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FOCUSING JOURNAL Nr. 47

Zeitschrift zur Kultur der Achtsamkeit herausgegen von der AKADEMIE FÜR FOCUSING, FOCUSING-THERAPIE UND PROZESSPHILOSOPHIE (DAF-AKADEMIE)

Zeitschrift zur Kultur der Achtsamkeit
herausgegen von der AKADEMIE FÜR FOCUSING, FOCUSING-THERAPIE UND PROZESSPHILOSOPHIE (DAF-AKADEMIE)

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FocusingJournal<br />

Zeitschrift für Kultur der Achtsamkeit<br />

Zeitschrift für Kultur der Achtsamkeit<br />

Heft <strong>47</strong>/2021<br />

Gene Gendlins Flucht aus Wien<br />

Vierzig Jahre Focusing – eine Essenz?<br />

Achtsamkeit – der psycho-spirituelle Fokus buddhistischer<br />

Körper(psycho)therapie<br />

Focusing-Orientierung in der Begleitung traumatisierter Menschen<br />

Immer präsent und anrufbar!<br />

Hände<br />

Fokussierende Sozialkörper


FocusingJournal<br />

Zeitschrift für Kultur der Achtsamkeit<br />

in der Psychotherapie, in Beratung und Coaching,<br />

im eigenen Leben, in Partnerschaften und Teams,<br />

in Organisationen und Politik – und darüber hinaus<br />

Inhalt<br />

Themen<br />

2 Gene Gendlins Flucht aus Wien<br />

auszug aus einem brief an lore korbei<br />

7 Vierzig Jahre Focusing – eine Essenz?<br />

von johannes wiltschko<br />

13 Achtsamkeit – der psycho-spirituelle Fokus buddhistischer<br />

Körper(psycho)therapie<br />

von jörg-m. wolters<br />

24 Focusing-Orientierung in der Begleitung traumatisierter Menschen<br />

von inge pinzker<br />

26 Immer präsent und anrufbar!<br />

Focusing und Gebet<br />

von martha hellinger<br />

29 Hände<br />

von krimhild könig<br />

32 Fokussierende Sozialkörper<br />

von andrea Schüller<br />

Termine<br />

17 OFT: Online-Focusing-Time – kostenfrei<br />

18 Weiterbildung Focusing-Basis – online 2022<br />

19 Unsere nächsten Weiterbildungen<br />

20 Die König*innen-Supervision<br />

20 »Time is honey«: Zeit will Raum<br />

21 Focusing-Orientierung in der Begleitung traumatisierter Menschen<br />

22 41. Internationale Focusing Sommerschule 2022


Editorial<br />

ACHTSAMKEITSKULTUREN<br />

Liebe Leserin, lieber Leser,<br />

nehmen wir zum Beispiel Jäger, Soldaten, Boxer. Ihr Geschäft ist es unter anderem,<br />

Gewalt anzuwenden. Dabei müssen oder sollen sie aufmerksam, wach,<br />

fokussiert zu Werke gehen. Jäger, Soldaten, Boxer pflegen auch das Ethos des<br />

Respekts vor dem Gegner (dem zu erlegenden Tier, dem Feind, dem Kontrahenten)<br />

– in der Theorie. Was man davon so sieht oder darüber liest, na ja, die<br />

Praxis beweist eher das Gegenteil. Und Jäger feiern Feldmessen, Soldaten werden<br />

gesegnet, Boxer bekreuzigen sich. Würden wir diesen Leuten zubilligen, sie<br />

wären achtsam, respektvoll und spirituell? Eher nicht, im Großen und Ganzen.<br />

Achtsamkeit, Respekt, Spiritualität – in den fernöstlichen martial arts<br />

(= Künste des Kriegsgottes Mars) zentrale Begriffe, obwohl es sich, wie<br />

schon der Name sagt, um kriegerische »Künste« handelt. Vor allem die unter<br />

»Kampfsport« firmierenden wettbewerbsmäßigen Vollkontakt-Varianten zielen<br />

auf Schädigen des Gegners ab bis hin zur Kampfunfähigkeit, Bewusstlosigkeit<br />

(und in verbotenen Wettkämpfen auf noch üblere Zustände). Ein Kollege (also<br />

ein Focusing-Therapeut), der auch als Kampfsport-Trainer arbeitet, erzählte<br />

mir, dass er seinen Kämpfern die Einstellung vermittle, den Gegner nicht bloß<br />

zu besiegen, sondern zu vernichten. Aber selbst in diesen Kreisen werden Achtsamkeit<br />

und Respekt als Tugenden ausgegeben. Dieser Kollege war der Auffassung,<br />

Kampfsport und Focusing hätten viele »wertvolle« Gemeinsamkeiten!<br />

So gesehen finde ich die deutliche Unterscheidung zwischen Kampfsport<br />

und Kampfkunst, wie sie Jörg Wolters in seinem Artikel auf Seite 13ff. trifft,<br />

sehr begrüßenswert. In der Kampfkunst werden die Kampf- und Verteidigungstechniken<br />

so ritualisiert, verfeinert und ästhetisch kultiviert, dass ihre Einübung<br />

nicht mehr zum Sieg über den Feind taugt, sondern dem Sieg über sich selbst<br />

dienen soll.<br />

Trotz der zentralen Stellung der Achtsamkeit sowohl in Wolters' Verständnis<br />

von Kampfkunst als auch im Focusing unterscheidet sich beides doch<br />

recht grundsätzlich: Die aus »östlichen« Traditionen stammenden Vorstellungen,<br />

wie sie in Formulierungen wie »rechtes Verhalten«, »Kontrollieren des<br />

Ich«, »Samurai-Tugenden« und auch »Sieg über sich selbst« zum Ausdruck<br />

kommen, sind dem Focusing ziemlich fremd. Besonders das Verhältnis zwischen<br />

»Meister« und »Schüler« hat in der Beziehung zwischen focusingorientierten<br />

Therapeut*innen und Klient*innen oder Ausbilder*innen und<br />

Ausbildungsteilnehmer*innen keine Entsprechung.<br />

Auch Zazen, das aufrechte Stillsitzen, hat, wie die vom Zen-Buddhismus<br />

stark beeinflussten Kampfkünste, etwas dem Focusing Entgegengesetztes: Dort<br />

sollen von außen vorgegebene gleichförmige Haltungen und Bewegungen innere<br />

Wandlung bewirken, im Focusing wollen wir den Körper freilassen, damit er<br />

seine jeweils augenblicklich stimmige Haltung selbst finden, …<br />

Lesen Sie weiter auf der letzten Seite.<br />

Impressum<br />

Herausgeber:<br />

Prof. Dr. Johannes Wiltschko<br />

Die Akademie für Focusing,<br />

Focusing-Therapie und Prozessphilosophie<br />

Wagnergasse 6, 83410 Laufen<br />

www.daf-focusing-akademie.com<br />

Redaktion:<br />

Redaktionelle Mitarbeit:<br />

Hans Neidhardt<br />

Focusing International:<br />

Dr. Evelyn Fendler-Lee<br />

Internationale Publikationen:<br />

Dr. Tony Hofmann<br />

Textredaktion: Karin Schwind,<br />

Meggi Widmann<br />

Graphik und Bildbeschaffung:<br />

Sigrun Lenk<br />

Layout und Satz: Regina Rilz<br />

Schlussredaktion:<br />

Johannes Wiltschko<br />

Bildnachweis:<br />

Sigrun Lenk: Cover, 26, 27<br />

E.T. Gendlin privat: 2, 3<br />

Katrin Tom-Wiltschko: 8<br />

fotolia: 10, 12<br />

Jörg-M. Wolters: 13, 15<br />

Krimhild König: 29, 30<br />

Andrea Schüller, 35<br />

DAF-AKADEMIE: 22, Autorenportraits<br />

Erscheinungsweise:<br />

zweimal jährlich (Juni, November)<br />

Einzelpreis:<br />

als E-Paper: kostenlos<br />

als Zeitschrift gedruckt und<br />

gebunden: € 15,–<br />

inkl. Porto und Versand<br />

Den Link zu diesem Heft<br />

finden Sie auf<br />

www.daf-focusing-akademie.com<br />

Ihre Beiträge mailen Sie bitte<br />

als WORD-Datei an<br />

jw@daf-focusing-akademie.com<br />

Redaktionsschluss:<br />

1. April und 1. Oktober<br />

Erscheinungsdatum dieses<br />

Heftes: November 2021<br />

© DAF-AKADEMIE 2021<br />

ISSN 1861-6178<br />

focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021 1


Themen<br />

Gene Gendlins Flucht aus Wien<br />

Für das Buch »Wien, wo sonst! Die Entstehung der Psychoanalyse und ihrer<br />

Schulen«*, in dem die Lebensgeschichten berühmter, aus Wien stammender<br />

jüdischer Psychotherapeuten beschrieben werden sollten, war auch ein Kapitel<br />

