem Suchen fand sie eine Wäscheleine und Klammern.<br />

Der Tag versprach warm zu werden, also würden die Decken gut<br />

trocknen. Während sie aufhängte, läuteten auch an diesem<br />

zweiten Pfingstfeiertag die Glocken. Waren Pfarrer Smaczny und<br />

die Grauen Schwestern in Liegnitz geblieben? Gern wäre Trudl bis<br />

zur Kirche gelaufen, aber sie wagte sich nicht auf die Straße. Die<br />

Angst, noch einmal vergewaltigt zu werden, war zu groß. Bärbel<br />

78


und Moni spielten derweil auf der Couch mit den wiedergefundenen<br />

Puppen und einer Riesenmuschel. Trudl hatte sie<br />

beim Aufräumen unter den fremden Dingen entdeckt, sie Moni<br />

ans Ohr gehalten und ihr weisgemacht, darin sei das Rauschen<br />

des großen Wassers zu hören, das man Meer nannte.<br />

Moni hatte gelauscht und behauptet: „Nein, die Englein singen.”<br />

Bärbel begutachtet die Muschelgeräusche ebenfalls und erklärte<br />

altklug: „Dummchen! Das ist Rauschen, kein Singen.” In gewisser<br />

Hinsicht spürte man schon, dass die Große reif für die Schule<br />

war. Eigentlich hätte sie Ostern eingeschult werden sollen,<br />

stattdessen war sie im Februar in Dresden knapp dem Tod<br />

entgangen. Nun würde Bärbel wohl noch ein weiteres Jahr auf<br />

den herbeigesehnten ersten Schultag warten müssen.<br />

In der zweiten Nacht nach der Rückkehr schlief Trudl mit den<br />

Kindern im Ehebett. Die Wolldecken waren rechtzeitig trocken<br />

geworden.<br />

Einer der folgenden Tage bescherte Vogts und Trudl eine<br />

unangenehme Überraschung – das Haus erhielt Einquartierung.<br />

In den späten Morgenstunden ratterten zwei russische Armee-<br />

Autos auf den Hof. Die rauen Zurufe in fremder Sprache, die<br />

schlagenden Türen verhießen nichts Gutes. Trudl schlug das Herz<br />

bis zum Hals, als jemand an ihre Wohnungstür pochte. Noch ehe<br />

sie sich gefasst hatte, lief Bärbel in den Korridor und schob den<br />

Riegel zurück, den Vogt an der Tür anstelle des defekten<br />

Schlosses angebracht hatte. Draußen stand ein russischer Offizier.<br />

Er trat nicht ein, musterte das Kind nur freundlich und fragte<br />

Trudl in Deutsch, ob sie hier wohne. Als sie dies bejahte, erklärte<br />

er: „Wir besetzen Räume unten. Kommandantur! Dürfen bleiben,<br />

wenn wollen. Ich verspreche, keine Gefahr für Frau. Charaschò?”<br />

79


Trudl nickte beklommen. Der Offizier zeigte auf die Tür<br />

gegenüber. „Auch Leute?” Und als sie dies bejahte, klopfte er bei<br />

Vogts. Sie sah gerade noch, dass Martha Vogt öffnete, ehe sie die<br />

eigene Tür aufatmend schloss und den Riegel vorschob.<br />

Es wurde nun ziemlich laut im Haus. Zwei Soldaten räumten die<br />

Weigt-Wohnung leer und kehrten alles, was im Hausflur lag,<br />

durch die Hintertür in den Hof. Dort verbrannten sie den Unrat.<br />

Am Abend klopfte es erneut an der Tür. Diesmal war es eine<br />

Russin in Uniform, die ihnen Schwarzbrot und Tee brachte, den<br />

sie tschai nannte. „Fier Kindärr!”, erklärte sie.<br />

Trudl bedankte sich überrascht. Moni zupfte die fremde Frau an<br />

