FOCUSINGJOURNAL 38
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Themen<br />
se eigenen Erfahrungen neu und so auszudrücken,<br />
dass sie auch von anderen verstanden<br />
und nachvollzogen werden können.<br />
Debatten über das Für und Wider konzeptueller<br />
Positionen und wie sie sich begrifflich<br />
voneinander unterscheiden und<br />
gegeneinander abgrenzen, scheinen mir<br />
aber wenig produktiv zu sein. Ich glaube<br />
nicht, dass sich Carl Rogers – wenn man<br />
sich schon auf ihn als eine Art letzter Instanz<br />
beziehen will – an derartigen exegetischen<br />
Auseinandersetzungen selbst gerne beteiligt<br />
hätte. Hat nicht gerade er uns aufgefordert,<br />
unsere je eigenen Erfahrungen als oberste<br />
Autorität anzuerkennen, und hat nicht<br />
gerade er uns ermutigt, diese Erfahrungen<br />
selbstständig zu formulieren und so anderen<br />
zugänglich zu machen? Natürlich muss<br />
die Frage, was denn eigentlich »klientenzentriert«<br />
oder »personorientiert« sei, unter<br />
uns ständig virulent bleiben. Es scheint mir<br />
aber zu einfach und eben gerade nicht dem<br />
Wesen des klientenzentrierten Ansatzes zu<br />
entsprechen, diese Frage auf dem Feld der<br />
Konzepte zu entscheiden.<br />
Ich glaube, und jedenfalls hoffe ich es,<br />
dass es unter personorientierten Menschen<br />
eine Selbstverständlichkeit ist, Begriffe und<br />
Konzepte an sich für wertlos anzusehen.<br />
Schon der Philosoph und Psychologe William<br />
James, dessen Gedanken Wegbereiter<br />
der humanistischen Psychologie waren,<br />
hat klargemacht, dass sie an sich keinen<br />
Wahrheitsanspruch haben können. Wenn<br />
sie etwas taugen sollen, müssen sie mit der<br />
unmittelbaren Erfahrung in Verbindung stehen<br />
und dieser als Werkzeuge dienen. Dieses<br />
»pragmatische« Diktum weiterführend<br />
und mit der Phänomenologie verbindend,<br />
gelangte Gendlin zu einer seiner philosophischen<br />
Kernaussagen: Konzepte werden<br />
nicht nur aus dem Erleben heraus gebildet,<br />
auch ihr Verifizieren und ihr Weiterentwickeln<br />
können nur in Wechselwirkung mit<br />
Erleben geschehen. Es ist gerade dieser subtile<br />
Prozess der Interaktion zwischen Erleben<br />
und Konzepten, der sowohl Erkenntnisfortschritt<br />
bringt als auch Lösungs- und<br />
Heilungsschritte. Das bedeutet auch, dass<br />
Begriffe in ihrer Bedeutung und Definition<br />
nicht konstant gehalten werden können und<br />
dürfen. Begriffe haben ihre Funktion in diesem<br />
Interaktionsprozess: Indem sie ihn fortsetzen,<br />
ändern sie ihre Bedeutung und/oder<br />
werden gegen neue Begriffe ausgetauscht.<br />
Dieser Prozess ist konzeptebildend<br />
und therapeutisch zugleich. Konzepte ohne<br />
»Felt-Sense-Valenz«, also solche, die die<br />
jeweils konkrete, implizit erlebte Situation<br />
nicht herein- und damit das »Ich« vor der<br />
Tür lassen, führen nicht nur zwangsläufig<br />
in eine postmoderne Beliebigkeit, letztlich<br />
zerstören sie auch den Menschen (das<br />
»Menschliche«, Lebendige, die Wirklichkeit,<br />
. . . . .) (Gendlin, 1994, p. 56 f.; Wiltschko,<br />
2011, S. 199 f.).<br />
Eine Herausforderung für die<br />
Wissenschaft<br />
Natürlich ist diese Position eine Herausforderung<br />
für das, was heute »Wissenschaft«<br />
heißt – und für den gängigen Wissenschaftsbetrieb.<br />
Der zwingende Usus, Konzepte<br />
aus Konzepten herzuleiten, Konzepte<br />
konzeptuell weiterzuentwickeln, die Spur<br />
dieser Art von Konzeptentwicklung durch<br />
Zitate und Literaturangaben zu belegen und<br />
diese Konzepte konzeptuell zu debattieren<br />
und sie bestenfalls »empirisch«, kaum aber<br />
am eigenen unmittelbaren Erleben (Erfahrung,<br />
Praxis, . . . . .) zu überprüfen, mag<br />
zwar Stoff für Kongressbeiträge und Publikationen<br />
hergeben, lässt aber kaum Luft für<br />
jenen eigenständigen Prozess des erlebensbezogenen<br />
Nachdenkens, der – vielleicht –<br />
neue, frische Aspekte zur Sprache kommen<br />
lässt. Ich denke, dass die sogenannten wissenschaftlichen<br />
Gepflogenheiten auch die<br />
Funktion haben, den Mainstream abzusichern<br />
– mit allen oft beklagten Konsequenzen<br />
der Wirklichkeits- und Praxisferne, des<br />
sich im Kreis Drehens, der Langeweile, des<br />
Mangels an Innovation.<br />
Dass Gendlin Konzepte entwickelt hat,<br />
die sich von denen Carl Rogers unterscheiden,<br />
ist seit Jahrzehnten allgemein bekannt.<br />
Muss man darüber heute noch immer diskutieren,<br />
worin diese Unterschiede bestehen<br />
und ob sie »legitim« sind? Nein! Je mehr<br />
Konzepte wir haben, um uns verständlich<br />
zu machen, was in der klientenzentrierten<br />
therapeutischen Situation geschieht, desto<br />
besser! Konzepte sind Werkzeuge, die<br />
uns helfen, ein, zwei Schritte in die erlebte<br />
Wirklichkeit »hineinzukommen« – dann<br />
haben sie ihre Schuldigkeit getan und müssen<br />
losgelassen werden. Dort, wo wir mit<br />
ihrer Hilfe angekommen sind, dort, an und<br />
aus diesem Erlebensort müssen wir wieder<br />
neue Konzepte bilden, um weiterzukommen.<br />
Nicht die einzelnen Konzepte selbst,<br />
sondern die Art und Weise, wie wir sie<br />
kreieren, der Prozess ihrer Entstehung gibt<br />
Auskunft darüber, ob jemand sich zu recht<br />
Begriffe haben ihre<br />
Funktion in diesem<br />
Interaktionsprozess:<br />
Indem sie ihn<br />
fortsetzen, ändern<br />
sie ihre Bedeutung<br />
und/oder werden<br />
gegen neue Begriffe<br />
ausgetauscht.<br />
focusing journal | heft <strong>38</strong>/2017 17