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Rosa Seekuh

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-minu<br />

DIE ROSA<br />

SEEKUH<br />

ROMAN


-minu<br />

DIE ROSA<br />

SEEKUH<br />

Friedrich Reinhardt Verlag, Basel


Alle Rechte vorbehalten<br />

© 2019 Friedrich Reinhardt Verlag, Basel<br />

Lektorat: Beatrice Rubin<br />

Cover und Layout: Franziska Scheibler<br />

ISBN 978-3-7245-2361-1<br />

Der Friedrich Reinhardt Verlag wird vom Bundesamt für<br />

Kultur mit einem Strukturbeitrage für die Jahre 2016–2020<br />

unterstützt.<br />

www.reinhardt.ch


Keine Politik –<br />

nur Küsse<br />

Meine Primarnoten gaben Anlsass zur Hoffnung auf Grosses.<br />

So sahen es zumindest die Erwachsenen.<br />

«Andrea ist prädestiniert für die akademische Laufbahn –<br />

vermutlich ein Philosoph. Oder ein Schauspieler …», legte<br />

Lehrer Raupe bei meinen Eltern noch einen drauf …<br />

Ich hatte ihn vor allem immer wieder durch meine Aufsätze<br />

verblüfft. Der Erguss zum Thema «Ich bin eine Biene» war<br />

27 Seiten stark. Dabei ging ich weniger auf das fachlich<br />

Biologische von Biene, Blütenstaub und Honig ein. Nein. Ich<br />

personalisierte die Protagonistin. Und beschrieb mich als<br />

grosse Königin, welche die Arbeiterinnen tyrannisierte. Und<br />

die Männchen abstach.<br />

Lehrer Raupe benotete mit «sehr gut – aber etwas am<br />

Thema vorbei».<br />

Mein Vater, der jetzt nicht nur bei allen seinen Frauen,<br />

sondern auch in der Politik sehr aktiv war, sah bereits den<br />

künftigen Führer seiner Partei in mir. «Ich habe da die Wege<br />

vorbereitet, Andrea», flüsterte er mir immer wieder zu,<br />

«vertraue auf die Beziehungen deines Alten. Wir brauchen in<br />

der Regierung gescheite Köpfe wie dich …»<br />

Mutter fixierte dann ihren Gatten eisig: «Er hat eben Mal<br />

den zehnten Geburtstag gefeiert, Karl! Lass ihn einfach noch<br />

Kind sein. Übrigens habe ich ihn bereits in m e i n e r Partei<br />

angemeldet …»<br />

Mein Vater stand politisch bei den Sozialdemokraten<br />

links-aussen. Meine Mutter liebäugelte mit dem rechten Flügel<br />

der Liberalen. Die Mittagessen waren ein Pingpong-Match<br />

über dem Spinat:<br />

«Ihr Rechtswixer!»<br />

«Sozialistenpack!»<br />

«Blutsauger …»<br />

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«Revoluzzer!»<br />

Ich hätte gerne auch etwas zum Tag sagen wollen.<br />

Etwa, dass ich auf dem Schulweg einen Jesuskäfer auf<br />

einem Heckenblatt beobachtet hatte. Oder dass ich im Turnen<br />

lieber mit den Mädchen Seil hüpfen würde, als mit den Buben<br />

Fussball zu spielen.<br />

Aber ich kam nie zu Wort.<br />

Ich habe schon früh gemerkt, dass das Volk in der Politik<br />

nichts zu sagen hat.<br />

Einige Jahre später schon hatte Carlotta den Vater links<br />

überholt. Diskutiert wurde dennoch immer noch heftig –<br />

einfach auf vertauschten Seiten.<br />

ICH SASS IMMER NOCH STUMM AM TISCH. UND<br />

SCHWOR MIR: «NIE IN DIE POLITIK!»<br />

Den Schwur habe ich gehalten.<br />

Die «Ménage-à-trois» reichte meinem Vater nicht mehr. Er<br />

baute den Harem aus. Immer mehr fremde Tanten gingen<br />

jetzt im Haus ein und aus. Sie wirbelten leicht hysterisch<br />

herum. Und brachten das grosse Durcheinander.<br />

Meine Mutter hat dieser Hühnerhof nie gross gestört. Sie<br />

hiess die Frauen herzlich willkommen. Beruhigte oft auch<br />

deren misstrauische Ehemänner. («Ach, da steckt doch nichts<br />

dahinter … Karl ist eben ein Charmeur!»)<br />

Ihre Schwester Trude aber litt.<br />

Sie machte ihrem Schwager hysterische Szenen. «Schämst<br />

du dich eigentlich nicht … du schleppst hier jeden Rock an …<br />

das ist unter aller Sau … und dann verlangst du noch, dass wir<br />

zu diesen Schlampen nett sind. DU HAST DOCH ZÜNFTIG<br />

EINEN AM BOUQUET …!»<br />

Omama Luggi sah sich in ihren Prophezeiungen bestätigt.<br />

Und triumphierte: «Ich hab’s ja immer gesagt … ein windiger<br />

Hund!».<br />

Nur Carlotta blieb gelassen: «Was wollt ihr eigentlich? Karl<br />

wird ein Leben lang auf der Suche sein. Und immer mit dem<br />

Schwanz wedeln. Doch wie jeder Hund kehrt auch er immer<br />

wieder an seinen Napf zurück …»<br />

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Trude konnte die Gelassenheit ihrer Schwester nicht<br />

