FOCUSINGJOURNAL 46
FOCUSINGJOURNAL ZEITSCHRIFT FÜR KULTUR DER ACHTS AM K EIT in der Psychotherapie, in Beratung und Coaching, im eigenen Leben, in Partnerschaften und Teams, in Organisationen und Politik – und darüber hinaus
FOCUSINGJOURNAL
ZEITSCHRIFT FÜR KULTUR DER ACHTS AM K EIT
in der Psychotherapie, in Beratung und Coaching,
im eigenen Leben, in Partnerschaften und Teams,
in Organisationen und Politik – und darüber hinaus
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FocusingJournal<br />
Zeitschrift für Kultur der Achtsamkeit<br />
Zeitschrift für Kultur der Achtsamkeit<br />
Heft <strong>46</strong>/2021<br />
Alles entspannt sich, wenn es liebevoll betrachtet wird<br />
Das fastende Herz<br />
Zu den Worten hin oder von der Sprache weg?<br />
Wie man strukturgebundenes Verhalten bei Klienten erzeugt<br />
Absichten in Wunschräume verwandeln, Teil II<br />
Lockdown – außen und innen<br />
Gene Gendlin: Zwei Felt Sense-Schnipsel
FocusingJournal<br />
Zeitschrift für Kultur der Achtsamkeit<br />
in der Psychotherapie, in Beratung und Coaching,<br />
im eigenen Leben, in Partnerschaften und Teams,<br />
in Organisationen und Politik – und darüber hinaus<br />
Inhalt<br />
Themen<br />
2 Alles entspannt sich, wenn es liebevoll betrachtet wird<br />
interview mit andrea auer-hutzinger<br />
10 Das fastende Herz<br />
von Tony Hofmann<br />
15 Zu den Worten hin oder von der Sprache weg?<br />
von peter lincoln<br />
28 Wie man strukturgebundenes Verhalten bei Klienten erzeugt<br />
von katrin tom-wiltschko<br />
31 Absichten in Wunschräume verwandeln, Teil II<br />
aus einem weiterbildungsseminar mit Johannes Wiltschko<br />
38 Lockdown – außen und innen<br />
von krimhild könig<br />
42 Gene Gendlin: Zwei Felt Sense-Schnipsel<br />
gefunden auf einer alten festplatte von johannes wiltschko<br />
Termine<br />
9 OFT: Online-Focusing-Time – kostenlos<br />
20 Wasser, Wind und Wohlfühlspur<br />
21 Focusing und ETC (Embodied Critical Thinking)<br />
22 Die Weiterbildung Basis<br />
22 Die Weiterbildungen in Prozessphilosophie<br />
23 Die Weiterbildungen in Focusing-Therapie<br />
24 40. Internationale Focusing Sommerschule 2021<br />
44 Alle Aus- und Weiterbildungen auf einen Blick
Editorial<br />
Liebe Leserin, lieber Leser,<br />
vor einiger Zeit, auf einem Kongress, kam eine von mir sehr geschätzte Kollegin auf mich<br />
zu und sagte: »Die Beiträge in eurem Focusing-Journal sind mir angesichts der globalen<br />
und nationalen Bedrohungen und Konflikte viel zu sehr auf die subjektiven Innenwelten<br />
bezogen. Wo bleiben eure Aussagen zur drohenden Klimakatastrophe, zur AfD, zu all den<br />
Ungerechtigkeiten in der Welt?«<br />
Da hat sie bei mir ins Schwarze getroffen. Zunächst jedenfalls. Das Gefühl der Ohnmacht<br />
gegenüber ökonomischen, dennoch von Menschen gemachten und bis aufs Blut verteidigten<br />
Verhältnissen – globale Ausbeutung von Menschen und »Natur« aufgrund von angeblich<br />
uns innewohnendem Wachstums- und Profitstreben, Konkurrenzverhalten und der Gier, die<br />
niemals satt wird – führt auch bei mir gelegentlich zum Rückzug in biedermeierliche Komfortzonen<br />
und verträumte Innenwelten. Obwohl ich nie der Meinung war – auch wenn es mir<br />
als ehemaliger Adept C.G. Jungscher und fernöstlicher Lehren nahegelegt wurde –, dass eine<br />
Veränderung der Verhältnisse nur durch innere Wandlung zu erreichen sei.<br />
Focusing wird manchmal so verstanden, als würde es sich dabei um eine egozentrische<br />
Nabelschau handeln, die zu sozialer Entsolidarisierung und politischem Relativismus<br />
führe. So, als wäre es eine ausschließlich nach innen gerichtete und dort nur sich selbst<br />
antreffende, kurz eine solipsistische Methode.<br />
Warum ist das ein grundfalsches Verständnis? Schon wenn man bloß die ersten Seiten<br />
von Gendlins »Ein Prozess-Modell« liest, löst sich dieses Missverständnis in Luft auf. Hier,<br />
auf dieser Seite, genügt vielleicht schon der Hinweis, dass sich der Zentralbegriff »Felt<br />
Sense« nicht auf ein »Ich« bezieht, sondern immer auf eine Situation, auf die Situation, in<br />
der sich jemand befindet. Gendlins Situationsbegriff schließ die Gesamtheit der um- und<br />
innerweltlichen »Faktoren« ein als eine spürbare Ganzheit. Na, und wenn man sich auf diese<br />
wahrnehmbare Ganzheit unmittelbar bezieht, wird man auf viel mehr, auf viel, viel mehr<br />
treffen als auf ein Ego, das nur an seinen Vorteilen interessiert ist.<br />
Das, was man dann oft unerwarteterweise bemerkt – und um das man sich nicht mehr<br />
herumdrücken kann –, geht einen etwas an, berührt einen und drängt nach einem weiteren<br />
Schritt. Und es zeigt dessen Richtung auch schon an. Eine Richtung hinaus in die Welt. In<br />
die Beziehungen, die man hat, in die Verhältnisse, in denen man lebt. Natürlich, man kann<br />
sich entscheiden, Einsichten, die gekommen sind, und Handlungsimpulsen, die sich richtig<br />
anfühlen, nicht zu folgen. Die Freiheit, die in dieser Entscheidungsmöglichkeit liegt, zu<br />
bemerken und zu würdigen, ist ein eminent politischer Akt. Ebenso wie das Bemerken und<br />
Ernstnehmen der Tatsache, dass das Nach-innen-Richten der Aufmerksamkeit ein nicht<br />
nur gedachter, sondern leibhaft gespürter Zugang zur Welt ist, zu Mitmenschen, zu allem,<br />
was ist. Und in diesem sich Vorfinden in der je eigenen Mitwelt sind Solidarität, Verantwortung<br />
und Mitgefühl schon als gefühlt enthalten. Man muss sie nicht als moralische<br />
Werte »lernen«, eingetrichtert kriegen und dann »befolgen«.<br />
Dass das so ist, setzt voraus, die Haltung und die Praxis zu leben, die zum Beispiel im<br />
und mit Focusing aufgezeigt und ermöglicht werden. Haltung und Praxis schließen als<br />
conditio die Gleichwertigkeit aller Menschen (und aller<br />
Lebewesen?) ein. Und da sage noch einer, dass Focusing als<br />
Praxis und als prozesshafte Philosophie unpolitisch sei!<br />
Felt Senses, also das Fühlen der Gesamtheit der (immer<br />
nur gegenwärtig existierenden) Situation impliziert<br />
eine ökonomisch, ökologisch und sozial auf Gerechtigkeit<br />
zielende, gewaltablehnende politische Haltung und ein<br />
ebensolches Verhalten inklusive der Freiheit, sich dafür auch<br />
tatkräftig zu engagieren.<br />
Herzliche Grüße<br />
Johannes Wiltschko<br />
Impressum<br />
Herausgeber:<br />
Prof. Dr. Johannes Wiltschko<br />
Die Akademie für Focusing,<br />
Focusing-Therapie und Prozessphilosophie<br />
Wagnergasse 6, 83410 Laufen<br />
www.daf-focusing-akademie.com<br />
Redaktion:<br />
Redaktionelle Mitarbeit:<br />
Hans Neidhardt<br />
Focusing International:<br />
Dr. Evelyn Fendler-Lee<br />
Internationale Publikationen:<br />
Dr. Tony Hofmann<br />
Textredaktion: Karin Schwind,<br />
Meggi Widmann<br />
Graphik und Bildbeschaffung:<br />
Sigrun Lenk<br />
Layout und Satz: Regina Rilz<br />
Schlussredaktion:<br />
Johannes Wiltschko<br />
Bilddnachweis:<br />
Sigrun Lenk: Cover und Seite 17,<br />
33, 34, 42<br />
Elisa Hutzinger: 4<br />
Tony Hofmann: 13<br />
Katrin Tom-Wiltschko: 29<br />
Krimhild König: 39<br />
Erscheinungsweise:<br />
zweimal jährlich (Juni, November)<br />
Einzelpreis:<br />
als E-Paper: kostenlos<br />
als Zeitschrift gedruckt und<br />
gebunden: € 15,–<br />
inkl. Porto und Versand<br />
Den Link zu diesem Heft<br />
finden Sie auf<br />
www.daf-focusing-akademie.com<br />
Ihre Beiträge mailen Sie bitte<br />
als WORD-Datei an<br />
jw@daf-focusing-akademie.com<br />
Redaktionsschluss:<br />
1. April und 1. Oktober<br />
Erscheinungsdatum dieses<br />
Heftes: Mai 2021<br />
© DAF-AKADEMIE 2021<br />
ISSN 1861-6178<br />
focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021 1
Themen<br />
Alles entspannt sich, wenn es<br />
liebevoll betrachtet wird<br />
Cranio und Focusing – warum die Methoden so gut<br />
zusammenpassen<br />
■■<br />
Interview mit Andrea Auer-Hutzinger<br />
Andrea Auer-Hutzinger praktiziert und unterrichtet Craniosacrale Biodynamik, eine besonders<br />
sanfte Weiterentwicklung der Osteopathie. Zugleich arbeitet sie als Focusing-Beraterin.<br />
Ihr Interesse gilt den Parallelen zwischen den beiden Methoden sowie möglichen Verbindungen<br />
in der Praxis. Die Physiotherapeutin Anke Zillessen arbeitet ebenfalls mit Cranio und<br />
Focusing und hat Andrea interviewt.<br />
ANKE: »Cranio und Focusing lassen sich so<br />
gut kombinieren, weil beide Methoden auf<br />
ähnlichen Grundannahmen beruhen«, so<br />
lese ich in deiner Seminarausschreibung für<br />
die Focusing-Sommerschule am Achberg.<br />
Magst du beschreiben, wo für dich die Ähnlichkeiten<br />
der beiden Methoden liegen?<br />
ANDREA: Ich fang mal mit Cranio an. Die<br />
wichtigste Grundannahme: In unserem<br />
Körper sind Fähigkeiten angelegt, sich selbst<br />
regulieren zu können, wenn die Umstände<br />
gut sind. Es gibt also eine uns innewohnende<br />
Lebenskraft, die in Richtung Heilung,<br />
Ganzheit, Balance tendiert. Was ich als Cranio-Praktizierende<br />
im Wesentlichen tue: Ich<br />
gebe dieser Selbstregulation des Körpers,<br />
dieser Lebenskraft Raum.<br />
Es gibt natürlich ganz viel Theorie, und<br />
man kann Cranio von so vielen Seiten aus<br />
erklären: Über die Rhythmen – die sogenannten<br />
craniosacralen Tides, über die<br />
Bewegung der Schädelknochen, über das<br />
Nervensystem, über den Breath of Life, die<br />
dynamische Stille, … Doch das Wesentliche<br />
ist für mich die Grundidee, dass diese<br />
Selbstregulation besonders gut funktioniert,<br />
wenn ich sie als gut eingestimmte Praktikerin<br />
begleite.<br />
Beim Focusing ist es genauso. Im Sinne<br />
der Fortsetzungsordnung besteht nicht nur<br />
körperlich, sondern auch psychisch und<br />
seelisch die Tendenz, zu einem angemesseneren<br />
Gleichgewicht zu kommen. Und auch<br />
hier ist es das Allerwirkungsvollste, wenn<br />
die Focusing-Beraterin oder -Therapeutin<br />
gut eingestimmt mit sich selbst diesen<br />
Focusing-Prozess begleitet. Da sehe ich die<br />
Parallelen – beides ist für mich ganz fundamental.<br />
ANKE: Das passt auch gut zu den Texten auf<br />
deiner Website. Dort habe ich – mit Erstaunen<br />
– folgende Sätze gelesen: »Craniosacrale<br />
Körperarbeit unterstützt bei seelischen Prozessen<br />
wie Veränderung und Entscheidung<br />
(...)«. Und zu Focusing: »(…) die in uns angelegten<br />
Selbstregulations- und Selbstheilungskräfte<br />
können uns von alten Zwängen<br />
und Mustern befreien.« Ich hätte es vielleicht<br />
genau andersherum formuliert.<br />
ANDREA: Spannend, dass du mich darauf<br />
ansprichst. Wenn ich es genau umgekehrt<br />
geschrieben hätte, hätte es genauso gestimmt!<br />
Es gibt ja so einen unglaublichen<br />
Dschungel von Methoden. Für mich ist es<br />
2 focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021
Themen<br />
essenziell, dass für die Methoden, die ich<br />
praktiziere, etwa Folgendes gilt: »Alles entspannt<br />
sich, wenn es da sein darf und wenn<br />
es liebevoll betrachtet wird.« Das stimmt für<br />
Cranio hundertprozentig und für Focusing<br />
hundertprozentig!<br />
ANKE: Ja, es geht um die Haltung einer<br />
wohlwollenden Zeugenschaft.<br />
ANDREA: Ja, genau so – und es ist gut, dass<br />
es Techniken und Vorschläge gibt – aber die<br />
Basis ist für mich die Haltung. Ich finde, bei<br />
Cranio ist sehr viel Lauschen und Zuhören.<br />
Das passt für mich so gut, weil wir beim Focusing<br />
ja auch das Listening haben. Das ist<br />
bei Cranio das eingestimmte liebevolle Lauschen<br />
im Prozess. Wahrnehmen, wie es ist,<br />
verändert oft schon ganz viel.<br />
ANKE: Beim Focusing kennen wir ja auch<br />
das Guiding. Gibt es für dich in der Craniosacralen<br />
Biodynamik etwas Entsprechendes?<br />
ANDREA: Ja, in der Cranio wäre das Guiding,<br />
wenn wir zu etwas einladen. Wie<br />
beim Focusing ist es während einer Cranio-<br />
Behandlung so, dass ich lausche – lausche<br />
– lausche … und dann zwischendurch Einladungen<br />
gebe. Als Beispiel: Ich spüre mit<br />
meinen Händen am Kopf der Klientin, dass<br />
zwei Schädelknochen zu nah beieinander<br />
sind. Die Nähte, die die Schädelknochen<br />
miteinander verbinden, fühlen sich komprimiert<br />
an, sie sind fest und gehen mit den<br />
organischen Bewegungen nicht gut mit. Ich<br />
habe dann vielleicht den inneren Impuls,<br />
einzuladen, im Sinne von »Könntest du hier<br />
mehr Raum geben?«<br />
Also ich spreche mit dem Knochen. Ich<br />
lade den Knochen ein … oder die Kontaktstelle<br />
zwischen den beiden Knochen: »Wie<br />
wäre es denn für dich, weit zu werden?« –<br />
das ist noch ein bisschen dezenter gefragt.<br />
ANKE: Eine offenere Frage …?<br />
ANDREA: Ja, weniger Aufforderung – mehr<br />
offene Frage. Und jetzt kann es sein, dass dieser<br />
Körperbereich diese offene Frage bereitwillig<br />
annimmt, weil er quasi darauf gewartet<br />
hat und nur eine Erinnerung brauchte:<br />
»Ah, es gibt auch so etwas wie weit werden.«<br />
ANKE: Ja gut … – und was ist, wenn der Körper<br />
der Klientin das nicht will? …<br />
ANDREA: Ja, es kann sein, dass das System<br />
so reagiert: »Nein, nein, sicher nicht. Jetzt<br />
nicht. Nein, das bleibt jetzt schön fest.« Und<br />
dann bleibt es erst mal so komprimiert, wie<br />
es ist.<br />
ANKE: Und dann? …<br />
ANDREA: Dann bleibe ich mit einer offenen,<br />
nicht wertenden Haltung dabei und denke:<br />
»Ah ja, es wird schon seinen Grund haben,<br />
dass es fest ist. Es hat vielleicht seine Geschichte,<br />
warum es jetzt noch nicht aufmachen<br />
kann oder will …«<br />
ANKE: Wenn du das sagst, erinnere ich mich<br />
gerade an eine Focusing-Weiterbildung bei<br />
Johannes Wiltschko – das liegt über 10 Jahre<br />
zurück. Da haben wir eine Übung im Zweier-Setting<br />
gemacht. Mein mich begleitender<br />
Übungspartner hat mir einen Vorschlag<br />
nach dem anderen gemacht und sich so viel<br />
Mühe gegeben. Und ich habe es – in der<br />
Klientin-Rolle – nicht übers Herz gebracht,<br />
ihm zu sagen, dass die Vorschläge leider alle<br />
für mich nicht passen. Johannes hatte das<br />
offenbar von Weitem mitbekommen und<br />
hat uns dann »erlöst«, indem er – mit einem<br />
Augenzwinkern – sagte: »Anke, du musst<br />
nicht jeden Käse, den man dir anbietet, essen.«<br />
(Beide lachen)<br />
ANDREA: Ja, das kann ja auch etwas Kränkendes<br />
für den Therapeuten haben, wenn<br />
die ganzen guten Ideen und Angebote nicht<br />
so gut ankommen.<br />
ANKE: Oh ja – und gleichzeitig kann das<br />
für die Klientin ja Ausdruck ihrer Selbstheilungskräfte<br />
sein, wenn sie sich den Vorschlägen<br />
der Therapeutin oder des Therapeuten<br />
freundlich widersetzt …<br />
ANDREA: Jaja, genau! … Das ist schön, mit<br />
dir so darüber zu sprechen!<br />
ANKE: Wir sind anfangs gleich mit den<br />
Parallelen der beiden Methoden in unser<br />
Interview eingestiegen. Vielleicht gibt es<br />
Leser*innen, die Cranio noch nicht kennen.<br />
Magst du beschreiben, was Craniosacrale<br />
Biodynamik ist?<br />
ANDREA: Der Ausdruck »craniosacral«<br />
kommt von den lateinischen Worten »crani-<br />
Ich spreche mit<br />
dem Knochen. Ich<br />
lade den Knochen<br />
ein …<br />
focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021 3
Themen<br />
Achtsamer Dialog: Die Hände lauschen den Bewegungen<br />
der Schädelknochen und »sprechen« mit<br />
ihnen.<br />
An- und abschwellende Cranio-Bewegungen sind<br />
im Zentrum und am gesamten Körper spürbar.<br />
Wie unglaublich viel Berührung ausmacht! Cranio-<br />
Praktizierende geben der Selbstregulierung Raum.<br />
4 focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021
Themen<br />
um« – das ist der knöcherne Schädel – und<br />
»sacrum« – das ist das Kreuzbein. Zwischen<br />
diesen beiden Polen befinden sich die zentralen<br />
Anteile des craniosacralen Systems.<br />
Das sind bestimmte Knochen, Membrane,<br />
die Gehirn- und Rückenmarksflüssigkeit –<br />
Liquor genannt – und das zentrale Nervensystem.<br />
Wir kontaktieren Rhythmen, also<br />
an- und abschwellende Bewegungen, die<br />
hier im Zentrum, aber auch am ganzen Körper<br />
wahrnehmbar sind.<br />
Nun zum Wort Biodynamik. Ich finde,<br />
es ist immer eine Herausforderung, das zu<br />
definieren. Biodynamik heißt ja eigentlich<br />
»Dynamik des Lebendigen«, und das ist<br />
etwas so Großes, dass ich Scheu habe, das<br />
festzumachen. Ich erklär‘s mal so: Andrew<br />
Lloyd Still gilt als der Begründer der Osteopathie.<br />
Er war ein sehr naturverbundener<br />
und spiritueller Mensch. Im Zentrum seiner<br />
Aufmerksamkeit stand, die Quellen der<br />
Gesundheit zu finden und nicht primär die<br />
Quellen der Krankheit.<br />
William Garner Sutherland, einer seiner<br />
Schüler, hat die Rhythmen und Bewegungen<br />
des Körpers zunächst eher mechanisch<br />
erklärt: über den Druck und das Fließen<br />
der Flüssigkeiten, die Hebelwirkungen der<br />
Knochen, die Zugspannungen der Häute<br />
und Membrane. Also eine mechanische<br />
osteopathische Sichtweise. Mit zunehmendem<br />
Alter hat sich Sutherlands Erklärung<br />
der Phänomene, die er wahrgenommen hat,<br />
aber verändert. Er hat immer mehr von einem<br />
»Breath of Life«, dem Atem des Lebens,<br />
gesprochen, der so etwas wie der zündende<br />
Funke und die Antriebskraft hinter den Bewegungen<br />
sei.<br />
Die craniosacralen Schulen, die sich<br />
nach Sutherland entwickelt haben, beziehen<br />
sich entweder eher auf seine früheren Schaffenszeiten,<br />
das sind die biomechanischen,<br />
oder auf seine späteren, das sind dann die<br />
biodynamischen Richtungen, wie du und<br />
ich sie praktizieren.<br />
ANKE: Magst du noch etwas zum »Breath of<br />
Life«, dem Atem des Lebens, sagen?<br />
ANDREA: »Breath of Life« ist eine Bezeichnung<br />
für Lebenskraft – ein anderer Begriff<br />
für Chi oder Prana. Und wir finden das ja<br />
auch in der älteren Sprache: Redewendungen<br />
wie »der Odem des Lebens« oder »Er<br />
hauchte sein Leben aus«. Damit sind das Leben<br />
und die Lebenskraft gemeint.<br />
ANKE: Und ist damit nicht auch eine Art<br />
überpersönlicher, quasi göttlicher Atem gemeint,<br />
also eine spirituelle Dimension?<br />
ANDREA: Ich persönlich beziehe mich auf<br />
die Haltung, dass alles Leben, alle Phänomene<br />
aus der Stille kommen. Aus einem großen<br />
Feld, einem Ort von Potential. Bei uns in der<br />
Biodynamik heißt es »dynamische Stille«. In<br />
anderen Zusammenhängen ist es so etwas<br />
wie die Schöpfungsebene, die Quelle. Für<br />
mich ist das immer auch mit einem großen<br />
Geheimnis verbunden – ich muss die Augen<br />
schließen, wenn ich darüber spreche – mit<br />
einem großen Geheimnis und auch mit einem<br />
Wunder, wie und warum Cranio wirkt.<br />
Egal, wie ich es erkläre und unterrichte und<br />
praktiziere, es bleibt immer wie ein Wunder.<br />
Etwas ganz großes Helles, das ich nicht<br />
wirklich ganz mit Worten beschreiben kann.<br />
ANKE: Ja, das hat etwas Wunderbares, Unfassbares.<br />
Das begegnet mir in meiner Praxis<br />
auch immer wieder. … Lass uns vielleicht<br />
nochmal den Bogen zum Focusing schlagen.<br />
Hat Gene Gendlin nicht mal so etwas gesagt<br />
wie, dass wir immer eingebettet sind in ein<br />
»Mehr«, das antwortet? Gibt es also im Focusing<br />
etwas vergleichbar Geheimnisvolles,<br />
Wunderbares? Wie erlebst du das?<br />
ANDREA: Hm …, meine spontane Antwort<br />
ist: Ja. Und das hat für mich mit dem zu tun,<br />
über das wir ganz zu Beginn gesprochen haben:<br />
Da ist diese Kraft, die in uns Menschen<br />
drin ist – oder uns gegeben ist. Dass wir uns<br />
zu etwas Hellem oder zu einer Ganzheit hin<br />
entwickeln wollen.<br />
Und dann ist es so, dass wir als Focusing-Begleiterin<br />
oder -Therapeutin das ja<br />
nicht aussprechen müssen – wir müssen es<br />
den Menschen nicht vorher sagen. Es hat<br />
auch ganz viel mit der eigenen Haltung zu<br />
tun. Man kann auch mit Leuten Cranio oder<br />
Focusing machen, die nicht bewusst über<br />
eine spirituelle Anbindung nachgedacht haben<br />
– das ist überhaupt nicht Bedingung.<br />
Weißt du, was ich meine?<br />
ANKE: Ja, total! Das sehe und spüre ich genauso.<br />
ANDREA: Und wenn ich das jetzt ein bisschen<br />
weiter fasse, verbinde ich mich als Begleiterin<br />
in einem Focusing-Prozess mit diesem,<br />
ich will jetzt nicht sagen »Glauben«, aber<br />
mit dem Wissen und der Zuversicht, dass es<br />
Ich persönlich beziehe<br />
mich auf die<br />
Haltung, dass alles<br />
Leben, alle Phänomene<br />
aus der<br />
Stille kommen. Aus<br />
einem großen Feld,<br />
einem Ort von<br />
Potential.<br />
Ich verbinde mich<br />
mit dem Wissen<br />
und der Zuversicht,<br />
dass es im<br />
Menschen diese<br />
Kraft des Carrying<br />
forward gibt, also<br />
diese starke unauslöschbare<br />
Tendenz,<br />
gesund zu werden<br />
und zu wachsen.<br />
focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021 5
Themen<br />
Ganz wunderbar ist<br />
ja, wie unglaublich<br />
viel die Berührung<br />
ausmacht!<br />
im Menschen diese Kraft des Carrying forward<br />
gibt, also diese starke unauslöschbare<br />
Tendenz, gesund zu werden und zu wachsen<br />
und – wie ich vorher gesagt habe – dass es<br />
heller wird. Diese Haltung hat einen Einfluss<br />
auf den Prozess und auf das Beziehungsfeld<br />
zwischen Praktikerin und Klientin.<br />
Und wenn ich nochmal zur Craniosacralen<br />
Biodynamik hinschaue: Ganz wunderbar<br />
ist ja der Berührungsaspekt – wie<br />
unglaublich viel die Berührung ausmacht!<br />
Ich finde es immer so interessant, wenn man<br />
sich die Embryologie anschaut: Das Nervensystem<br />
und die Haut, die sind aus dem<br />
gleichen Keimblatt entstanden, aus dem Ektoderm.<br />
Oft wird die Haut ja nur als Hülle gesehen.<br />
Es ist schön, sich bewusst zu machen,<br />
dass der Tast- und Berührungs-Sinn der erste<br />
Sinn ist, den wir entwickelt haben – im<br />
Mutterleib. Über den waren wir in Kontakt<br />
mit der Umgebung. Sobald wir berühren,<br />
sprechen wir also auch einen wichtigen Sinn<br />
an und das Nervensystem. Das kann unglaublich<br />
nährend sein, verlangt aber auch<br />
Respekt. Die physische Berührung, das ist<br />
etwas, das das Focusing nicht hat.<br />
ANKE: Oh, doch! Ich schätze physische Berührungen<br />
auch im Focusing als eine gute<br />
Möglichkeit des spontanen Prozess-Begleitens<br />
– neben anderen Möglichkeiten!<br />