der Uniformbluse und die beugte sich zu ihr hinunter. Die Kleine<br />

hielt der Russin die Muschel ans Ohr und sagte: „Horch! Die<br />

Engelein singen!”<br />

Vermutlich verstand die Frau kein Wort, aber sie lächelte und<br />

lauschte.<br />

Vogt wagte es schließlich, sich in der näheren Umgebung<br />

umzusehen. Mit Spannung und Besorgnis erwarteten die Frauen<br />

seine Rückkehr. „Mit wem hast du gesprochen?”, fragte Martha<br />

Vogt, als sie alle um den Tisch saßen.<br />

„Ich hab' im Pfarrhaus geklopft. Die Glocken läuteten an<br />

Pfingsten schließlich nicht von selbst”, erklärte er und erzählte:<br />

„Pfarrer Smaczny ist in Liegnitz geblieben. Die Glocken hat er<br />

selber geläutet. Die Grauen Schwestern und ihre Zöglinge wurden<br />

Ende Januar in einem eigenen Transport aus der Gefahrenzone<br />

nach Hessen gebracht. Das hat das Mutterhaus in Breslau noch<br />

organisiert, obwohl die Russen dort schon vor der Stadt standen.<br />

Der alte Tierarzt aus der Zimmerstraße sollte auch mit, aber er<br />

wollte nicht. Inzwischen behandelt er Zweibeiner nach Vierbeinerdiagnose,<br />

meint Smaczny. Er soll gesagt haben, ob Tier, ob<br />

Mensch, innen läuft's gleich ab. Liegnitz ist am neunten Februar<br />

80


von der Roten Armee eingenommen worden. Die Soldaten haben<br />

unter der Zivilbevölkerung viel Unheil angerichtet. Obgleich die<br />

Stadt menschenleer wirkt, sind viele Leute nicht geflohen oder<br />

jedenfalls nicht rechtzeitig, meint Smaczny. Die Russen haben in<br />

der Innenstadt überall Siegesfeuer gelegt. Tragisch ist, sagt er,<br />

dass sie meist ehemals jüdische Geschäftshäuser erwischt haben,<br />

also eigentlich das Eigentum von denen vernichteten, die durch<br />

die Nazis in den Lagern umkamen.”<br />

„Ich wüsste gern, was aus der Großmutter von Franz geworden<br />

ist”, sagte Trudl. „Sie wohnt in der Breslauer Straße.”<br />

„Da würd' ich an Ihrer Stelle jetzt nicht hingehen Viel zu<br />

gefährlich für Frauen”, beurteilte Vogt die Lage. „Aber ich war in<br />

der Karthausstraße in der Wohnung Ihrer Eltern. Dort sieht's so<br />

wüst aus wie überall. Jedenfalls sind sie offenbar rechtzeitig aus<br />

Liegnitz 'raus.”<br />

Der sechste Juni '45 war ein warmer Vorsommertag. Bärbel hatte<br />

inzwischen begriffen, dass die Lachel-Oma und der Lachel-Opa<br />

nicht nach Liegnitz zurückgekommen waren, dass sie mit Mutti<br />

und Moni in diesem Jahr nicht ins Sonnenland laufen würde und<br />

auch nicht nach 'Afrika', weil der schlimme Krieg zwar zu Ende<br />

war, aber auf den Straßen noch immer böse Soldaten<br />

herumliefen, die Menschen töteten oder verschleppten. Die<br />

Soldaten in ihrem Haus gehörten nicht dazu, die brachten ihnen<br />

etwas zu essen. Es gab also auch gute! Nach langer Zeit tanzte sie<br />

mit Moni heute wieder das ausgedachte Spiel Alle Tage ist kein<br />

Sonntag. Das Spitzenhäubchen der Gocke-Oma war heil<br />

geblieben. Moni durfte als erste aufs Stühlchen hinaufsteigen und<br />

sich mit dem Häubchen drehen. Sie tat's ein bisschen wacklig, ließ<br />