über Gene Gendlin vorgesehen. Aus diesem Grund nahm Lore Korbei im Jahr<br />

1992 mit Gendlin Kontakt auf mit der Bitte, er möge Material für dieses Projekt<br />

zur Verfügung stellen.<br />

Wir geben hier zunächst Auszüge aus Gendlins diesbezüglichen Briefen an<br />

Lore Korbei wieder und danach die Originalversion des von Gene geschriebenen<br />

Fluchtberichts als Erstveröffentlichung.<br />

Herzlichen Dank an Lore Korbei für die Erlaubnis des Abdrucks.<br />

Gene Gendlin 1985<br />

* »Wien, wo sonst! Die<br />

Entstehung der Psychoanalyse<br />

und ihrer Schulen«,<br />

herausgegeben von Oskar<br />

Frischenschlager. Wien:<br />

Böhlau Verlag 1994<br />

I<br />

was born in Vienna December<br />

25, 1926 and came here<br />

in 1939. Please let me know<br />

anything further that you need.<br />

I doubt if I can be fully included.<br />

Perhaps I can be listed in<br />

some lesser way. I don‘t have<br />

time to do much more than I<br />

am already doing, and I am not sure what<br />

it entails. Even to go through my old things<br />

will be hard to find time for. I will do it now<br />

and tell you what I have.<br />

I lived at Rossauerlände 25, Wien IX. I went<br />

to the Schubert Schule the same one Franz<br />

Schubert went to, for the first four grades,<br />

then to the Realschule. Our house is an ordinary<br />

apartment house. My son took a picture<br />

of it when he went to Vienna a few years<br />

ago, so it‘s still there.<br />

I remember many things of course.<br />

I could answer a list of questions or tell<br />

anything you might want to know about.<br />

Most of my memories are not significant, it<br />

seems to me, at least until the Nazi time. Do<br />

you want memories of that time, and how<br />

we got out? That is a good story!<br />

Some short article about Focusing<br />

would be better than trying now to freshly<br />

present the method in something new you<br />

would write. It‘s hard to do and doesn‘t easily<br />

come out good. Johannes would have one<br />

too.<br />

*<br />

My memories of the Nazi period and<br />

the whole climate and situation is very vivid.<br />

Would it be enough to write that? I could do<br />

it well.<br />

*<br />

To answer your questions: My father: Dr.<br />

Leonid Gendelin (in USA: Dr. Leo D. Gendlin),<br />

born in Russia (Dashev) 1889, Dr. of<br />

Chemistry, University of Graz. My mother:<br />

Sylvia (maiden name: Tobell), born Trieste<br />

1895, her father built the riverbed of the<br />

Ison zo River, was an engineer.<br />

Was sollte ich noch senden? Ich habe einen<br />

alten Koffer voll von alten Photographien,<br />

meine Schulzeugnisse sind auch noch da.<br />

Auch ein Reisepass mit dem Hackenkreutz.<br />

Ich verstehe Ihre Idee nicht genau und so<br />

weiss ich nicht, was gewünscht wäre.<br />

Ich habe viel auf Deutsch gelesen, aber<br />

nichts oder beinahe nichts auf Deutsch geschrieben.<br />

Ich dachte, es ist leichter auszubessern,<br />

als es zu übersetzen, daher habe<br />

ich auf Deutsch geschrieben. Ich bin Ihnen<br />

dankbar, wenn Sie‘s ausbessern. Es ist voll<br />

Fehler. Ich weiss auch nicht, ob es überhaupt<br />

passend ist.<br />

Über Focusing zu schreiben, ist gar<br />

nicht leicht. Es ist etwas, das die meisten<br />

nicht kennen, so kann man‘s nicht mit gewöhnlichen<br />

Worten erklären. Man kann<br />

aber das sagen. Ohne das zu sagen, wird‘s<br />

nicht richtig sein.<br />

2 focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021


Themen<br />

Hoffentlich schneiden Sie bitte etwas heraus<br />

aus meinem Buch »Focusing« oder von<br />

Wiltschko oder von irgendeinem Artikel<br />

von mir. Frisch darüber zu schreiben, geht<br />

ohne Schwierigkeiten nicht. Sollten Sie‘s<br />

doch wollen, senden Sie es mir bitte, so dass<br />

ich‘s korrigieren kann. Vielen Dank.<br />

*<br />

An dem Abend, als die Nazis einmarschierten,<br />

war mein Vater bei einer Konferenz. Zu<br />

Hause hat er dann erzählt: »Am Weg zur<br />

Konferenz waren überall rot-weiss-rote Fahnen<br />

und alle Fenster waren befüllt mit Leuten,<br />

die sich hinauslehnten und ›Rot-weissrot<br />

bis in den Todt‹ schriehen. Als ich von<br />

der Konferenz heraus kam, waren überall<br />

Hackenkreutz-Fahnen und von allen Fenster<br />

schriehen die Leute ›Heil Hitler‹.«<br />

Waren das dieselben Leute? Sicher<br />

nicht, es gab zweierlei. Es gab auch viele, die<br />

die Nazis nicht wollten.<br />

Schon in den ersten Tagen hörte man<br />

von vielem Schrecken. Leute tuhn bei Juden<br />

einbrechen und alles zum Fenster hinauswerfen.<br />

Man wird auf der Strasse geschlagen.<br />

Verschiedenes. In der Schule war<br />

es möglich, gehaut zu werden. Ich sah aber<br />

auch viele, die nichts damit zu tun haben<br />

wollten.<br />

Nach ein paar Tagen sandte mein Vater<br />

meine Mutter und mich zu den Grosseltern<br />

im fünften Bezirk. Dort war eine kleine<br />

tschechische Fahne auf der Tür. Mein Grossvater<br />

war in Prag geboren. Beim Zerfall der<br />

Monarchie in 1918 informierte man ihn,<br />

dass er Tschechischer Bürger sei. Er sollte<br />

neu anfragen, wenn er Österreichischer<br />

Bürger sein wollte. Das hat ihn geärgert und<br />

so hat er es nie geändert. Jetzt war es eine<br />

Rettung.<br />

Bei meiner Grossmutter war ein Zimmer<br />

immer verschlossen. Man sah es nur<br />

durch die Glasscheiben in der Türe. Es hieß<br />

»der Salon« und es hatte antike Möbel. Nur<br />

wenn spezielle Gäste kamen, war es offen,<br />

zum Beispiel die Frau Zweig. Stefan Zweig‘s<br />

Mutter war eine Freundin. Jetzt war im Salon<br />

unser Schlafzimmer. Alles war anders.<br />

Mein Vater kam endlich am dritten Tag.<br />

Sein Geschäft wurde von anderen sofort<br />

übernommen. Alles, was er aufgebaut hat,<br />

war verloren. Ich sah ihn einen Moment<br />

weinen, etwas unmögliches. Er hat auch erfahren,<br />

dass die Polizei ihn sucht. So ging er<br />

die drei Tage nicht nach Hause.<br />

Er nahm mich dann auf einen<br />

langen Spaziergang mit und<br />

erklärte mir vieles. In seiner<br />

Branche war er immer der einzige<br />

Jude und man hat sofort die Gelegenheit<br />

benützt, um ihm sein<br />

Geschäft zu stehlen. Er wird jetzt<br />

auch eingesperrt werden. Es werden<br />

viele eingesperrt, nur weil sie<br />

Juden sind, erklärte er mir. Es war<br />

ihm wichtig, dass ich das gut verstehe.<br />

Ich soll nicht denken, mein<br />

Vater wäre ein Verbrecher. (Das<br />