ANDREA: Ich mach’s in meiner Praxis eigentlich<br />
so: Wenn Leute für Focusing kommen,<br />
dann berühre ich sie eigentlich selten – interessanterweise.<br />
Dann ist es so, dass wir uns<br />
auf Sesseln gegenübersitzen. Was ich schon<br />
mache: Dass ich die Leute – wenn es sich ergibt<br />
– einlade hinzuspüren, wo jetzt eine Berührung<br />
gut wäre. Und sich dann selbst dort<br />
zu berühren. Das hat oft eine überraschende<br />
Wirkung.<br />
ANKE: Das stimmt, allein das Selbstberühren<br />
kann sehr wirkungsvoll sein! Mir geht<br />
es inzwischen so, dass ich in meiner Praxis<br />
seltener zwischen den hands-on- und<br />
hands-off-Methoden unterscheide. Die<br />
meisten meiner Klient*innen suchen eine<br />
Art körperorientierter Lebensbegleitung –<br />
also etwas Ergänzendes zu den gewohnten<br />
Psychotherapie- oder Physiotherapie-Settings.<br />
Sie erhoffen sich etwas Verbindendes,<br />
Integrierendes. Und das kann sich beispielsweise<br />
während einer physischen Berührung<br />
ereignen.<br />
ANDREA: Diese sanfte Art, wie wir im Cranio<br />
berühren, die ist im besten Fall ja eine<br />
raumgebende Berührung, ein Container –<br />
wie wir sagen –, also so etwas wie ein haltgebendes<br />
Gefäß. Und manchmal braucht es<br />
eine feste Berührung, so dass das Nervensystem<br />
die Ich-und-Du-Grenze spürt.<br />
Wenn ich in Cranio-Behandlungen diese<br />
Anfangsübungen anbiete – an einen guten<br />
Ort führen und erden –, dann frage ich<br />
zurzeit viel mehr als sonst: »Ist es gut, wenn<br />
ich dich jetzt berühre oder soll ich lieber<br />
noch ein wenig neben dir sitzenbleiben?«<br />
So dass ich die Klientin mit reinhole in diese<br />
Frage. Manche sagen dann: »Ja, bitte berühr<br />
mich, ich warte schon seit fünf Minuten.«<br />
Da spüre ich dann auch eine große Ungeduld.<br />
Andere Klientinnen sagen: »Nein, ich<br />
brauche noch ein bisschen, ich warte noch<br />
ein paar Minuten.« Ich sage dann: »Magst<br />
du einfach sagen, wann es geht – ich sitze<br />
einfach hier und bin mal gut in Kontakt mit<br />
mir selbst – und auch mit dir, ohne dich zu<br />
berühren. Sag mir, wenn’s für dich passt und<br />
du berührt werden willst.«<br />
ANKE: Ja, das Mitgestalten des Kontakts ist<br />
oft das Stimmigste! Und: Ja, auch ich erlebe<br />
derzeit in meiner Praxis, dass in der Pandemie-Situation<br />
die Themen rund um Kontakt<br />
und Trennung sehr in den Vordergrund<br />
kommen.<br />
ANDREA: Man könnte sagen: Die frühen<br />
Bindungstraumata – es geht jetzt richtig<br />
ans Eingemachte. Von mir selber kann ich<br />
sagen, dass ich Gott sei Dank in guten Lebensumständen<br />
lebe, ich lebe in einer guten<br />
Partnerschaft und liebe meinen Beruf. Und<br />
dennoch muss ich wirklich schauen, dass<br />
ich gut stabil bleibe – also es ist wirklich eine<br />
große Herausforderung.<br />
ANKE: Ja, das ist es! Glücklicherweise können<br />
wir uns mit Cranio und Focusing ja<br />
wunderbar nähren und stärken. Wirst du in<br />
deinem Seminar auf der Sommerschule darauf<br />
auch eingehen?<br />
ANDREA: Ja, das werde ich! Ich stell mir ein<br />
Setting vor, in dem wir uns spielerisch dem<br />
craniosacralen Berühren und vor allem auch<br />
dieser bestimmten inneren Haltung nähern.<br />
Das kann im Liegen stattfinden oder auch<br />
im Sitzen. Eine eingestimmte Berührung<br />
fördert ja die Selbstwahrnehmung sehr, das<br />
heißt, über die Berührung durch einen an-<br />
6 focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021
Themen<br />
deren Menschen kann ich mich selber besser<br />
spüren. Allein das stärkt schon gewaltig.<br />
Und unser Körper liebt es, berührt zu werden,<br />
ohne dass von ihm etwas Bestimmtes<br />
verlangt wird, also ohne Leistungsdruck.<br />
Mir fällt grad ein: Das ist Freiraum für den<br />
Körper!<br />
ANKE: Könnte Freiraum für den Körper vielleicht<br />
auch heißen, dass sich für mich eine<br />
Berührung im Moment gar nicht passend<br />
anfühlt – und ich lieber auf andere Weise in<br />
Kontakt bin?<br />
ANDREA: Ja, natürlich, es gibt Momente<br />
oder Phasen, wo es ganz stimmig ist, ohne<br />
physische Berührung in Kontakt zu sein.<br />
Damit werden wir im Seminar auch experimentieren.<br />
ANKE: Klingt gut, das wird bestimmt ein erholsames<br />
und nährendes Seminar! Gibt es<br />
denn zum Schluss unseres Gesprächs noch<br />
etwas, das wir bisher nicht angesprochen<br />
haben? Etwas, das dir besonders am Herzen<br />
liegt?<br />
ANDREA: Also jetzt gerade taucht nichts weiter<br />
auf. Es ist eher so wie eine große ruhige<br />
Ebene, wie so ein weites Feld. … Irgendwie<br />
taucht noch das Wort »Beziehungsfeld« auf,<br />
was beim Focusing ja genauso existiert wie<br />
bei der Craniosacralen Biodynamik. Ich finde<br />
grad noch nicht die Worte dafür …<br />
ANKE: Mir kommt dazu eine Idee. Du könntest<br />
ja auch nochmal hinhorchen, wie es sich<br />
jetzt gerade anfühlt – hier, wir beide im Gespräch<br />
vor unseren Bildschirmen. Wir können<br />
ja auch unsere Interview-Beziehungsebene<br />
zum Thema machen.<br />
ANDREA: Ja, damit hat es etwas zu tun! Es<br />
spricht mich so an, dass ich hier in Wien<br />
sitze und du in Freiburg – das ist wie ein<br />
weites spürbares Feld. Ich weiß nicht, wie<br />
viele Kilometer das sind … Und das Feld<br />
hat etwas Verbundenes für mich, auch dir<br />
gegenüber jetzt, aufgrund unseres Austauschs.<br />
Vielleicht weil wir eine ähnliche<br />
Berufsrichtung haben? Das Feld hat auch<br />
noch eine andere Qualität: Es ist wirklich<br />
so weit! Für mich hört das Lernen nie auf.<br />
Es gibt immer noch andere Aspekte, die interessant<br />
sind …<br />
ANKE: … und die wir jetzt vielleicht nur<br />
gestreift oder gar nicht benannt haben. Ich<br />
bin auch sehr berührt davon, was wir beide<br />
Kostbares miteinander austauschen können.<br />
Wenn ich mich auf dieses weite Beziehungsund<br />
Methoden-Feld einlasse, spüre ich so<br />
eine Zuversicht, dass darin alles eingebettet<br />
ist, was wir miteinander teilen – und was<br />
wir nicht miteinander teilen konnten. Alles,<br />
was wir benannt haben und was wir nicht<br />
benannt haben. Es ist alles eingebettet – und<br />
im Grunde ist es im Großen und Ganzen gut<br />
aufgehoben!<br />
ANDREA: Ja, schön. Das spricht mich an,<br />
im Sinne dieser wirklich positiven Grundhaltung,<br />
die ich Menschen gegenüber habe.<br />
Das erinnert mich jetzt an das, wo wir vorher<br />
mal waren, dass der Körper die Kraft<br />
hat, in Richtung Ganzheit und Helligkeit zu<br />
tendieren – dass er eingebettet ist. Ja, das ist<br />
sehr rund so!<br />
ANKE: Andrea, ich danke dir sehr für die<br />
Zeit, dein Dasein und deine Präsenz!<br />
ANDREA: Und danke, Anke, dass du die<br />
Idee zu diesem Interview hattest und mich<br />
gefragt hast! … Dann winke ich aus Wien<br />
– Ciao!<br />
ANKE: … und ich aus Freiburg – Tschüss!<br />
Andrea<br />
Auer-Hutzinger<br />
ist Craniosacral-Therapeutin,<br />
Lehrende und Mitglied im<br />
Leitungsteam an der Wiener<br />
Schule für Craniosacrale Biodynamik;<br />
diplomierte psychologische<br />
Beraterin und Focusing-<br />
Beraterin (DAF); seit 30 Jahren<br />
in den Bereichen Körperarbeit,<br />
Stressrelease, Selbstregulation<br />
und psychologische Prozessbegleitung<br />
tätig.<br />
www.behandlungs-raum.at<br />
Anke Zillessen<br />
lebt in Freiburg und arbeitet<br />
dort in eigener Praxis als<br />
Physiotherapeutin, Craniosacral-Praktizierende<br />
(CSVD),<br />
Focusing-Therapeutin (DAF)<br />
und Systemaufstellerin (DGfS).<br />
Als Germanistin M.A. schreibt<br />
sie auch Texte und führt gerne<br />
Interviews. Mehr zu ihrer Arbeit:<br />
www.ankezillessen.de,<br />
kontakt@ankezillessen.de<br />
focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021 7
Andrea Auer-Hutzinger<br />
wird auf der diesjährigen Internationalen Focusing Sommerschule das Seminar<br />
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anbieten. Sie schreibt dazu:<br />
»Craniosacrale Biodynamik ist eine aus der Osteopathie entstandene sanfte und gleichzeitig tiefgehende manuelle<br />
Körperarbeit, die die Selbstheilungskräfte anregt und tiefsitzende Blockaden lösen kann.<br />
Dieses Seminar wird einen Einblick in die interessante Welt der inneren Craniobewegungen und in die Haltung<br />
dieser Berührungs-Arbeit geben.<br />
Wir ›reparieren‹ kein System, das aus dem Lot gekommen ist, sondern tragen mit unserer inneren Ausrichtung<br />
dazu bei, dass sich Körper, Geist und Seele ›von selbst‹, von innen heraus im eigenen Tempo in einen Regenerations-,<br />
Wachstums- und Entwicklungsprozess begeben können.«<br />
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focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021 9
Themen<br />
Das fastende Herz<br />
Kann Zen Focusing vorantragen? Überlegungen<br />
am Beispiel der künstlerischen Fotografie<br />
■■<br />
Von Tony Hofmann<br />
1 Han, 2002, S. 84<br />
2 ebd., S. 34<br />
3 ebd., S. 51<br />
Ich gebe Büchern manchmal neue Namen.<br />
Dadurch versuche ich, mir einen eigenen<br />
Reim auf das zu machen, was ich lese. Diese<br />
Titel passen dann meinem subjektiven Empfinden<br />
nach besser zu dem, was ein Buch<br />
für mich bedeutet, als der Original-Titel.<br />
Byung-Chul Hans kleiner Einführung in<br />
die Philosophie des Zen-Buddhismus habe<br />
ich den Alternativtitel »Das fastende Herz«<br />
verpasst. Diese Formulierung verwendet<br />
der Autor selbst an einer Stelle seines Texts.<br />
Sie steht für mich stellvertretend für das gesamte<br />
Buch. Das fastende Herz eines Zen-<br />
Buddhisten, einer Zen-Buddhistin macht<br />
sich ganz leer, so, wie der Wanderer Bashô<br />
dies auf seinen Reisen tut: Sein »ständiges<br />
Wandern ist eine Äußerung seines fastenden<br />
Herzens, das sich an nichts klammert,<br />
sich an nichts festbeißt« 1 . Bashôs Herz öffnet<br />
sich also auf freundliche Weise für das,<br />
was gerade ist, ohne etwas damit anstellen,<br />
ohne etwas daraus machen zu wollen.<br />
Diese Haltung ist uns auch aus dem<br />
Focusing wohl vertraut. In diesem Artikel<br />
möchte ich zeigen, wie Zen über die klassische<br />
Focusing-Haltung, wie ich sie bisher<br />
verstand, hinausweisen könnte – und am<br />
Ende darin (für mich) doch wieder nach<br />
Hause gelangt. Damit es nicht bei rein theoretisierenden<br />
Überlegungen bleibt, entfalte<br />
ich meine Gedanken am Beispiel der künstlerischen<br />
Fotografie und der Wirkung der<br />
therapeutischen Bildkarten, die als deren<br />
»Nebenprodukte« aus diesem Schaffensprozess<br />
herausfallen.<br />
Das Lächeln des Buddha<br />
Eigentlich kann man ja über Zen gar nicht<br />
schreiben. Weil Zen jenseits der Worte liegt.<br />
Han jedoch wagt es trotzdem, und zwar in-<br />
direkt. Er schreibt zunächst aus philosophischer<br />
Sicht über verschiedene Zen-Themen,<br />
die auch in der westlichen Philosophie eine<br />
Rolle spielen. Dann kontrastiert er diese<br />
Inhalte mit Zen. Im Wesentlichen läuft das<br />
einfach darauf hinaus, dass er immer wieder<br />
auf andere Weise sagt »… und das ist auch<br />
nicht Zen«. Er dekliniert dabei die Klassiker<br />
durch – Descartes, Heidegger, Fichte, Buber<br />
– und immer wieder deutet er von deren<br />
Verneinung aus auf das eigentlich Unsagbare<br />
des Zens hin.<br />
Auf diese Weise findet er dann doch<br />
Worte für das, was eigentlich gar nicht<br />
sagbar ist. Er spricht dabei meistens in<br />
Metaphern. So spricht er z.B. von einer archaischen<br />
Freundlichkeit, von einer Dezentrierung<br />
(einer Mitte also, die überall<br />
zugleich ist), und eben auch von einem fastenden<br />
Herzen. Das Fasten, das er hier beschreibt,<br />
ist jedoch nichts Tragisches, es hat<br />
nichts mit einem traurigen Verzicht zu tun.<br />
Sondern es geschieht in großer, freiwilliger<br />
Leichtigkeit: »Yüe-Shan lacht jedes Begehren,<br />
jedes Streben, jede Erstarrung und jede<br />
Versteifung weg, befreit sich in eine schrankenlose<br />
Offenheit, die von nichts begrenzt<br />
oder behindert ist. Er lacht sein Herz leer.<br />
Das mächtige Lachen entströmt dem entgrenzten,<br />
ent-leerten und ent-innerlichten<br />
Geist.« 2<br />
Die Leere, die Han dabei referenziert,<br />
ist also nicht dasselbe wie die Leere einer<br />
Depression: »Sie stellt vielmehr eine äußerste<br />
Bejahung des Seins dar« 3 . Man lebt also,<br />
tritt man in die Leere des Zens ein, in einem<br />
durchaus mit Materie und Sinn erfüllten<br />
Raum, der aber etwas anderes ist, als die Verhaltensräume<br />
der Tiere es sind. Es ist auch<br />
nicht der mit einem (kognitiv verstehba-<br />
10 focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021
Themen<br />
ren) Sinn erfüllte symbolische Beziehungsraum<br />
der Menschen (Kultur, Gesellschaft,<br />
Vereinbarungen, Werte und Normen). Der<br />
Raum der Leere ist ein Mehr-als-all-das. Es<br />
ist das Loslassen-von-Allem. Dies zeigt sich<br />
auch im heimatlosen Umherwandern der<br />
Mönche. Es ist ein Loslassen, das zugleich<br />
ein täglich neues Zu-Hause-Ankommen ist:<br />
»Das Nirgends-Wohnen stellt keine Weltflucht<br />
dar.« 4 Da ist dann nur der Pflaumenbaum<br />
und dieser ist eine Realität, die keine<br />
dahinter liegende, keine verborgene oder<br />
irgendwie noch zu erreichende (Ziel-)Ebene<br />
mehr kennt: »Die Welt ist ganz da in einer<br />
Pflaumenblüte.« 5<br />
Geht Zen über Focusing hinaus?<br />
Wenn ich Han richtig verstehe, geht Zen sogar<br />
noch über die vorantragende Kreativität<br />
des Focusing hinaus. Mir war schon immer<br />
vage bewusst, dass mir in den philosophischen<br />
Denkstrukturen, in denen ich mich<br />
bisher bewegte, etwas gefehlt hat. Gendlin<br />
hat beispielsweise im Prozessmodell keine<br />
eigene Begrifflichkeit für diese spezielle<br />
Art von zen-artig gefüllter Leere. Das Modell<br />
endet zwar beim großen offenen Raum 6 .<br />
Wenn wir Focusing betreiben, begeben wir<br />
uns in diesen kreativen Raum. Der Focusing-Raum<br />
ist jedoch für mich nicht dasselbe<br />
wie die Leere des Zen, weil auch der<br />
große, offene Raum bei Gendlin stets noch<br />
neue Symbolik gebiert. Er biegt sich gewissermaßen<br />
wie ein Pfeil zurück, in die Welt<br />
der symbolischen Beziehungen hinein, und<br />
ändert diese dann auf vorantragende Weise.<br />
Wenn wir unseren Felt Sense, unser ganzheitliches<br />
Gespür zu einer bestimmten Situation,<br />
befragen, weil wir ein Thema bearbeiten<br />
wollen, bekommen wir ja immer neue<br />
Begriffe, innere Bilder, emotionale Impulse<br />
usw. zurück. Diese können wir dann in die<br />
symbolischen Welten, in denen wir leben,<br />
einflechten oder einkreuzen. Wir treffen<br />
außerdem auch klare Entscheidungen, wir<br />
handeln, ändern etwas im Leben. Die Leere<br />
des Zens jedoch nimmt derartige Entscheidungen<br />
gar nicht mehr so richtig ernst. Sie<br />
erkennt sie zwar an, aber sie geht noch einen<br />
Schritt weiter. Sie lässt wirklich los.<br />
Fehlt diese absolute, freundliche Leere<br />
dem Focusing, wie ich es bisher verstanden<br />
habe? Vielleicht beschäftige ich mich<br />
im Focusing noch viel zu oft mit konkreten<br />
Problemen, die gelöst werden müssen. Vielleicht<br />
ist Focusing, wenn ich es als eine abgegrenzte,<br />
erlernbare und in sich geschlossene<br />
Methode verstehe, noch gar nicht zu seiner<br />
vollen Blüte gebracht. Kann ich mir ein konsequent<br />
focusingorientiert gelebtes Leben<br />
vorstellen wie einen stetig voran fließenden<br />
Improvisationsprozess?<br />
Ich habe lange mit der Improvisationskünstlerin<br />
Beatrice Theiler darüber gesprochen,<br />
wie sich eine Haltung beschreiben<br />
ließe, die ein solches Leben verwirklicht. Beatrice<br />
nennt das »Raumern«. Es gibt, wenn<br />
man raumernd lebt, keine gordischen Knoten<br />
mehr, die gelöst oder zerschlagen werden<br />
müssten. Focusing im klassischen Sinne<br />
wäre dann gar nicht mehr nötig, da ohnehin<br />
alles im Fluss wäre. Der Übergang vom<br />
konventionellen Denken, Leben und Handeln<br />
hin zum raumernden Denken, Leben<br />
und Handeln fühlt sich für mich an wie ein<br />
Durch-den-Hochnebel-Wandern: Ich lasse<br />
mich von meinem Gespür leiten und laufe<br />
immer ungefähr dorthin, wo die Sonne herauskommt.<br />
Hat man diesen Nebel einmal<br />
durchwandert, so ist fast überall nur noch<br />
Sonne, wie ein leuchtendes, strömendes Darüberhinaus,<br />
in dem ich mich lebendig zu<br />
Hause fühlen kann. Probleme erscheinen in<br />
dieser raumernden, sonnendurchströmten<br />
Welt wie schöne Ressourcen, die mir Kraft<br />
geben, da sie die Komplexität und damit die<br />
Fülle meines Lebens anreichern. Je diffiziler<br />
ein Problem ist, das ich lösen kann, desto<br />
interessanter wird das Leben, das ich lebe.<br />
Aber ich nehme es dann gar nicht mehr als<br />
Problem wahr, sondern da sind einfach nur<br />
noch viele intrikate Muster, die mich neugierig<br />
machen. Ich werde zum Künstler, der<br />
sich über alles gleichermaßen freuen kann,<br />
was mir begegnet – Problemthemen genauso<br />
wie freudige Themen, schwierige und<br />
herausfordernde Situationen genauso wie<br />
das, was im Bayrischen »a g’mahte Wiesn«<br />
genannt wird.<br />
Vielleicht würde auch eine echte Zen-<br />
Meisterin über uns lachen, wenn wir Probleme<br />
zu lösen versuchen, da sie von vornherein<br />
in einer »erfüllte[n], gelassene[n]<br />
Gegenwart« 7 lebt: »Diese gelassene Zeit lässt<br />
die Zeit der Sorge hinter sich.« 8 Oder anders<br />
gesagt: Da ist noch immer sehr viel »Ego«<br />
im Focusing, wie ich es bisher verstand, mit<br />
drin. Was wäre also, wenn ich auch über<br />
dieses Ich noch lachen würde und mich<br />
noch mehr in die offene Freundlichkeit hinauswagte,<br />
die das Haben von Problemen<br />
überflüssig macht? Was wäre, wenn ich mir<br />
erlauben würde, noch mehr über das Haben-Können-von-Problemen<br />
als solches zu<br />
Der Focusing-Raum<br />
ist jedoch für mich<br />
nicht dasselbe wie<br />
die Leere des Zen,<br />
weil auch der große,<br />
offene Raum bei<br />
Gendlin stets noch<br />
neue Symbolik<br />
gebiert.<br />
Ich werde zum<br />
Künstler, der sich<br />
über alles gleichermaßen<br />
freuen kann,<br />
was mir begegnet<br />
– Problemthemen<br />
genauso wie freudige<br />
Themen.<br />
4 ebd., S. 93<br />
5 ebd., S. 24<br />
6 vgl. Gendlin 2015, Kapitel 8<br />
7 Han, 2002, S. 112<br />
8 ebd.<br />
focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021 11
Themen<br />
Manchmal, wenn<br />
ich, mit der Kamera<br />
in der Hand, den<br />
Nebel da draußen<br />
am Fluss betrachte,<br />
spüre ich tief in mir<br />
eine tiefe, alte<br />
Resonanz.<br />
9 ebd., S. 115<br />
10 ebd., S. 121<br />
11 ebd., S. 75<br />
lachen? Was wäre, wenn ich die Focusingpraxis,<br />
wie ich sie bisher kenne, noch mehr<br />
mit dem Zen-Spirit anreichern würde? Was<br />
wäre, wenn ich raumernder leben würde?<br />
Vielleicht würden meine Alltags-Interaktionen<br />
dann weicher, fließender werden: »Das<br />
Lachen entspringt jener Ungezwungenheit,<br />
die das Ich aus seiner Starre befreit.« 9 Vielleicht<br />
entstünde dann eine Art von Leben,<br />
das noch mehr im alltäglichen Sein der voran<br />
fließenden Prozesse ankommt, sich weniger<br />
auf fest umrissene Aufgaben begrenzt,<br />
die zu lösen oder zu erledigen sind. Ein<br />
Leben, das diese Aufgaben zwar noch immer<br />
zu erledigen versucht und dies auch tut<br />
– und sich zugleich darüber kaputtlachen<br />
kann, dass sie überhaupt vorhanden sind.<br />
Zen in einer Kameralinse<br />
Ich weiß nicht, ob ich das, was die Zen-<br />
Buddhisten meinen, wirklich verstehe. Ich<br />
habe mein Leben ja nicht im Kloster verbracht.<br />
Zwar meditiere ich regelmäßig, aber<br />
dennoch lebe ich ein weltliches Leben. Vielleicht<br />
muss man, um Zen wirklich verstehen<br />
zu können, mit Haut und Haaren in dessen<br />
Praxis eintauchen. Zen ist eben kein begriffliches<br />
Gedankengebäude, sondern das durch<br />
und durch zen-artig gelebte Leben selbst.<br />
Und auch die oben beschriebenen Überlegungen<br />
könnte man als weltfremd bezeichnen.<br />
Wenn Probleme da sind, dann sind sie<br />
nun mal da und schmerzen. Um diese Tatsache<br />
komme ich erstmal nicht herum.<br />
Vielleicht ist es deshalb sinnvoll, meine<br />
Gedanken zunächst mal nur probehalber<br />
auf einem eng umrissenen Gebiet auszutesten.<br />
Nicht, um dort völlig ernst zu machen<br />
mit dem Zen, sondern um, wie ein empirischer<br />
Wissenschaftler, Erfahrungen zu sammeln<br />
und Schlussfolgerungen zu ziehen.<br />
Dies möchte ich in den nächsten Abschnitten<br />
versuchen.<br />
Das Gebiet, auf dem ich am ehesten in<br />
eine zen-artige Leere eintauche, ist für mich<br />
die Fotografie. Manchmal, wenn ich, mit der<br />
Kamera in der Hand, den Nebel da draußen<br />
am Fluss betrachte, spüre ich tief in mir<br />
eine tiefe, alte Resonanz. Ich werde erinnert<br />
an etwas, was ich längst vergessen glaubte.<br />
Wenn Han in seinem Buch von der »archaischen<br />
Freundlichkeit« des Zens spricht,<br />
so fühlt sich das für mich ganz ähnlich an,<br />
wie das, was ich dort am Fluss erlebe. Dann<br />
ahne auch ich eine archaisch-freundliche<br />
Verwandtschaft von mir mit den Bäumen,<br />
die da still im Nebel stehen.<br />
Diese Freundlichkeit ist für Han »älter<br />
als das ›Gute‹, älter als jedes moralische Gesetz«<br />
10 . Es wertet nicht. Manchmal gelingt<br />
es mir, einen Schimmer dieses archaischen<br />
Nicht-Wertens auch auf meinen Fotografien<br />
erlebbar werden zu lassen. Dann bin nicht<br />
mehr ich hier und mein Motiv ist dort drüben,<br />
sondern wir sind, obwohl wir noch immer<br />
getrennt sind, zugleich auch ein ineinanderfließendes<br />
Ganzes. Wir sind zwei und<br />
eins zugleich. Und das scheint mir fast so etwas<br />
wie ein Erfolgsrezept zu sein. Ein Rezept<br />
jedoch, das man nicht intentional befolgen<br />
kann. Die wirklich guten Fotos können nur<br />
dann entstehen, wenn es mir gelingt, mein<br />
Motiv wirklich loszulassen, so, wie ein Zen-<br />
Mönch sein Begehren loslässt. Ich mache<br />
mich selbst zum Niemand, so, wie der Zen-<br />
Maler, den Han beschreibt: Dieser »spiegelt<br />
die Landschaft niemandig in sich. Die Landschaft<br />
malt die Landschaft« 11 .<br />
Wenn ich fotografiere, versuche ich also<br />