sich am Ende schwer in die Arme der großen Schwester fallen<br />

und blieb kraftlos darin hängen. Ängstlich rief Bärbel um Hilfe.<br />

81


Als Mutti aus der Küche herbeieilte und Schwesterchen in den<br />

Arm nahm murmelte Moni: „Mickl is so kaputt.”<br />

Mutti legte Schwesterchen die Hand auf die Stirn und stellte fest:<br />

„Du hast Fieber.” Darauf befühlte sie Bärbel und sagte: „Du<br />

auch.”<br />

Was Fieber bedeutete, wusste Bärbel: Man war krank. Schließlich<br />

hatte sie schon eine Krankheit hinter sich gebracht, die Scharlach<br />

hieß. Aber jetzt tat ihr doch vom um den Stuhl Herumtanzen nur<br />

ein bisschen der Kopf weh. Es half nichts, sie wurde wie Moni<br />

unter die Decken gepackt und unversehens wurden Arme und<br />

Beine wirklich immer schwerer.<br />

Sobald die Kinder schliefen, lief Trudl zu Vogts hinüber. „Die<br />

Mädchen haben Fieber”, sagte sie bekümmert. „Es wird doch<br />

nichts Ernstes sein?”<br />

„Lassen Sie eine Nacht verstreichen”, riet Martha Vogt. „Ist ja<br />

kein Wunder, dass die Kinder bei der miesen Ernährung und den<br />

Strapazen, die sie hinter sich haben, schlapp machen. Das nimmt<br />

uns Erwachsene ja schon mit.”<br />

In dieser Nacht tat Trudl kein Auge zu und am Morgen zeigte<br />

sich, dass es nicht allein um Entkräftung ging: Beide Kinder<br />

hatten hohes Fieber und kamen gar nicht zu sich.<br />

„Geh zum Viehdoktor, Georg”, bat Martha Vogt ihren Mann.<br />

„Er soll sich die beiden ansehen. Was kann er schon falsch<br />

machen!”<br />

Der Tierarzt war nicht daheim, sondern bei anderen zweibeinigen<br />

Patienten. „Ich sag's ihm, wenn er zurück ist”, versprach die<br />

Haushälterin und schrieb sich die Adresse auf.<br />

Am Nachmittag dieses Tages kam Bärbel zu sich. Sie wand sich<br />

vor Bauchschmerzen. Trudl setzte sie aufs Töpfchen. Was das<br />

Kind stöhnend und weinend aus sich herauspresste, bestand<br />

indes nur aus Blut und Schleim. So furchtbar dies war, Trudl hätte<br />

82


viel darum gegeben, wenn Moni aus dem gleichen Grund wach<br />

geworden wäre. Aber die Kleine lag still und flach atmend unter<br />

dem dürftigen Federbett. Bärbels Bauchkrämpfe wiederholten<br />

sich. Käthe und Trudl legten ihr ein Gummilaken aus<br />

Kleinkinderzeiten unter, ein mehrfach gefaltetes Leinentuch<br />

darauf und ließen den Dingen ihren Lauf. Das Kind kam nicht<br />

einmal mehr beim qualvollen Pressen zu sich. Das Thermometer<br />

zeigte 40° Fieber an. Gegen sieben Uhr abends erschien endlich<br />

der Tierarzt. Er war einer russischen Streife in die Hände gefallen,<br />

die unbedingt einen Faschisten festnehmen wollte. Schließlich<br />

hatte man ihn gehen lassen.<br />

Der alte Mann setzte sich zu Moni ans Bett, nahm die kleine,<br />

noch warme Hand in die seine und strich ihr über das Köpfchen.<br />

„Sie ist tot”, sagte er leise.<br />

„Nein”, widersprach Trudl. „Sie hat eben noch geatmet.”<br />

„Das glaube ich gern”, versicherte der Arzt. „Kinder in diesem<br />

Alter wehren sich nicht gegen den Tod und sterben daher<br />

friedlich und fast unbemerkt.”<br />