hätte ich mir eh nie vorgestellt.)<br />

Auch soll ich draussen vorsichtig<br />

sein, zum Beispiel nicht vor<br />

einem der vielen riesigen Bilder<br />

Hitlers rauszuspucken.<br />

Gene Gendlin 1937<br />

Ich habe das alles gut verstanden<br />

und er ist dann nach<br />

Hause gegangen und sofort hopgenommen<br />

worden. Die Mutter und ich<br />

mussten ihm im Gefängnis Zahnpasta und<br />

Unterhosen bringen.<br />

Er war dann eine Ewigkeit weg, drei<br />

Monate ungefähr. Es wurden dann auch andere<br />

eingesperrt. Ich hörte Gäste bei meinen<br />

Grosseltern sagen, dass die Eingesperrten<br />

doch sicher was angestellt haben müssen.<br />

Da habe ich verstanden, warum mein Vater<br />

mir das alles so vorsichtig erklärt hat. Die<br />

Grossen waren dumm und ich wusste mehr.<br />

Die Wahrheit wurde auch bald klar, nachdem<br />

in den nächsten Monaten beinahe alle<br />

jüdischen Männer eingesperrt wurden.<br />

Auch andere Male wusste ich mehr als<br />

die Grossen. Die sagten, sie konnten das<br />

Ganze, was vorging, nicht verstehen, es ging<br />

ihnen nicht ein. Die Leute waren an gute,<br />

rationelle Ordnung gewöhnt, sie konnten<br />

sich nicht orientieren. Wie kann das alles so<br />

sein? Sie drückten viel Konfusion aus. Mir<br />

kam das alles einfach vor. Die Wirklichkeit<br />

war einfach: dass die schlechten Leute jetzt<br />

an der Macht waren.<br />

Nur ein Mal war ein Schrecken. Mein<br />

Grossvater, meine Mutter und ich wurden<br />

auf der Strasse von einigen Männern in eine<br />

grosse Gruppe Juden eingereiht. Rundherum<br />

schriehen viele Leute fortwährend: »Auf<br />

die Laternen!« Wir mussten dann eine Weile<br />

in Reihen durch die Strassen marschieren.<br />

Aber am Ende hat man uns gehen lassen.<br />

Endlich kam mein Vater nach Hause. Es<br />

war schon Sommer. Wir konnten wieder zu<br />

Hause wohnen. Man liess ihn frei, nachdem<br />

er unterschrieben hat, dass er auswandert<br />

focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021 3


Themen<br />

Ich lernte, meinem<br />

Vater nachzufolgen,<br />

wo immer er einging<br />

oder ausging,<br />

und nichts zu sagen<br />

oder zu fragen,<br />

bis wir wieder allein<br />

waren.<br />

und sich bindet, nicht zurückzukehren. Das<br />

war komisch, denn wir wollten doch nur<br />

herauskommen und weg bleiben. Es waren<br />

zu der Zeit alle möglichen verschiedenen<br />

Regeln, die jedes Bureau verschieden erfinden<br />

konnte. Ich habe seitdem nie von solch<br />

einem Vertrag gehört. Es hat uns aber einige<br />

Monate später extra Angst gemacht, als man<br />

uns von Holland zurücksenden wollte.<br />

Jetzt kamen die Schwierigkeiten, die<br />

man der Erlaubnis auszuwandern im Weg<br />

stellte. Es waren zwanzig oder dreissig Papiere,<br />

die man von verschiedenen Bureaus<br />

bekommen musste. Da standen die Leute<br />

Tage und Nächte in langen Reihen um ein<br />

Gebäude herum und auch die Strasse entlang.<br />

Manchmal gab mir mein Vater die<br />

Aktentasche zu halten, damit sie unwichtig<br />

aussehe, so dass niemand uns die wegnimmt.<br />

Ich lernte, meinem Vater nachzufolgen,<br />

wo immer er einging oder ausging, und<br />

nichts zu sagen oder zu fragen, bis wir wieder<br />

allein waren. Die Erlaubnis wegzugehen<br />

zu bekommen, schien das Schwerste und es<br />

dauerte Monate. Es wurde Herbst.<br />

Endlich kam die Frage, wie wir hinauskommen<br />

könnten. Meine Tante in Argentinien<br />

und mein Onkel in der USA sollten uns<br />

das Visum arrangieren, aber das konnte lange<br />

dauern. Mein Vater wollte sofort weg. Man<br />

hörte von verschiedenen Wegen, auf denen<br />

es jemandem gelang, hinauszukommen.<br />

Einige sind in die Tschechei durchgekommen<br />

einfach mit dem alten Reisepass,<br />

der noch nicht angab, dass man Jude ist. Die<br />

Grenzkontrolle wusste noch nicht von dem<br />

neuen Judenpass. Das konnte man natürlich<br />

jetzt nicht mehr.<br />

Man konnte nach Jugoslawien mit einem<br />

Taufschein. Man konnte einen kaufen,<br />

ohne sich zu taufen. Das Datum musste aber<br />

früher als 1920 sein. Aber mein Vater sagte:<br />

»Das wird uns wahrscheinlich nicht Glück<br />

bringen.«<br />

Man konnte nach Litauen, wenn jemand<br />

in London 50 Pounds bezahlte. Wir<br />

kannten niemanden dort. Mein Vater sagte<br />

auch: »Ich war schon im Osten. Wir fahren<br />

nach dem Westen.«<br />

Man konnte im Schlafwagen nach Italien.<br />

Man bezahlte jemanden in Wien und<br />

wurde dann an der Grenze übersehen und<br />

nicht aufgeweckt. Mein Vater dachte aber, es<br />

sei nicht sicher genug. Der Vertrag sagte ja,<br />

wenn man uns zurücksenden würde, würde<br />

er gleich hopgenommen werden. Es musste<br />

der erste Versuch klappen.<br />

So konnte man auch mit dem Flugzeug<br />

in die Schweitz, wenn man vorher in Wien<br />

jemanden bezahlte. Es schien ihm nicht sicher.<br />

So auch in Strassburg war jemand, der<br />

angeblich Leute leitete, den Rhein nach<br />

Frankreich zu überqueren. Mein Vater<br />

dachte: »Was aber, wenn er uns in der Mitte<br />

des Flusses verlässt?«<br />

Auch nach Belgien verkaufte jemand<br />

eine Adresse in Köln. Einer dort würde uns<br />

durch den Wald leiten. Nur nach Holland<br />

war überhaupt kein Weg.<br />

Mein Vater wählte den Weg nach Belgien.<br />

Wir kauften in Wien »die Adresse« in<br />

Köln. Natürlich musste man dem in Köln<br />

das Meiste zahlen, damit er uns durch den<br />

Wald nach Belgien leiten sollte. Nun hatten<br />

wir endlich einen Weg heraus! Wir nahmen<br />

nur einen ganz kleinen Koffer mit. Einige<br />

Juwelen waren in meiner grünen Jacke eingenäht.<br />

Das Taxi stand unten vor dem Haus.<br />

Meine Mutter und ich stiegen ein. Ich<br />

schrieb die erste Seite meines Tagebuchs.<br />

Der Vater ging noch zum letzten Mal schauen,<br />

ob vielleicht doch die Post schon da ist.<br />

Er kam mit einem blauen Envelope zurück:<br />

das Affidavid von der USA! (Ein Affidavid<br />

ist natürlich kein Visum. Es ist nur ein Dokument,<br />

welches angibt, dass der Prozess<br />

für unser Visum offiziell begonnen hat.)<br />

Einige Monate später wurden wir in Holland<br />

hopgenommen, und das Affidavid<br />

war der Grund, warum man uns nicht nach<br />

Deutschland zurücksendete.<br />

Mit dem Zug nach Köln. In Regensburg<br />

stieg mein Vater aus, um mir eine Limonade<br />

zu kaufen. Es war niemand anderer im<br />