nicht, eine bestimmte, vorab bereits durchdachte<br />
Botschaft, die mir wichtig ist, in das<br />
Bild einzubetten. Der Sinn eines guten Fotos<br />
ist nicht vorab in mir gegeben, als etwas<br />
bereits Fertiges oder Vorhandenes. Es ist<br />
vielmehr so, dass ich versuche, dem, was an<br />
einem Ort spürbar ist – ja, dem Ort selbst –<br />
auf dem Bild einfach einen freien Raum zu<br />
schenken. Vielleicht mag Ihnen diese Ausdrucksweise<br />
etwas ungewohnt vorkommen.<br />
Es ist auch für mich etwas ungewohnt, den<br />
magischen, sensiblen, oft auch zerbrechlichen<br />
Augenblick, in dem ein gutes Foto entsteht,<br />
in verstehbare Worte zu fassen. Vielleicht<br />
könnte man es so ausdrücken: Der Ort<br />
darf sich auf dem Foto selbst ausdrücken,<br />
ich stelle ihm hierfür nur einen Rahmen zur<br />
Verfügung. Ich erlaube ihm, ja lade ihn regelrecht<br />
ein, sich mir gegenüber verletzlich<br />
zu zeigen.<br />
Freiraum als Vorbedingung<br />
Damit dies gelingen kann, brauche ich eine<br />
bestimmte innere Haltung, die uns aus dem<br />
Focusing wohlvertraut ist. Ich versuche,<br />
mich ganz leer zu machen, leer von dem,<br />
was mich gerade beschäftigt im Leben:<br />
Projekte, an denen ich arbeite, Konflikte,<br />
die ungeklärt sind, Aufgaben, Beziehungsthemen<br />
und so weiter. All das gehört zwar<br />
auch noch zu meinem Leben dazu, wenn ich<br />
auf Foto-Tour bin. Dennoch gelingt es mir<br />
oft ganz gut, einen künstlerischen Freiraum<br />
zwischen mir und dem Alltag zu erschaffen.<br />
Das heißt: Ich stelle diese Alltags-Inhalte im<br />
12 focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021
Themen<br />
Moment des künstlerischen Schaffens aus<br />
meinem Bewusstsein hinaus. Oder, um es in<br />
Hans Worten zu sagen: Ich lasse mein Herz<br />
vom Alltag fasten. Dann wird ein Freiraum,<br />
eine mit dem Motiv erfüllbare Leere spürbar.<br />
Das, was ich durch die Kamera betrachte,<br />
ist dann kaum noch direkt beeinflusst<br />
von aktuellen Themen, und auch von Intentionen<br />
und Vorstellungen davon, wie etwas<br />
»richtig« dargestellt werden sollte. Ich denke<br />
auch nicht darüber nach, für wen ich diese<br />
Fotos mache und wofür ich sie verwenden<br />
könnte. All das spielt dann keine Rolle mehr.<br />
Nur das, was da ist, zählt. Man könnte dies<br />
auch als eine Haltung der Demut vor dem<br />
Motiv beschreiben. Nicht ich entscheide,<br />
sondern das Motiv bestimmt, wie es sich<br />
mir zeigt. Was einzig leitend wirkt, bevor ich<br />
den Auslöser betätige, ist mein Gespür für<br />
Ästhetik. Erst an dieser Stelle kommt mein<br />
»Ich« wieder mit herein. Erst hier beginne<br />
ich, ganz im klassischen Sinne, Focusing<br />
zu betreiben. Ich halte dann den Sucherausschnitt<br />
als Ganzes in meinem Gewahrsein<br />
und spüre es, wenn alle Proportionen<br />
ungefähr gleich gewichtet sind. Ein Felt<br />
Sense, mein Gespür für Stimmigkeit also,<br />
leitet mich. Ich befrage dieses Gespür darüber,<br />
was ich wie tun kann – so würde ich<br />
beispielsweise nicht auslösen, wenn ich das<br />
Gefühl hätte, dass die rechte Bildhälfte sich<br />
»schwerer« anfühlt als die linke, dass mehr<br />
Gewicht, mehr Intensität, mehr Inhalt nur<br />
einseitig vorhanden ist oder dass bestimmte<br />
Bildteile unterrepräsentiert sind.<br />
Das Was ist egal, das Wie nicht<br />
Was ich darstelle, ist somit letztlich fast egal.<br />
Vermutlich lässt sich alles so fotografieren,<br />
dass es interessant wird, wenn ich ihm in<br />
dieser Haltung der Demut begegne. Das<br />
Offene, das ich in Hans Zeilen über Zen erkenne,<br />
ist auch auf meinen Fotos »zwischen<br />
den Zeilen« ahnbar. Ich glaube, Menschen,<br />
Foto 1:<br />
Aufnahme vor dem innerlichen Loslassen (d.h.<br />
ohne »Zen-Spirit«): Das Bild wirkt insgesamt unruhiger,<br />
die einzelnen Bildelemente sind nicht klar<br />
aufeinander bezogen, sondern wirken ähnlich wie<br />
»Mikadostäbchen« einfach lose aufs Bild geworfen.<br />
Zwar wirkt dies auch irgendwie interessant,<br />
besonders aufgrund der bunten Farben, jedoch<br />
bleibt es für mich eher ein »Allerweltsbild«.<br />
Foto 2:<br />
Aufnahme nach dem innerlichen Loslassen (d.h.<br />
mit »Zen-Spirit«): Das Bild wirkt insgesamt ruhiger,<br />
die einzelnen Bildelemente sind ein in sich konsistentes<br />
komplexes Ganzes. Insgesamt enthält<br />
es weniger Bildelemente als Bild 1, d.h. auf den<br />
ersten Blick wirkt es etwas langweiliger …, wenn<br />
ich jedoch mit dem Foto verweile, entfaltet es eine<br />
Art von Sog …, es zieht mich in sich hinein.<br />
focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021 13
Themen<br />
12 ebd., S. 84<br />
Dr. Tony Hofmann<br />
Dipl.-Psychologe<br />
Psychotherapeut (HP)<br />
Lehrbeauftragter Universität<br />
Würzburg<br />
97072 Würzburg<br />
mail@tonyhofmann.de<br />
die meine Bilder betrachten, spüren intuitiv,<br />
dass die Dinge nicht so eng sind, wie<br />
sie zunächst scheinen. Sie bemerken, dass<br />
alles in Veränderung begriffen, dass eben<br />
alles prozesshaft-lebendig ist. Das, was ich<br />
selbst im Moment des Auslösens sehe, und<br />
meine eigene Lebendigkeit, die ich dabei<br />
empfinde, wenn sich ein Ort mir öffnet –<br />
all das wird im abgelichteten Motiv als ein<br />
visuelles Ganzes zusammengeführt. Meine<br />
eigene Berührbarkeit, die zugleich auch die<br />
Verletzlichkeit des Motivs ist, wird im Moment<br />
des Auslösens in Farben und Formen<br />
gegossen. Das mag einer der Gründe dafür<br />
sein, warum meine Bilder in Therapie- und<br />
Beratungsprozessen so gut funktionieren.<br />
Menschen erkennen ihre eigene innere<br />
Empfindsamkeit »dort draußen«, in den<br />
Bildern, wieder. Etwas in meinen Bildern<br />
resoniert mit dem, was psychisch in einer<br />
Betrachterin vor sich geht. Diese Erfahrung<br />
habe ich schon sehr oft gemacht, viele Rückmeldungen<br />
von Menschen, die die Karten<br />
professionell einsetzen, bestätigen es.<br />
Ich mache mich, wenn ich fotografiere,<br />
dem Ort gegenüber verletzlich, und der Ort<br />
antwortet mir mit einer Öffnung. Wenn ich<br />
davon spreche, dass er sich zeigt, so bedeutet<br />
dies, dass ich alle Vorurteile beiseite lasse,<br />
um den Ort so zu sehen, wie er wirklich ist.<br />
Das überträgt sich vermutlich auch auf die<br />
Betrachter der Fotografien – sie erkennen<br />
sich und ihre Themen in den Bildern so, wie<br />
sie eigentlich sind: ungeschminkt und pur.<br />
Wenn ich beim Fotografieren vorher glaubte<br />
zu wissen, was ich sehe, öffnet sich vor meinem<br />
Auge nun eine Realität, die realer ist als<br />
meine Erwartung von dem, was ich zu sehen<br />
bekommen würde. Ich sehe dann nicht<br />
nur das, was meinen Stereotypen entspricht<br />
(z.B. die typisch idyllische Blumenwiese),<br />
sondern ich sehe auch den liegengelassenen<br />
Müll am Wegesrand. Erst wenn ich diesen<br />
kleinen Schmerz, diese kleine Enttäuschung<br />
zulasse, mich auch ihr gegenüber verletzlich<br />
mache, beginnt mein Motiv zu mir zu<br />
sprechen. Es mag sein, dass Menschen, die<br />
meine Bilder betrachten, genau deshalb im<br />
Betrachten auch ihre eigene Verletzlichkeit<br />
leichter annehmen können.<br />
Die Fotografie ist für mich reine Meditationspraxis.<br />
Ich lasse mein Herz fasten, hänge<br />
es nicht an die Dinge, die ich ablichten<br />
will. Wenn es mir gelingt, mich ganz leer zu<br />
machen, so werde ich reich beschenkt. Die<br />
Bilder, die dabei entstehen, rühren vielleicht<br />
auch an die große Leere der Betrachterinnen<br />
und Betrachter, eine Leere, die eine unendliche<br />
Fülle impliziert. Vielleicht enthalten<br />
sie eine frohe Botschaft: Hab keine Angst<br />
davor, deinen Schmerz anzuschauen und<br />
loszulassen. Schmerzlich erlebte Probleme<br />
sind nichts anderes als symbolische Realitäten.<br />
Es gibt ein Mehr, das größer und offener<br />
ist als das, worin du gerade feststeckst. Du<br />
darfst ins Fließen, in Bewegung kommen.<br />
Hab den Mut, auch dich selbst ganz leer zu<br />
machen und das anzuerkennen, was ist – so,<br />
wie es eben ist. So kann es sich denn, wenn<br />
es das wirklich möchte, auch verändern.<br />
Dies sage ich als (noch) Focusing-Mann.<br />
Als Zen-Meditierender jedoch erkenne ich<br />
zugleich (schon), dass es irgendwie auch<br />
egal ist, ob es das tut. Und auch die Worte<br />
dieses Artikels sind (aus einer Zen-Haltung<br />
heraus gesprochen) für mich nichts anderes<br />
als symbolische Realitäten, die es wieder<br />
loszulassen gilt. Wenn sie veröffentlicht<br />
sind, dann ist es vielleicht ein bisschen so,<br />
als hätten sie gar nicht existiert, als hätte ich<br />
eigentlich gar nichts gesagt 12 :<br />
Selbst wenn ich spräche,<br />
die kalten Lippen wären<br />
nur Wind des Herbstes.<br />
Bashô<br />
14 focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021
Themen<br />
Zu den Worten hin oder<br />
von der Sprache weg?<br />
Focusing und Meditation im Vergleich<br />
■■<br />
Von Peter Lincoln<br />
Neulich schickte mir ein Freund folgenden<br />
Cartoon: Zwei Hunde schauen<br />
aus dem Fenster und beobachten die Leute,<br />
die vorbeigehen. Einer fragt den anderen:<br />
»Warum tragen all diese Menschen plötzlich<br />
Maulkörbe?«, und bekommt als Antwort:<br />
»Weil sie den Befehl ›Sitz und Bleib‹ nicht<br />
verstehen!« Der Philosoph Blaise Pascal hat<br />
im 17. Jahrhundert Ähnliches festgestellt:<br />
»Ich habe es oft gesagt: Das ganze Unglück<br />
der Menschen kommt daher, dass sie nicht<br />
ruhig in einem Zimmer bleiben können.«<br />
Nun hat uns die Ansteckungsgefahr dazu<br />
gezwungen, mehr Zeit in den eigenen vier<br />
Wänden zu verbringen – und dabei erlebe<br />
ich manchmal aus erster Hand, was daran<br />
so schwierig ist. Pascal formuliert es radikal:<br />
»Nichts ist dem Menschen so unerträglich,<br />
als wenn er sich in vollkommener Ruhe befindet,<br />
ohne Leidenschaften, ohne Beschäftigungen,<br />
ohne Zerstreuungen, ohne Betriebsamkeit.<br />
Dann fühlt er seine Nichtigkeit,<br />
seine Verlassenheit, seine Unzulänglichkeit,<br />
seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine<br />
Leere. Sogleich werden vom Grunde seiner<br />
Seele die Langeweile, der Trübsinn, die<br />
Traurigkeit, der Kummer, der Verdruss und<br />
die Verzweiflung aufsteigen.« Beim Schreiben<br />
dieses Zitats kommt bei mir der Gedanke:<br />
Wenn nur die Hälfte davon stimmt, kann<br />
ich doch dankbar sein, dass wir Internet,<br />
Smartphone und Netflix haben, um uns vor<br />
dem schwarzen Loch zu schützen!<br />
Oder, anstatt wieder die verlockenden<br />
Fluchtwege zu suchen, könnte ich die Gelegenheit<br />
nutzen, um zwei Methoden praktisch<br />
miteinander zu vergleichen, die mir<br />
bisher immer wieder geholfen haben – Meditation<br />
und Focusing. Ohne Zweifel haben<br />
sie einen gemeinsamen Vorteil – ich kann<br />
sie allein praktizieren, und das ist in Zeiten<br />
der »social isolation« schon sehr wertvoll.<br />
Aber welche Techniken bieten sie an, mich<br />
dem zu stellen, was in mir in der Stille hochkommt?<br />
Zu welchen Ebenen in mir nehme<br />
ich bei den beiden Wegen Kontakt auf? Geht<br />
es hier um zwei völlig unterschiedliche Zielrichtungen<br />
oder gibt es Überschneidungen?<br />
Könnten sie sich sogar gegenseitig ergänzen?<br />
Gemeinsame Ausgangslage<br />
Fangen wir bei den Ähnlichkeiten an. Zuerst<br />
ist festzuhalten, dass die beiden Methoden<br />
oft eine gemeinsame Ausgangsfrage haben,<br />
nämlich: Wie komme ich zur Ruhe, wenn<br />
alles in mir und um mich herum dagegen<br />
arbeitet? Bei der Meditation, zum Beispiel,<br />
nehme ich mir vor, zwanzig Minuten oder<br />
mehr in der Stille zu sitzen, und erlebe, wie<br />
am Anfang dieser Zeit mein Kopf von Sorgen<br />
und ängstlichen Gedanken gefüllt ist,<br />
die mich gar nicht in Ruhe lassen. Wie hoch<br />
war gestern die Infektionsrate und wie groß<br />
die Chancen, dass ich dieses Virus bekomme?<br />
Wie lange noch soll die Kontaktsperre<br />
bestehen? Wie werde ich das überhaupt<br />
aushalten? Und dazu kommen natürlich die<br />
Probleme und Themen, die ich sonst noch<br />
habe! Um dem allen nicht hoffnungslos ausgeliefert<br />
zu sein, bieten an dieser Stelle die<br />
verschiedenen Traditionen der Meditation<br />
bestimmte Techniken an. In diesem Artikel<br />
wird der Schwerpunkt bei den christlichen<br />
Meditationsformen liegen, aber in der<br />
Praxis gibt es bei der Vielfalt der religiösen<br />
Traditionen viele Gemeinsamkeiten: durch<br />
die Wahrnehmung der Sitzhaltung und den<br />
»Ich habe es oft<br />
gesagt: Das ganze<br />
Unglück der Menschen<br />
kommt daher,<br />
dass sie nicht<br />
ruhig in einem Zimmer<br />
bleiben können.«<br />
focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021 15
Themen<br />
Meditation führt von<br />
der »wissenden«<br />
Sprache weg hin<br />
zum »nichtwissenden«<br />
Schweigen.<br />
Focusing beginnt<br />
mit einem Nichtwissen<br />
– mit dem »felt<br />
sense«, der gespürt<br />
wird, aber noch<br />
keine Sprache hat<br />
– und führt zu den<br />
Worten, zum Expliziten<br />
hin.<br />
1 Richard Rohr: Christianity<br />
and Unknowing. Vortrag<br />
YouTube. 2017<br />
2 Cynthia Bourgeault: Centering<br />
prayer and inner awakening.<br />
Chicago 2004. S.32<br />
3 J. P. Williams: Seeking the<br />
God beyond. A beginner’s<br />
guide to Christian apophatic<br />
spirituality. Oregon<br />
2019, S. xix<br />
Rhythmus des Ein- und Ausatmens verlagert<br />
sich die Aufmerksamkeit nach und<br />
nach aus dem Kognitiven in den ganzkörperlichen<br />
Bereich. Durch die Präsenz im<br />
Körper oder durch die Wiederholung eines<br />
Mantras lerne ich, die Gedanken und Gefühle<br />
loszulassen und in der Wortlosigkeit<br />
zu verweilen.<br />
Auch Focusing bietet sich an, wenn ich<br />
nach Ruhe suche, um den inneren Störungen<br />
nicht ausgeliefert zu sein, aber der Vorgang<br />
sieht etwas anders aus. Die Wahrnehmung<br />
eines inneren körperlichen Freiraums<br />
hat zwar gewisse Ähnlichkeiten zur Einleitung<br />
in die Meditation, aber danach geht es<br />
weniger um das Loslassen und mehr um die<br />
Kontaktaufnahme zu dem, was mich stört<br />
oder beschäftigt. Ich nehme zum Beispiel<br />
eine Stelle in mir wahr, die körperlich spürbar,<br />
aber noch unklar ist und keine passenden<br />
Worte hat. Ich versuche nicht, sie loszulassen,<br />
sondern verweile bei ihr und warte<br />
darauf, dass sie sich deutlicher zu erkennen<br />
gibt. Dabei merke ich, dass diese Stelle sich<br />
sorgt oder Angst hat. Ich mache mir bewusst,<br />
dass dieses nur ein Teil von mir ist,<br />
ein »Etwas«, aber nicht meine ganze Person.<br />
Ich lerne mit der Zeit, diesem Teil Gesellschaft<br />
zu leisten, zu hören, wie es ihm wirklich<br />
geht, zu fragen was es braucht. Mit anderen<br />
Worten wird es nicht weggescheucht,<br />
sondern liebevoll angeschaut und im Laufe<br />
der Zeit als wichtiger Teil meiner Person angenommen<br />
und integriert.<br />
Unterschiedliche Ebenen?<br />
Sowohl von Exponenten der Meditation<br />
wie auch in der Focusing-Literatur findet<br />
man Warnhinweise, dass es sich hier um<br />
unterschiedliche Bewusstseinsdimensionen<br />
handelt, die nicht miteinander verwechselt<br />
werden sollen. Eugene Gendlin, dem Focusing-»Gründer«,<br />
war es immer wieder wichtig,<br />
zwischen Focusing und Meditation zu<br />
unterscheiden. Während wir laut Gendlin<br />
beim Focusing zu einem körperlich wahrnehmbaren<br />
Bereich Kontakt aufnehmen,<br />
beschäftigten sich die meisten Meditationsarten<br />
mit einem »tiefer liegenden Raum«.<br />
Dort, im Gegensatz zu Focusing, würden<br />
Worte und Dialog keine Rolle spielen. Eine<br />
Verwechslung der beiden Ebenen könne<br />
dazu führen, dass Menschen beim Lernen<br />
der Focusing-Methode anfänglich Probleme<br />
haben. Die Gefahr, vor der Gendlin warnt,<br />
habe ich auch manchmal in Ausbildungsgruppen<br />
erlebt, wenn Teilnehmende, die in<br />
bestimmten Formen der Meditation oder<br />
zum Beispiel im Autogenen Training geübt<br />
sind, dazu neigen, in diese tiefere Ebene einzutauchen,<br />
anstatt dort zu bleiben, wo ein<br />
innerer Dialog entstehen kann.<br />
Auch von der anderen Seite, bei Anleitungen<br />
zur Meditation, wird gelegentlich<br />
auf eine Unterscheidung zwischen zwei<br />
unterschiedlichen Ebenen hingewiesen. In<br />
manchen Büchern im englischsprachigen<br />
Raum aus dem Bereich der christlichen Spiritualität<br />
– zum Beispiel bei Richard Rohr,<br />
Cynthia Bourgeault oder J.P. Williams – tauchen<br />
öfter die zwei gegensätzlichen Begriffe<br />
»apophatisch« und »kataphatisch« auf, die<br />
aus der Geschichte der Theologie, vor allem<br />
der Mystik, stammen. 1 Für unsere Ohren<br />
klingen diese Begriffe vielleicht ein bisschen<br />
abstrakt oder sperrig, aber sie können helfen,<br />
die unterschiedlichen Dimensionen genauer<br />
zu beschreiben. In »Seeking the God<br />
beyond: a beginner’s guide to Christian apophatic<br />
spirituality« erklärt Williams die Bedeutung<br />
des Wortes apophatisch vom Griechischen<br />
her als eine Bewegung von (apo)<br />
der Sprache (phasis) weg. Kataphatische<br />
Theologie befasst sich dagegen mit dem,<br />
was man in Sprache und Bildern beschreiben<br />
kann. 2 Diese Unterscheidung wird von<br />
Cynthia Bourgeault in ihrem Buch »Centering<br />
prayer and inner awakening« bestätigt,<br />
indem sie zwischen kataphatischen und<br />
apophatischen Formen der Meditation differenziert.<br />
3 Kataphatische Meditation, wie<br />
zum Beispiel bei ignazianischen Exerzitien,<br />
beansprucht die Ebene des Denkens und<br />
Fühlens, während apophatische Kontemplation<br />
auf eine Ebene jenseits oder unterhalb<br />
der Worte zielt, wie dies beim Herzensgebet<br />
(im englischen Sprachraum meist als »centering<br />
prayer« bekannt) der Fall ist. Auch sie<br />
warnt wie Gendlin davor, die beiden Ebenen<br />
miteinander zu verwechseln.<br />
Kataphatisch und apophatisch<br />
Nach diesen Definitionen wäre Focusing<br />
eine kataphatische und die meisten Formen<br />
der Meditation eine apophatische Tätigkeit.<br />
Meditation führt von der »wissenden« Sprache<br />
weg hin zum »nichtwissenden« Schweigen.<br />
Focusing beginnt mit einem Nichtwissen<br />
– mit dem »felt sense«, der gespürt<br />
wird, aber noch keine Sprache hat – und<br />
führt zu den Worten, zum Expliziten hin. In<br />
beiden Methoden haben wir mit einer Bewegung<br />
zwischen den Bewusstseinsebenen<br />
zu tun, aber in entgegengesetzte Richtung.<br />
16 focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021
Themen<br />
Meditierende befinden<br />
sich nicht sofort auf der<br />
wortlosen Ebene, sondern<br />
lassen alles nacheinander<br />
los, was mit Gedanken<br />
und Gefühlen zu tun hat,<br />
um zu einer Dimension<br />
ohne Sprache und Unterscheidungen<br />
zu gelangen.<br />
Focusing beginnt mit<br />
der Wahrnehmung einer<br />
wortlosen Ebene, die man<br />
spüren, aber noch nicht<br />
beschreiben kann, und<br />
lässt Worte oder Bilder daraus<br />
entstehen. Inwiefern<br />
die wortlose Ebene der<br />
Kontemplation und die<br />
des Felt Sense vergleichbar<br />
sind oder ob der Felt<br />
Sense grundsätzlich einen<br />
Bezug zum »Göttlichen«<br />
oder »Spirituellen« in uns<br />
hat – das sind Fragen, die<br />
den Rahmen dieses Artikels<br />
sprengen würden. Hier ist es mir wichtiger,<br />
auf die unterschiedlichen Richtungen<br />
hinzuweisen: In der Meditation bewegt man<br />
sich meistens von »oben« nach »unten« und<br />
beim Focusing umgekehrt.<br />
Trotzdem erlaube ich mir eine kurze<br />
Nebenbemerkung. Aus dieser Perspektive<br />
betrachtet haben die Gottesbegegnungen<br />
im hebräischen Alten Testament eher einen<br />
kataphatischen Charakter. Mose, zum Beispiel,<br />
wird mit etwas konfrontiert, das über<br />
sein Wissen und Verstehen hinausgeht. Er<br />
beschreibt es als einen brennenden Dornbusch,<br />
nähert sich ihm und kommt damit<br />
ins Gespräch. Seine Erfahrung beginnt mit<br />
dem wortlosen Numinosen, bekommt danach<br />
Worte und endet mit einem Auftrag<br />
– er soll das Volk von der Sklaverei befreien.<br />
Ähnliche Schilderungen finden wir in<br />
den Gottesbegegnungen von Abraham oder<br />
Jesaja. Bei all diesen Fällen empfinde ich –<br />
zwar mit einem anderen Vokabular ausgedrückt<br />
– eine große Nähe zu Focusing: Man<br />
hört auf den vagen impliziten Felt Sense,<br />
kommt damit in einen Dialog, aus dem am<br />
Ende ein nächster neuer Lebensschritt entstehen<br />
kann. Apophatische Spiritualität in<br />
der christlichen Tradition dagegen lässt sich<br />
nach meinem Wissen erst bei den Wüstenvätern<br />
und -müttern nach dem 4. Jahrhundert<br />
eindeutig belegen.<br />
Focusing-Begleitung statt<br />
»spiritual bypassing«<br />
Auch wenn Focusing und Meditation sich<br />
normalerweise in zwei verschiedene Richtungen<br />
bewegen, sind sie für mich Wege, die<br />
sich gegenseitig ergänzen und bereichern.<br />
Für mich kommt es darauf an, was ich im<br />
Moment gerade brauche. Ich erlebe manchmal<br />
Zeiten, wo die Wucht der Gedanken,<br />
Ängste, Sorgen oder Wut so überwältigend<br />
zu sein scheint, dass ich nicht in der Lage<br />
bin, mich auf ein Focusing einzulassen. Hier<br />
helfen mir am meisten die Techniken, die<br />
ich bei der Meditation kennen gelernt habe<br />
– ich nehme meinen Atem wahr, komme mit<br />
der Aufmerksamkeit in den Körper und benutze<br />
mein Gebetswort oder Mantra – nicht<br />
um über seinen Inhalt nachzudenken, sondern<br />
damit mein Kopf beschäftigt wird und<br />
kein Platz für andere Dinge übrigbleibt! Und<br />
manchmal tut es gut, keine Themen »bearbeiten«<br />
zu müssen, und stattdessen mich in<br />
der Kontemplation etwas auszuruhen.<br />
Wer sich aber auf Dauer so verhält,<br />
kommt in die Gefahr, dass die Meditationspraxis<br />
zu einer Art von »spiritual bypassing«<br />
wird, um einen Begriff aus einem<br />
Artikel von David Rome anzuwenden 4 . Damit<br />
beschreibt er das Phänomen, dass man<br />
beim Meditieren in eine tiefe Ebene ohne<br />
Worte eintaucht und dabei die Sorgen und<br />
Themen des eigenen Lebens umgeht. Sie<br />
4 David Rome: Focusing –<br />
eine Praxis, die Meditation<br />
ergänzt. Focusing Journal<br />