Schluchzend nahm Trudl die Kleine in den Arm. Auch Käthe<br />

weinte, aber jemand musste jetzt handeln. Sie schlug die Decke<br />

über Bärbel zurück und der Doktor nahm das fiebernde Kind in<br />

Augenschein, betrachtete den blutigen Schleim. Dann winkte er<br />

Käthe ins Wohnzimmer und schloss die Tür.„Ich dachte es mir<br />

schon”, sagte er leise. „Es ist bei beiden Kindern Typhus. Sie<br />

haben sich vermutlich erst hier infiziert. Ich weiß, dass die<br />

Wohnungen als Abtritte missbraucht wurden. Auch in der<br />

russischen Armee grassieren Ruhr und Typhus. Exkremente sind<br />

tückische Krankheitsherde. Die Kleine ist so schnell gestorben,<br />

weil ihr Kreislauf überfordert war. Die Größere könnte es bei<br />

richtiger Medikation schaffen, am Leben zu bleiben. Ich kann<br />

aber nur eine Pferdekur anbieten und das meine ich wörtlich.”<br />

83


Der Doktor öffnete seine Tasche und holte einen Beutel von der<br />

Größe einer Teepackung heraus. „Das ist medizinische Kohle,<br />

wie sie Pferden bei Durchfall verabreicht wird”, erklärte er. „Es<br />

sollte wirken, wenn das Durchhaltevermögen des Kindes<br />

ausreicht.” Er setzte die Größe der Dosis und die Häufigkeit der<br />

Einnahme fest, versprach auch, in zwei Tagen wiederzukommen.<br />

Käthe brachte den Doktor zur Tür und kehrte ins Schlafzimmer<br />

zurück. Dort versuchte sie, Trudl gut zuzusprechen. „Du musst<br />

stark bleiben. Bärbel braucht dich, damit sie es schafft, gesund zu<br />

werden.” Leere Worte, doch was hätte sie sagen sollen? Sie<br />

wickelte Monika schließlich in ein Betttuch und Vogt trug den<br />

kleinen Leichnam hinunter in den Keller, weil es dort kühl war.<br />

84


Wenn man das Leben mit einem Wettlauf gleichsetzt, dann<br />

erreicht Else Stehauf als Letzte das Ziel. Sie hat einen schlechten<br />

Start, ihre Bahn ist voller Stolpersteine und auf ihren Schultern<br />

lastet ein Gewicht, das sie abwerfen müsste, um voranzukommen.<br />

Das Gewicht heißt Alfred – von der Natur mit Einfalt gestraft<br />

oder gesegnet, wer will das entscheiden? Else jedenfalls stellt<br />

solche Überlegungen nicht an. Sie weiß: Das Leben ist eben keine<br />

Rennbahn mit Platz und Sieg, sondern eher ein aufhaltsamer<br />

Dauerlauf. Und auf manchem Stolperstein des Weges wächst<br />

auch ein bisschen Moos, auf dem sie rasten kann – trotz oder mit<br />

Alfred.<br />

ISBN 978-3-748585-14-5 EUR 22,90<br />

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86


Wohin du gehen wirst<br />

Zeitgeschichtlicher Familienroman<br />

Im Mai 1915 wurden auf dem Weg zur Grube ’Kamerad’ zwei<br />

lange Baracken gebaut und mit einem hohen Stacheldrahtzaun<br />

umgeben. Eines Nachmittags rannte der dürre Klaus durchs<br />

Dorf, als seien die Hunde hinter ihm her, und schrie: „De<br />

Franzen komm’! De Franzen komm’!“<br />

Tatsächlich folgte ihm ein Zug Kriegsgefangener, mindestens<br />

hundert Männer. Sie trotteten durch Naundorf hindurch und<br />

verschwanden in den Baracken hinter dem Stacheldraht.<br />