Coupé, nur meine Mutter und ich. Da kamen<br />

zwei in grauen Anzügen und sagten<br />

»Gestapo« und einer zeigte eine Medaille.<br />

»Wo ist Doktor Gendelin?« Wir sagten, wir<br />

wussten nicht. Der Zug bewegte sich und die<br />

zwei stiegen aus. Es kam dann bald von den<br />

hinteren Wagonen der Vater mit der Limonade.<br />

Er war hinten wieder eingestiegen, hat<br />

die zwei nicht gesehen, wusste nichts von<br />

ihnen. Meine lieben Eltern, die mir immer<br />

alles geben wollten! Die Limonade hatte uns<br />

gerettet. Wir blieben ängstlich, aber von der<br />

Gestapo hörten wir nichts mehr.<br />

In Köln nahm mich mein Vater mit zur<br />

»Adresse«. Sie war im Judenviertel, arme<br />

graue Strassen. Es war uns unheimlich, dass<br />

hier Juden einfach weiter wohnten, als wenn<br />

nichts passiert wäre. Die Deutschen waren<br />

4 focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021


Themen<br />

nicht so wild wie die Österreicher. Hier sind<br />

Juden freiwillig seit 1933 geblieben. In Wien<br />

wurde es doch sofort lebensgefährlich und<br />

alle wollten gleich heraus.<br />

Wir kamen zum richtigen Haus und zu<br />

einer Wohnung im Stock. Drinnen schloss<br />

sich mein Vater mit dem Mann in ein Zimmer<br />

ein und ich wartete vielleicht eine Viertelstunde.<br />

Dann kam mein Vater ganz bleich<br />

heraus und sagte: »Gehen wir.« Draussen<br />

erklärte er mir, dass er zu dem Mann kein<br />

Vertrauen haben konnte. Mein Vater sagte,<br />

dass das »Gefühl« ihm nein gesagt hatte.<br />

Mein Vater sagte schon oft: »Ich folge<br />

meinem Gefühl.« Diesmal aber war mir sein<br />

Vertrauen daran unglaublich. Wir waren in<br />

einer fremden Stadt und ohne Ausweg. Nur<br />

von der »Adresse« war alles erhofft und jetzt<br />

war sie dahin und nur wegen seinem »Gefühl«.<br />

Ich habe mich damals und später oft<br />

gewundert, was für ein Gefühl denn das<br />

ist, was einem etwas mitteilt. Manchmal<br />

versuchte ich so ein Gefühl in mir zu finden,<br />

konnte es aber nicht. Aber dass ich es<br />

in mir suchen gegangen bin, hat sich doch<br />

ausgewirkt. Vierzig Jahre später, als man<br />

mich fragte, wieso ich das Focusing finden<br />

konnte, da sind mir diese Umstände eingefallen.<br />

Mein Vater brachte mich zur Mutter<br />

ins Hotel und ging wieder weg. Aus dem<br />

Fenster sah man ganz nahe die Wand vom<br />

Kölner Dom. Am Abend kam er zurück und<br />

hatte was gefunden! Eine neue »Adresse«.<br />

Nächsten Tag, Samstag, fuhren wir nach<br />

Borken, ein Dorf an der Holländischen<br />

Grenze. Nach Holland? Das einzige Land, zu<br />

dem in Wien keine Möglichkeit existierte.<br />

Ein Haus in Borken. Wieder mein Vater und<br />

der andere in Unterredung. Diesmal schaut<br />

mein Vater nachher ganz gut aus. Wir gehen<br />

alle in den Tempel Maerev beten! Es ist Shabess<br />

und der Tag vor Rosh Hashonoh. Wieder<br />

Juden, die nicht einmal herauszukommen<br />

versuchten, unglaublich, unheimlich.<br />

In Borken, in einem kleinen Gasthaus,<br />

beschrieb ich meinem Tagebuch detailliert<br />

das Frühstück. Mein Vater fuhr zurück nach<br />

Köln, etwas von dort zu holen. Ich wusste<br />

nicht was. Meine Mutter und ich blieben da.<br />

Als er zurück kam, hatte er drei Fahrkarten,<br />

über Borken, Amsterdam und Brüssel nach<br />

Paris.<br />

Blosse Fahrkarten? Ich wusste doch genau,<br />

dass kein Land einen mit blossen Fahrkarten<br />

hinein lässt.<br />

In der Früh, Sonntag, fahren wir aus<br />

Borken mit einem kleinen Zug mit harten<br />

gelben Holzsitzen und wenig Leuten. Der<br />

machte bei der Grenze halt. Wir stiegen<br />

aus. Es war auch noch eine jüdische Familie<br />

mit solchen Fahrkarten. Mein Vater bestand<br />

darauf, dass wir zuerst gehen werden.<br />

In dem kleinen Gebäude stand ein Mann in<br />

Uniform an einem langen Tisch. Man musste<br />

zwischen dem Tisch und einem Geleiter<br />

bei ihm vorbei gehen. Wir zeigten unsere<br />

Karten. Er schaute sie an, nickte und gab sie<br />

zurück. Wir gingen dann vorbei und rückwärts<br />

aus dem Gebäude hinaus. Ich war<br />

meiner Knien nicht sicher, aber ich konnte<br />

gehen.<br />

Hinten war ein anderer kleiner Zug. Wir<br />

bestiegen den. Er bewegte sich. Ist das alles?<br />

Sind wir durch? Darf ich in meinem Tagebuch<br />

schreiben, dass wir durch sind? Noch<br />

bin ich nicht sicher.<br />

Später hat mein Vater erzählt: Der Mann<br />

an der Adresse in Borken wusste, dass Sonntag<br />

Früh der Grenzbeamte in die Kirche<br />

gehe. Sein Ersatz wusste nicht viel. Vorigen<br />

Sonntag hatte er Leute, die nur Fahrkarten<br />

hatten, durchgelassen.<br />

Der kleine Zug ist fast leer. Er geht<br />

schaukelnd nach einem Dorf, das Winterswick<br />

heisst.* Dort besteigen wir einen regelrechten<br />

Zug. Der ist voll. Wir sind in Holland,<br />

kein Zweifel. Ich höre eine Sprache, die<br />

ich nicht verstehe. Im Coupé‚ beim Fenster,<br />

sitzt ein dicker Mann, der sicher Holländer<br />

ist. Mein Vater setzt sich gegenüber beim<br />

anderen Fenster. Neben ihm meine Mutter,<br />

dann ich.<br />

Darf ich endlich in meinem Tagebuch<br />

schreiben, dass wir frei sind? Noch nicht.<br />

Meine Eltern waren ganz still, kein Zeichen.<br />

Sie haben noch nicht einmal hergeschaut, so<br />

bin ich nicht sicher.<br />

Der Zug bewegt sich und der dicke Holländer<br />

nimmt eine grosse Zigarre aus einem<br />

Packet und offeriert meinem Vater eine.<br />

Natürlich weiss ich, dass mein Vater Zigaretten<br />

und nur zum Geburtstag eine Zigarre<br />

raucht. Aber mein Vater nimmt die Zigarre<br />

an, macht vorne ein Loch in ihr, um sie zu<br />

rauchen. Da nehme ich mein Tagebuch aus<br />

der Tasche und schreibe: »Überwunden.«<br />

Später müssen wir wieder umsteigen<br />

und auf den Zug nach Amsterdam warten.<br />

Ich frage meinen Vater, warum wir nicht<br />

schon freudig sind. Er sagt, wir sind noch<br />

zu nahe der Grenze, es könnte uns jemand<br />

hop nehmen und mit dem Auto zurückbrin-<br />

Vierzig Jahre später,<br />

als man mich<br />

fragte, wieso ich<br />

das Focusing finden<br />

konnte, da sind<br />

mir diese Umstände<br />

eingefallen.<br />

* Die Bahnstrecke ist eine<br />

ehemals durchgehende<br />

Eisenbahnstrecke von Winterswijk<br />

in den Niederlanden<br />

nach Gelsenkirchen im<br />

nördlichen Ruhrgebiet. Bis<br />

zum Ausbruch des Ersten<br />

Weltkrieges hatte die Strecke<br />

