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WeltBlick 3/2019

»Ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen«

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INTERVIEW: GERD HERZOG<br />

ÜBERSETZUNG: SABINE ERDMANN-KUTNEVIC (BROT FÜR DIE WELT)<br />

Was ist das Besondere an den Wolgagemeinden?<br />

OLEG STULBERG: Jede Gemeinde hat ihre besondere Prägung,<br />

eng verbunden mit ihrem Ort und dessen Geschichte.<br />

In Wolgograd habe ich eine Brüdergemeine, eine eher konservative<br />

Gemeinde. Aber die Ansichten ändern sich; die<br />

Gemeinden verstehen, dass man auf heutige Herausforderungen<br />

reagieren muss. Wenn man ausschließlich konservative<br />

Ansichten weitertrüge, würde man sich verschließen.<br />

Man muss sich aber in die Gesellschaft öffnen. Gerade weil<br />

wir eine ganz kleine Minderheit sind. Die russisch-orthodoxe<br />

Kirche ist die Mehrheitskirche. Deswegen bekommen<br />

wir auch – anders als die Orthodoxen – keine staatliche<br />

Unterstützung.<br />

Seit wann sind an der Wolga wieder deutschsprachige Gottesdienste<br />

erlaubt?<br />

OLEG STULBERG: Zu sowjetischer Zeit gab es zwar private<br />

Gebetsgruppen; die Menschen trafen sich und haben auf<br />

Deutsch gebetet. Erlaubt war das aber nicht. Erst in den<br />

1990er Jahren, mit der Perestroika, änderte sich die staatliche<br />

Politik. Damals wurden die Hauskreise aufgefordert,<br />

aus dem Untergrund hervorzukommen und sich offiziell<br />

registrieren zu lassen. Einerseits war dies ein Zeichen der<br />

Anerkennung, andererseits wollte der Staat auf diese Weise<br />

die Kontrolle gewinnen. Und die Kontrolle hat in den letzten<br />

Jahren zugenommen. Laut Gesetz von 2013 gelten Nichtregierungsorganisationen<br />

als Auslandsagenten. Das wirkt sich<br />

auch auf die Gemeinden aus. Sie müssen sehr genau<br />

schauen, wie sie in diesem Spannungsfeld agieren.<br />

Welche Rolle spielen dabei die Partnerschaften mit deutschen<br />

Kirchengemeinden?<br />

OLEG STULBERG: Unabhängig von ihren historischen Wurzeln<br />

hat heute jede Gemeinde eigene Projekte und Aktivitäten.<br />

Das eröffnet die Chance, neue Kontakte zu knüpfen. Zu<br />

ihren deutschen Partnern und zu anderen Engagierten vor<br />

Ort. In Wolgograd wird zum Beispiel gerade ein Weiterbildungszentrum<br />

aufgebaut. Zu den Seminaren, die dort stattfinden,<br />

kommen häufig Referenten aus Deutschland. Dann<br />

nutzen wir beide Sprachen, Deutsch und Russisch. Es ist<br />

ganz wichtig, dass niemand ausgeschlossen wird.<br />

Wie reagieren die Älteren auf diese Entwicklung?<br />

OLEG STULBERG: In Wolgograd haben noch viele Gemeindeglieder<br />

die Unterdrückung der Wolgadeutschen unter<br />

Stalin miterlebt. Für sie und ihre Identität ist es zum Beispiel<br />

sehr wichtig, das Vaterunser auf Deutsch zu beten. Da<br />

ist Wolgograd sicher anders als beispielsweise die<br />

Gemeinde in Elista oder andere Gemeinden in Kalmückien.<br />

Als ich 2003 als Pfarrer nach Wolgograd kam, bestand die<br />

Gemeinde aus sehr vielen älteren Frauen, die noch Deutsch<br />

sprachen. Sie kämpften darum, dass auch der Gottesdienst<br />

weiter in deutscher Sprache gehalten wurde. Dadurch entstanden<br />

Konflikte mit jenen, die neu in die Gemeinde<br />

kamen. Der Kompromiss waren zweisprachige Gottesdienste:<br />

Gepredigt wird auf Russisch, die Liturgie wird aber<br />

auch auf Deutsch abgehalten. Natürlich gilt: Partnerschaft<br />

und Verbindung nach Deutschland sind sehr eng – wegen<br />

der deutschen Wurzeln unserer Kirche und wegen der vielen<br />

Gemeindeglieder mit deutschen Wurzeln.<br />

Wo liegen Ihre Wurzeln?<br />

OLEG STULBERG: Das ist nicht ganz einfach. Geboren bin<br />

ich in der früheren Sowjetrepublik Tadschikistan an der<br />

Grenze zu Afghanistan. Meine Großeltern, Deutsche von<br />

der Wolga und aus der Ukraine, wurden 1941 nach Kasachstan<br />

deportiert. Die Verwandten meiner Mutter blieben in<br />

Kasachstan. Mein Großvater väterlicherseits war Ingenieur;<br />

er wurde in ein Wasserkraftwerk nach Zentralasien versetzt.<br />

Meine Eltern lernten sich kennen, als mein Vater seinen<br />

Militärdienst in Kasachstan leistete. Nach seiner Entlassung<br />

nahm er meine Mutter mit nach Duschanbe, der Hauptstadt<br />

Tadschikistans. Er starb bei einem Arbeitsunfall, als ich<br />

noch ein kleines Kind war. Ende der 1980er Jahre sind viele<br />

aus meiner Familie nach Deutschland ausgereist, zunächst<br />

die Verwandten meines Vaters, später auch die Verwandten<br />

OrtsTermin<br />

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