Die Franzosen arbeiteten in der Grube ’Kamerad’ und wurden<br />

von Merseburg aus mit Nahrungsmitteln versorgt.<br />

„Die kriegn mehr, als unsereener uff ’n Tisch bring’ kann“,<br />

ärgerten sich die Bergarbeiter.<br />

In den ersten Tagen pilgerten die Schulkinder nachmittags zu den<br />

Baracken und bestaunten die Fremden wie Zootiere. „Die hahm<br />

ja jarkeene Jewehre“, wunderte sich Alfred.<br />

„Du kommst uff Ideen!“, spottete Else. „Die hahm unsre den’<br />

doch abgenomm’. Was denkst’n, was die machen würd’n, wenn<br />

sie eens inne Hand kriegt’n? Die ballern damit inner Gegend rum<br />

und schießen dich ohne Gnade in’ Arsch.“<br />

Das leuchtete Alfred ein. Die Franzosen blieben besser ohne<br />

Gewehre! Wenigstens musste er dann nicht auf seinen Hintern<br />

achtgeben. Das Begucken wurde schnell langweilig, denn die<br />

Männer sahen aus wie alle anderen Leute. Wenn der Stacheldraht<br />

und die Gerüchte über die bessere Verpflegung nicht gewesen<br />

wären, hätten vermutlich sogar die Erwachsenen die Gefangenen<br />

vergessen.<br />

87


Im Juni des Jahres 1915 stand Alfred wieder einmal quäkend –<br />

wie Else es nannte – unter der Wilhelms-Eiche, diesmal im Kreis<br />

der Großfamilie Kluge. Die jüngeren Brüder seines Vaters waren<br />

gefallen. Friedrich Georg war unverheiratet gewesen, Ernst<br />

Eduard jedoch hinterließ eine Frau und vier Kinder. Alfred<br />

schluchzte hinreichend für alle, die keine Tränen hatten oder sie<br />

zurückhielten. Er erhielt deshalb fast mehr Zuspruch als die<br />

Witwe.<br />

Der Krieg machte sich inzwischen im täglichen Leben<br />

empfindlich bemerkbar, vor allem bei den Ärmeren. Zu Beginn<br />

des Jahres waren Brotkarten eingeführt worden und solche ’zur<br />

Empfangnahme von Butter, Margarine – Pflanzenfett’. 5 Rose markierte<br />

das Brot auf der Rückseite. Dennoch fehlte immer wieder ein<br />

Stück und keins der Kinder wollte es gewesen sein. Zuletzt<br />

schloss sie das Brot in der Truhe ein und nahm den Schlüssel<br />

überallhin mit.<br />

Auch Seife wurde rationiert. Almas duftendes Weihnachtsgeschenk<br />

lag noch unberührt zwischen der Bettwäsche im<br />

Schrank – jedenfalls dachte Rose das. Als sie sich eines Tages<br />

entschloss, die kostbare Reserve für das Einreiben stark<br />

verschmutzter Wäsche zu verwenden, suchte sie jedoch<br />

vergeblich danach. „Wer von euch war an der Seefe?“, fragte sie,<br />

als die Mädchen aus der Schule kamen. Else und Lydia blickten<br />

verständnislos, Hilde dagegen rief, sie habe etwas vergessen und<br />

müsse noch mal …<br />

Rose erwischte und schüttelte sie. „Wo is die Seefe?“<br />

Hilde schwieg verstockt, aber Lydia ging plötzlich ein Licht auf.<br />

Sie verschwand in der Schlafkammer und kam mit einem Kamm<br />

und einem Handspiegel zurück. „Ich hab mich gewundert, woher<br />

Hilde das Zeug hat“, rief sie empört und hielt beides empor. „Nu<br />

weeß ich’s.“<br />

88


Es stellte sich heraus, dass Hilde die Seife bei der Weidauer-<br />

Tochter gegen Kamm und Spiegel eingetauscht hatte. Anna<br />

