09.01.2020 Aufrufe

Leseprobe: Sibelius Biografie

In Deutschland vor allem als 'finnischer Nationalkomponist' wahrgenommen, ist Jean Sibelius (geb. am 8. Dezember 1865) eher eine Gestalt europäischen Formats, der neben Mahler bedeutendste Sinfoniker des 20. Jahrhunderts. Mit Hilfe allgemeinverständlicher Werkeinführungen und bislang nicht übersetzter Primärquellen erzählt der Musikjournalist Volker Tarnow die Geschichte eines Originalgenies zwischen Romantik und Moderne, nordischer Naturmystik und Berliner Bohème.

In Deutschland vor allem als 'finnischer Nationalkomponist' wahrgenommen, ist Jean Sibelius (geb. am 8. Dezember 1865) eher eine Gestalt europäischen Formats, der neben Mahler bedeutendste Sinfoniker des 20. Jahrhunderts. Mit Hilfe allgemeinverständlicher Werkeinführungen und bislang nicht übersetzter Primärquellen erzählt der Musikjournalist Volker Tarnow die Geschichte eines Originalgenies zwischen Romantik und Moderne, nordischer Naturmystik und Berliner Bohème.

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dem sie entstanden. Er hatte 1894, am Beginn seiner akademischen<br />

Laufbahn, eine Promotionskantate abgeliefert – unwesentliche<br />

Musik auf einen unwesentlichen Text. Wichtig war nur, den Erwartungen<br />

der Universitätsleitung zu entsprechen. Das galt erst recht<br />

1896, als eine Festanstellung in greifbare Nähe rückte. Das heikle<br />

Thema störte <strong>Sibelius</strong> offenbar wenig; im November veranstaltete<br />

die Universität Helsingfors einen Festakt zu Ehren ihres vormaligen<br />

Kanzlers, des nunmehr zum Zaren gekrönten Nikolai II. Die<br />

obligatorische Krönungskantate durfte <strong>Sibelius</strong> komponieren, sie<br />

wurde – neben seiner Probevorlesung über Volksmusik und Kunstmusik<br />

– als inoffizielles Bewerbungsschreiben gewertet. Der Textlieferant,<br />

ein verdienstvoller Shakespeare-Übersetzer, schob später<br />

<strong>Sibelius</strong> die Schuld an den hirnverbrannten Zeilen zu, mit denen<br />

dem neuen und wie sich zeigen sollte schlimmsten Unterdrücker<br />

Finnlands gehuldigt wurde; angeblich forderte der Komponist den<br />

Texter auf, so viel Pomp wie möglich aufzubieten. Er selbst entledigte<br />

sich der Aufgabe im Schnellverfahren, und die Uraufführung ließ<br />

nur deswegen aufhorchen, weil ein betrunkener Tubaspieler die<br />

Kantate mit freien Improvisationen würzte. Die Entgleisung wurde<br />

dem Dirigenten <strong>Sibelius</strong> angelastet, und zwar von seinem Konkurrenten<br />

Kajanus. Der konnte sich nicht damit abfinden, dass die Autoritäten<br />

der Universität mit fünfundzwanzig zu drei Stimmen für<br />

<strong>Sibelius</strong> als Musikdirektor votiert hatten, und setzte alle Hebel in<br />

Bewegung, um die Entscheidung zu korrigieren. Er ging mit der Geschichte<br />

vom besoffenen Tubaspieler hausieren, drang sogar in die<br />

Vorhöhle des Löwen ein, dem russischen Staatsminister für Finnland.<br />

Sankt Petersburg kassierte die Abstimmung der Universität<br />

und ernannte den Kläger zum Musikdirektor – was für ein diplomatischer<br />

Coup, was für ein Verrat an der Freundschaft! <strong>Sibelius</strong> hat<br />

Kajanus die Intrige nie verziehen, gab ihm aber auch nie den Laufpass.<br />

Darin lag für Kajanus vielleicht die größte Strafe: dass ihn sein<br />

Engagement für die Musik eines anderen dazu zwang, bis zum Ende<br />

an der eigenen Bedeutungslosigkeit zu arbeiten.<br />

Eine zweite Kantate zur Magisterpromotion hatte 1897 <strong>Sibelius</strong>’<br />

Verbundenheit mit der Universität erneut unterstrichen. Sie erwies<br />

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