überregionale Bedeutung,<br />

unter anderem durch<br />

eine direkte Zugverbindung<br />

von Essen nach Amsterdam.<br />

In den 1920er-Jahren<br />

sank die Bedeutung des<br />

Grenzabschnittes zwischen<br />

Winterswijk und Borken.<br />

Der Personenverkehr endete<br />

mit dem Ausbruch des<br />

Zweiten Weltkrieges, der<br />

letzte Güterzug passierte<br />

1979 die Grenze.<br />

focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021 5


Themen<br />

gen. Das habe ich ihm zwar nicht geglaubt,<br />

aber es blieb mir in Erinnerung.<br />

Das kleine Jüdische Hotel Eden in Amsterdam<br />

war an einem Kanal, vorne keine<br />

Strasse, nur Wasser. Oben im Zimmer war<br />

ein kleiner Balkon, von dem man auf den<br />

Kanal schauen konnte. Die weissen Fögel,<br />

die da fliegten, die waren frei so wie wir.<br />

Diese Möven sind mir immer Freiheitssymbole<br />

geblieben. Ich sehe sie immer an der<br />

Küste vom Lake Michigan, wo ich wohne.<br />

Es war Erev Rosh Hashonoh. Wir fragten<br />

nach einem Tempel und gingen hin. Es<br />

war ein grosser schöner Tempel, aber drinnen<br />

war es ganz dunkel. Man konnte fast<br />

nichts sehen. Männer mit Hüten so wie<br />

Napoleon‘s standen mit wirklich brennenden<br />

Fackeln, aber Licht gab es nur ganz neben<br />

ihnen. Nach einer halben Stunde gingen<br />

wir hinaus, weil wir die Gebete nicht erkennen<br />

konnten. (Jetzt weiss ich, es waren die<br />

Sephardischen; es war nämlich die berühmte<br />

Portugiesische Synagoge, was wir nicht<br />

wussten.) Wir fragten, ob es noch eine Synagoge<br />

gebe. Ja, sagten die Leute, eine kleine.<br />

Es war ein bisschen weit. Dort war es voll,<br />

aber hinten konnten wir sitzen. Es war Licht<br />

und das Gebet sofort erkannt wie zu Hause,<br />

so waren wir froh. Nach einer Weile ging so<br />

ein Flüstern herum und Einige schauten zu<br />

uns her. War es vielleicht, weil wir so ganz<br />

einfach hereingekommen sind? Man kam<br />

dann zu uns und wir wurden nach vorne<br />

geleitet, zur ersten Reihe, wo für uns Platz<br />

gemacht wurde.<br />

Sollte meine Geschichte, wie wir heraus<br />

vom Naziland kamen, dem Buch passend<br />

sein, würde ich es noch ein wenig polieren.<br />

Sag mir nur schnell, ob es wirklich im Buch<br />

erscheinen wird oder nicht. Arbeiten daran<br />

kannst Du besser, nachdem ich‘s nochmals<br />

durchschaue.<br />

Viele Grüße!<br />

Die beiden neuen Bücher »Senses of Focusing« wurden auf der Frankfurter<br />

Buchmesse vorgestellt und sind jetzt im Buchhandel erhältlich<br />

Volume 1<br />

In the first of the two volumes of Senses<br />

of Focusing, a wide range of authors from<br />

around the world bring fresh thinking to<br />

the meaning of ›Focusing‹ and how Eugene<br />

Gendlin‘s work grew from and has<br />

developed different elements of philosophy<br />

and psychotherapy, particularly within the<br />

Client-Centered tradition. The meaning of<br />

›Focusing‹ and the ›Felt sense‹ are considered<br />

and re-examined; the close relationship<br />

between Focusing and Eastern traditions is<br />

explored by authors from Japan and China;<br />

the relevance of Focusing to the existential<br />

challenges that we face are seen not only<br />

in terms of personal meaning, but also in<br />

relation to current global and political crises;<br />

the evolution of new developments in Focusing<br />

practice are described; different considerations<br />

are brought to bear in relation to<br />

working with physical illness and the body<br />

and the volume concludes with a section on<br />

›Body Mapping‹ and ›Children Focusing‹.<br />

The second volume of Senses of Focusing<br />

carries exploration of the many ›senses‹<br />

of ›focusing‹ in new directions, beginning<br />

with the crucial area of ›spirituality‹ and the<br />

wisdom of ›dreams‹. The value of living and<br />

working from inner experiencing ›in individual<br />

lives and in therapeutic practice‹ is<br />

explored across a variety of cultures as well<br />

as through different manifestations in the<br />

›Arts‹, specifically poetry, theatre and music.<br />

A section on Focusing in ›science and<br />

neuroscience‹ is followed by cross-cultural<br />

takes on the theory and practice of ›Thinking<br />

at the Edge‹ and a section on the significance<br />

of the body‘s knowing in ›ethics and<br />

decision-making‹. The volume concludes<br />

with an examination of Eugene Gendlin‘s<br />

contribution to Client-Centered Therapy and<br />

examples of how his work is now regarded<br />

by more recent theorists and practitioners of<br />

the Person-Centered Approach.<br />

Volume 2<br />

Contributors to this volume (e.g.): Ann Weiser Cornell,<br />

Frans Depestele, Akira Ikemi, Joan Klagsbrun,<br />

Nikolaos Kypriotakis, Nada Lou, Greg Madison,<br />

Barbara McGavin, Kathy McGuire, Atsmaout Perlstein,<br />

Campbell Purton, Bart Santen, Astrid Schillings,<br />

Donata Schoeller, René Veugelers, Johannes<br />

Wiltschko<br />

Contributors to this volume (e.g.): Peter Afford,<br />

Stephanie Aspin, Friedgard Blob, Peter Campbell<br />

(with John Keane and Dave Young), Mick Cooper,<br />

Leslie Ellis, Isabel Gascón Juste, Svetlana Kutokova,<br />

Nikolaos Kypriotakis, Mia Leijssen, Monika<br />

Lindner, Nada Lou, Judy Moore, Rob Parker, Yael<br />

Teff-Seker, Brian Thorne, Greg Walkerden<br />

6 focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021


Themen<br />

Vierzig Jahre Focusing – eine<br />

Essenz?<br />

■■<br />

Von Johannes Wiltschko<br />

Vor vierzig Jahren habe ich zusammen mit Friedhelm Köhne die Focusing Sommerschule erträumt und gegründet und sie<br />

bis heute 38-mal mit wechselnden Kollegen und nun zum zweiten Mal mit meiner Frau Katrin Tom-Wiltschko geleitet. Anlässlich<br />

dieses Jubiläums und nach 45jähriger Beschäftigung mit Focusing meinte sie, es wäre angebracht, einen Workshop<br />

über meine Essenz dessen, was Focusing ist, zu halten. Also gut.<br />

Naheliegenderweise begann ich den Workshop mit der Bemerkung, dass ich zwar irgendwie – aber wirklich nur irgendwie –<br />

verstehe, dass manche vermutlich hoffen werden, dass jetzt endlich jemand daherkommt, der klipp und klar sagen wird, was<br />

Focusing ist, aber dass dies zum Glück nicht geschehen wird. Und dass ich hoffe, dass auch kein anderer jemals versuchen<br />

würde, dies zu tun. Es würde also keine Essenz geben, sondern bloß einige »Essenzen«. Warum das meiner Meinung nach<br />