versohlte Hilde den Hintern, sperrte sie in die Kammer ein und<br />

strich ihr das Abendbrot. Aber das brachte den kostbaren Besitz<br />

nicht zurück und der Trödelkram – denn etwas anderes war es<br />

nicht – ließ sich nicht versetzen.<br />

Die vierjährige Frida war während des Strafgerichts unter den<br />

Tisch geflohen, dessen Schutz sie nun ganz allein genoss, denn<br />

auch Otto ging inzwischen zur Schule. Sie verstand nicht, was<br />

geschah, aber die zornige Mutter erschreckte sie. Dass Hilde<br />

nichts zu essen kriegen sollte, begriff sie allerdings schon. Von<br />

diesem Teil der Strafe nahm Rose jedoch am Abend Abstand.<br />

Mehr als eine Brotschnitte mit ungesüßtem Apfelmus kriegten die<br />

Kinder ja nicht und mit leerem Magen fiel schon Erwachsenen<br />

das Einschlafen schwer, um wie viel mehr erst Kindern.<br />

Zur Zeit der Kartoffelernte ereignete sich auf einem Feld hinter<br />

Naundorf Furchtbares. Alfred hatte es von Ewald erfahren, der<br />

die Nachricht aus der Nachtschicht mitbrachte, und posaunte nun<br />

stolz in der Schule herum: „Die hahm Beckern abjemurkst!“<br />

Keiner glaubte ihm, aber bis Mittag wurde es traurige Gewissheit.<br />

Um die noch nicht abgeernteten Felder vor Dieben zu schützen,<br />

waren die alten Männer des Dorfes vom Gemeindevorsteher<br />

beauftragt worden, nachts zu wachen. Dem alten Becker war ein<br />

Kartoffelfeld zugeteilt worden. Weil die von der Grube<br />

Heimkehrenden stets den kürzeren Weg quer über die Felder<br />

nahmen, hatten sie den Alten gefunden – erschlagen. Vielleicht<br />

wären die Schuldigen nie entdeckt worden, wenn nicht der dürre<br />

Klaus in eben jener Nacht auf eigene Faust Wachmann gespielt<br />

hätte.<br />

89


„Hawwes jeseh’n! Hawwes jeseh’n! ”, trompetete er in aller Frühe<br />

vor Kassaus Haus. Der Gendarm – in Hemd und Unterhose –<br />

wurde aus Klausis verworrener Geschichte nicht klug, begriff<br />

nur, dass irgendwo irgendjemand tot herumlag. Erst Ernst Kluges<br />

Meldung brachte Licht ins Dunkel. Der dürre Klaus führte<br />

Kassau und den Ortsvorsteher nun aufs Feld, wo einer der<br />

Kumpel bei Beckers Leiche Wache hielt. „Na und, Klaus?“,<br />

bohrte Kassau. „Wen hast du gesehen?“<br />

Klausi griente, machte kehrt und stampfte auf das<br />

Gefangenenlager zu.<br />

Letztendlich kam heraus: Zwei Franzosen aus der ’Stacheldraht-<br />

Kolonie’, wie die Naundorfer das Lager nannten, hatten einen<br />

Weg durch den Zaun gefunden und waren von Becker beim<br />

Kartoffelbuddeln erwischt worden. Einer gegen zwei, das konnte<br />

natürlich nicht gut ausgehen. Die kampferprobten Soldaten<br />

hatten ihn nicht umbringen wollen, aber zu kräftig zugeschlagen<br />

und dem alten Mann das Lebenslicht ausgelöscht.<br />

Plötzlich befand sich der Krieg mitten im Dorf. Hier deutsch, da<br />

französisch – und zumeist gnadenloser Hass auf deutscher Seite!<br />

„Gleich abmurksen!“, verlangten die einen. „Vors Kriegsgericht!“,<br />

rieten die Besonnenen.<br />

Nur die alten Frauen murmelten: „Ach, die Ärmsten! Die<br />