39, 2017<br />
focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021 17
Themen<br />
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tauchen natürlich als Störenfriede bei der<br />
Meditation auf, aber mit einer gekonnten<br />
Strategie – zum Beispiel mit einem Mantra<br />
oder durch Aufmerksamkeit für den Atemrhythmus<br />
– lässt man sie los und kommt<br />
zu der tiefen Stelle wieder zurück. Thomas<br />
Keating, der Hauptvertreter von Centering<br />
Prayer in den USA, verteidigt diese Meditationsmethode<br />
mit der Behauptung: Je öfter<br />
oder länger wir an dieser tiefen Ebene<br />
ohne Konzepte und Worte verweilen, desto<br />
mehr würden die Themen und Probleme<br />
unseres Lebens sich von dieser Stelle aus<br />
ohne unser bewusstes Zutun alleine sortieren.<br />
Dass die tief verwurzelten problematischen<br />
Persönlichkeitsstrukturen sich<br />
ohne unsere Mitarbeit auflösen – geschweige<br />
denn die »kleineren« Themen, wie zum<br />
Beispiel die Angst vor einer Erkrankung,<br />
ein Beziehungskonflikt oder eine berufliche<br />
Entscheidung –, halte ich eher für<br />
unwahrscheinlich. Übrigens widerspricht<br />
diese Behauptung einer Grunderkenntnis<br />
der christlichen Spiritualität, die bis zu den<br />
Wüstenvätern zurückzuverfolgen ist, nämlich<br />
die Erfahrung: »Nur das, was ich anschaue,<br />
kann geheilt werden.«<br />
In ihrem oben zitierten Buch beschreibt<br />
Bourgeault etwas differenzierter den Läuterungsprozess<br />
beim Meditieren, und dadurch<br />
nimmt sie indirekt Stellung zu der<br />
Behauptung von Keating. Laut Bourgeault<br />
würde beim Meditieren – besonders in der<br />
intensiven Form einer längeren Retraite<br />
– das Verweilen auf einer apophatischen<br />
Ebene den verkrusteten Boden unserer<br />
tiefsten Persönlichkeitsebene auflockern<br />
und es ermöglichen, dass Themen, Stimmungen<br />
und Gefühle in unser bewusstes<br />
Erleben hochsteigen. Nun sei es die Aufgabe<br />
des Meditierenden, all diese Dinge loszulassen<br />
und sich von ihnen innerlich zu<br />
verabschieden. Um dieses zu ermöglichen,<br />
stellt sie das sogenannte »Welcoming prayer«<br />
vor, eine Methode in drei Schritten, die<br />
eine erstaunliche Ähnlichkeit zu bestimmten<br />
Aspekten von Focusing zeigt, aber ohne<br />
es namentlich zu benennen.<br />
Bourgeaults Ausführungen bieten ein<br />
interessantes Beispiel dafür, wie Meditationsprozesse<br />
manchmal Ergänzung brauchen. Sie<br />
zeigt, dass die Bewegung des Bewusstseins<br />
nicht immer nur von oben nach unten geht,<br />
und schlägt eine Methode vor, um die von<br />
unten aufsteigenden Themen zu verarbeiten.<br />
Nach meiner Erfahrung ist Focusing bestens<br />
dazu geeignet – und das nicht nur in einer<br />
abgespeckten Form. Praktisch könnte das so<br />
aussehen: Beim Meditieren kann ich nach<br />
wie vor die Themen, Gedanken und Sorgen<br />
loslassen, aber diejenigen, die öfter auftauchen,<br />
merke ich mir, bevor ich sie verabschiede.<br />
Mit diesen Themen mache ich eine<br />
Art innerer Verabredung und nehme mir<br />
vor, mich ihnen bei der nächsten Gelegenheit<br />
zuzuwenden, sie anzuschauen. So kann<br />
ich meine Meditation fortsetzen, ohne die<br />
Problemstellen zu verdrängen. Durch einen<br />
inneren Dialog mit meinem »Thema« würde<br />
es sich herausstellen, ob sich dabei etwas löst,<br />
damit ich es wirklich loslassen kann, oder ob<br />
es weitere Zuwendung braucht.<br />
Focusing als »flankierende Maßnahme«<br />
bei Meditationskursen<br />
In meinen Erfahrungen als Teilnehmer bei<br />
Meditationsseminaren und –ausbildungen<br />
18 focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021
Themen<br />
ist mir aufgefallen, dass den Teilnehmenden<br />
wenig persönliche Begleitung angeboten<br />
wird, oder wenn doch, dann in einer<br />
sehr vagen Form. Überhaupt wird wenig<br />
darüber geredet, was passiert, wenn man<br />
zwanzig Minuten oder mehr in der Stille<br />
verbringt. Allgemein wird vielleicht darauf<br />
hingewiesen, dass man bei auftauchenden<br />
und belastenden Problemen die Meditationsleiter<br />
ansprechen darf, aber oft fehlt ein<br />
strukturiertes Begleitungsangebot. Meines<br />
Erachtens sollte bei jeder Meditationsausbildung<br />
konkreter über die Erfahrungen<br />
der Teilnehmenden gesprochen werden und<br />
mit Focusing oder einer anderen Form der<br />
seelsorgerlichen oder therapeutischen Hilfe<br />
eine Art flankierende Maßnahme angeboten<br />
werden – nicht erst dann, wenn die Teilnehmenden<br />
beim Meditieren in Schwierigkeiten<br />
geraten. Mit diesem Vorschlag empfehle<br />
ich nicht, die beiden Methoden miteinander<br />
zu vermischen. Meditieren bleibt Meditieren<br />
und Focusing bleibt Focusing, aber als<br />
ergänzende Begleitmaßnahme, um »störende«<br />
Themen bei der Meditation nachträglich<br />
zu bearbeiten, kann Focusing eine wichtige<br />
Unterstützung sein.<br />
Focusing und das Mehr<br />
Bisher habe ich mich in diesem Artikel vorwiegend<br />
damit beschäftigt, wie Focusing eine<br />
Meditationspraxis unterstützen kann. Zum<br />
Schluss würde ich gern die Frage andersherum<br />
stellen: Wie kann Focusing durch meditative<br />
Traditionen ergänzt werden? Wenn<br />
ich Focusing praktiziere, nehme ich zu etwas,<br />
was in mir ist, Beziehung auf. Wenn ich<br />
aufmerksam bin, stelle ich manchmal fest,<br />
dass sich diese Beziehung nicht nur auf »ich<br />
und mein Felt Sense« beschränkt, sondern<br />
mit etwas mehr in Verbindung ist. Wenn<br />
ich begleitet werde, spüre ich natürlich die<br />
Verbindung zu meiner Begleitperson. Aber<br />
manchmal, wenn ich zu einer tiefen Ebene<br />
in mir in Kontakt bin, entsteht ein Gefühl<br />
der Verbundenheit mit anderen Menschen<br />
oder sogar darüber hinaus mit einem »etwas<br />
mehr«, das sich schwer beschreiben lässt,<br />
aber trotzdem da ist.<br />
Jede Tradition der Spiritualität enthält<br />
Bilder oder Sätze, die Menschen benutzt<br />
haben, um ihre Erfahrung mit dem »Mehr«<br />
zu formulieren. Warum sollte man beim<br />
Focusing solche Bilder nicht in Anspruch<br />
nehmen? Darin ist allerdings auch eine<br />
Gefahr enthalten, aber wer sie kennt, kann<br />
sie besser vermeiden. Beim Vermischen<br />
von Focusing und bestimmten Formen der<br />
Spiritualität ist die Versuchung groß, vom<br />
Kopf her Ideen oder Lösungsvorschläge zu<br />
entwickeln (meine Vorstellung von dem,<br />
was guttun könnte), anstatt auf die Antwort<br />
des Körpers zu warten. Es soll nicht darum<br />
gehen, mit einem Bibelvers dem Körper zu<br />
sagen, was er jetzt eigentlich spüren sollte,<br />
sondern mit einem Bild oder Satzteil mache<br />
ich meinem Inneren einen Vorschlag und<br />
warte ab, ob von der eingeengten oder verunsicherten<br />
Stelle eine Resonanz entsteht,<br />
vielleicht eine Art inneres Nicken, ein »Ja,<br />
das tut gut«.<br />
Das hebräische Alte Testament enthält<br />
zum Beispiel unzählige Beschreibungen von<br />
Freiraum oder von einem sicheren Ort, vor<br />
allem in den Psalmen. Eine solche Stelle, auf<br />
die ich neulich aufmerksam gemacht wurde,<br />
ist ein Vers aus Psalm 116 in der Übersetzung<br />
von Martin Buber: ER ist ein Hüter<br />
der Einfältigen, bin ich erschwacht, er befreit<br />
mich. Kehre, meine Seele, zu deiner Ruhestatt<br />
um, Denn ER fertigts für dich. Beim<br />
Sprechen dieser Zeilen (dabei kann ich das<br />
mehrfache befremdliche ER mit anderen<br />
Namen oder mit dem Namenlosen ersetzen)<br />
erkenne ich die darin enthaltene Einladung:<br />
Deine Seele braucht nicht den ängstlichen<br />
Gedanken nachzugehen. Sie darf stattdessen<br />
zu einer Ruhestätte zurückkehren. Und die<br />
musst du nicht mal selber bauen, denn sie<br />
ist in dir schon vorhanden. Der Druck, allein<br />
gegen etwas ankämpfen zu müssen, löst sich.<br />
Ich entspanne mich und merke, wie es ist, an<br />
einer Ruhestätte zu verweilen, um von dort<br />
aus mit etwas mehr Gelassenheit zu beobachten,<br />
wie die Sorgengedanken kommen und<br />
gehen. Alte Worte erreichen eine tiefe innere<br />
Stelle in mir, und ich fühle mich mit einer<br />
langen spirituellen Tradition verbunden.<br />
Wenn ich konsequent nach Focusing-<br />
Art vorgehe, das heißt, wenn ich von meinem<br />
Erleben ausgehe und die alten Worte<br />
dazu nehme, um zu spüren, ob sie passen,<br />
öffne ich auch den Weg für einen sinnvollen<br />
Dialog mit Menschen, die aus anderen<br />
spirituellen Traditionen kommen. Es geht<br />
nämlich nicht um Dogmen, die man glauben<br />
muss, sondern um die Suche nach einer<br />
Sprache, die zu meinem inneren Erleben<br />
passt. Im Austausch mit Menschen aus einem<br />
anderen Hintergrund könnte ich dann<br />
entdecken, dass unsere Erfahrungen sich gar<br />
nicht so viel unterscheiden, sondern nur die<br />
Worte, die wir dafür benutzen, um sie zu beschreiben.<br />
Es soll nicht darum<br />
gehen, mit einem<br />
Bibelvers dem Körper<br />
zu sagen, was<br />
er jetzt eigentlich<br />
spüren sollte.<br />
Dr. Peter Lincoln<br />
Seminarleiter und Evangelisch-<br />
Freikirchlicher Pastor i.R.<br />
Focusing-Ausbilder<br />
promovierter Germanist und<br />
Buchautor<br />
30974 Wennigsen<br />
www.lincoln-link.de<br />
info@lincoln-link.de<br />
focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021 19
Termine<br />
Focusing:<br />
Achtsam sein, Freiraum finden und Lösungsschritte kommen lassen<br />
Für Mitarbeiter*innen in der Flüchtlingsarbeit<br />
Leitung:<br />
Mag.a Inge Pinzker, MSc, Dolmetscherin, Personzentrierte Psychotherapeutin/<br />
Traumatherapeutin, Dozentin der DAF-Akademie<br />
Termin: 21.04.2021, 9:00 – 16:00 Uhr<br />
Ort: Tagungszentrum Diakonie Eine Welt, Steinergasse 3; A-1170 Wien<br />
Anmeldung: Diakonie Eine Welt: dew-akademie@diakonie.at, https://dew-akademie.at<br />
Wasser, Wind und Wohlfühlspur<br />
Segeltörn mit Focusing<br />
in der kroatischen Inselwelt<br />
28.08. – 04.09.2021 ab Sibenik (Kroatien)<br />
auf der Segelyacht Kety, einer komfortablen Grand Soleil 50,<br />
Länge 15 m, 10 Kojen, 2 x Bad/Toilette<br />
Der Spätsommer ist eine optimale Jahreszeit für einen<br />
Segelurlaub auf dem adriatischen Mittelmeer. Wind und<br />
Wetter sind meist sehr gut, die Wassertemperatur des<br />
Meeres liegt bei 25°C, ideal zum Segeln und Baden.<br />
An Land, in den Orten und Buchten wird es ruhiger,<br />
die Feriensaison klingt aus.<br />
Beim Segeln in der wunderschönen Inselwelt ist man »an Bord«, direkt dabei, offen für das, was auftaucht.<br />
Was einen im Alltag beschäftigt, entschwindet, und außen wie innen wird ein großer Freiraum erlebbar. Tag<br />
für Tag von Insel zu Insel, dazwischen weites Meer, schöne Orte und viele kleine Buchten, frei schwimmen,<br />
sich treiben lassen und entspannen. Abends jeweils nach Wahl in der gut ausgestatteten Marina, mitten im<br />
schnuckeligen Fischerort, oder vor Anker in der Bucht …<br />
An Bord der Kety ist viel Platz: auf dem Vorschiff und Mitteldeck zum Sitzen oder Liegen und Lesen, Denken<br />
oder Nichtdenken, aufs Meer schauen; sich hinten im Cockpit mit anderen unterhalten, das Schiff steuern,<br />
trimmen und navigieren. Jede(r) kann dabei mitmachen.<br />
Focusing wird uns helfen, aus dem üblichen Alltag auszusteigen, Freiraum zu schaffen, zu entspannen, zu<br />
genießen, kurz: der Wohlfühlspur zu folgen. Kleine Gruppenfocusings, Focusing-Experimente, Partnerschaftliches<br />
Focusing und Austausch werden je nach Bedarf und Wünschen unsere Reisebegleiter sein.<br />
Kosten: 1.480 €, dazu kommen die eigene Anreise und die Verpflegung.<br />
Maximale Teilnehmerzahl: 5 Personen, im Preis enthalten sind 7 Übernachtungen auf der Kety, Bootskosten wie<br />
hafengebühren und Treibstoff.<br />
Leitung:<br />
Katrin Tom-Wiltschko (Focusing-Trainerin und -Lehrtherapeutin)<br />
Gerd Walter (Segeln und Focusing)<br />
Jens Walter (Skipper und Segellehrer)<br />
Anmeldung:<br />
Bitte kontaktieren Sie uns formlos per Mail:<br />
info@daf-focusing-akademie.com<br />
20 focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021
Termine<br />
Erstmalige Weiterbildung mit Prof. Dr. Donata Schoeller und Prof. Dr. Johannes Wiltschko<br />
Focusing + ECT (Embodied Critical Thinking)<br />
Philosophisches Vertiefen und methodisches Erweitern<br />
Das Initiieren und Begleiten von Focusing-Prozessen ist ein subtiles »Kunsthandwerk«. Verstehen wir die<br />
Philosophie hinter dem Focusing, können wir es verfeinert ausüben und zugleich erweitern.<br />
Erleben und Denken können sich gegenseitig beengen, befremden und ignorieren. Spielen sie nicht gegeneinander,<br />
sondern miteinander, werden sie zur gegenseitigen Inspiration. Gleichförmige und unbewegliche<br />
Erlebensstrukturen lassen uns auch in unserem Denken und Handeln schwer weiterkommen – und vice<br />
versa.<br />
Deshalb werden wir uns in dieser Weiterbildung entlang der Grenzen unseres Erlebens und unseres Denkens<br />
bewegen, damit sich beides gegenseitig öffnen und inspirieren kann. Dabei werden wir uns philosophisch und<br />
methodisch mit der Kunst beschäftigen, alles – was immer es ist – lebendig und bedeutsam werden zu lassen,<br />
um in einen kreativen Dialog mit unserem (Er-)Leben zu kommen, der zu bedeutsamen Wachstumsschritten<br />
(carrying forward) führen kann.<br />
Philosophisch führt uns das zum großen Thema »Resonanz und kreative Verantwortlichkeit«. Alles antwortet<br />
präzise auf die Art und Weise, wie wir es ansprechen. Mit dieser (Ver-)Antwortlichkeit und ihrer Vielschichtigkeit<br />
umgehen zu können, erweitert unsere Spielräume des Erlebens, Denkens und Handelns.<br />
In den Seminaren werden sich methodische Erweiterungen beim Begleiten von Focusing-Prozessen, die philosophische<br />
Praxis des Thinking-at-the-Edge und mikro-phänomenologische Untersuchungen miteinander<br />
abwechseln. Dabei werden Sie auch üben, wie Sie Menschen, die Focusing nicht kennen, begleiten können.<br />
Partnerschaftliche Focusing-Sitzungen, in denen sich die Eindrücke und Erfahrungen des Tages klären und<br />
verbinden können, sind täglicher Bestandteil der Seminare.<br />
Leitung:<br />
Prof. Dr. Donata Schoeller<br />
ist Philosophin und lehrt an den Universitäten Island und Koblenz. Sie leitet das europäische Erasmus<br />
Programm Training in Embodied Critical Thinking, ist Autorin zahlreicher Publikationen, die von Gendlins<br />
Philosophie inspiriert sind. Donata Schoeller hat mit Christiane Geiser und in enger Zusammenarbeit mit<br />
Eugene Gendlin sein Hauptwerk »A Process Model« übersetzt. Sie ist Focusing-Trainerin und international<br />
tätige TAE-Lehrerin. www.donataschoeller.com<br />
Prof. Dr. Johannes Wiltschko,<br />
Psychotherapeut, klinischer Psychologe, Leiter der Akademie für Focusing, Focusing-Therapie und<br />
Prozessphilosophie (DAF-AKADEMIE), hat Gene Gendlin 1979 kennengelernt, viele Jahre mit ihm zusammengearbeitet<br />
und Focusing im deutschen Sprachraum bekannt gemacht. Er begründete die Internationale<br />
Focusing Sommerschule, das Deutsche Ausbildungsinstitut für Focusing und Focusing-Therapie<br />
(DAF) sowie die Zeitschrift <strong>FOCUSINGJOURNAL</strong> und ist Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher zu<br />
Focusing und Focusing-Therapie. www.daf-focusing-akademie.com, jw@daf-focusing-akademie.com<br />
Termine:<br />
3 dreitägige Seminare, jeweils Do 18:00 bis So 13:00 Uhr<br />
seminar I: 27.01. – 30.01.2022, Seminar II: 21.04. – 24.04.2022,<br />
seminar III: 14.07. – 17.07.2022<br />
Teilnahmevoraussetzung:<br />
Teilnahme an der Weiterbildung BASIS oder vergleichbare Focusing-Erfahrungen und -Kenntnisse (mind. 50 Seminarstunden,<br />
Praxis im Partnerschaftlichen Focusing)<br />
Ort: Internationales Kulturzentrum Humboldt-Haus, 88147 Achberg-Esseratsweiler bei Lindau/Bodensee<br />
www.Humboldt-Haus.de, info@humboldt-haus.de, +49 (0)8380 335<br />
Kosten: 1.935 € zahlbar in 3 Raten à 645 €<br />
Ermäßigung für Studierende ohne regelmäßiges Einkommen: 1.350 / 450 €<br />
focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021 21
Termine<br />
Die Weiterbildung BASIS (= Ausbildung zum/zur Focusing-Begleiter/in (DAF)<br />
Der Kernprozess der Persönlichkeitsentwicklung<br />
uu5 dreitägige Seminare<br />
uuoffen für alle interessierten Personen<br />
uuDie Weiterbildung BASIS ist Voraussetzung für die Teilnahme an allen weiteren Weiterbildungen<br />
uuKollegInnen, die eine Ausbildung in personzentrierter Psychotherapie absolviert haben oder in einem fortgeschrittenen Ausbildungsstadium<br />
sind und ausreichende Erfahrungen mit Focusing haben, können auch in die Weiterbildung ESSENTIALS einsteigen.<br />
Abschlussmöglichkeit: Zertifikat Focusing-Begleiter/in (DAF)<br />
Kosten: 390 € pro Seminar (Ermäßigungen siehe untenstehende Website)<br />
Anmeldung und weitere Infos: formlos per Mail an info@daf-focusing-akademie.com<br />
oder über die Website www.daf-focusing-akademie.com/weiterbildungen/basis/<br />
München (Dorfen):<br />
mit Katrin Tom-Wiltschko<br />
Seminar I:<br />
Seminar II:<br />
Seminar III:<br />
Seminar IV:<br />
Seminar V:<br />
17.06. – 20.06.2021<br />
09.09. – 12.09.2021<br />
28.10. – 31.10.2021<br />
02.12. – 05.12.2021<br />
10.03. – 13.03.2022<br />
jeweils Donnerstag 19:00 Uhr<br />
bis Sonntag 13:00 Uhr<br />
Wien:<br />
mit Karin Mayer und<br />
Inge Pinzker<br />
Lindau (Humboldt-Haus):<br />
mit Karin Mayer und<br />
Inge Pinzker<br />
Seminar I: 18.06. – 20.06.2021 Freitag 9:30 Uhr<br />
bis Sonntag 16:30 Uhr<br />
Seminar I: 25.07. – 29.07.2021 Montag 18:00 Uhr<br />
bis Freitag 13:00 Uhr<br />
(Sommerschule, viertägig, 480 €)<br />
Raum Salzburg<br />
(Moorhof):<br />
mit Johannes Wiltschko<br />
Seminar I:<br />
Seminar II:<br />
Seminar III:<br />
Seminar IV:<br />
Seminar V:<br />
23.09. – 26.09.2021<br />
25.11. – 28.11.2021<br />
24.02. – 27.02.2022<br />
07.04. – 10.04.2022<br />
09.06. – 12.06.2022<br />
jeweils Donnerstag 18:00 Uhr<br />
bis Sonntag 13:00 Uhr<br />
Werl (NRW):<br />
mit Edith Sroka-Lasa<br />
Seminar I:<br />
Seminar II:<br />
Seminar III:<br />
Seminar IV:<br />
Seminar V:<br />
16.10. – 17.10.2021 und<br />
06.11. – 07.11.2021<br />
04.12. – 05.12.2021 und<br />
08.01. – 09.01.2022<br />
05.02. – 06.02.2022 und<br />
05.03. – 06.03.2022<br />
02.04. – 03.04.2022 und<br />
14.05. – 15.05.2022<br />
04.06. – 05.06.2022 und<br />
09.07. – 10.07.2022<br />
jeweils Samstag 10:00 Uhr<br />
bis Sonntag 14:00 Uhr<br />
Lindau (Humboldt-Haus):<br />
mit Katrin Tom-Wiltschko<br />
Seminar I:<br />
Seminar II:<br />
Seminar III:<br />
Seminar IV:<br />
Seminar V:<br />
25.11. – 28.11.2021<br />
27.01. – 30.01.2022<br />
21.04. – 24.04.2022<br />
14.07. – 17.07.2022<br />
01.09. – 04.09.2022<br />
jeweils Donnerstag 18:00 Uhr<br />
bis Sonntag 13:00 Uhr<br />
München (Dorfen):<br />
mit Katrin Tom-Wiltschko<br />
Seminar I:<br />
Seminar II:<br />
Seminar III:<br />
Seminar IV:<br />
Seminar V:<br />
05.05. – 08.05.2022<br />
23.06. – 26.06.2022<br />
15.09. – 18.09.2022<br />
24.11. – 27.11.2022<br />
26.01. – 29.01.2023<br />
jeweils Donnerstag 19:00 Uhr<br />
bis Sonntag 13:00 Uhr<br />
Die Weiterbildungen in Prozessphilosophie<br />
Leitung: Prof. Dr. Donata Schoeller<br />
uufortlaufende dreitägige Einzelseminare<br />
uufür die Zertifizierung zum/zur Focusing-Therapeut/in (DAF), Focusing-Coach (DAF), Focusing-Professional (DAF) und Focusing-Trainer/in<br />
(DAF) sind mindestens zwei Seminare obligatorisch<br />
Teilnahmevoraussetzungen: einfache Focusing-Kenntnisse sind empfehlenswert<br />
Kosten: (Ermäßigungen siehe untenstehende Website)<br />
Anmeldung und weitere Infos: formlos per Mail an info@daf-focusing-akademie.com<br />
oder über die Website www.daf-focusing-akademie.com/weiterbildungen/prozessphilosophie/<br />
22 focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021
Termine<br />
Das Geheimnis des »Felt Sense« ergründen –<br />
und die weitreichenden Folgen für die Praxis von Focusing und TAE<br />
Lindau (Humboldt-Haus) 25.07. – 29.07.2021 Montag 18:00 Uhr bis Freitag 13:00 Uhr<br />
(Sommerschule)<br />
Das Prozessmodell als gemeinsamer Erlebensraum:<br />
vom Bewegen zum Bedeuten zum Felt Sense – und zurück<br />
Philosophie in praktischen Übungen<br />
Salzburg (Moorhof) 25.11. – 28.11.2021 Donnerstag 18:00 Uhr bis Sonntag 13:00 Uhr<br />
Vertiefen und Kreuzen: Die Philosophie im Focusing<br />
Salzburg (Moorhof) 10.03. – 13.03.2022 Donnerstag 18:00 Uhr bis Sonntag 13:00 Uhr<br />
Die Weiterbildungen in Focusing-Therapie ...<br />
uupro Weiterbildung 5 dreitägige Seminare (Ausnahme Integral: 2 dreitägige Seminare)<br />
uualle Weiterbildungen im Raum Salzburg im Landhotel Moorhof von Do 18:00 Uhr – So 13:00 Uhr<br />
Abschlussmöglichkeiten nach INTEGRAL: die Zertifikate Focusing-Therapeut/in (DAF), Focusing-Coach (DAF), Focusing-Professional (DAF)<br />
je nach professionellem Anwendungsgebiet<br />
Kosten: 390 € pro Seminar (Ermäßigungen siehe untenstehende Website)<br />
Anmeldung und weitere Infos: formlos per Mail an info@daf-focusing-akademie.com<br />
oder über die Website www.daf-focusing-akademie.com/ausbildungen/auf-einen-blick/<br />
Integral<br />
mit Johannes Wiltschko und<br />
Katrin Tom-Wiltschko<br />
(alternierend)<br />
Seminar I:<br />
Seminar II:<br />
29.04. – 02.05.2021<br />
07.10. – 10.10.2021<br />
Abschlussmöglichkeit:<br />
Zertifikat Focusing-Therapeut/in (DAF)<br />
bzw. Focusing-Coach (DAF) oder<br />
Focusing-Professional (DAF)<br />
Essentials<br />
mit Katrin Tom-Wiltschko und<br />
Johannes Wiltschko<br />
Seminar I:<br />
Seminar II:<br />
Seminar III:<br />
Seminar IV:<br />
Seminar V:<br />
13.05. – 16.05.2021<br />
01.07. – 04.07.2021<br />
23.09. – 26.09.2021<br />
11.11. – 14.11.2021<br />
13.01. – 16.01.2022<br />
Abschlussmöglichkeit:<br />
Zertifikat Focusing-Berater/in (DAF)<br />
Körper<br />
mit Katrin Tom-Wiltschko und<br />
Johannes Wiltschko<br />
Seminar I:<br />
Seminar II:<br />
Seminar III:<br />
Seminar IV:<br />
Seminar V:<br />
03.06. – 06.06.2021<br />
15.07. – 18.07.2021<br />
07.10. – 10.10.2021<br />
09.12. – 12.12.2021<br />
10.02. – 13.02.2022<br />
Trainer<br />
mit Johannes Wiltschko Seminar I: 17. – 20.06.2021<br />
Strukturen<br />
mit Katrin Tom-Wiltschko und<br />
Johannes Wiltschko<br />
Seminar I:<br />
Seminar II:<br />
Seminar III:<br />
Seminar IV:<br />
Seminar V:<br />
05.05. – 08.05.2022<br />
01.09. – 03.09.2022<br />
13.10. – 16.10.2022<br />