so ist und so sein soll, versprach ich, verständlich zu machen.<br />

Erste Essenz<br />

Wenn man das Wesentliche von etwas,<br />

das einem wichtig ist und woran das Herz<br />

hängt, herausfinden möchte, ist es meistens<br />

eine gute Idee, sich daran zu erinnern, wie es<br />

war, als man es zum ersten Mal erlebt hat. In<br />

meinem Fall, Focusing betreffend, war dies<br />

ein Tag im Jahr 1975 im Auditorium Maximum<br />

der Universität Zürich. Von diesem<br />

Tag habe ich in meinem Buch »Hilflosigkeit<br />

in Stärke verwandeln« 1 bereits erzählt.<br />

Hier nur so viel: An diesem Tag hörte und<br />

sah ich Gene Gendlin zum ersten Mal, als<br />

Hauptvortragenden auf einem Psychotherapiekongress.<br />

Der Titel seines Vortrags lautete »Keine<br />

Schule hat die ganze Wahrheit« – und<br />

so lautet auch meine erste Essenz. Schon<br />

dieser Titel und erst recht, was Gene dazu<br />

sagte, brachte für mich eine große Entspannung<br />

und Erleichterung, war ich doch seit<br />

fünf Jahren auf der vergeblichen Suche nach<br />

der einzig wahren psychotherapeutischen<br />

Schule. Und ich hatte schon einige kennengelernt:<br />

Analytische Psychologie nach C.G.<br />

Jung, freudianische Psychoanalyse, Daseinsanalyse<br />

nach Medard Boss, Gesprächspsychotherapie<br />

nach Carl Rogers. An allen diesen<br />

»Schulen« war, wie ich fand, etwas dran,<br />

aber etwas fehlte auch oder gefiel mir nicht.<br />

Genes Vortrag erlöste mich von der Illusion,<br />

ein perfektes, wahres »Ding« zu finden und<br />

zu meinem zukünftigen Beruf zu machen.<br />

Wenn keine Schule (Richtung, Ansatz,<br />

Methode …) die ganze Wahrheit hat, dann<br />

erübrigen sich auch jeglicher Anspruch auf<br />

Totalität und der diesbezügliche Wettbewerb<br />

zwischen den Schulen. Beides ist ohnehin<br />

mehr den versteckten sozialen und<br />

ökonomischen »Trieben« der Schulinhaber<br />

und ihrer Anhänger geschuldet als inhaltlichen<br />

und patientenorientierten Gesichtspunkten.<br />

Focusing, so Gendlin in seinem Vortrag,<br />

erlaube uns, in all diese Schulen hineinzuschauen<br />

und von ihnen mitzunehmen, was<br />

uns taugt. Diese kleptomanische Attitüde<br />

hat er natürlich gut begründet und gezeigt,<br />

dass das Resultat dieser Beutezüge nicht<br />

zu einem beliebigen eklektizistischen Blumenstrauß<br />

therapeutischer Techniken und<br />

Konzepte führen und im postmodernen Relativismus<br />

enden müsse. Focusing zeige uns<br />

nämlich, wie sich die einzelnen Stückchen<br />

so miteinander verbinden lassen, dass sie einem<br />

universalen, lebensfördernden Prozess<br />

dienen – dem Focusing-Prozess. Folglich<br />

begründet Focusing eine »Metapsychotherapie«,<br />

wie ich in meinen Büchern später<br />

versucht habe, aufzuzeigen. 2<br />

1 Wiltschko, J. Hilflosigkeit<br />

in Stärke verwandeln. Berlin:<br />

epubli bei Holtzbrinck<br />

2018, 3. Aufl. S. 31-42<br />

2 Ebd. S. 9-13 und Ich spüre,<br />

also bin ich! Berlin: epubli<br />

bei Holtzbrinck 2021, 3.<br />

Aufl. S. 10-12, 303-312<br />

focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021 7


Themen<br />

3 Aus: Wiltschko, J. Anfänger-Geist.<br />

Hinführungen<br />

zur Focusing-Therapie.<br />

Focusing-Bibliothek, Band<br />

I. Würzburg 1991. S. 70<br />

(vergriffen)<br />

Zweite Essenz<br />

Da uns die Antwort auf die Frage, was Focusing<br />

sei, regelmäßig ins Stottern bringt,<br />

sagt man gern, dass man es halt erleben<br />

müsse – am besten in einem entsprechenden<br />

Seminar. Das klingt nach einem billigen<br />

Verkaufstrick oder nach einer esoterischen<br />

Ausrede. Dann aber, wenn man Focusing<br />

praktizieren kann, ist es schon richtig, dass<br />

man mittels Focusing mehr und mehr herausfindet,<br />

welche Phänomene im oder hinter<br />

dem Wort »Focusing« stecken.<br />

Die Aussage, Focusing verstünde man<br />

erst, wenn man es mit Focusing untersucht,<br />

klingt natürlich wie ein logisches No-go. Ein<br />

typischer Zirkelschluss. Nichtsdestotrotz<br />

habe ich eines Nachts vor 35 Jahren folgendes<br />

niedergeschrieben:<br />

In welchen Sinnzusammenhang ist Focusing<br />

eingebettet? Auf welcher Sicherheit<br />

ruht es? Aus welchem Boden wächst es heraus?<br />

Und wohin will es? Kann ich dazu in<br />

mir Antworten finden, Antworten, die ihre<br />

Evidenz aus dem Erleben gewinnen und<br />

die nicht aus bloßen Worten bestehen, die<br />

keinen Boden haben? Gibt es in mir etwas,<br />

das sicher und beständig ist, etwas, dem ich<br />

trauen kann und treu bleibe? Wo wohnt meine<br />

Ruhe, meine Selbstverständlichkeit?<br />

Diesen Fragen nachzugehen, bringt mit<br />

sich, mich sinken zu lassen, tief, unsicher, ob<br />

ich einen Grund erreichen werde. Und dabei<br />

entdecke ich, dass ein Grund von selbst<br />

und für sich gar nicht da ist. Ich erschaffe<br />

ihn, indem ich hinabspüre und Worte emporwachsen<br />

lasse. Dieses Geschehen lässt<br />

Grund entstehen, einen Boden, der sicher<br />

trägt, und eine Atmosphäre, die den Atem<br />

frei macht, eine Welt, die von Sinn erfüllt<br />

ist. Nicht die Worte machen Sinn, nicht die<br />

durch diese Worte ausgedrückte Anschauung<br />

ist die Welt, nicht das denkende Spiel mit Begriffen,<br />

Vorstellungen und Modellen ist die<br />

Wirklichkeit. Nein, es ist nur das Geschehen<br />

selbst, das, was wir »Prozess« nennen, nur<br />

das ist es, was Wirklichkeit, Sinn, Ruhe und<br />

Selbstverständlichkeit stiftet. 3<br />

Meine zweite Essenz lautet daher: Was Focusing<br />

ist, lässt sich nur mit Focusing erfahren.<br />

Das enthebt uns natürlich nicht der<br />

Versuche, mit Worten darauf hinzuweisen,<br />

wie Focusing und die subtilen Prozesse, die<br />

es ausmachen, vor sich gehen.<br />

Dritte Essenz<br />

Dass ich das damals so schreiben konnte,<br />

verdanke ich einer zweiten, für mich umstürzenden<br />

Erfahrung, die ich in der Erstbegegnung<br />

mit Gene in Zürich machen<br />

durfte. Während seines Vortrags empfahl<br />

er den Hunderten Zuhörern, für ein paar<br />

Minuten die Augen zu schließen und zu<br />

bemerken, wie es innerlich gerade so ist,<br />

und damit ein wenig Zeit zu verbringen. Ich<br />

versuchte es: Das scheinbar chaotische Gedankengewusel,<br />

das Gewirr nicht fassbarer<br />

Empfindungen versetzte mich in Panik, zugleich<br />

aber ahnte ich die Power, die Potenz,<br />

die in diesem beängstigenden Erleben steckte.<br />

Und ich ahnte, was Gene damit meinte,<br />

wenn er diese Art des Erlebens als die Quelle<br />

schlechthin für Entwicklung, persönliches<br />

Wachstum, therapeutische Schritte und Erkenntnisfortschritt<br />

bezeichnete.<br />

8 focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021


Themen<br />

Zum ersten Mal fühlte ich mich in meinem<br />

diffusen und zugleich irgendwie reichhaltigen<br />

Innenleben erkannt. Es beruhigte<br />

mich, dass jemand zu verstehen gab, es sei<br />

in Ordnung und vielleicht sogar sinn- und<br />

wertvoll. Dieser Erfahrung entstammt meine<br />

dritte Essenz: Einsichten, Welt- und<br />

Selbstverständnis, kommen nicht primär<br />

aus Konzepten und deren Studium, sondern<br />

aus der Quelle unmittelbaren Erlebens.<br />

Vierte Essenz<br />

Wenn man einer Philosophin – ich meine<br />

natürlich Donata Schoeller – zuhört, wie sie<br />

über Focusing spricht, hört man Sätze, die<br />

andere Aspekte des Focusing hervorheben,<br />

als wenn man mir als Psychotherapeuten<br />

zuhört oder einem Menschen, der Wert auf<br />

»Spirituelles« legt, oder jemandem, der versucht,<br />