akzeptieren. Sie kochte: «Du musst etwas unternehmen,<br />

Carlotta …»<br />

Doch Mutter unternahm gar nichts. Sie organisierte sogar<br />

das Freundinnenleben meines Vaters nach einer eigenen<br />

Agenda. Sie sagte, wann er mit welcher dieser Frauen in die<br />

Ferien zu gehen habe. Sie ermahnte ihn auch, wenn er eine<br />

Verabredung zu einem Nachtessen zu verpennen drohte. Und<br />

sie organisierte Blumen zum Geburtstag der Weiber. Oder<br />

zum 4. Freundschaftstag.<br />

«Es war eifacher so», erklärte sie im Flugzeug nach Los<br />

Angeles «im Grunde genommen war dein Vater nämlich recht<br />

ungeschickt im Umgang mit Frauen. Es fehlte ihm die Übersicht.<br />

Nie wäre Karl alleine heil aus diesem Chaos herausgekommen.<br />

Und da war es nur sinnvoll, dass ich die Fäden in<br />

die Hand nahm. Und ihn führte …»<br />

Ich war jetzt im Gymnasium. Und verdiente mir mein Sackgeld,<br />

indem ich Vialone-Reis aus 50 Kilo-Säcken in kleine<br />

Pfundbeutel abwog. Ich trug Waren aus oder ordnete die<br />

Flaschen im alten Weinkeller nach Jahrgängen. Und klaute<br />

schon mal einen Fünfliber aus der Ladenkasse.<br />

Langsam begann ich, mein eigenes Leben zu leben.<br />

Als Dreizehnjähriger hatte ich meinen ersten sexuellen<br />

Kontakt zu einem Mann. Es war ein Spanier. Pablo. Und er<br />

war Kunde in unserm Geschäft.<br />

Jeden Samstag schleppte ich ihm eine Lieferung heim: ein<br />

Pfund vom spanischen Serrano Schinken, sechs Flaschen<br />

Rioja – und diese Seife, die Trude eigens aus Barcelona für<br />

Pablo kommen liess. Sie hiess Maja. Und sie war in schwarz<br />

gefälteltes Papier verpackt.<br />

Ich liebte das Parfum dieser Seife – liebte auch ihren Duft<br />

auf Pablos Körper.<br />

Er nannte mich «Papagayo» – weil ich während des Liebesspiels<br />

immer wieder seine Koseworte nachplapperte. Aber was<br />

hätte ich sonst sagen sollen?<br />

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Heute sind Dreizehnjährige dank Internet und Frühfranzösisch<br />