hungern eben ooch. Nischt is mit Sonderverpflegung. Hätt’<br />

Becker se doch klauen lassen, dann wär’ er ooch noch am<br />

Leben.“<br />

Pastor Redlich nahm die Tat zum Anlass, im Religionsunterricht<br />

der Großen über das fünfte Gebot zu sprechen: ’Du sollst nicht<br />

töten’. Natürlich klammerte er das länderübergreifende Morden<br />

aus – das war ja etwas ganz anderes: Da kämpfte Gott mit,<br />

selbstverständlich auf Seiten der Deutschen!<br />

90


„Siehste, ich hatte recht“, sagte Else zu Alfred. „Wenn die<br />

Franzosn Gewehre gehabt hätt’n, hätt’n se Beckern in Arsch<br />

geschossen. Und nu wern’se selber ooch ä Kopp kürzer<br />

gemacht.“<br />

In der Grube ’Kamerad’ weigerten sich die Kumpel, mit den<br />

Gefangenen gemeinsam zu arbeiten. Erst eine energische<br />

Verlautbarung der Grubenverwaltung unter Androhung des<br />

Kriegsgerichtes brachte die Männer zur Vernunft. Die Wachen<br />

um das Gefangenenlager wurden verstärkt, weil zu befürchten<br />

stand, dass die Naundorfer die Baracken stürmen könnten. Doch<br />

die Aufregung legte sich schnell, nicht zuletzt deshalb, weil die<br />

Sorge um die eigene Lebenslage ständig zunahm.<br />

Rose hob viel häufiger Gräber aus als zuvor, denn vornehmlich<br />

die Alten verloren Lebensmut und Kraft und starben in aller<br />

Stille. Weihnachten ging sang- und klanglos vorüber.<br />

Im Januar 1916 wurde Lehrer Richter wiederum zum<br />

militärischen Lehrgang eingezogen. Hauptlehrer Neuhaus<br />

verzichtete diesmal auf eine Eingabe und schickte die verwaisten<br />

unteren Schulgruppen zum staatlich verordneten Sammeln von<br />

Buntmetall, denn vier Gruppen zur gleichen Zeit konnte er nicht<br />

unter einen Hut bringen. Die Kinder sammelten mit Eifer und<br />

Einfallsreichtum: Sie stahlen den Großeltern die Nachttöpfe<br />

unterm Bett weg und den Müttern die Blechtöpfe aus dem Regal.<br />

Natürlich wurden auch die oberen Klassen zum Sammeln<br />

angehalten. Alfred schleppte den löchrigen Eisentopf an, aus<br />

dem der Hund gefressen hatte, ehe er – von ihm reichlich<br />

beweint – an Altersschwäche gestorben war.<br />

„Wir hahm nischt“, erklärte Else lauthals in der Schule und damit<br />

war die Sache für sie erledigt. Lydia entdeckte jedoch in Althoffs<br />

Scheune einen Topfdeckel und war glücklich, dass die Kinder des<br />

91


Bauern ihr nicht zuvorgekommen waren. Dreizehn Zentner<br />

Alteisen türmten sich zuletzt in der Schule.<br />

Als Rose am letzten Tag der Aktion vom Wäschewaschen bei<br />

Kunzes nach Hause kam, empfing sie bedrückte Stille. „Is was<br />

passiert?“, fragte sie und setzte beunruhigt hinzu: „Is was mit<br />

Hilde?“ Die war nämlich wieder mal nicht daheim.<br />

„Nee!“, sagte Else schnell, „der geht's gut, aber …“<br />

„Ich war’s nich!“, beteuerte Erich vorsorglich.<br />

„Hilde hat den Regulator abgeliefert“, platzte Lydia heraus. Roses<br />

Blick fiel auf die Wand, an der sonst die Uhr hing und sie<br />

schimpfte: „Um Himmels willen! Hat se den Verstand verlor’n?<br />

Wenn der Vater heemkommt und das Ding nich …“<br />