08.12. – 11.12.2022<br />
Frühjahr 2023<br />
focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021 23
Termine<br />
40. Internationale Focusing Sommerschule 2021<br />
25. Juli bis 4. August 2021<br />
im Humboldt-Haus Achberg bei Lindau am Bodensee<br />
veranstaltet von der<br />
DAF-AKADEMIE<br />
Zu unserer Jubiläums-Sommerschule laden wir Sie herzlich ein und freuen uns sehr,<br />
wenn Sie im Sommer (wieder) dabei sind!<br />
Prof. Dr. Johannes Wiltschko und Katrin Tom-Wiltschko<br />
Teil I: 25. bis 29. Juli 2021<br />
Der erste Teil der Sommerschule beginnt am Sonntag um 18 Uhr und endet am Donnerstag um 13 Uhr.<br />
Es finden vier Seminare parallel statt.<br />
01 Eintauchen in die Welt von Focusing – eintauchen in die eigene Welt<br />
Seminar I der Weiterbildung BASIS<br />
Leitung: Karin Mayer und Inge Pinzker<br />
Focusing ist ein Weg, sich selbst auf eine ganz neue Art und Weise entdecken zu lernen und dabei eine heilsame Beziehung zu<br />
sich selbst herzustellen. Jenseits von unserem meist lauten und schnellen Alltag gibt es eine Welt, die man nur erkunden kann,<br />
wenn man still wird und aufhört, etwas erreichen zu wollen. Focusing öffnet die Tür zu dieser spannenden und unglaublich reichhaltigen<br />
Welt, in der sich dann mit etwas Übung »spazieren gehen« lässt.<br />
Im Mittelpunkt der Focusing-Methode steht das achtsame Wahrnehmen des »Felt Sense«. Dadurch entsteht ein innerer Raum,<br />
in dem neue Einsichten, Erkenntnisse und nachhaltige Veränderungsschritte möglich werden. Focusing schafft Zugang zu unserem<br />
impliziten, inneren Wissen.<br />
In diesem Seminar werden Sie in einer sicheren und akzeptierenden Gruppenatmosphäre erste persönliche Erfahrungen mit<br />
Focusing machen und »Focusing pur« erleben. Für bereits im Bereich von Therapie/Beratung Tätige ist diese Weiterbildung eine<br />
sehr empfehlenswerte Gelegenheit, etwas für sich selbst zu tun: wieder zu sich selbst zu kommen, eigene Prozesserfahrungen<br />
zu machen, Freiraum zu schaffen und wieder aufzutanken.<br />
Teilnahmevoraussetzung: keine<br />
Mag. a Karin Mayer<br />
Dipl. Psychologin, Dozentin an der DAF-AKADEMIE, Cranio Sacrale Körperarbeit, Feldenkrais-Trainerin, Gruppentrainerin, langjährige<br />
Erfahrung mit Trainings in der Erwachsenenbildung; seit vielen Jahren Begeisterung für Körpertheater und -improvisation<br />
(Pantomime), hat Freude am Gärtnern, Wandern und Klettern, www.innerebalance.at<br />
Mag. a Inge Pinzker<br />
MSc, Personzentrierte Psychotherapeutin, Traumatherapeutin (PITT Reddemann), zertifizierte Focusing-Trainerin (DAF), Dozentin<br />
an der DAF-AKADEMIE, Dipl.-Übersetzerin, Lehrtätigkeit im Gebiet »Fach-Dolmetschen im kommunalen, sozialen und medizinisch-therapeutischen<br />
Bereich«, langjährige Erfahrung in der Arbeit mit Geflüchteten; Amateur-Sängerin, schnuppert gern in<br />
Schauspiel-Workshops und mag Yoga sowie Wandern, www.inge-pinzker.at<br />
02 Lebensfreude – gemeinsam sich über Gewohntes hinaus bewegen<br />
Leitung: Martina Sagmeister und Katrin Tom-Wiltschko<br />
Mit Focusing, Musik und Ausdruck werden wir auf spielerische Weise innere und äußere Bewegungen entstehen lassen, die<br />
unser Erleben freier, leichter, entspannter und freudvoller machen.<br />
Wir werden uns gemeinsam über gewohnte Muster und Voreingenommenheiten hinaus bewegen und mithilfe von focusingspezifischem<br />
Handwerkszeug neue Lebens- und Beziehungsräume entfalten.<br />
24 focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021
Termine<br />
Im Wechselspiel zwischen (innerem) Erleben und verschiedenen Ausdrucksformen werden wir unsere (Er)Lebensprozesse untereinander<br />
unterstützend begleiten und vorantragen.<br />
Teilnahmevoraussetzung: keine<br />
Martina Sagmeister<br />
Dozentin an der DAF-AKADEMIE, em. Professorin am Max-Reinhardt-Seminar der Universität für Musik und Darstellende Kunst<br />
und am Universitäts-Sportinstitut in Wien, Lehrtätigkeit an den Musikhochschulen Malmö, Weimar und Vilnius.<br />
www.martinasagmeister.at<br />
Katrin Tom-Wiltschko<br />
Mitbegründerin und Mitleiterin der DAF-AKADEMIE, Ausbilderin und Supervisorin, Focusing-Therapeutin (DAF), Focusing-<br />
Trainerin (DAF), Dipl.- Sozialpädagogin (FH), Psychotherapeutin (HPG), Künstlerin. ktw@daf-focusing-akademie.com<br />
03 Dynamisches Focusing mit (inneren) Kindern<br />
Leitung: René Veugelers<br />
In meiner Arbeit als Psychotherapeut verbinde ich nonverbale Kommunikation, Körperausdruck, Kreativität und Focusing zu<br />
einem ganzheitlichen System, dem »Dynamisches Focusing«. Es lässt die vorwärtsgerichtete Lebensenergie glühen, sich<br />
bewegen und wachsen.<br />
In diesem Seminar werde ich diese Art von Prozessen demonstrieren, mit euch teilen und zeigen, wie ihr mit Kindern in einer<br />
focusingorientierten Art und Weise sein könnt, wie ihr euch mit den Erfahrungen eurer eigenen inneren Kinder (wieder) verbindet<br />
und wie ihr Kreativität und Flexibilität in euer Leben und eure Arbeit integriert. Das Dynamische Focusing wird eure Spielfreude<br />
und euren Erfindungsreichtum wecken.<br />
Teilnahmevoraussetzung: Grundkenntnisse in Focusing<br />
René Veugelers<br />
ist ein focusingorientierter Kinder- und Kunsttherapeut mit dem Schwerpunkt auf nonverbalen Prozessen und spezialisiert auf<br />
ADHD, ADD, Trauma und Bindungsstörungen. Er verfügt über einen großen Reichtum an Ideen und Methoden, die das natürliche<br />
Entfalten kreativer Prozesse unterstützen. René arbeitet u.a. mit Eltern, Therapeuten und Lehrern sowie in Tagesbetreuungseinrichtungen<br />
und Hospizen und unterrichtet in Israel, Gaza, Russland, Deutschland, Frankreich, England, Irland, USA, Kanada und<br />
Hongkong.<br />
René lebt und arbeitet in den Niederlanden. Er versteht Deutsch und spricht leicht verständliches Englisch. www.ftcz.nl<br />
04 Das Geheimnis des »Felt Sense« ergründen – und die weitreichenden Folgen<br />
für die Praxis von Focusing und TAE<br />
Leitung: Donata Schoeller<br />
»Felt Sense« – dieses wunderbare Wort steht im Kern der Praxis des Focusing. Dieser Begriff hat eine kleine Revolution bewirkt:<br />
denn er stellt unser Innenleben in ein neues Licht. Je mehr wir auf den Felt Sense hören, desto genauer beginnt dieser zu sprechen.<br />
Je mehr wir zusätzlich auch beginnen zu begreifen, was dieses Phänomen über das Menschsein aussagt, desto spannender<br />
wird die Übung.<br />
In diesem Seminar werden wir erleben, wie die Philosophie, die hinter dem Felt Sense steht, unsere Möglichkeiten und Spielräume<br />
des Übens erweitert. Auf diese Weise vertieft ein nachdenklicher Ansatz das Focusing und das Focusing vertieft wiederum<br />
die Möglichkeiten des Nachdenkens.<br />
Diesen Kongruenz-Kreislauf zwischen Philosophie, Thinking-at-the-Edge und Focusing werden wir in diesem Seminar am eigenen<br />
Leib nachvollziehen: mit frischen Übungen, gemeinsamen Gesprächen und kleinen Ausschnitten aus Gendlins Philosophie,<br />
die uns den Begriff des »Felt Sense« in neuer Weise erschließen.<br />
Teilnahmevoraussetzung: Grundkenntnisse in Focusing<br />
Prof. Dr. Donata Schoeller<br />
Dozentin an der DAF-AKADEMIE, lehrt Philosophie mit den Schwerpunkten Prozessphilosophie und TAE an Universitäten in USA<br />
und Europa, hat in enger Zusammenarbeit mit Gene Gendlin dessen Hauptwerk »Ein Prozess-Modell« übersetzt und gibt seine<br />
Artikel heraus. www.donataschoeller.com<br />
focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021 25
Termine<br />
Festtag: 30. Juli 2021<br />
05 Workshop mit Johannes Wiltschko<br />
Freitag von 10 bis 17 Uhr, anschließend Jubiläumsfeier<br />
Unglaublich: 40 Jahre lang gibt es die Sommerschule! Als ich 30 Jahre alt war, habe ich sie zusammen mit Friedhelm Köhne<br />
erträumt und diesen Traum sogleich in die Wirklichkeit umgesetzt. Nun bin ich 70 und die Sommerschule – und ich – leben frisch<br />
und munter noch immer!<br />
Das wollen wir feiern. Zwischen dem ersten und zweiten Teil der Sommerschule, am Freitag, den 30. Juli, gibt es mit mir einen<br />
eintägigen Jubiläums-Workshop und anschließend gemeinsames Feiern! Dazu lade ich dich herzlich ein!<br />
Johannes Wiltschko<br />
Prof. Dr. Johannes Wiltschko<br />
Klinischer Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Lehrtherapeut und Supervisor, Gründer des Deutschen Ausbildungsinstituts<br />
für Focusing und Focusing-Therapie (DAF) und der Internationalen Focusing Sommerschule, Herausgeber des Focusing-Journals,<br />
Mitbegründer und Mitleiter der DAF-AKADEMIE. jw@daf-focusing-akademie.com<br />
Teil II: 31. Juli bis 4. August 2021<br />
Der zweite Teil der Sommerschule beginnt am Samstag um 18 Uhr und endet am Mittwoch um 13 Uhr.<br />
Es finden drei Seminare parallel statt.<br />
06 Inner Family Systems (IFS) in der professionellen Selbstfürsorge<br />
Leitung: Dr. Uta Sonneborn<br />
Die in therapeutischen und sozialen Berufen Tätigen sind oftmals mit schweren Schicksalen und komplexen Biografien von<br />
Menschen befasst, die ihre Hilfe suchen. Um zentriert, offen, wertschätzend und respektvoll zu bleiben, um sich einlassen und<br />
sich abgrenzen zu können, um nicht in ein Helfer- oder Burnoutsyndrom zu fallen, ist Professionelle Selbstfürsorge das Mittel der<br />
Wahl. Mit diesem Werkzeug ist es möglich, lebenslang Freude und Begeisterung in diesen Berufen zu haben und nicht die Persönlichkeit<br />
in einer Rolle zu verlieren (déformation professionelle).<br />
Professionelle Selbstfürsorge heißt, seinen eigenen Resonanzboden der Gefühle, Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen und Motivationen<br />
zu kennen, wenn man sich auf einen intensiven professionellen Kontakt zu einem anderen Menschen einlässt.<br />
Sie beruht auf angewandtem Wissen um die systemische Therapie mit der Inneren Welt und der achtsamkeitsbasierten, körperzentrierten<br />
und erlebensorientierten Praxis der IIFS. Sie hilft, sekundäre Traumatisierungen zu verhüten, indem sie klar zwischen<br />
Ich und Du unterscheidet, Grenzen der Person und Vermischungen zwischen den Persönlichkeitsanteilen aufspürt und u.a. Methoden<br />
der Psychotraumatherapie auch für die Helfer*innen anwendet.<br />
Dieses Seminar ist eine Gelegenheit, sich selbst und die eigenen unterschiedlichen Persönlichkeitsanteile, die uns bei der Arbeit<br />
begleiten, besser kennenzulernen. Häufig gehen jüngere Anteile mit uns zur Arbeit und strengen sich für ein Lebensszenario aus<br />
früheren Zeiten mit den Mitteln von damals an, was zu alltäglichen Verwicklungen, Projektionen, Konflikten etc. führen kann und<br />
unser Leben komplizierter macht. Diese zu erkennen, zu würdigen und zu entlasten, kann helfen, klarer, zentrierter, präsenter<br />
und mit mehr Freude im Leben und bei der Arbeit unterwegs zu sein.<br />
Teilnahmevoraussetzung: Das Seminar ist sowohl für IIFS- bzw. Focusing-Erfahrene als auch für Neulinge in diesen Methoden<br />
geeignet.<br />
Dr. Uta Sonneborn<br />
Gründerin und Leiterin des Instituts für integrative systemische Therapie mit der Inneren Familie (IIFS), Körper- und Traumatherapeutin,<br />
Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin, Lehrbeauftragte der Universität Heidelberg. www.iifs-institut-heidelberg.de<br />
07 Focusing, Clown und Narr – im Spiel zum freien authentischen Ausdruck finden<br />
Leitung: Bettina Natho<br />
Im Focusing machen wir uns vertraut mit unseren Emotionen und inneren Anteilen, indem wir ihnen mit Neugier und Offenheit zu<br />
begegnen versuchen.<br />
In diesem Seminar geht es darum, dem, was auf dieser »inneren Bühne« lebendig wird, auf spielerische Weise Stimme und<br />
Körperausdruck zu verleihen. Im ersten Schritt jeder für sich selbst, im nächsten Schritt bringen wir etwas davon auf die äußere<br />
Bühne.<br />
26 focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021
Termine<br />
Von angeleiteten Gruppen-Focusings, Aufwärm- und Kontaktspielen, Bewegung mit und ohne Musik und begleitenden Inputs<br />
gehen wir über zu kleinen Gruppen- und Einzelimprovisationen. Die Übungen aus dem Fooling und Clowning sind geeignet, die<br />
inneren Bremsen zu lockern, die unseren freien und authentischen Ausdruck behindern. Vom Clown nehmen wir Fehlertoleranz<br />
und Unperfektheit und Übertreibung, vom Fool die Freiheit, alle Rollen zu spielen und nicht »unterhaltsam« sein zu müssen.<br />
Energie, Lebensfreude und Leichtigkeit kommen in Fluss, das Gefühl des Verbundenseins entsteht.<br />
Teilnahmevoraussetzung: keine<br />
Bettina Natho<br />
M.A., Focusing-Beraterin (DAF), Leiterin der Jokers-Clownschule in Hamburg, Klinikclownin, Gründerin und mehrjährige Vorsitzende<br />
von Klinik-Clowns Hamburg e.V., Clownkurse für Erwachsene seit 1998. www.jokers-clownschule-hamburg.de/<br />
08 Cranio + Focusing – achtsames Berühren und focusingorientiertes Begleiten<br />
Leitung: Andrea Auer-Hutzinger<br />
Craniosacrale Biodynamik ist eine aus der Osteopathie entstandene sanfte und gleichzeitig tiefgehende manuelle Körperarbeit,<br />
die die Selbstheilungskräfte anregt und tiefsitzende Blockaden lösen kann.<br />
Dieses Seminar wird einen Einblick in die interessante Welt der inneren Craniobewegungen und in die Haltung dieser Berührungs-Arbeit<br />
geben.<br />
Cranio und Focusing lassen sich so gut kombinieren, weil beide Methoden auf ähnlichen Grundannahmen beruhen: Wir »reparieren«<br />
kein System, das aus dem Lot gekommen ist, sondern tragen mit unserer inneren Ausrichtung dazu bei, dass sich Körper,<br />
Geist und Seele »von selbst«, von innen heraus im eigenen Tempo in einen Regenerations-, Wachstums- und Entwicklungsprozess<br />
begeben können.<br />
Dies ist ein Halbtagsseminar (vormittags von 10-13 Uhr). An den Nachmittagen können Sie sich zum Partnerschaftlichen Focusing<br />
verabreden, Einzelstunden bei DAF-AKADEMIE-DozentInnen oder eine Cranio-Behandlung nehmen.<br />
Teilnahmevoraussetzung: Grundkenntnisse in Focusing und Freude an Berührung<br />
Andrea Auer-Hutzinger<br />
Craniosacral-Therapeutin, Lehrende und Mitglied im Leitungsteam an der Wiener Schule für Craniosacrale Biodynamik; diplomierte<br />
Psychologische Beraterin und Focusing-Beraterin (DAF); seit 30 Jahren in den Bereichen Körperarbeit, Stressrelease,<br />
Selbstregulation und psychologische Prozessbegleitung tätig. www.behandlungs-raum.at, https://www.craniosacralschule.at<br />
Fortbildungspunkte<br />
für die Seminare der Sommerschule sind bei der Psychotherapeutenkammer beantragt.<br />
Die Internationale Focusing Sommerschule ist von der Psychotherapeutenkammer akkreditiert.<br />
Seminarkosten<br />
Seminare 01, 02, 03, 04, 06 und 07: € 480,–; Seminar 05: € 100,–; Seminar 08: € 290,–<br />
ohne Unterkunft und Verpflegung<br />
ANMELDUNG<br />
Bitte melden Sie sich an:<br />
per Mail bei info@daf-focusing-akademie.com oder über die Website<br />
www.daf-focusing-akademie.com/focusing-sommerschule/<br />
focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021 27
Themen<br />
Wie man strukturgebundenes<br />
Verhalten bei Klienten erzeugt<br />
Eine Praxisanleitung zum Umgang mit eigenen<br />
Absichten<br />
■■<br />
Von Katrin Tom-Wiltschko<br />
Unsere Absichten<br />
haben die Angewohnheit,<br />
selbstverständlich<br />
und<br />
unhinterfragt bleiben<br />
zu wollen. Und<br />
sich oft als etwas<br />
Gutgemeintes auszugeben.<br />
Eine oft gestellte Frage<br />
»Was kann ich tun, um meine Klientin, die<br />
ständig redet und alles erklärt, endlich zum<br />
Spüren zu bringen?«, fragt ein Supervisand.<br />
Dies ist eine Frage, die auch in unseren Seminaren<br />
immer wieder gestellt wird – sich<br />
aber aufgrund der absichtslosen und wertfreien<br />
Haltung, die wir als BegleiterIn einnehmen<br />
wollen, eigentlich nicht stellen<br />
dürfte. Warum stellt sie sich dennoch immer<br />
wieder?<br />
Vermutlich, weil wir glauben, jederzeit<br />
wissen zu müssen, wo es im Leben langgeht.<br />
Das ist ein internalisierter gesellschaftlicher<br />
Anspruch, der in uns allen drinsteckt. Und<br />
daher auch in der Situation der Beratung,<br />
des Coachings, der Therapie, und zwar in<br />
den KlientInnen und den BegleiterInnen.<br />
Es geht hier um mehr als ein »Ach so,<br />
beim Focusing ist es wichtig, absichtslos<br />
zu sein. Gut. Dann bin ich das eben«. Um<br />
absichtslos und wertfrei sein und entsprechend<br />
handeln zu können, braucht es einen<br />
Paradigmenwechsel in uns: vom Wissenden<br />
zum Nichtwissenden, vom Tun und Machen<br />
zum Da-Sein und Mit-Sein. Erst der erlaubt<br />
dem Impliziten in mir selbst und im anderen,<br />
sich zu entfalten und auszudrücken.<br />
Sich eigenen Absichten stellen<br />
Unsere Absichten haben die Angewohnheit,<br />
selbstverständlich und unhinterfragt bleiben<br />
zu wollen. Und sich oft als etwas Gutgemeintes<br />
auszugeben. »Ich will ja nur helfen!«,<br />
»Ich will, dass es dem anderen besser<br />
geht!« oder eben: »Ich will ja nur, dass sie/<br />
er endlich vom Kopf weg und ins Spüren<br />
kommt!« Und gute Absichten können doch<br />
nicht verkehrt sein! Oder?<br />
Aber: In all diesen gutgemeinten Absichten<br />
schwingt mit, dass wir die andere<br />
Person nicht so akzeptieren, wie sie ist oder<br />
die bestehende Situation so nicht wollen.<br />
Wir wollen mehr. Wir wollen hilfreich sein.<br />
Wir wollen, dass KlientInnen endlich Lösungen<br />
finden.<br />
Unsere Absichten, besonders die, die wir<br />
heimlich verfolgen oder derer wir uns oft<br />
nicht einmal bewusst sind, sind sehr wirksame<br />
Kräfte, die beim Gegenüber fast zwangsläufig<br />
zu strukturgebundenem Erleben und<br />
Verhalten führen: Ihm oder ihr bleibt meist<br />
nichts anderes übrig, als sich entweder diesen<br />
Absichten (heimlich) zu widersetzen<br />
oder ihnen gegenüber folgsam zu sein. Und<br />
so konterkarieren wir, ohne es zu wollen,<br />
das, was wir eigentlich wollen, nämlich den<br />
Eigenwillen und die Selbständigkeit unseres<br />
Gegenübers stärker werden zu lassen.<br />
Es ist der Mühe wert, uns unseren Absichten<br />
zu stellen, denn sie sind fast immer<br />
strukturgebunden und verhindern somit<br />
frisches, neues Erleben, sowohl in uns selbst<br />
als auch im Gegenüber, egal ob es sich dabei<br />
um FreundInnen, Focusing-PartnerInnen,<br />
KlientInnen oder SupervisandInnen handelt.<br />
Sich eigenen Absichten zu stellen, heißt,<br />
Gewohnheiten und (angebliche) Sicherheiten<br />
zu hinterfragen. Dazu muss man die<br />
eigene Komfortzone zeitweilig verlassen<br />
und es für möglich halten, dass sich hinter<br />
dem absichtsvollen Teil ein ängstlicher oder<br />
vernachlässigter Teil zeigt, der einstmals<br />
28 focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021
Themen<br />
etwas gebraucht hätte, aber statt einer liebevollen<br />
Zuwendung vielleicht noch mehr<br />
Härte und Anforderungen zu hören oder<br />
zu spüren bekommen hat. Diesem Teil zu<br />
begegnen, braucht es ein wenig Mut – und<br />
eine absichtslose Haltung, viel Freiraum und<br />
vielleicht auch Unterstützung durch ein Gegenüber.<br />
Sich darauf einzulassen, ist lohnenswert.<br />
Der Lohn wird unter anderem sein, weniger<br />
Verantwortung für die andere Person übernehmen<br />
zu müssen und zu wollen und mehr<br />
Verantwortung für sich selbst übrig zu haben.<br />
Versuch einer Antwort<br />
Ich habe den Supervisanden gebeten, das<br />
mit einer Haltung/Geste auszudrücken, wie<br />
er bisher versucht hat, seine Klientin zum<br />
»nach innen Spüren« zu bewegen, und das<br />
dann körperlich an mir auszuprobieren.<br />
Daraufhin stellte er sich mit etwas erhöhter<br />
Körperspannung hinter mich und stupste<br />
mich mit seinen beiden auf meinen Schulterblättern<br />
liegenden Händen stetig nach<br />
vorne. Nun schlug ich vor, dasselbe bei ihm<br />
zu tun, damit er spüren könne, wie sich das<br />
für ihn anfühlt. Schnell bemerkte er: »Das<br />
ist ja sehr unangenehm!«<br />
Diese Verkörperung der Absicht, eine<br />
Klientin »wohin zu bringen«, führte meinem<br />
Supervisanden und mir die negative<br />
Auswirkung dieser Absicht so plastisch<br />
vor Augen, dass ich beschloss, dazu eine<br />
Übung für die nächste Ausbildungsgruppe<br />
zu entwickeln. Als die TeilnehmerInnen die<br />
Übung durchführten, entstanden alle möglichen<br />
Teilpersonen bzw. Gestalten: z.B. ein<br />
einsamer Ritter in Rüstung auf dem Pferd,<br />
ein großer distanziert wirkender Leuchtturm,<br />
Rumpelstilzchen, eine mächtige Gestalt,<br />
die der Teilnehmerin endlich mal die<br />
Meinung sagte und sie dabei am Kragen<br />
packte …<br />
Die Übung half, diese absichtsvollen<br />
Kräfte und Energien in den TeilnehmerInnen<br />
ans Licht zu bringen, statt sie unentdeckt<br />
und im Untergrund weiterhin wirksam<br />
sein zu lassen – und sie könnte auch für<br />
Sie interessant sein, wenn Sie Partnerschaftliches<br />
Focusing praktizieren oder als BegleiterIn,<br />
BeraterIn, Coach, PsychotherapeutIn,<br />
SeelsorgerIn, AusbilderIn o.ä. arbeiten. Jede<br />
Absicht und jede Überzeugung sind des<br />
Disidentifizierens würdig!<br />
(Therapeutische) Absichten als<br />
Teilpersonen kreieren<br />
Wie könnten Sie Ihren eigenen Absichten<br />
auf die Spur kommen? Beispielsweise, indem<br />
Sie eine vergangene (Begleit-, Coaching-<br />
oder Therapie-)Situation erinnern,<br />
in der es sich nicht gut oder irgendwie zäh,<br />
anstrengend oder leer angefühlt hat und der<br />
Prozess nicht ins Fließen gekommen ist.<br />
Sie könnten sich jetzt fragen: »Wenn ich<br />
mir eine bestimmte Person und Situation<br />
vergegenwärtige und mir vorstelle, ich wäre<br />
nicht BegleiterIn oder TherapeutIn, sondern<br />
»frei« – was würde ich am liebsten mit dieser<br />
Person tun?« … und sich ein bisschen<br />
Zeit lassen, um zu bemerken, was vielleicht<br />
von innen zu dieser Frage auftaucht.<br />
Sie könnten weiter fragen: »Was war dabei<br />
möglicherweise meine Absicht?« »Was<br />
wollte ich vielleicht (Gutes) für die Person?«<br />
und »Wie wollte ich es?« »Wie habe ich mich<br />
dabei gefühlt?« Wenn Sie diese Fragen mit<br />
nach innen nehmen und sie dorthin stellen<br />
… – vielleicht taucht von dort etwas Vages<br />
auf. Dabei ist es hilfreich zu wissen: Das bin<br />
nicht ich, sondern das ist ein Teil von mir,<br />
mit dem ich in der vorgestellten Situation<br />
mit hoher Wahrscheinlichkeit identifiziert<br />
war. Dadurch entsteht Freiraum. Das nur<br />
zu wissen, reicht aber nicht aus. Es braucht<br />