Focusing im Wirtschaftsleben anzuwenden.<br />

Das sind natürlich sehr grobe Kategorien,<br />

aber sie sind immerhin Beispiele<br />

für die Tatsache, dass Focusing immer nur<br />

in einer konkreten Situation geschieht und<br />

dass die jeweilige Situation das Sosein des<br />

Focusing mitbestimmt, ebenso wie Focusing<br />

die Situation beeinflusst.<br />

Meine vierte Essenz ist: Focusing gibt<br />

es nicht »an sich« – unabhängig von der<br />

Perspektive, aus der und mit der man es<br />

betrachtet, erlebt, erforscht und anwendet.<br />

Dennoch, so behaupte ich, würde jeder,<br />

der Focusing kennt und an einer x-beliebigen<br />

Situation teilnimmt oder sie beobachtet,<br />

in der vorgegeben wird, es würde Focusing<br />

angewendet werden, feststellen können, ob<br />

das, was vorgeht, focusingorientiert ist oder<br />

nicht. Neil Friedman sagte einmal, man<br />

würde Focusing am flavour, am Geschmack<br />

erkennen und nicht an einzeln aufzählbaren<br />

expliziten Kriterien. Geschmack, das ist<br />

eine intricate pre-seperate multiplicity, eine<br />

komplexe ungeteilte Vielheit, eine implizit<br />

gespürte Evidenz, die beim Versuch, sie in<br />

Bestandteile zu zerlegen, verloren ginge.<br />

Wenn wir also Worte finden wollen, die<br />

etwas von Focusing sagen, dann müssen wir<br />

schon in diese gespürte Evidenz hineingehen<br />

und von dort die passenden Worte kommen<br />

lassen. Focusing von außen wie ein »Ding«<br />

zu beschreiben, wird nicht erhellen, was mit<br />

dem Wort Focusing gemeint ist.<br />

Jede Person bezieht sich aufgrund ihrer<br />

Einzigartigkeit auf ihre ganz spezielle Weise<br />

auf das, was Focusing ist. Die Personen<br />

könnten sich zwar dann in einer großen<br />

Konferenz auf eine explizite Definition von<br />

Focusing einigen, aber ich kann nur hoffen,<br />

dass das niemals geschehen wird. Dann<br />

nämlich wäre Focusing tot.<br />

Fünfte Essenz<br />

Auch deshalb betonte Gene Gendlin bei jeder<br />

Gelegenheit, dass Focusing keiner einzelnen<br />

Person und auch keiner einzelnen<br />

Gruppe »gehöre«. Er sagte: »Wir werden<br />

es alle zusammen weiter fortsetzen, und es<br />

wird sich immer weiter und weiter entwickeln.«<br />

Das ist meine fünfte Essenz.<br />

Und die ist natürlich ein politisches<br />

Statement. Sie wendet sich gegen die Deutungshoheit<br />

und den Machtanspruch Einzelner<br />

und schiebt damit der Dogmatisierung<br />

und Kanonisierung des Focusing einen<br />

Riegel vor. Und sie drückt eine politische<br />

Haltung aus, die weit über Focusing hinausgeht.<br />

Als ich vor vier Jahrzehnten damit<br />

begonnen habe, Focusing in den deutschsprachigen<br />

Ländern bekannt zu machen,<br />

war mir daher von Anfang an klar, dass<br />

ich jede Monopolisierung des Focusing<br />

ablehnen würde. Ich wollte niemals eine<br />

»Deutsche Gesellschaft für …« oder einen<br />

nationalen oder übernationalen »e.V.<br />

für …« gründen, ich wollte kein Präsident<br />

oder Obmann etc. des Focusing sein und<br />

ich wollte auch nicht, dass jemand anderer<br />

so etwas anstrebt. Und ich war froh, dass<br />

Gene Gendlin immer ziemlich heftig dagegen<br />

protestiert hat, wenn das jemand sein<br />

oder werden wollte.<br />

Was ich aber wollte und will, ist, mir die<br />

Menschen selbst auszusuchen, mit denen<br />

ich zusammenarbeiten möchte. Das habe<br />

ich auch für die Focusing Sommerschule,<br />

das Deutsche Ausbildungsinstitut für Focusing<br />

und Focusing-Therapie (DAF) und für<br />

die DAF-AKADEMIE in Anspruch genommen.<br />

Meine Vorstellung von »Organisation«<br />

war und ist, dass sie sich in Wechselwirkung<br />

mit den Inhalten, die sie vertritt, und mit<br />

den Menschen, die diese Inhalte repräsentieren,<br />

verändern und entwickeln sollte.<br />

Das setzt voraus, dass die Gruppe von Menschen,<br />

die die Organisation bildet, klein und<br />

überschaubar bleibt, damit die Beziehungen<br />

und der Austausch untereinander das organisatorische<br />

Bindemittel sind – und nicht<br />

bürokratische Regelungen und scheindemokratische<br />

Abstimmungen.<br />

Dass deshalb diese Art von Organisation<br />

immer wieder zu Abspaltungen einzelner<br />

Als ich vor vier<br />

Jahrzehnten damit<br />

begonnen habe,<br />

Focusing in den<br />

deutschsprachigen<br />

Ländern bekannt<br />

zu machen, war mir<br />

daher von Anfang<br />

an klar, dass ich<br />

jede Monopolisierung<br />

des Focusing<br />

ablehnen würde.<br />

Meine Vorstellung<br />

von »Organisation«<br />

war und ist, dass<br />

sie sich in Wechselwirkung<br />

mit den<br />

Inhalten, die sie<br />

vertritt, und mit den<br />

Menschen, die diese<br />

Inhalte repräsentieren,<br />

verändern<br />

und entwickeln<br />

sollte.<br />

focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021 9


Themen<br />

Wenn diese Essenz<br />

endlich kein Geheimrezept<br />

mehr<br />

wäre, sondern jeder<br />

sie kennen und mit<br />

ihrer Hilfe »kochen«<br />

würde, wäre die<br />

Welt anders.<br />

Personen führt und führen muss, muss man<br />

in Kauf nehmen und aushalten wollen. Natürlich<br />

ist das oftmals mit Kränkungen und<br />

Schmerzen auf beiden Seiten verbunden,<br />

aber es kann auch zu neuen Freiräumen<br />

führen, in denen sich die Focusing-»Kultur«<br />

diversifizieren kann und so lebendig bleibt.<br />

Viele der Gruppen und Personen, die sich<br />

mit Focusing beschäftigen oder in Focusing<br />

ausbilden, stammen von der Sommerschule<br />

ab. Dass die jüngste dieser Abspaltungen<br />

zu einer zweiten »Internationalen Focusing<br />

Sommerschule« geführt hat, die, obwohl<br />

soeben erst ins Leben gerufen, auch vierzigjähriges<br />

Jubiläum feiert, ist eine nicht justiziable<br />

Chuzpe – aber okay, auch sie wird<br />

einen Raum für eine bestimmte Art von Focusing<br />

bereitstellen.<br />

Wenn es so ist, dass Focusing nicht unabhängig<br />

von der Perspektive und von den<br />

jeweiligen Situationen und Personen ist,<br />

dann ist ganz klar, dass ich nicht einfach<br />

daherkommen und jetzt, in dieser Situation,<br />

sagen kann, was die Essenz, also das<br />

Wesen, der Kern von Focusing ist. Was ich<br />

bestenfalls kann, ist, einige der augenblicklichen<br />

Essenzen darzustellen, die meinen<br />

Geschmack von Focusing bestimmen. Essenzen,<br />

verstanden als Konzentrate, die, mit<br />

anderem vermischt, z.B. geschmackvolle<br />

Suppen ergeben.<br />

Sechste Essenz<br />

Eine weitere dieser Essenzen ist folgende:<br />

Was ich erlebe, hängt davon ab, WIE ich<br />

mit ihm in Beziehung trete.<br />

Wenn diese Essenz endlich kein Geheimrezept<br />

mehr wäre, sondern jeder sie<br />

kennen und mit ihrer Hilfe »kochen« würde,<br />

wäre die Welt anders. Ich habe diese<br />

Essenz schon oft beschrieben: Je nachdem,<br />

wie ich auf etwas zugehe, so kommt es mir<br />

entgegen. Oder: Die Art und Weise meiner<br />

Beziehung zu etwas konstelliert dieses Etwas<br />

mit. Oder: Das Beobachtete ist nicht unabhängig<br />

vom Beobachter.<br />

Dieses »Gesetz« gilt zumindest für die<br />

subatomare Welt und für die Innenwelt, für<br />

all das, was wir Erleben nennen. Geläufige<br />

Slogans dafür sind »Wie vor Was«, »Beziehung<br />

vor Inhalt« oder Gendlins Aussage<br />

»Erlebensinhalte sind Prozessaspekte«.<br />

Im Focusing ändern wir folglich nicht das<br />

»Was« (die Erlebensinhalte, die Verhaltensformen),<br />

sondern das »Wie« (die Beziehung<br />

zu ihnen). Dadurch ändern sich auch die Inhalte.<br />

Deshalb erst wird focusingorientierte<br />