„Da passiert gar nischt“, fiel Else der Mutter ins Wort. „Uns tät<br />

er verkloppen, Hilde nich. Die is sein Liebling.“<br />

„Quatsch“, widersprach Rose. „Die Uhr hat er selber gekooft! Da<br />

wird er wilde, wenn die weg is.“<br />

„Und was mach’mer nu?“, rief Lydia. „Hilde hat sich<br />

verkrümelt.“<br />

„Kümmert euch um die Kleene“, befahl Rose. „Ich geh’ zu Berta<br />

Gehre. Die hat den Schulschlüssel. Die Uhr muss wieder her! Es<br />

weeß ja sonst keener mehr, wie spät’s is.“<br />

Die Frau des Postboten schlug die Hände zusammen, als Rose<br />

bei ihr auftauchte und sie den Grund für den Besuch erfuhr.<br />

„Hilde is aber ooch ein verrücktes Huhn. Mein Willy geht mit ihr<br />

in eene Klasse. Was der manchmal so erzählt.“<br />

Rose sagte, sie wolle es lieber nicht wissen. Was das Mädchen zu<br />

Hause losließe, reiche ihr. Die beiden Frauen hasteten in der<br />

Dunkelheit zum Schulhaus, das zum Glück bereits elektrisches<br />

Licht besaß. Wegen der Diebe standen die Säcke in einem der<br />

Unterrichtsräume, nicht in der Scheune.<br />

„Na, dann mal los“, seufzte die Frau des Postboten.<br />

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„Warten Sie“, sagte Rose. „Vielleicht is was zu hör’n.“<br />

Berta Gehre hatte nicht viel Hoffnung. „Wenn da was Schweres<br />

druffliegt, könn’ die Zeiger nich weiter.“ Beide lauschten in die<br />

Stille … nichts! Nun legte Rose das Ohr auf jeden Sack und bei<br />

Nummer zehn rief sie: „Hier isse drin!“ Ein Schnarren war zu<br />

hören …<br />

Die Uhr lag mit dem Zifferblatt nach unten auf der Öffnung<br />

eines alten Topfes. Das hatte es den Zeigern ermöglicht, sich zu<br />

bewegen. Die Ketten waren auch noch dran, allerdings fehlten die<br />

Gewichte und deshalb mussten die Frauen das sperrige Eisenund<br />

Blechzeug Stück für Stück aus dem Sack holen, ehe sie die<br />

Zapfen fanden. Erleichtert trug Rose die von ihr so oft<br />

verwünschte Uhr heim, wo Hilde sich inzwischen eingefunden<br />

hatte. „Du Dussel, was haste dir denn dabei gedacht?“, schimpfte<br />

Rose und hängte den Regulator an den alten Platz zurück.<br />

„Na, du hast immer gesagt, die is kaputt“, maulte Hilde.<br />

„Und wenn! Die Uhr gehört’m Vater. Du kannst nich<br />

verschenk’n, was nich deins is. Und noch eens!“ Rose hob den<br />

Zeigefinger und schnitt damit energisch die Luft in zwei Teile.<br />

„Mit der Uhr wird keener totgeschoss’n! Was denkt ihr denn, was<br />

die aus’m Zeug machen, das ihr sammelt? Gewehr- und<br />

Kanonenkugeln! Und damit schießen se nich uff Spatzen,<br />

sondern uff Menschen!“<br />

Lydia hätte nun gern den Topfdeckel zurückgehabt und Else war<br />

froh, dass sie sich gar nicht erst die Mühe gemacht hatte, nach<br />

Eisen zu suchen. Erich aber dachte: „Drei Nägel und ’ne<br />

Schraube, das reecht nich für ’ne Kugel“, und fühlte sich deshalb<br />

frei von jeder Tötungsschuld.<br />

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Die Autorinnen<br />

bedanken sich für Ihr<br />

Interesse!<br />

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