ein Spüren, damit ein Durchatmen und ein<br />
Freiraum-Gefühl möglich werden.<br />
Nun wäre es gut, wenn Sie mit diesem<br />
Vagen etwas Zeit verbringen, atmen, nichts<br />
von ihm wollen (also absichtslos verweilen),<br />
so dass es sich zeigen und entfalten kann.<br />
Nach einer kleinen Weile könnten Sie es<br />
fragen: »Wenn das in mir ein Wesen wäre,<br />
wie würde es aussehen? Wie würde es sich<br />
halten oder verhalten?« Möglicherweise entsteht<br />
wie von selbst eine Gestalt, eine Form,<br />
eine Figur dazu. Dadurch kann das vage Gespürte<br />
deutlicher, expliziter werden.<br />
Oft ist es hilfreich, dem, was sich verdeutlicht<br />
hat, einen passenden Namen zu<br />
geben. Das ist eine Art von kleiner »Taufe«,<br />
die oft schon einen kleinen oder auch größeren<br />
Felt Shift mit sich bringt. Als Nächstes<br />
können Sie diesem »Wesen«, das nun einen<br />
Namen hat, einen guten Platz in dem Raum,<br />
in dem Sie sich gerade aufhalten, zukommen<br />
lassen.<br />
Wichtig ist aufzupassen, dass der soeben<br />
hinausgestellte Teil nicht die Regie<br />
übernimmt. Regisseur des Prozesses bleiben<br />
Sie, Ihr inneres »ICH«! Daher fragen Sie<br />
sich: »Wie will ich mit diesem Teil sein/um-<br />
Jede Absicht und<br />
jede Überzeugung<br />
sind des Disidentifizierens<br />
würdig!<br />
focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021 29
Themen<br />
Katrin Tom-Wiltschko<br />
Co-Leiterin der DAF-AKADEMIE<br />
ktw@daf-focusing-akademie.<br />
com<br />
gehen?« Bei »gewöhnlichen« Focusing-Prozessen<br />
fragen wir oft in die andere Richtung:<br />
»Wie geht es mir mit X?« Für die Regieübernahme<br />
des ICH ist dieses aktive »Wie will<br />
ich mit« meist geeigneter als das passive<br />
»Wie geht es mir mit«.<br />
Nachdem Ihr ICH auf diese Weise eine<br />
frische Beziehung zu dem (zuvor identifizierten/strukturgebundenen)<br />
Teil aufgenommen<br />
hat, können Sie diese imaginierte<br />
Gestalt/diesen Teil direkt fragen: »Was ist es,<br />
das dich auf den Plan ruft? Wofür stehst du<br />
ein? Wovor hast du vielleicht Angst? Wen<br />
willst du schützen?«<br />
Vielleicht zeigt sich jetzt auch ein anderer<br />
Teil in Ihnen, der sich unsicher, hilflos<br />
oder überfordert fühlt. Und vielleicht stellen<br />
Sie jetzt fest, dass diese absichtsvolle Gestalt<br />
(erste Teilperson) dem (kindlichen) Anteil<br />
(zweite Teilperson) zu Hilfe gekommen ist,<br />
um ihn aus einer (einstmals ausweglosen)<br />
Situation zu retten.<br />
Jetzt wäre gut, sich auch dieser zweiten<br />
Teilperson zuzuwenden, um ihr die fehlende<br />
liebevolle Zuwendung und das einfühlsame<br />
Verständnis jetzt zukommen zu lassen, welche<br />
sie früher so sehr gebraucht hätte und<br />
die sie jetzt noch immer sucht.<br />
Dieses Vorgehen lässt sich mithilfe der<br />
verschiedenen Varianten der sogenannten<br />
»Teile-Arbeit« bei Bedarf auch fortsetzen<br />
und erweitern.<br />
Absichtsloses Guiding<br />
Erst wenn wir (uns selbst und) die anderen<br />
Menschen in ihrem Sosein lassen und nicht<br />
anders haben wollen, sie mit unseren Ab-<br />
sichten, Hypothesen oder Ratschlägen verschonen<br />
und ihnen mit Mitsein, Verstehenwollen<br />
und Akzeptanz begegnen, werden sie<br />
beginnen, mit sich selbst wohlwollend und<br />
mitfühlend zu sein. Erst dann werden sich<br />
nach und nach die ungeliebten Anteile ans<br />
Tageslicht trauen. So wird sich aus einem<br />
versteinerten, harten Felsbrocken mit Sonnenlicht<br />
und Wärme vielleicht etwas neues<br />
Lebendigeres formen.<br />
Das Prinzip »dahinter« ist die theoretisch<br />
gut begründete Erfahrung: So wie wir<br />
uns zu unseren Themen, unseren inneren<br />
Anteilen, Gefühlen und auch Klienten verhalten,<br />
so werden sie sich uns gegenüber<br />
verhalten. So wie wir auf etwas zugehen, so<br />
wirkt es auf uns zurück.<br />
Aus diesem Sein mit dem, was ist, und<br />
keinen Schritt weitersein wollen, aus dem<br />
Mitfühlen und Aushalten, dass im Moment<br />
keine Lösung in Sicht ist, können im Gegenüber<br />
selbst Schritte entstehen.<br />
Wenn wir mit dem anderen die Lücke,<br />
das Nichts, das Nichtmehrweiterwissen beatmen<br />
und bewohnen, dann schaffen wir<br />
auch in uns einen Raum, einen Raum des<br />
Mitfühlens und Verstehens, in dem uns<br />
»Einfälle« oder »Ideen« kommen können.<br />
Diese können wir dann als Vorschläge in<br />
den Prozess einbringen. Im Gegensatz zu<br />
unseren Absichten werden wir an diesen<br />
Guiding-Vorschlägen nicht hängen, weil<br />
sie nicht aus unserem strukturgebundenen<br />
Wollen kommen. Sie sind frisch und frei.<br />
Und sie sind es, die dazu beitragen, den<br />
Prozess lebendig zu machen und voranzutragen.<br />
Katrin Tom-Wiltschko<br />
bietet die Weiterbildung BASIS im Raum München (Ferienhof »Adambauer«) von Juni 2021 bis März 2022 an<br />
und auf der Internationalen Focusing Sommerschule zusammen mit Prof. Martina Sagmeister das Seminar<br />
Lebensfreude – gemeinsam sich über Gewohntes hinaus bewegen<br />
»Mit Focusing, Musik und Ausdruck werden wir auf spielerische Weise innere und äußere Bewegungen entstehen<br />
lassen, die unser Erleben freier, leichter, entspannter und freudvoller machen. Wir werden uns gemeinsam über<br />
gewohnte Muster und Voreingenommenheiten hinaus bewegen und mithilfe von focusingspezifischem Handwerkszeug<br />
neue Lebens- und Beziehungsräume entfalten.<br />
Im Wechselspiel zwischen (innerem) Erleben und verschiedenen Ausdrucksformen werden wir unsere (Er)Lebensprozesse<br />
untereinander unterstützend begleiten und vorantragen.«<br />
Teilnahmevoraussetzung: keine<br />
30 focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021
Themen<br />
Absichten in Wunschräume<br />
verwandeln<br />
Transkript aus einem Weiterbildungsseminar<br />
in Focusing-Therapie mit Johannes Wiltschko<br />
Teil II<br />
Der erste Teil von Absichten in Wunschräume<br />
verwandeln (FOCUSING-<br />
JOURNAL 45) endete mit der Auffassung,<br />
dass das Nicht-Wissen und das Keine-<br />
Worte-Haben und das Halten des offenen<br />
Raums, in dem Worte kommen können, das<br />
Herzstück von Focusing ist. Und dass absichtsvolles<br />
therapeutisches Handeln, auch<br />
wenn es uns so vorkommen mag, als wäre es<br />
durch Focusing-Konzepte legitimiert, häufig<br />
dazu führt, dass sich dieser offene Raum<br />
verschließt bzw. gar nicht erst entstehen<br />
kann – und damit dieses Herzstück tendenziell<br />
verletzt.<br />
Freiwilligkeit<br />
Gisela: Ich glaube, dass meine therapeutischen<br />
Absichten meistens mehrfach legitimiert<br />
sind. Und das macht es auch so<br />
schwierig. Die Absichten sind durch die Erwartungen<br />
der Klienten legitimiert, sie sind<br />
aber auch durch die Erwartungen und den<br />
Druck, der von den Krankenkassen ausgeht,<br />
legitimiert oder eventuell auch von anderen<br />
Institutionen oder von irgendwelchen Vorgesetzten.<br />
Und deshalb finde ich, ist Focusing<br />
immer wieder aufs Neue ganz schön herausfordernd.<br />
Es ist eine große Herausforderung,<br />
dieses Herzstück geschehen lassen zu können.<br />
Okay – was du da sagst, führt uns zu der<br />
Frage, ob und wie Focusing in einem institutionellen<br />
Kontext möglich ist.<br />
Meiner Meinung nach ist absolute Freiwilligkeit<br />
eine Bedingung für das Zustandekommen<br />
von Focusing-Prozessen. In dem<br />
Moment, in dem irgendein Zwang oder<br />
Druck da ist, heißt das ja auch, das kein<br />
Freiraum da ist. Und so kann das, was wir<br />
vorhin versucht haben zu beschreiben, nicht<br />
geschehen. Wenn wir focusingtherapeutisch<br />
arbeiten, ist ja eines unserer Hauptanliegen<br />
zu versuchen, mit der Klienten-Person einen<br />
freien Raum zu kreieren. Was in dem Begriff<br />
»Freiraum« phänomenologisch alles steckt,<br />
alle seine verschiedenen subtilen Aspekte,<br />
müssen wir hier jetzt nicht wiederholen.<br />
Wenn aber die Institution, in der du<br />
arbeitest, oder irgendwelche Vorgesetzten<br />
einen zusätzlichen, externen Druck produzieren,<br />
dann entsteht die Frage: Kannst du<br />
unter derartigen Kontext-Bedingungen mit<br />
dem Klienten diesen druckfreien, freiwilligen<br />
Raum errichten? Und wenn das gar<br />
nicht gelingt, sage ich: Kontraindikation für<br />
Focusing! Es hilft weder deinem Klienten<br />
noch dir, sich monatelang aufzureiben und<br />
etwas zu versuchen, wofür die Bedingungen<br />
überhaupt nicht gegeben sind.<br />
Ich würde aber nicht allzu schnell aufgeben.<br />
Die Antwort auf die Frage, wie ich diesen<br />
Druck, der von außen quasi durch die<br />
Türritzen und durch das Schlüsselloch hereindampft,<br />
abhalten könnte, um für mich<br />
mit dem jeweiligen Klienten einen freien<br />
Raum zu schaffen, ist selbst ein Prozess, der<br />
wie jeder Prozess Interaktion ist: Interaktion<br />
in mir, Interaktion mit den Personen<br />
und Strukturen, die Druck erzeugen, und<br />
vor allem Interaktion mit meinen Klienten.<br />
Es ist notwendig, mit ihnen diesen Druck<br />
ganz konkret anzusprechen, so dass er nicht<br />
heimlich unseren Raum vernebelt, sondern<br />
Es hilft weder deinem<br />
Klienten noch<br />
dir, sich monatelang<br />
aufzureiben und etwas<br />
zu versuchen,<br />
wofür die Bedingungen<br />
überhaupt<br />
nicht gegeben sind.<br />
focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021 31
Themen<br />
Der Focusing-<br />
Prozess gibt sich<br />
glücklicherweise<br />
nicht dafür her, ein<br />
von irgendjemandem<br />
vorher ausgedachtes<br />
Schreibtischziel<br />
zu erfüllen.<br />
1 Gendlins Terminus carrying<br />
forward wird meistens mit<br />
»weitertragen« oder »fortsetzen«<br />
übersetzt. In der<br />
Praxis sagen wir dazu auch<br />
»Schritt« oder »Felt Shift«.<br />
In Gendlins Philosophie ist<br />
es ein zentraler Begriff, der<br />
einen komplexen Vorgang<br />
benennt. Mehr dazu in Experiencing<br />
and the creation<br />
of meaning (Northwestern<br />
University Press, 1997) und<br />
in Ein Prozess-Modell (Karl<br />
Alber Verlag, 20162).<br />
dass wir uns ihm stellen. Dass wir nicht so<br />
tun, als gäbe es den Druck von außen nicht,<br />
sondern dass wir ihn quasi wie eine imaginäre<br />
Person im Raum ganz konkret dabeihaben<br />
und uns mit ihm auseinandersetzen<br />
können. Die Frage ist daher: Kann ich eine<br />
Situation kreieren, in der diese Prozesse der<br />
Auseinandersetzung mit der Realität der<br />
externen Erwartungen stattfinden können?<br />
Und wenn das nicht geht, sich dann auch<br />
ganz bescheiden klarzumachen, dass Focusing<br />
nicht das einzige psychosoziale Angebot<br />
ist, das es auf der Welt gibt. Und nicht<br />
einmal unbedingt das Beste. Jedenfalls nicht<br />
für jeden und in jeder Problemlage. Es ist<br />
eines, das ziemlich exklusive Bedingungen<br />
braucht.<br />
Agata: Du hast vorhin gesagt, dass es Kontraindikationen<br />
für Focusing-Therapie gibt<br />
…<br />
… ja, aber nicht so sehr aufgrund der Diagnose<br />
des Klienten, sondern aufgrund der<br />
Beschaffenheit der Situation, in der die Therapie<br />
oder Beratung stattfindet.<br />
Agata: Ja, genau. Du sagst, dass die therapeutische<br />
Situation von Freiwilligkeit gekennzeichnet<br />
sein muss, dass also Klienten<br />
ohne Zwang zur Therapie kommen können.<br />
Und wenn institutioneller Druck oder<br />
Zwang da ist, sollten wir das auf jeden Fall<br />
thematisieren und versuchen, Bedingungen<br />
zu schaffen, die ermöglichen, mit unseren<br />
Klienten Situationen zu kreieren, in denen<br />
Freiraum entstehen kann.<br />
Genau. Zumindest ab und zu.<br />
Agata: Also, für mich ist es auf der einen<br />
Seite traurig, auf der anderen Seite sehr erleichternd<br />
zu hören, dass Focusing nicht die<br />
einzige und die immer beste Methode ist.<br />
Dass es für unterschiedliche Kontexte unterschiedliche<br />
Methoden gibt. Aber dass man<br />
nicht einfach und schnell vom Focusing zu<br />
einer anderen Methode übergeht, sondern<br />
erstmal schaut, ob in dem Rahmen, den man<br />
hat, mit dem Klienten ein Raum, ein Freiraum,<br />
ein Wir-Raum zu kreieren ist. Eine<br />
Frage ist für mich aber, ob es dann, wenn es<br />
ein vorgegebenes Ziel gibt, ausreichend ist,<br />
solche Situationen zu kreieren.<br />
Wenn ein von außen definiertes Ziel da ist<br />
mit der Auflage, es zu erreichen, ist für mich<br />
die Freiwilligkeit erstmal perdu. Ich weiß<br />
schon, dass in manchen Situationen sogenannte<br />
Hilfepläne erforderlich sind, etwa in<br />
der Kooperation mit Jugendämtern, in denen<br />
Ziele von außen definiert werden. Aber<br />
auch da ist wieder die Frage, wie sehr du in<br />
deiner Arbeit mit der Familie oder mit dem<br />
Klienten dieses Ziel einfach stillschweigend<br />
übernimmst oder ob dieses extern gesetzte<br />
Ziel eine Funktion im Prozess bekommt,<br />
statt dass umgekehrt der Prozess eine Funktion<br />
des Ziels wird. Wir wollen das Ziel in<br />
den Prozess mit hineinnehmen und schauen,<br />
wie sich dieses Ziel durch den Prozess<br />
eventuell auch wandelt, statt den Prozess<br />
als Mittel zum Zweck anzusehen, das Ziel<br />
zu erreichen. So kann kein Focusing-Prozess<br />
entstehen. Der Focusing-Prozess gibt<br />
sich glücklicherweise nicht dafür her, ein<br />
von irgendjemandem vorher ausgedachtes<br />
Schreibtischziel zu erfüllen. Diesen Missbrauch<br />
macht der Prozess nicht mit.<br />
Sind Ziele mit carrying forward<br />
vereinbar?<br />
Gisela: Ich hänge noch ein bisschen an dem<br />
Zusammenhang zwischen »carrying forward«<br />
und »Ziel«. In meiner Sprech- und<br />
Stimm-Praxis haben Klienten häufig das<br />
Ziel, dass sie ihre frühere Stimme wiederhaben<br />
möchten. Das ist ein Ziel, das sich in die<br />
Vergangenheit richtet, während sich carrying<br />
forward eigentlich immer in die Zukunft<br />
richtet, auf Neues, das vorher noch nicht da<br />
gewesen ist. Da taucht die Frage auf, wie ich<br />
mit einem derartigen Ziel umgehen soll. Ein<br />
solches Ziel ist doch total einschränkend.<br />
Wenn die Richtung von carrying forward 1<br />
offen ist, wirkt ja im Prozess eine »Intelligenz«,<br />
wie man behelfsweise sagen könnte,<br />
die sehr viel komplexer und umfassender ist<br />
als das ausgedachte Ziel, das sich ein Klient<br />
gesteckt hat oder das manche Therapeuten<br />
oder Institutionen sogar für den Klienten<br />
definieren.<br />
Ich finde, dass da das Gleiche gilt, was<br />
wir vorher über Absichten und Wünschen<br />
gesagt haben: Ich nehme das, was der Klient<br />
sagt, als sein Wünschen auf, aber ich erlaube<br />
nicht, dass es mein Ziel wird. Wünschen<br />
darf er es sich ja, und dass er mit seinem<br />
Wünschen da sein und mitgehen darf, ist ja<br />
auch das, was ihn motiviert, in der Therapie<br />
mitzumachen, mitzuarbeiten und über-<br />
32 focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021
Themen<br />
haupt in die Therapiestunde zu kommen.<br />
Das werden wir ihm doch nicht ausreden<br />
wollen. Wir wollen das Wünschen da sein<br />
lassen, es aber nicht als Ziel übernehmen.<br />
Würden wir es als Ziel übernehmen, wären<br />
wir schon wieder in einem von Absichten<br />
gesteuerten Prozess, der mit Focusing nichts<br />
zu tun hat.<br />
Gisela: Ich bin da manchmal, glaub ich, ein<br />
bisschen hart, direkt und brutal gewesen und<br />
habe gedacht: Man springt niemals zweimal<br />
in denselben Fluss, die alte Stimme wirst du<br />
nicht zurückbekommen.<br />
Hm, jetzt merkst du gerade selbst, dass du<br />
dann das tun würdest, was Martin Psychoedukation<br />
genannt hat. Und das ist eigentlich<br />
etwas, das sich gegen den Strom des<br />
Klienten richtet. Wenn der seine frühere<br />
Stimme wiederhaben möchte, darf er es sich<br />
doch wünschen.<br />
Gisela: Ja, das ist eine super Antwort. Vielen<br />
herzlichen Dank.<br />
Bei diesem Thema sind verschiedene Wörter<br />
im Spiel. Ein Klient kommt gewöhnlich<br />
mit einem »Anliegen« in die Therapie oder<br />
in die Beratung. Dieses Anliegen sollten wir<br />
nicht als »Auftrag« verstehen, als würden<br />
wir einen Auftrag bekommen so wie der<br />
Mechaniker in der Autowerkstatt, und als<br />
müssten wir dann erstmal eine sogenannte<br />
»Auftragsklärung« durchführen. Ich möchte<br />
sehr gern, dass das Anliegen des Klienten<br />
den Charakter eines »Projektes« kriegt. Ein<br />
Projekt ist nach vorn, im Blick auf die Zukunft,<br />
offen. Es kann durchaus nützlich sein,<br />
ein derartiges Projekt in unserem gemeinsamen<br />
Prozess immer wieder mal zu überprüfen<br />
und zu fragen, wie es dem Projekt geht.<br />
Dann werden wir ziemlich oft feststellen,<br />
dass sich das Projekt inzwischen verändert<br />
hat. Wieso? Weil das Projekt eine Funktion<br />
im Prozess bekommen hat, und nicht das<br />
Projekt die große Überschrift ist, unter der<br />
sich alles andere des Prozesses zu versammeln<br />
hat.<br />
Auf der Mikroebene, also bezogen auf<br />
eine Stunde, ist das genauso. Da kommt immer<br />
wieder die Frage auf, ob man während<br />
oder am Ende der Stunde auf das »Thema«,<br />
das sich der Klient als Ausgangspunkt des<br />
Focusing-Prozesses gewählt hat, zurückkommen<br />
soll. Das Thema soll sich doch<br />
durch den Prozess verändern dürfen! Und<br />
es ist für den Klienten und auch für mich interessant,<br />
diese Veränderung zu bemerken.<br />
Aber die bemerken wir natürlich nur, wenn<br />
wir uns wieder auf das Thema beziehen. Allerdings:<br />
In dem Moment, wo die Absicht<br />
hereinkommt, das Thema möge sich doch<br />
in einer bestimmten Weise verändern oder<br />
verändert haben, wird der Möglichkeitsraum<br />
eng, und der Prozess wird dünn oder<br />
versiegt.<br />
Agata: Ich glaube, dass wir jetzt an einem<br />
sehr wichtigen Punkt für mich sind. Du hast<br />
gesagt, dass die Ziele, die vereinbart worden<br />
sind, nicht funktionalisiert, sondern so in<br />
den Prozess integriert werden sollten, dass<br />
man immer wieder nachschaut, was mit<br />
dem Ziel ist. Wenn ich dir zuhöre und darüber<br />
nachdenke, merke ich, dass ein vorgegebenes<br />
Ziel bisher auch immer zu meinem<br />
Ziel geworden ist. Und ich habe dann auf<br />
eine Menge Wissen zurückgegriffen und viele<br />
Ideen entwickelt, wie man dieses Ziel erreichen<br />
könnte. Jetzt merke ich, wieviel Absicht<br />
da dabei ist, ganz viel Strukturgebundenes.<br />
Aber ich stecke da in einem Dilemma: Meine<br />
Absicht ist zum Beispiel, zu erreichen, was<br />
die Kinder in einer Familie brauchen. Das ist<br />
mein Herzenswunsch. Und gleichzeitig sehe<br />
ich, wie die Erwachsenen, die Eltern, die<br />
vielleicht sogar das gleiche Ziel haben, ganz<br />
verkehrte Sachen machen.<br />
focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021 33
Themen<br />
Es ist wichtig und<br />
gut, sich klarzumachen,<br />
dass ich<br />
in dem Moment, in<br />
dem ich anfange,<br />
gegen die scheinbar<br />
ganz dummen<br />
Ideen, Wünsche<br />
und Absichten<br />
anderer zu argumentieren,<br />
bereits<br />
von der eleganten<br />
japanischen<br />
Kampfkunst in eine<br />
europäische mittelalterliche<br />
Schwertkampftechnik<br />
zurückgefallen<br />
bin.<br />
Katrin: Agata, du atmest gerade so schwer,<br />
wenn du von deinem Herzenswunsch erzählst,<br />
dass es den Kindern besser gehen<br />
sollte … Den Kindern kann es ja nur besser<br />
gehen, wenn es den Eltern besser geht. Die<br />
Frage ist daher wohl, wie man deinen Herzenswunsch<br />
und das, was sich die Eltern<br />
wünschen, auch wenn sich dieses Wünschen<br />
nicht mit deinem deckt, in einem gemeinsamen<br />
Wünsch-Prozess vereinen könnte. Man<br />
könnte z.B. die Haltung haben und sie auch<br />
aussprechen: »Wir wissen nicht, was das<br />
Richtige ist oder wie wir das Richtige finden<br />
können. Und trotzdem machen wir uns auf<br />
den gemeinsamen Weg, zu finden, was das<br />
Richtige für euch sein kann.«<br />
Agata: Und da sagen halt die Eltern oft, es<br />
würde alles wieder gut werden, wenn sich<br />
»draußen« etwas verändert: die Schule, die<br />
Nachbarn, die Geschwister usw.<br />
Katrin: Ja. Aber es kann ja auch sein, dass<br />
eine Veränderung im Außen auch das Innere,<br />
das Innere einer Familie verändert. Diese<br />
Möglichkeit würde ich offenhalten: »Ah ja,<br />
das sehen Sie als eine Möglichkeit an. Was<br />
würde das für Sie bedeuten oder was würde<br />
sich für Sie verändern, wenn das ›da draußen‹<br />
anders wäre?« Was sich jemand von<br />
einer äußeren Veränderung erhofft, nehme<br />
ich als Stoff, statt es abzuwerten oder es jemandem<br />
ausreden zu wollen.<br />
Ich glaube, es ist wichtig und gut, sich klarzumachen,<br />
dass ich in dem Moment, in<br />
dem ich anfange, gegen die scheinbar ganz<br />
dummen Ideen, Wünsche und Absichten<br />
anderer zu argumentieren, bereits von<br />
der eleganten japanischen Kampfkunst in<br />
eine europäische mittelalterliche Schwertkampftechnik<br />
zurückgefallen bin. Da geht<br />
es dann nur mehr darum, wer die besseren<br />
Argumente hat, wer mehr Gewalt einsetzt,<br />
wer mehr Druck erzeugen kann, wer mehr<br />
Macht hat. Wenn beispielsweise ein Vater<br />
sagt, alle unsere Probleme wären gelöst,<br />
wenn die Nachbarn oder die Lehrer anders<br />
wären, dann würde ich genauso wie zuvor<br />
wieder mit dem Wünschen daherkommen:<br />
»Ah, das ist das, was Sie sich wünschen<br />
oder was Sie glauben.« Ich will diesen Vater<br />
ernst nehmen und ihm keinen Vortrag<br />
halten, um ihm zu beweisen, dass er falsch<br />
liegt. Ich würde versuchen, in dieses Wünschen,<br />
in dieses Glauben einzusteigen, statt<br />
zu erklären, warum das der falsche Weg ist.<br />
Ich habe kaum je die Erfahrung gemacht,<br />
dass eine Belehrung irgendeine nachhaltige,<br />
lebenswirkliche Wirkung erzeugt. Eine<br />
Belehrung wird bestenfalls bloß eine neue<br />
Idee im Kopf, die dann noch mehr Unterdrückung<br />
erzeugt. Damit kommen wir nicht<br />
weiter. Vielleicht ist hier ein bisschen Demut<br />
oder Bescheidenheit angebracht, sich einzugestehen,<br />
was geht und was nicht geht. Mit<br />
Überzeugungskraft, also mit Gewalt, mehr<br />
zu wollen, führt eher zu weniger, glaub ich.<br />
Ich komme nochmals auf carrying forward<br />
zurück. Der Ausdruck »carrying forward«<br />
klingt ja so, als müsste sich der Schritt<br />
in eine ganz bestimmte inhaltliche Richtung<br />