sexuell wie sprachlich früher voran. Wir aber mussten<br />

das Terrain Schritt für Schritt erforschen.<br />

Das tönt jetzt alles sehr süss, sehr nach Maja-Duft und<br />

pubertärer Schwüle. War es aber nicht. Ich war ganz einfach<br />

nur glücklich, endlich jemanden gefunden zu haben, der mir<br />

Liebe schenken konnte – bedingungslos. Sex war nicht<br />

wichtig. Die Umarmungen, die Küsse, die Zärtlichkeit – das<br />

zählte.<br />

SPANIER SIND GROSSARTIGE KÜSSER.<br />

Mit der Zeit vergass ich ihn. Doch als ich nach etwa drei<br />

Jahrzehnten in einem Kosmetikgeschäft in Barcelona plötzlich<br />

wieder dieses Maja-Parfum einatmete – da war ich elektrisiert.<br />

Alle Erinnerungen erwachten explosionsartig. Sie<br />

brachten mir nicht etwa Pablos Gesicht zurück. Auch nicht<br />

seinen Körper. Sondern diesen Seifenduft, der für mich<br />

immer mit Liebe und Küssen verbunden ist.<br />

Die ganze Geschichte dauerte damals etwa ein Jahr. Daneben<br />

hatte ich auch eine rein sexuelle, aber total unemotionale<br />

Berziehung zum Sohn unseres Buchhalters. Er hiess Gilles.<br />

Wohnte vis-à-vis. Wenn er am Fenster mit der Taschenlampe<br />

blinkte, hiess das: Die Alten sind weg – freie Fahrt!<br />

ICH NICHTS WIE RÜBER.<br />

Der Sex mit Gilles war rein mechanisch, pure Geilheit –<br />

Spielereien zweier pubertierender Burschen.<br />

Manchmal schaute mich Carlotta schräg an: «Du hast<br />

schwarze Ringe unter den Augen – das gefällt mir nicht.»<br />

«Mir gefällt vieles auch nicht», sagte ich nur.<br />

Sie seufzte dann. Sie wusste, dass ich der Familie entglitten<br />

war. Und dass sie es verpasst hatten, mich besser anzubinden …<br />

Eines Tages – ich war jetzt knapp fünfzehn – riefen mich<br />

Carlotta und Karl zu sich in die Stube: «Wir müssen mit dir<br />

reden!»<br />

Ein paar Mal war ich nachts nicht nach Hause gekommen.<br />

Das hatte sie alarmiert.<br />

Mein Vater richtete den Blick jetzt auf mich.<br />

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«… Andrea, deiner Mutter und mir ist es egal, ob du<br />

Männer liebst. Oder ob du Frauen liebst. Aber wir möchten,<br />

dass du deine Freunde und Bettgefährten immer zu uns nach<br />

Hause bringst …»<br />

Das war 1961.<br />

So viel Toleranz war damals selten. Nur war mir das nicht<br />

bewusst. Für mich war «ein homosexuelles Leben zu leben»<br />

etwas ganz Normales. Schuld für eine solche Unbekümmertheit<br />

hatte sicher auch das nicht orthodoxe Familienleben um<br />

mich herum.<br />

In der Schule hatte mich unser Klassenprimus während der<br />

Lateinstunde, als ich den Deckel meiner Puderdose mit<br />

lautem Knall zuschnappen liess, genervt vor der ganzen<br />

Klasse gefragt. «Bist du eigentlich schwul?»<br />

«Aber sicher doch!»<br />

Damit war die Geschichte gegessen. Kein Thema mehr.<br />

Selbst die Lehrer gewöhnten sich an das seltsame Wesen, das<br />

im Englischunterricht seine Strickarbeit aus einer Gobelintasche<br />

herausschälte und während des Übersetzens mit den<br />

Nadeln drauflosklapperte.<br />

Und sie schluckten es, dass ich beim Turnen fehlte, da<br />

ich – wie ich ihnen zuflüsterte – meine Tage hatte.<br />

Dafür brachte ich am Samstag dann selbst gebackene<br />

Linzerschnitten für die ganze Klasse mit.<br />

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Andrea kommt rosa zur Welt. In seiner Geburtsstadt<br />

werden frisch geborene Buben in «<strong>Rosa</strong>» gewickelt –<br />

weltweit ein Unikum. «Ein starker Junge!», freut sich<br />

sein Vater. Es ist einer der rosigen Irrtümer, die Andrea<br />

ein Leben lang begleiten sollten. Andrea will alles<br />

andere als ein Junge sein. Und stark schon gar nicht.<br />

Der dickliche Jüngling hungert sich von Liebhaber zu<br />

Liebhaber. Er hungert vor allem nach Zuneigung. Seine<br />

Mutter ist ein Leben lang mit Geld und Aktien kursen<br />

beschäftigt, sein bergsüchtiger Vater wird von zwei<br />

Frauen und einem Stall voller Freundinnen auf Trab<br />

gehalten. Andrea sucht sich die Wärme anderswo. In<br />

Bars. In Parks. Mal bei seinem Tänzer-Idol Nurejew.<br />

Dann bei einem Hotelier-Sohn in Paris. Meistens aber<br />

bleibt es beim Schnellsex. Und beim schlechten Gefühl<br />

danach. Ein römischer Taxichauffeur entführt ihn in<br />

die Via Appia Antica. Er legt Andrea auf der Kühlerhaube<br />

flach. «Lamantino … lamantino», keucht der<br />

verschwitzte Mann. Andrea legt geschmeichelt einen<br />

Zacken zu. Und schlägt später im Lexikon nach:<br />

«Lamantino – DIE SEEKUH».<br />

In seinem ersten Roman verwebt -minu geschickt<br />

wahre Begebenheiten mit erfundenen Geschichten.<br />

«Die rosa <strong>Seekuh</strong>» beschreibt das Leben einer skurrilen<br />

Familie der 50er-Jahre, in welcher seit Generationen<br />

nur die Frauen das Sagen haben und ein kleiner Junge<br />

zur schrillen Diva heranwächst. Der Bub mischt die<br />

Szene auf – und muss bald einmal merken, dass das<br />

Leben nicht nur rosa ist.<br />

ISBN 978-3-7245-2361-1

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