bewegen, nämlich vorwärts. Und »vorwärts«,<br />
könnte man meinen, bedeute besser,<br />
schneller, effektiver – bergauf sozusagen. Es<br />
ist aber so, dass die inhaltliche Richtung des<br />
carrying forward offen ist. Mit dem Schritt,<br />
der als nächstes kommt, kann es in alle Richtungen<br />
weitergehen. Aber eben nicht beliebig,<br />
sondern nur in die Richtung, die dem<br />
Prozess gemäß ist und die lebensfördernd<br />
ist, was auch immer das inhaltlich bedeuten<br />
kann. Wenn etwas geschieht, das dich<br />
einschrumpfen lässt und sich lebensfeindlich<br />
anfühlt, ist es kein carrying forward,<br />
sondern irgendeine strukturgebundene Gewohnheit.<br />
Das kann man als Therapeut oder<br />
als Zuhörer gut unterscheiden. Du spürst<br />
es in deiner Resonanz, in deinem Felt Sense<br />
der augenblicklichen Situation: »Na, das<br />
fühlt sich aber nicht so an, als würde es et-<br />
34 focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021
Themen<br />
was öffnen oder ermöglichen, es macht eher<br />
eng.« Carrying forward hat diese lebensfördernde<br />
Richtung, es ist aber keine ausgedachte<br />
Richtung. Deshalb muss man nichts<br />
Spezielles tun oder den Prozess dirigieren<br />
und diese Richtung erzwingen.<br />
Als Therapeut ein Gegenüber sein<br />
Inge hat noch ein großes Thema angesprochen,<br />
nämlich den Unterschied zwischen<br />
dem Begleiten eines sogenannten Selbstprozesses<br />
und der therapeutischen Arbeit<br />
mit Klienten, die uns aufgrund mangelnder<br />
oder sehr strukturgebundener früherer Beziehungserfahrungen<br />
als Gegenüber brauchen.<br />
Inge, magst du uns nochmals sagen,<br />
was du genau meinst?<br />
Inge: Ja. Wenn jemand bei Gefühlen ist wie<br />
Einsamsein oder dass früher niemand da<br />
war, kommt oft mein Glaube ins Wanken,<br />
dass jeder Mensch in sich etwas finden kann,<br />
das ihm hilft. Ich bin dann unsicher, ob es<br />
richtig ist, vorzuschlagen, dieser Mensch soll<br />
in sich einen Anteil suchen, der ihn aus der<br />
Einsamkeit erlöst. Ich frage mich, ob ich diesen<br />
Menschen dann nicht wiederum alleinlasse,<br />
wenn ich ihn bloß bei diesem In-sichselbst-Suchen<br />
begleite. Ich frage mich, ob er<br />
nicht mehr von mir braucht.<br />
In meiner eigenen Lehrtherapie habe<br />
ich erlebt, dass ich von meiner Therapeutin<br />
einmal einfach eine Berührung bekommen<br />
habe. Und damit war dann auf einmal so<br />
vieles gut, das hat es irgendwie gebraucht. Im<br />
letzten Seminar hast du gesagt, und das war<br />
so wichtig für mich, dass es Leute gibt, die<br />
diesen Selbstprozess noch nicht können. Und<br />
dass es da eben den Therapeuten auch in<br />
dem Sinn braucht, dass der Klient zunächst<br />
diese unmittelbare Beziehungserfahrung mit<br />
ihm machen muss, bevor er diese Beziehung<br />
zu sich selbst herstellen kann. Da hab ich<br />
mir gedacht: Uhh, da muss ich in Zukunft<br />
aufpassen, denn bisher neige ich schon sehr<br />
dazu, bei diesem Begleiten von Selbstprozessen<br />
hängenzubleiben, auch wenn der Selbstprozess<br />
nicht funktioniert.<br />
Ich versuche mal aufzunehmen, was du<br />
sagst. Es gibt eine alte, nicht grundsätzlich<br />
falsche Vorstellung von Focusing, die gesagt<br />
hat, der Mensch, der fokussiert, wäre sein eigener<br />
Therapeut, weil er ja etwas in sich begleitet,<br />
und ich als Therapeut wäre eine Art<br />
Moderator dieses Selbstbegleitungsprozesses.<br />
Diese Vorstellung setzt voraus, dass die<br />
Klienten-Person in der Lage ist, eine Art von<br />
Ich-Spaltung vorzunehmen und dadurch<br />
die Möglichkeit oder Fähigkeit hat, sich<br />
selbst zuzuhören und sich selbst bei dem,<br />
was innerlich passiert, zu begleiten. Aus diesem<br />
Selbstbegleiten heraus, so hat man gesagt,<br />
würde der Klient auch ab und zu etwas<br />
sagen, was der Therapeut dann zurücksagen<br />
kann. Der Therapeut begleitet also den<br />
Selbstprozess des Klienten, und das ist sehr<br />
angenehm und relativ einfach. Das passt gut<br />
für das Partnerschaftliche Focusing, aber es<br />
reicht nicht immer für eine focusingorientierte<br />
Therapie.<br />
Wenn der Klient nicht oder streckenweise<br />
nicht in der Lage ist, auf sein eigenes<br />
impliziertes Erleben selbst innerlich zu antworten<br />
und es adäquat zu symbolisieren,<br />
dann braucht er den Therapeuten als ein<br />
menschliches Gegenüber, als Antwortgeber<br />
auf das, was innerlich in ihm passiert, weil<br />
er auf sein eigenes implizites Erleben gerade<br />
nicht selbst antworten kann. Wenn z.B.<br />
jemand eine frühe, starke Einsamkeitserfahrung<br />
hat, kann es wie ein Hohn wirken, ihm<br />
einfach zu sagen: »Ah ja, da ist ein Teil in<br />
dir einsam, aber da gibt es auch einen Großen.<br />
Und dieser Große kann jetzt den einsamen<br />
Teil suchen gehen oder ihn sogar in<br />
den Arm nehmen.« Das wäre ja wieder bloß<br />
der (vergebliche) Initiierungsversuch eines<br />
Selbstprozesses. Wenn der aber an dieser<br />
Stelle nicht möglich ist, braucht der Klient<br />
den Therapeuten als konkretes menschliches<br />
Gegenüber, um die Beziehungserfahrung<br />
machen zu können, nicht allein zu<br />
sein. Dazu hat Gendlin in seiner sogenannten<br />
Experiencing-Theorie Grundlegendes<br />
geschrieben. 2<br />
Ein solches Gegenüber zu sein, bedeutet<br />
aber nicht, dass man irgendetwas Besonderes<br />
sein oder machen müsste – außer als<br />
Mensch da zu sein. Wenn ich allerdings etwas<br />
von einem derartigen Klienten erwarte,<br />
und sei es auch etwas scheinbar Focusinggemäßes,<br />
dann funktioniert das nicht, weil die<br />
dafür erforderliche Selbstbeziehung nicht<br />
vorhanden ist. Die Frage ist: Wie kann ich<br />
gegenüber sein? Die Antwort ist: indem ich<br />
mit dem Klienten da bin. Wenn aus diesem<br />
Mit-dem-Klienten-da-Sein ein Wünschen<br />
auftaucht, z.B. den Klienten zu berühren,<br />
an dieser Stelle der Selbstprozess aber nicht<br />
funktioniert, macht es keinen Sinn, ihn zu<br />
fragen: »Du, ich habe jetzt den Impuls, dich<br />
zu berühren. Wie wäre das für dich?«, sondern<br />
du musst – du musst natürlich nicht,<br />
Es gibt einen Unterschied<br />
zwischen<br />
dem Begleiten eines<br />
sogenannten<br />
Selbstprozesses<br />
und der therapeutischen<br />
Arbeit mit<br />
Klienten, die uns<br />
aufgrund mangelnder<br />
oder sehr<br />
strukturgebundener<br />
früherer Beziehungserfahrungen<br />
als Gegenüber<br />
brauchen.<br />
2 Gendlin, E.T. (1964):<br />
A theory of personality<br />
change. In P. Worchel & D.<br />
Byrne (eds.), Personality<br />
change, pp. 100-148. New<br />
York: John Wiley & Sons.<br />
Kostenlos herunterladen<br />
unter http://previous.focusing.org/gendlin/docs/<br />
gol_2145.html. – Deutsch<br />
in J. Wiltschko (20183):<br />
Hilflosigkeit in Stärke verwandeln,<br />
S. 208-267. Berlin:<br />
epubli bei Holtzbrinck<br />
focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021 35
Themen<br />
Was dann passieren<br />
kann, ist, dass<br />
du eine Ohrfeige<br />
bekommst oder im<br />
Klienten das Paradies<br />
anbricht.<br />
du kannst es auch bleibenlassen – das Risiko<br />
eingehen, die Person zu berühren. Du vermutest,<br />
dass dein Wunsch, dein Impuls, den<br />
Klienten zu berühren, eine Antwort auf ein<br />
unsymbolisiertes implizites Erleben des Klienten<br />
ist, die, da du ja Teilhaber am Beziehungsgesamtfeld<br />
bist, in deiner Resonanz,<br />
also aus deinem eigenen impliziten Erleben,<br />
auftaucht. Und was dann passieren kann, ist,<br />
dass du eine Ohrfeige bekommst oder im<br />
Klienten das Paradies anbricht.<br />
Das ist der Situation mit einem ganz<br />
jungen Kind, einem Baby, ähnlich: Wenn<br />
es schreit und du vermutest, dass es von dir<br />
eine Antwort, ein Handeln braucht, kann es<br />
dir auch nicht sagen, ob du es halten, füttern<br />
oder wickeln sollst. Es erwartet von dir, dass<br />
du auf einfühlsame Weise schon das Richtige<br />
tun wirst. Aber du kannst, wie jeder Vater<br />
und jede Mutter wissen, auch danebenliegen.<br />
Was geschehen wird, stellt sich im Beziehungsgeschehen<br />
heraus.<br />
Das Gegenübersein ist aufregender als<br />
das Begleiten eines Selbstprozesses. Weil du<br />
etwas riskieren musst. Hat das, was ich gesagt<br />
habe, irgendetwas mit deiner Frage, mit<br />
deinem Thema zu tun?<br />
Inge: Ja, ja, absolut. Das, was du zum<br />
Schluss gesagt hast, das Riskieren, ist schon<br />
neu und wichtig für mich, weil ich immer<br />
in der Haltung bin, den Klienten zu fragen,<br />
und wenn ich dann keine Rückmeldung bekomme,<br />
stehe ich an.<br />
Es gibt Situationen, in denen Klienten, auf<br />
die Frage »Möchtest du dies, möchtest du<br />
jenes?« oder »Passt das?« oder »Wie wäre<br />
das für dich?« keine Antwort geben können<br />
und manchmal durch diese Anfragen sogar<br />
in eine Dissoziation rutschen. Sie brauchen<br />
deine Präsenz und manchmal eine Handlung,<br />
die einfach aus deiner Resonanz mit<br />
der Situation geschieht.<br />
Inge: Ja, danke. Mir hilft das jetzt.<br />
Ich hätte übrigens sehr gern, dass wir das<br />
auch Focusing-Therapie nennen. Es kommt<br />
ja aus einem Verständnis von etwas, das wir<br />
»Selbstprozess« nennen. Der Begriff »Selbst«<br />
meint bei uns nicht dasselbe wie in anderen<br />
Therapierichtungen. Darüber gibt es einiges<br />
von Gendlin, z.B. auch in seiner schon erwähnten<br />
Experiencing-Theorie.<br />
Soll man Klienten erklären, was<br />
man als Therapeut tut?<br />
Ich wollte noch zur Frage von Martin kurz<br />
etwas sagen, nämlich ob es sinnvoll ist, mit<br />
einem Klienten auf der Metaebene deutlich<br />
zu machen oder zu erklären, was in der Therapiestunde<br />
geschieht oder was man als Therapeut<br />
vorschlägt.<br />
Martin: Ja. Ich frage mich, ob der Klient<br />
davon profitieren könnte. Im Gesangsunterricht,<br />
den ich gebe, merke ich, wie das Setting<br />
so viel blockiert, weil der andere sich<br />
ständig in der Schülerrolle fühlt. Und dieses<br />
Gefühl kenne ich auch aus dem Therapiesetting.<br />
Deshalb denke ich mir: Wenn offengelegt<br />
wird, was im Prozess passiert, und wenn<br />
die Rollen benannt und hinterfragt werden<br />
dürfen, könnte eventuell die Fähigkeit zu<br />
Selbstprozessen gesteigert werden.<br />
Also, ich verstehe dich so, dass der Klient dadurch,<br />
dass du ihm sozusagen deine Expertise<br />
übergibst, in eine gleichrangige Beziehung<br />
zu dir kommen könnte und sich nicht wie ein<br />
Schüler oder unterlegen fühlen müsste. Wie<br />
das im Gesangsunterricht ist, weiß ich nicht.<br />
Aber in der Therapie gehe ich immer von einer<br />
menschlichen Gleichrangigkeit zwischen<br />
Klient und Therapeut aus und daher will ich<br />
z.B. auch mein »Wissen« oder meine »Erfahrungen«<br />
nicht geheimhalten. Und natürlich<br />
sollen unsere Rollen hinterfragt, offengelegt<br />
und geklärt werden dürfen.<br />
Aber einem Klienten in der Therapiestunde<br />
auf einer Metaebene erklären, was<br />
wir tun oder was geschieht, das würde ich<br />
nicht machen. In früheren Jahren, als ich<br />
noch sogenannte Lehrtherapien gemacht<br />
habe, schien es passend zu sein, dass der<br />
Lehrklient auch mitbekommt und reflektieren<br />
kann, warum ich was tue und wie ich den<br />
Prozess beschreiben würde. Damals habe<br />
ich das auch eine Zeit lang versucht und bin<br />
meistens gegen Ende der Stunde mit den<br />
Klienten, wie man so sagt, auf die Metaebene<br />
gegangen. Meine Erfahrung war, dass das<br />
nur zu kopflastigen Gesprächen führt, die<br />
Erlebensprozesse nicht aufkommen lassen<br />
bzw. zerpflücken und dadurch unwirksam<br />
machen. Das stört sich gegenseitig.<br />
Wenn einen Klienten interessiert, was in<br />
einer Focusing-Therapie- oder -Beratungsstunde<br />
geschieht, empfehle ich ihm eine<br />
passende Lektüre, so dass er sich unabhängig<br />
von der therapeutischen Situation ein<br />
Bild machen kann. Und natürlich kann er<br />
36 focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021
Themen<br />
dann in der Therapiestunde u.U. auch dazu<br />
etwas fragen. Aber nicht, dass du als Therapeut<br />
gleichzeitig jemand bist, der auch etwas<br />
unterrichtet.<br />
Martin: Das klingt so, als wäre es gut, den<br />
therapeutischen Raum »sauber« zu halten.<br />
Ja, weil sonst genau das passiert, was du<br />
eigentlich nicht möchtest: dass du in der<br />
therapeutischen Situation zum Experten,<br />
zum Lehrer wirst und dein Klient zum<br />
»Schüler«. Vorträge zu halten, Erklärungen<br />
abzugeben ist nicht verträglich mit der<br />
Therapeutenfunktion und mit der therapeutischen<br />
Beziehung – auch deshalb, weil<br />
sie häufig der Selbstrechtfertigung des Therapeuten<br />
dienen.<br />
Gisela Farenholtz, Kiel<br />
Inge Pinzker, Wien<br />
Martin Schäffner, Stuttgart<br />
Agata Weindock, Lübeck<br />
Katrin Tom-Wiltschko, Laufen<br />
mit<br />
Johannes Wiltschko<br />
Prof. Dr. johannes<br />
Wiltschko<br />
Co-Leiter der DAF-Akademie<br />
jw@daf-focusing-akademie.com<br />
www.daf-focusing-akademie.<br />
com<br />
Lieber Johannes, lieber Klaus und alle, die sich angesprochen fühlen mögen,<br />
ein paar Gedanken möchte ich mit Euch teilen. Wenn ich heute, an Ostern 2021, auf das blicke, was dem mir bekannten<br />
ehemaligen DAF entsprungen ist, so wie es mich im Wesentlichen die Webseiten und Newsletter der Nachfolgeinstitutionen<br />
erahnen lassen, möchte ich Euch meinen tiefen Dank aussprechen.<br />
Danke dafür, dass Ihr Euch diesem Prozess gestellt und hingegeben habt. Die darin erkennbare Rogers’sche Aktualisierungstendenz,<br />
die bekanntlich allem Lebendigen innewohnt, hat sich Bahn gebrochen. So empfinde ich es.<br />
Jeder von uns kennt wohl das gegenläufige innere Streben, am Gewohnten und weitgehend Bewährten festhalten und<br />
sich unbewusst dieser mächtigen Entfaltungskraft entgegenstemmen zu wollen.<br />
Dass das Ganze selten harmonisch und nicht ohne Schmerzen und Verletzungen zu haben ist, kennen wir wohl<br />
ebenso alle. Auch Trauer dem Verlorenen und Verlust gegenüber und auch das Würdigen dessen, was gut und schön<br />
gewesen ist, gehören dazu.<br />
Mein Wunsch ist, das sich in diesem lebendigen Prozess insgesamt entfaltende Leben, die kreative Lebendigkeit,<br />
zu erkennen und zu feiern und darin letztlich die LIEBE als zugrunde liegendes Prinzip ALLEN SEINS zu erahnen … und<br />
zu fühlen … wie doch auch jede Zelle sich teilt und sich als Antwort in neuer Ordnung hervorbringt … unentwegt …<br />
Alles Liebe Euch<br />
und Euren Teams weiterhin<br />
Anja Loges<br />
loges.anja@web.de<br />
P.S. Ich würde mich freuen, diese Zeilen, die ja hauptsächlich (aber eben nicht ausschließlich) an Euch gerichtet sind,<br />
im nächsten <strong>FOCUSINGJOURNAL</strong> zu lesen.<br />
focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021 37
Themen<br />
Lockdown – außen und innen<br />
■■<br />
Von Krimhild König<br />
Zuerst überkommt<br />
mich eine tiefe<br />
Sehnsucht nach<br />
Ruhe, dann werde<br />
ich unglaublich<br />
müde! Mein Verstand<br />
ist mir auf<br />
einmal völlig egal,<br />
er ist auf Pause<br />
gegangen.<br />
Schreibstunde<br />
Papier ist geduldig, heißt es. Und das kann<br />
ich bezeugen! Seit Jahr und Tag will ich<br />
schreiben – Memoiren für meine Kinder,<br />
Geschichten, Gedichte, am besten einen<br />
Roman! Einen Bestseller natürlich! Erlebt<br />
hätte ich ja genug. Schon oft wurde ich gefragt:<br />
»Und was hast du geschrieben?« »Wir<br />
würden so gerne eine Geschichte von dir<br />
lesen!« Oder »Wieso schreibst du eigentlich<br />
nicht?« – Ja, genau das ist die alles entscheidende<br />
Frage: Wieso schreibe ich nicht? Die<br />
anderen scheinen es mir offensichtlich zuzutrauen.<br />
Normalerweise beantwortet mein Verstand<br />
Fragen dieser Art nach schneller Analyse<br />
kurz und knapp und trifft mit der Antwort<br />
genau ins Schwarze, zielsicher. Aber<br />
das ergäbe natürlich keine Geschichte!<br />
Wer hat denn heute auch noch Zeit für<br />
Geschichten? Ich selbst werde oft ungeduldig,<br />
wenn ich auf Fragen eine ausschweifende,<br />
allumfassende Antwort bekomme. Für<br />
Geschichten aller Art braucht es Zeit: Zeit<br />
zum Innehalten, Zeit zum Eintauchen, Zeit<br />
zum Mitschwingen, Zeit zum Nachspüren.<br />
Habe ich so viel Zeit? Mein Verstand sagt:<br />
»Für alles, was dir wichtig ist, nimmst du dir<br />
Zeit.« Und er entscheidet am liebsten allein,<br />
was wichtig ist. Sind mir Geschichten denn<br />
wichtig? »Natürlich sind sie das!«, lautet die<br />
Antwort. Doch wer hat da geantwortet? Neben<br />
dem selbstbewussten Verstand, der da<br />
sagt: »Geschichten bereichern dein Leben,<br />
sie entschleunigen!«, höre ich eine zweite<br />
zarte Stimme, die leise spricht: »Das wäre<br />
gut, entschleunigen.«<br />
Dieses Wort lässt mich aufhorchen. Zuerst<br />
überkommt mich eine tiefe Sehnsucht<br />
nach Ruhe, dann werde ich unglaublich<br />
müde! Mein Verstand ist mir auf einmal<br />
völlig egal, er ist auf Pause gegangen. Ich<br />
habe die Augen geschlossen, den Kopf auf<br />
die Hand gestützt und frage mich, was wohl<br />
jetzt das Beste für mich wäre! Müdigkeit<br />
und Verstand kämpfen miteinander. Doch<br />
auch dieses Kämpfen macht müde. Ich spüre,<br />
wie die Müdigkeit den Verstand verjagt.<br />
Doch wenn die Müdigkeit siegt …<br />
Und schon liege ich auf meinem Bett.<br />
Gut, dass es nur ein paar Schritte vom<br />
Schreibtisch zum Bett sind! Ich strecke mich<br />
und atme tief aus – es ist so angenehm – ja,<br />
so ist es angenehm – eine Weile weg vom<br />
Verstand, vom Kampf gegen die Müdigkeit.<br />
Meine Augen sind geschlossen, Entspannung<br />
breitet sich aus, bei jedem Atemzug<br />
ein bisschen mehr. Endlich ausatmen …, tief<br />
ein- und ausatmen …<br />
Da finde ich mich als Beobachterin einer<br />
merkwürdigen Situation wieder: Ich<br />
sehe nicht weit von mir eine Straßenwalze,<br />
die damit beschäftigt ist, über einer Figur<br />
einen Belag platt zu walzen. Diese Figur ist<br />
müde, fast bewegungsunfähig, hat sie doch<br />
schon lange und oft gekämpft. Doch sie beginnt<br />
sich langsam gegen das Plattwalzen zu<br />
wehren. Sie kommt immer mehr in Bewegung<br />
und bringt eine unglaubliche Kraft auf,<br />
die Walze Stück für Stück wieder zurückzudrängen.<br />
Endlich befreit, kann sie sich aufrichten,<br />
und ich sehe, dass es Sanna ist. Ich<br />
erkenne sie an ihrer hageren, etwas gebückten<br />
Gestalt, ihrem ausgezehrten Gesicht und<br />
ihrer dunklen Kleidung. Sie trägt ein langes<br />
schwarzes Tuch über dem Kopf, in der Art,<br />
wie es griechische Frauen tragen.<br />
Und nun nimmt sie ihren Weg durch die<br />
lange Ebene, die sich ruhig vor einem Gebirgszug<br />
ausbreitet. Doch was ist mit diesen<br />
Bergen? Auf Sanna wirken sie bedrohlich.<br />
Langsam schreitet sie dahin, ohne sich umzudrehen.<br />
Ihr Weg scheint ziellos zu sein.<br />
Gleichmäßig setzt sie einen Fuß vor den anderen,<br />
noch immer leicht gebückt vom langen<br />
leidvollen Dasein unter der Herrschaft<br />
der Walze. Noch spürt sie nicht die Erleichterung,<br />
die in ihrer Freiheit liegt, noch hat<br />
sie diesen gewaltigen Schritt, den sie getan<br />
hat, nicht erfasst. Zu müde ist sie vom<br />
38 focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021
Themen<br />
Kampf, man sieht es an ihren Bewegungen,<br />
ihrer Haltung, ihrem Gesicht. Sanna steuert<br />
langsam auf einen großen Gesteinsbrocken<br />
zu, auf dem sie sich niederlässt. Sie hat etwas<br />
Erholung nötig. Noch immer schaut<br />
sie erschöpft zu Boden. Und ganz leise sagt<br />
sie zu sich: »Ich habe es geschafft. Endlich<br />
habe ich es geschafft.« Noch immer kann<br />
sie es kaum glauben, dass sie dem Monster<br />
entkommen ist, das sie zusammengepresst<br />
verscharren wollte, das sie, Sanna, schon fest<br />
im Griff hatte. Noch immer spürt sie nur<br />
die Erschöpfung. Doch da zeichnet sich ein<br />
kleines Lächeln auf ihrem Gesicht ab – die<br />
erste Spur des Entkommenseins. »Es ist gut,<br />
hier zu sitzen«, denkt sie sich und wendet<br />
ihr Gesicht zur Sonne hin. Die warmen goldenen<br />
Strahlen streicheln es und tun ihr gut.<br />
Sie lässt sich ganz und gar durchströmen.<br />
Von Wärme durchzogen wächst der Gedanke<br />
an ihre Freiheit, an ihr neues freies Leben<br />
und sie spürt, wie Dinge aus ihr herausdrängen,<br />
die schon lange das Tageslicht erblicken<br />
wollten. So vieles kann sie sich auf einmal<br />
vorstellen, auch wenn sie noch nicht weiß,<br />
was es sein wird. Noch kann sie es nicht<br />
benennen, aber ihr Körper spürt bereits all<br />
ihre neuen Möglichkeiten. Diese packt sie<br />
beim Schopf, damit sie ihr ja nicht mehr entkommen<br />
mögen, und so holt sie eine Menge<br />
Stoffpuppen unter ihrem Kleid hervor<br />
– Puppen, die zum Leben erweckt werden<br />
wollen und die schon lange auf ihre Befreiung<br />
gewartet haben. Eine nach der anderen<br />
stellt sie vor sich hin. Es sind so viele! »Wie<br />
finde ich da die Richtige?« fragt sie sich, etwas<br />
ängstlich überfordert.<br />
Da bemerkt sie das strahlende Gesicht<br />
der Einen, der Besonderen – der Richtigen.<br />
Nun schaut Sanna lange in das hell leuchtende<br />
Gesicht dieses kleinen beschützenswerten<br />
Wesens. Es wird ganz ruhig in Sannas<br />
Innerem, eine ruhige Freude breitet sich<br />
in ihrem erwärmten Körper aus. »Sie ist es.<br />
Endlich. Linn.« Sanft schließt sie dieses Wesen<br />
zwischen ihrer Brust und ihren Armen<br />
ein. Liebevoll drückt sie Linn an sich. »Endlich«,<br />
spricht sie vor sich hin. »Mit dir gehe<br />
ich nun meinen Weg. Nur du und ich.« Und<br />
das wärmende Glücksgefühl durchdringt<br />
ihrer beider Seelen und Körper, da blinzelt<br />
Linn Sanna an und lächelt. Nun weiß sie,<br />
alles passt zusammen, alles ist jetzt richtig.<br />
Nichts wird sie mehr trennen, nichts wird<br />
sie aufhalten.<br />
Sanna erhebt sich mit Linn im Arm und<br />
geht weiter. Die Berge grüßen sie, sie nicken<br />
ihr zu, als wollten sie sagen: Deine Wahl war<br />
die richtige, du kannst ganz zufrieden sein.<br />
Und da ist ihre frühere Furcht vor ihnen auf<br />
einmal verschwunden. Sie weiß nun, dass sie<br />
diese Berge nicht mehr besteigen muss. Es<br />
ist genauso richtig, in der Ebene zu bleiben,<br />
denn alles hat seine Zeit und alles darf sein.<br />
Und sie geht ziellos zielgerichtet.<br />
Ich erwache und spüre eine innere Zufriedenheit.<br />
Was ich da gerade erlebt habe,<br />
stimmt mich froh und zuversichtlich. Ich<br />
setze mich zurück an meinen Schreibtisch<br />
und beginne, meine Gedanken zu ordnen.<br />
Habe ich Linn etwa schon gefunden?<br />
Abstand<br />
»Jede Art von Gedankenaustausch mit anderen<br />
Menschen erweitert Ihren Horizont.<br />
Unerwartete Widerstände wecken Ihren<br />
Kampfgeist, und Sie fahren zur Höchstform<br />
auf.« So lautet mein heutiges Tageshoroskop.<br />
Das gibt Kraft! Was wird da entstehen aus<br />
meinem Kampfgeist und meiner Höchstform?<br />
Normalerweise erreiche ich meine<br />
Höchstform frühestens nach der Tagesmitte,<br />
oft erst in den Abendstunden. Doch ich<br />
spüre, wie mich diese Vorhersage tatsächlich<br />
aufpeitscht! Es liegt mir fern, mich dagegen<br />
zur Wehr zu setzen. Der Tag kann nur gut<br />
werden! Es treibt mich hinaus, doch draußen<br />
weht ein erbarmungsloser Wind. Wer<br />
wird wohl mit mir in Gedankenaustausch<br />
treten?<br />
Es ist Grippezeit, kaum ein Mensch<br />
verlässt derzeit seine sicheren vier Wände,<br />
So vieles kann sie<br />
sich auf einmal vorstellen,<br />
auch wenn<br />
sie noch nicht weiß,<br />
was es sein wird.<br />
Noch kann sie es<br />
nicht benennen,<br />
aber ihr Körper<br />
spürt bereits all ihre<br />
neuen Möglichkeiten.<br />
focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021 39
Themen<br />
wenn er nicht wirklich muss. Wir alle sind<br />
angehalten, Masken zu tragen, unser Gesicht<br />
zu verbergen und Abstand zu halten.<br />
Regen sich da etwa schon die vorhergesagten<br />
unerwarteten Widerstände? Beim Supermarkt<br />
angekommen, werde ich aufgefordert,<br />
meine Hände zu desinfizieren. Einen<br />
Moment lang schaue ich etwas ungläubig,<br />
doch da erfahre ich die ganze aufgeheizte<br />
Stimmung der hilflos ausgelieferten Zeitgenossen:<br />
»Es geht um die anderen!«, höre ich<br />
fremde Stimmen aufgeregt rufen, und diese<br />
Mitbürger meinen mich. Dabei ist für mich<br />
das Treffen mit anderen Menschen ein Lebenselixier.<br />
Mit ihnen zu reden, zu scherzen,<br />
zu lachen und ihnen dabei ins Gesicht zu sehen,<br />
hält mich im seelischen Gleichgewicht<br />
und »erweitert meinen Horizont«. Von meinem<br />
angekündigten Kampfgeist ist nichts zu<br />
spüren, er scheint eher in die Flucht geschlagen<br />
zu sein. Ich verbiete meinem Unmut,<br />
meinen Körper zu verlassen. Er gehorcht.<br />
Ich betrete den Supermarkt mit frisch desinfizierten<br />
Händen und natürlich mit meiner<br />
Maske und denke dabei: Hoffentlich lassen<br />
mich diese ängstlich erregten Leute in Ruhe!<br />
Ich möchte ihnen nicht da drinnen unter die<br />
Augen oder gar Krallen kommen und zum<br />
Opfer ihrer hysterischen Lynchjustiz werden!<br />
Dabei begegne ich für mein Leben gern<br />
Menschen, natürlich nur, wenn sie mich so<br />
sein lassen, wie ich bin. Doch wer darf sich<br />
heute so zeigen, wie er ist? Die Mehrzahl der<br />
Menschen hat das schon längst aufgegeben<br />
oder gar verlernt. Erziehung, Schulalltag<br />
und Arbeitsleben haben eigene Anteile verstümmelt<br />
und klein gehalten. Es ist schon<br />
lange Normalität, nur die Gefühle zu zeigen,<br />
welche die anderen sehen und hören<br />
wollen. Doch was ist die neue Normalität?<br />
Abstand halten, nun auch äußerlich sichtbar<br />
maskiert herumlaufen, entrechtet sein und<br />
die Ängstlichkeit vor neuem Denunziantentum<br />
entwickeln? So etwas Ähnliches hatten<br />
wir doch schon! Mich überkommt eine<br />
Gänsehaut. Ich gehe wie in Trance durch die<br />
Regalreihen, nehme mir die Dinge, die ich<br />
brauche und achte auf genügend Abstand.<br />
Zwischendurch schaue ich verstohlen auf,<br />
um jeglicher unangenehmen Begegnung<br />
ausweichen zu können.<br />
Draußen reiße ich mir die Maske vom<br />
Gesicht und atme tief durch, schon geht es<br />
mir etwas besser. Die frische Luft bringt Abkühlung.<br />
Als ich dann im Auto sitze, hält<br />
mein Körper noch immer die Spannung<br />
aufrecht, ich spüre meinen schnellen Herz-<br />
schlag und die angestrengten Muskeln, die<br />
nach wie vor zur augenblicklichen Flucht<br />
bereit sind. Mechanisch lenke ich mein Auto<br />
nach Hause, erst dort fühle ich mich wirklich<br />
sicher, erst dort entspannen sich Körper<br />
und Geist.<br />
Kaum ist mein Denken wieder voll in<br />
Betrieb genommen, frage ich mich, was das<br />
jetzt eigentlich war: Wer oder was hat so viel<br />
Macht über mich, dass (Es) mein Denken<br />
auf Minimalbetrieb schrumpfen lässt und<br />
meinen Körper in höchsten Erregungszustand<br />
versetzen kann, dass (Es) meinen<br />
Kampfgeist einfrieren lässt und mich in einen<br />
tranceartigen Zustand erhebt? Schnell<br />
wird mir klar, dass hier jede Menge Angst<br />
im Spiel war. Auf alle Fälle fühlte ich mich<br />
in eine frühere Zeit versetzt! »Willkommen,<br />
brave new world, deine Zeit ist längst angebrochen!«,<br />
schreien meine Gedanken. Doch<br />
wer oder was ist Es? Es ist in der Lage, mich<br />
kurzzeitig zu lähmen und zu beherrschen.<br />
Es kommt von außen, Es ist nicht greifbar!<br />
Es überrollt mich wie eine große schwere<br />
Walze!<br />
Beim Verstauen meiner Einkäufe werde<br />
ich ruhiger. Alles bekommt seinen Platz<br />
im Küchen-Ordnungssystem. Am Ende ist<br />
auch mein inneres Ordnungssystem fast<br />
wiederhergestellt. Ich koche mir einen Tee<br />
und setze mich ans Fenster. Draußen hat es<br />
zu regnen begonnen. Nun kann ich meine<br />
Gedanken ganz weit weg schweifen lassen<br />
… Ich begebe mich wieder in die lange Ebene,<br />
die sich ruhig vor dem Gebirgszug ausbreitet.<br />
Alles ist still, die Walze steht starr<br />
und verlassen am Eingang des Plateaus, der<br />
flache schmale Graben vor ihr scheint unberührt,<br />
seit meinem letzten Besuch hier. Ich<br />
suche Sanna und Linn und finde beide auf<br />
einer Bank sitzend an einem schattigen Ort.<br />
Sie sind da, unverändert in ihrer Eintracht.<br />
Beneide ich sie da ein bisschen in ihrer Ungestörtheit?<br />
Beide scheinen nichts von dem<br />
Vorfall vorm Supermarkt zu wissen, sie sitzen<br />
zufrieden und gelassen dort, als sei die<br />
Außenwelt für sie bedeutungslos.<br />
LASSEN. GELASSEN. GELASSEN-<br />
HEIT. Gebt mir doch ein Stück davon! Alles<br />
in Ruhe und bedacht angehen – wäre das<br />
nicht wundervoll?! Ich betrachte die beiden<br />
und erspüre ihre entspannte liebevolle Ausstrahlung.<br />
Das ist heilsam und beginnt mich<br />
nahezu zu tragen. Da schaut mich Sanna an<br />
und sagt: »Auch du kannst es. Du trägst die<br />
Gelassenheit in dir. Denke an Linn. Lass zu,<br />
dass sie dich leitet, dann wird sich dein lang<br />
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Themen<br />
gehegter Wunsch erfüllen. Wir sind stets bei<br />
dir.« Für einen Moment halte ich inne, um<br />
diese Nachricht in der Gänze zu erfassen.<br />
Dann frage ich Sanna etwas beunruhigt:<br />
»Doch was ist mit der Walze? Was, wenn sie<br />
mich wieder verfolgt?« Die Antwort klingt<br />
simpel und einleuchtend: »Lerne, mit ihr<br />
umzugehen.«<br />
Der Gedanke an die Walze versetzte<br />
mich in leichtes Unbehagen, hatte sie mir<br />
und anderen doch schon einiges Leid zugefügt.<br />
Ich kann spüren, welche Macht sie<br />
über mich hat, wenn sie sich in Bewegung<br />
setzt. Sollte ich sie aus meinem Bild entfernen?<br />
Nein, das wäre wohl nicht die beste Lösung,<br />
denn da ist sie trotzdem; ich sollte sie<br />
im Blick behalten. Doch was kann ich tun,<br />
wenn sie wieder unterwegs ist? Ist ein Aufhalten<br />
möglich? … Abstand ist angesagt. Je<br />
größer der Abstand, desto kleiner wird sie<br />
in meinen Augen, und das ist beruhigend.<br />
Ich werde sie momentan nicht zum Stillstand<br />
bringen können, aber vielleicht kann<br />
ich ihr aus dem Weg gehen, wenn ich sehe,<br />
dass sie zu rollen beginnt!? Vielleicht kann<br />
ich irgendwann verhindern, dass sie startet.<br />
Lernen, mit ihr umzugehen.<br />
Nun habe ich in einem Blickwinkel die<br />
Walze, weit weg von mir, und im anderen<br />
Sanna und Linn. Auch von ihnen habe ich<br />
mich ein wenig entfernt. Es ist mir gelungen,<br />
wieder ganz ruhig zu sein und meinen<br />
Blick über die Ebene gleiten zu lassen: Alles<br />
ist friedlich und übersichtlich, die Natur ist<br />
karg, die Abendsonne spendet noch immer<br />
ihre südliche Wärme, alles ist still. Ich spüre<br />
Durst und bemerke den Tee auf dem Fensterbrett.<br />
Zufrieden fühle ich: Es ist schön,<br />
Tee zu trinken. Es ist schön, sich zu besinnen.<br />
Es ist schön, bei mir selbst zu Hause zu<br />
sein.<br />
Jetzt bin ich wohl in Höchstform.<br />
Mag. Krimhild König<br />
Psychotherapeutin<br />
4020 Linz<br />
office@ihre-psychotherapeutin.<br />
eu<br />
Krimhild König<br />
bietet an:<br />
zwei eintägige Focusing-Schnuppertage im Mühlviertel (Engerwitzdorf)<br />
am 19. Juni und am 11. September 2021, jeweils von 10 bis 18 Uhr.<br />
»Wollten Sie schon immer mal ausprobieren, wie sich Focusing wirklich anfühlt?<br />
Egal, ob Sie eine Vorstellung davon haben oder auch nicht – wir werden an diesem Tag einfach einsteigen, uns<br />
Freiraum schaffen und Entschleunigung erleben. Entdecken Sie Focusing für sich, es ist ein kleines Abenteuer mit<br />
sich selbst!«<br />
»Time is honey«: Zeit will Raum<br />
18. bis 21. November 2021 im Seminarhotel Wesenufer an der Donau (nahe Passau)<br />
»Tauchen Sie ein in Ihre eigene Welt des Zeiterlebens! Ergründen Sie Ihren individuellen Wert der Zeit!<br />
Im Mittelpunkt dieses Seminars wird Ihr persönlicher Umgang mit Zeit stehen.<br />
Der Satz ›Time is money‹ treibt uns durchs Leben; er beschränkt die Dimensionen der Zeit auf eine einzige.<br />
Ihr Menschen habt ›… ein Herz, um damit die Zeit wahrzunehmen‹, heißt es in Michael Endes ›Momo‹.<br />
Lassen Sie sich von bedeutsamen Textstellen dieses zeitlosen Zeiten-Bestsellers inspirieren und lassen Sie eigene,<br />
ganz persönliche Zeitphänomene aus Ihrem Inneren aufsteigen. So können Sie spüren, was Ihnen wirklich wichtig<br />
ist.«<br />
Keine Teilnahmevoraussetzung<br />
Anmeldung und weitere Infos: info@daf-focusing-akademie.com<br />
www.daf-focusing-akademie.com/weiterbildungen/spezialseminare/<br />
focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021 41
Themen<br />
Gene Gendlin:<br />
Zwei Felt Sense-Schnipsel<br />
gefunden auf einer alten Festplatte<br />
von Johannes Wiltschko<br />
Eugene T. gendlin<br />
Imagination als Metapher<br />
benutzen<br />
Es macht Sinn zu sagen: Mach dir einen<br />
Platz für das, was richtig wäre, wenn du<br />
auch keine Ahnung hast, was richtig ist, und<br />
wenn alles, was möglich erscheint, falsch ist.<br />
Mach dir so einen Platz, das hilft. Denn der<br />
Körper nützt alles, was da ist.<br />
Er benützt auch die Imagination, denn<br />
manchmal kann man das Nächste nicht direkt<br />
bekommen. Deshalb kann es helfen zu<br />
fragen, wie es in der Phantasie ausschauen<br />
würde. Die Phantasie oder das innere Bild ist<br />
ein Zwischenstadium. Wenn man sich selbst<br />
beispielsweise so etwas wie ein Raumschiff<br />
vorschlägt oder Unsichtbarwerden, dann<br />
kann eine ganz neue Phantasie kommen,<br />
z.B.: »Ah, es wäre gut, wenn ich als ein ganz<br />
Anderer neu in diese Situation eintreten<br />
könnte.« So etwas ist zwar in Wirklichkeit<br />
nicht möglich, aber es trägt den Felt Sense<br />
einen Schritt weiter. Und von diesem neuen<br />
Schritt aus können weitere Schritte zu etwas<br />
führen, das man dann wirklich tun kann.<br />
Die Imagination, die Einbildungskraft<br />
ist wichtig, denn der menschliche Körper<br />
hat nicht nur die eine Situation, er hat viele<br />
mögliche Situationen, die sich kreuzen.<br />
Daher kann man als Metapher oder als Bild<br />
irgendetwas benützen, und manchmal kann<br />
man auf diese Weise den nächsten Schritt<br />
auf eine poetische Weise skizzieren.<br />
Es ist also nicht nur eine Situation, sondern<br />
es sind verschiedene Situationen, in<br />
denen es ein Nächstes gibt. Man kann daher<br />
eine Situation als Ausdrucksweise für<br />
eine andere benützen. Jede Situation kann<br />
für eine andere als Metapher funktionieren.<br />
Wenn ich z.B. jetzt auf irgendeine Weise<br />
stecken bleibe, kann ich eine andere Situation<br />
benützen, um in der meinen nächsten<br />
Schritt abzubilden, den ich in der ersten Situation<br />
nicht finden kann.<br />
Handeln ohne Focusing<br />
Etwas einfach so auszuführen, wie es geplant<br />
ist, ohne Focusing, ohne Felt Sense,<br />
ohne Komplikationen – das müssen wir<br />
ehren. Denn sonst würden wir alle verrückt<br />
werden. Wir wollen doch nicht jedes Mal<br />
fokussieren, ob wir aufstehen sollen, ob wir<br />
aufs Klo gehen sollen oder nicht, ob wir diese<br />
Kleider anziehen sollen oder jene. Nein,<br />
je mehr wir automatisch einfache Regeln<br />
befolgen, desto freier haben wir den Kopf<br />
und den Körper für etwas Neues und Interessanteres.<br />
Je mehr wir etwas Automatisches<br />
haben, damit das Gewöhnliche klappt, desto<br />
freier werden wir.<br />
42 focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021
Anzeigen<br />
Die Focusing Woche auf dem Achberg (Lindau/Bodensee) – Lernen und Austausch in inspirierender Umgebung<br />
06. bis 12. August 2021<br />
Die Focusing Wochen Achberg sind seit über vier Jahrzehnten ein alljährlicher Treffpunkt für Focusing-interessierte Menschen aus<br />
Deutschland, der Schweiz, Österreich und den Niederlanden.<br />
Das Kursangebot 2021<br />
1. Auftaktseminar 2. Focusing-Ausbildungsseminare /- Themenworkshops<br />
Freitag, 06.08. bis Sonntag, 08.08.2021<br />
Experiencing Alba Emoting<br />
Gastreferent Sergio Lara aus Chile<br />
Mit Alba Emoting lernen wir die Basisemotionen Wut, Angst, Traurigkeit, Freude, Zärtlichkeit<br />
und erotische Liebe mittels bestimmter universeller Atemmuster, Körperhaltungen<br />
und Mimik authentisch, kongruent und eindeutig ausdrücken zu können. Schwache und<br />
selten empfundene Basisemotionen werden dadurch mehr wahrgenommen und zu intensiv<br />
empfundene Basisemotionen auf ein stimmiges Maß zurückgeführt. Mit „Step out“,<br />
Zentrierung und Techniken aus dem FOCUSING können intensive, extreme körperliche<br />
Emotionszustände gezielt verlassen werden, um zu einer neutralen Grundhaltung zurück<br />
zu finden. FOCUSING unterstützt, die körperliche Resonanz der in unserem Körper gespeicherten,<br />
oft verdrängten und unterdrückten Gefühle bewusst zu erforschen und deren<br />
persönliche Bedeutung zu erkennen. In Verbindung mit FOCUSING als Therapiemethode<br />
entsteht Experiencing Alba Emoting (EAE) als ein tiefgehender persönlicher Entwicklungsund<br />
Transformationsprozess. Es ist “Erleben als Prozess”, wie Eugene Gendlin sagt.<br />
Dr. Sergio Lara ist in eigener psychotherapeutischer Praxis in Chile tätig. Er ist Internationaler<br />
Master für Alba Emoting und Focusing, Focusing Koordinator für The International<br />
Focusing Institut (TIFI) seit 2004 und Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft Experiencing<br />
Alba Emoting e.V. (AGEAE). Dr. Lara hat in ganz Südamerika und Europa Workshops zu<br />
den Themen Focusing, Alba Emoting, Thinking at the Edge (TAE), fokussierte Therapie<br />
(FOT) und Achtsamkeit angeboten. Er unterstützt Menschen durch seine Offenheit, seine<br />
eigenen vielseitigen Erfahrungen und seinen Humor. Er wird Euch einen praktischen, erfahrungsorientierten<br />
Einblick in seine Arbeitsweise geben, die die Methoden ALBA EMOTING<br />
und FOCUSING auf wirksame Weise verbindet.<br />
Er hält seine Kurse in Deutsch. Voraussetzungen: keine<br />
Ausbildungsseminare: (08.-12.08.2021):<br />
Focusing I – Einführungs- und<br />
Grundlagenseminar<br />
mit Astrid Bansen und Silvia Boorsma<br />
Voraussetzungen: Neugier<br />
Focusing III – Prozess-Seminar<br />
mit Lothar Kammer und Petra Colombo<br />
Voraussetzung: Focusing I und II<br />
Themen-Workshops (08.-12.08.2021):<br />
Focusing und das „Innere Kind“ - die heilsame<br />
Beziehung mit sich selbst<br />
mit Delia Conrad<br />
Focusing als eine Art des Sich-selbst-Zuhörens unterstützt uns, uns<br />
unserem Inneren Kind wertschätzend und mit unserer ganzen Aufmerksamkeit<br />
zuzuwenden - auch wenn es uns mit schwierigen Gefühlen<br />
konfrontiert. Focusing schafft den Zugang zu unserem Inneren<br />
Kind – und damit zu unseren ältesten und tiefsten Bedürfnissen und<br />
Gefühlen. Das ist die Voraussetzung, eigenverantwortlich für eine gute<br />
Beziehung zu sich selbst und zu anderen sorgen zu können.<br />
Voraussetzungen: keine<br />
Focusing mit belastenden Emotionen und Glaubenssätzen<br />
mit Christine Grube und Achim Grube<br />
Oft entsteht Furcht, von belastenden Emotionen überschwemmt zu<br />
werden. Der innere Freiraum, der uns den Zugang zu Freude und<br />
Sonntag, 08.08. bis Donnerstag, 12.08.2021<br />
Hoffnung ermöglicht, ist dann verloren gegangen. Negative Glaubenssätze werden dann<br />
immer lauter, die unser Selbstwertgefühl schwächen. Focusinghaltung und -schritte helfen<br />
uns in solchen Situationen, den inneren Freiraum neu zu entdecken, Belastendes in<br />
Ressourcen zu transformieren und neue Lebensperspektiven zu eröffnen.<br />
Voraussetzungen: keine<br />
Im Vertrauten steckt immer schon das Neue - Von der Idee zum<br />
Konzept - ECC 1 (Erlebensbezogenes-Concept-Coaching),<br />
eine methodenbasierte Selbsterfahrung<br />
mit Regina Jürgens und Monika Lindner<br />
Mit dieser auf der philosophischen Praxis des „Thinking at the Edge“ (TAE) von E.T.<br />
Gendlin basierenden Methode entwickeln Sie eigene Vorhaben und entwickeln Pläne,<br />
die auf Eis liegen, weiter.<br />
Voraussetzungen: keine<br />
Mit Leib und Seele Frau sein - für Frauen von 18 bis 101<br />
mit Antje Sommer-Schlögl<br />
Im Kreis von Frauen eröffnen wir einen Raum, in dem wir mit unseren Schamgefühlen<br />
achtsam umgehen, uns unserem Frau-sein zuwenden, unsere Sexualität so, wie wir sie<br />
erleben (oder nicht erleben) befragen, uns damit befassen und finden spürigen Zugang<br />
zu der Energie unserer Weiblichkeit.<br />
Voraussetzungen: keine<br />
Zusatzangebot: Supervisions- und Beratungssitzungen<br />
(stundenweise über die gesamte Zeit vom 07. bis 11.08.2021) mit Thomas Franke<br />
Einzel-Settings für supervisorische und persönliche Anliegen jeder Art im Zusammenhang<br />
mit dem Praktizieren von Focusing.<br />
Voraussetzungen: Focusing I<br />
weitere Informationen unter: www.focusing-netzwerk.de<br />
focusing journal | heft <strong>46</strong>/2021 43
Anzeigen<br />
Die Akademie für Focusing, Focusing-Therapie und Prozessphilosophie (DAF-AKADEMIE)<br />
Alle Aus- und Weiterbildungen auf einen Blick<br />
Die DAF-AKADEMIE bietet drei Ausbildungen an, die jeweils mit einem qualifizierenden Zertifikat abgeschlossen werden können.<br />
Jede dieser drei Ausbildungen beinhaltet eine oder mehrere der acht Weiterbildungen.<br />
Teilnahmevoraussetzungen und Erläuterungen<br />
• Für BASIS und themenzentrierte Einführungsseminare: keine. Der Einstieg in den Ausbildungsprozess erfolgt über die Weiterbildung<br />
BASIS. Die themenzentrierten Einführungsseminare sind fakultativ. KollegInnen, die eine Ausbildung in personzentrierter<br />
Psychotherapie absolviert haben oder in einem fortgeschrittenen Ausbildungsstadium sind und ausreichende Erfahrungen<br />
mit Focusing haben, können auch in die Weiterbildung ESSENTIALS einsteigen.<br />
• Für ESSENTIALS: BASIS. Nach ESSENTIALS besteht freie Wahl der Reihenfolge der »roten« Weiterbildungen.<br />
• für KÖRPER und STRUKTUREN: BASIS, ESSENTIALS<br />
• für PROZESSPHILOSOPHIE und Spezialseminare (auch Internationale Focusing Sommerschule):Teilnahmevoraussetzungen<br />
siehe beim jeweiligen Seminar. Es werden jeweils mehrere Seminare angeboten, die frei wählbar sind; je zwei Spezialseminare<br />
und zwei Seminare PROZESSPHILOSOPHIE sind für die Zertifikate obligatorisch.<br />
• für INTEGRAL: ESSENTIALS, KÖRPER, STRUKTUREN und mindestens ein Seminar PROZESSPHILOSOPHIE und ein themenzentriertes<br />
Spezialseminar<br />
• für TRAINER: Die Teilnahme an der Weiterbildung TRAINER ist nur nach Einladung bzw. nach erfolgreicher Bewerbung möglich.<br />
Sie ist Voraussetzung für die die Mitarbeit als Seminarleiter/in und als Dozent/in in der DAF-AKADEMIE.<br />
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Die Hefte des <strong>FOCUSINGJOURNAL</strong>s können Sie kostenlos<br />
als pdf-Datei herunterladen unter:<br />
https://www.daf-focusing-akademie.com/medien/#journal<br />
oder als gedrucktes Exemplar für € 15,- (inkl. Versand)<br />
pro Heft bestellen bei:<br />
info@daf-focusing-akademie.com.
Bücher über Focusing<br />
Eugene Gendlin<br />
Ein Prozess-Modell<br />
Verlag Karl Alber<br />
Johannes Wiltschko (Hrsg.)<br />
Focusing und Philosophie<br />
Facultas<br />
Eugene T. Gendlin<br />
Focusing-orientierte<br />
Psychotherapie<br />
Klett-Cotta<br />
Eugene T. Gendlin/<br />
Johannes Wiltschko<br />
Focusing in der Praxis<br />
Klett-Cotta<br />
Johannes Wiltschko<br />
Hilflosigkeit in Stärke verwandeln<br />
epubli-Holtzbrinck<br />
Johannes Wiltschko<br />
Ich spüre, also bin ich!<br />
epubli-Holtzbrinck<br />
G. Stumm/J. Wiltschko/W. W. Keil<br />
Grundbegriffe der Personzentrierten<br />
und Focusing-orientierten<br />
Psychotherapie und Beratung<br />
Klett-Cotta<br />
Johannes Wiltschko<br />
Die Anstalt<br />
Edition Keiper<br />
Donata Schoeller<br />
Close Talking<br />
Erleben zur Sprache bringen<br />
De Gruyter<br />
Donata Schoeller, Vera Saller (Hrsg.)<br />
Thinking thinking<br />
Practicing radical reflection<br />
Karl Alber<br />
David M. Levin (Ed.)<br />
Language beyond Postmodernism<br />
Saying and Thinking in Gendlin’s Philosophy<br />
Northwestern University Press<br />
Eugene T. Gendlin<br />
A Process Model<br />
Northwestern University Press<br />
Eugene T. Gendlin<br />
Experiencing and the Creation of Meaning<br />
A Philosophical and Psychological<br />
Approach to the Subjective<br />
Northwestern University Press<br />
Edward S. Casey, Donata Schoeller (Eds.)<br />
Saying What We Mean<br />
Implicit Precision and the Responsive Order<br />
Selected Works by Eugene T. Gendlin<br />
Northwestern University Press