(oder jede?) Psychotherapie wirksam. Deshalb<br />

kann im Focusing vergangenes Erleben<br />

jetzt verändert werden.<br />

Dieses Gesetz gilt selbstverständlich<br />

auch für die WAS-Aspekte des Focusing<br />

selbst, also für Focusing als Inhalt, auf den<br />

man sich so oder so beziehen kann. Und<br />

dieses Gesetz ist allen meinen Essenzen inhärent,<br />

besonders auch der nächsten.<br />

Siebente Essenz<br />

Wenn die Beziehung, das Verhältnis zu etwas,<br />

so entscheidend ist, fragt sich natürlich,<br />

ob es so etwas wie ein optimales Verhältnis<br />

gibt. Jedenfalls, was die für Focusing besonders<br />

zentralen Verhältnisse betrifft: das Verhältnis<br />

zwischen mir (meinem »Ich«) und<br />

dem, was ich erlebe (fühle, spüre, denke,<br />

tue, …), und das Verhältnis zwischen mir<br />

und der Person, die ich in ihrem Focusing-<br />

Prozess begleite. Ich habe nach vielen Jahren<br />

Focusing-Praxis etwas, das für Focusing-<br />

Leute selbstverständlich klingen mag, zu<br />

meiner Hauptessenz erkoren: Die »produktivste«<br />

dieser Beziehungsformen ist Mit-<br />

Sein.<br />

10 focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021


Hier sind einige Aspekte dessen, was für<br />

mich Mit-Sein bedeutet (dabei spreche ich<br />

auch einen Erlebensinhalt meistens mit Du<br />

an, als wäre er eine Person):<br />

––<br />

Es (was immer ich gerade erlebe) darf<br />

da sein – und ich bin auch da.<br />

––<br />

Ich bin da – und du bist auch da.<br />

––<br />

Um zu bemerken, dass ich auch da bin,<br />

kann es erforderlich sein, mich von<br />

meinem Erlebensinhalt zu disidentifizieren.<br />

––<br />

Nur wenn beide da sind (ich und etwas,<br />

ich und du), ist Beziehung möglich.<br />

––<br />

Es ist (Du bist) da – und ich habe meinen<br />

Atem, ich atme.<br />

––<br />

Ich bin da – ohne etwas von ihm / von dir<br />

zu wollen. Ich bin einfach da.<br />

––<br />

Ich bin da – ohne Absichten.<br />

––<br />

Ich bin mit dir da – du hast deinen dir<br />

eigenen Platz, und ich habe den mir eigenen<br />

Platz.<br />

––<br />

Ich setze mich zu dir – neben dich, nicht<br />

zu nah, nicht zu weit entfernt.<br />

––<br />

Ich bin mit dir in Tuchfühlung.<br />

––<br />

Ich fühle dich unmittelbar, ohne etwas<br />

(Konzepte, Methoden, …) dazwischenkommen<br />

zu lassen.<br />

––<br />

Denn: Es ist schon alles da. Ich tue nichts<br />

dazu, ich mache nicht mit dir herum.<br />

––<br />

Wir sind auf Augenhöhe.<br />

––<br />

…<br />

Es hat mich immer wieder überrascht und<br />

tief bewegt, dass Mit-Sein schon alles ist.<br />

Dass im Mit-Sein Wandel geschieht, dass<br />

sich im Mit-Sein die Schritte einstellen, die<br />

Festgefahrenes und daher meist Leidvolles<br />

weiterfließen lassen in eine wohltuende, lebensvolle<br />

Richtung. Allerdings ist es nicht<br />

immer leicht, zum Sein mit etwas (in mir)<br />

oder mit jemandem zu gelangen, denn dazu<br />

braucht es immer zwei – zwei, die es wollen<br />

und zulassen können. Und dorthin ist es<br />

manchmal ein längerer Weg.<br />

Achte Essenz<br />

Mit-Sein erfordert ein spezifisches Verständnis<br />

dessen, was gewöhnlich als Achtsamkeit<br />

bezeichnet wird. Die Wörter Achtsamkeit<br />

oder mindfulness kommen bei Gendlin<br />

nicht vor. Aus gutem Grund, weil diese<br />

Wörter ideologisch durchtränkt sind und<br />

inzwischen in den verschiedensten Kontexten<br />

unterschiedlich gebraucht werden. Bei<br />

Gendlin heißt es einfach »put your attention<br />

in your body …«, oder: »Bemerke, was<br />

gerade innen, in deinem Körper geschieht.«<br />

Focusing wurde im Westen gefunden und<br />

entwickelt, basierend auf europäischer Philosophie,<br />

auch wenn es Kenner östlicher<br />

Weisheitslehren an einige ihrer Konzepte<br />

und Praktiken erinnern mag.<br />

Die Wortbildung »Achtsamkeit« drückt<br />

ein Abstraktum aus; im Focusing meinen<br />

wir damit aber eine konkrete Form des<br />

Handelns und Seins, daher würde – wenn<br />

schon – das Substantiv »Achtsamsein« besser<br />

passen. Zudem wird Achtsamkeit oft als<br />

eine Art Selbstbeobachtung verstanden. So<br />

als würde man »da oben« (im Kopf, in den<br />

Augen) wohnen und von dort in sich hinabschauen<br />

und beobachten und bezeugen wollen,<br />

was »dort unten« (im Körper) vor sich<br />

geht. Daher kommt es auch, dass manche<br />

vom »inneren Zeugen« sprechen.<br />

Für uns »Westler« ist es sehr naheliegend,<br />

Achtsamkeit auf diese Weise zu<br />

praktizieren, aber es ist nicht das, was ich<br />

mit Mit-Sein meine. Mit-Sein setzt voraus,<br />

dass ich das, womit ich sein möchte, besuchen<br />

gehe. Ich möchte es dort besuchen, wo<br />

es ist. Und ich gehe dorthin, nicht um es zu<br />

beobachten oder zu bezeugen, sondern um<br />

mit dem, was dort ist, zu sein. Da es im Focusing<br />

sehr oft um etwas geht, das sich im<br />

von innen gefühlten Körper zeigt, ist es sehr<br />

vorteilhaft, wenn »das Ich« vom Oberstübchen<br />

in den Körper umzieht. Das ist meine<br />

achte Essenz.<br />

Im ersten Moment scheint dieser Umzug<br />

von der oberen Etage in eine untere<br />

mysteriös zu sein. Er ist nur »von innen«<br />

nachvollziehbar und kann nur als etwas<br />

Gespürtes geschehen: indem ich mich entspanne,<br />

atme, meine Aufmerksamkeit an<br />

das Atmen hefte und mit dem Atem – wie<br />

in einem Fahrstuhl – hinunter in den Brust-<br />

Bauchraum fahre. Das fühlt sich an wie das<br />

Sinken des wahrnehmenden Ichs in eine tiefe<br />

Geborgenheit. Erst wenn es dort wohnt,<br />

ist es in der Lage, Besuche auf Augenhöhe<br />

abzustatten und mitzusein.<br />

Eine These<br />

Vor vielen Jahren habe ich einen Satz konstruiert,<br />

der mir bis heute gut gefällt und der<br />

etwas für mich, mein Leben und mein Arbeiten<br />

Wichtiges ausdrückt. Da er nicht unmittelbar<br />

mit Focusing zu tun hat, firmiert er<br />

hier nicht als Essenz, sondern als These. Sie<br />

lautet: Nichts, dessen Gegenteil falsch ist,<br />

ist wahr. Natürlich ist das eine Behauptung.<br />

Und ich bin mir nicht sicher, ob sie immer<br />

Themen<br />

Es hat mich immer<br />

wieder überrascht<br />

und tief bewegt,<br />

dass Mit-Sein<br />

schon alles ist.<br />

Das fühlt sich an<br />

wie das Sinken des<br />

wahrnehmenden<br />

Ichs in eine tiefe<br />

Geborgenheit.<br />

focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021 11


Themen<br />

Prof. Dr. Johannes<br />

Wiltschko<br />

Leiter der DAF-AKADEMIE<br />

jw@daf-focusing-akademie.<br />

com<br />

stimmt. Das Schöne ist, dass sie selbst mit<br />

dieser Unsicherheit schwanger geht.<br />

Dieses Schwangersein mit den eigenen<br />

Gegenteilen hat mich vor ein paar Tagen<br />

auf die Idee gebracht, dem uns Focusing-<br />

Leuten bekannten Gendlinschen Crossing<br />

das Tilting als eine Art Spezialfall des Crossing<br />

zur Seite zu stellen. Tilting meint, einen<br />

Satz in sein Gegenteil umkippen zu lassen.<br />

Crossing wie Tilting geschieht nicht durch<br />

logische Operationen, sondern geht durch<br />

den Felt Sense. Nur dort findet das Kreuzen<br />

und das Kippenlassen statt. Focusing- und<br />

TAE-Geübte werden bemerken, dass im Tilting<br />

fast immer mehrere Versionen möglich<br />

sind. Jede Version kann aus dem impliziten<br />

Gespür eines Satzes eine »Wahrheit« explizieren<br />

und zur Sprache bringen.<br />

Diese Praxis würde uns davor bewahren,<br />

uns mit Einseitigkeiten und Eindeutigkeiten<br />

zu identifizieren und Echokammern<br />

zu bewohnen. Auch Focusing kann eine solche<br />

werden, wenn wir nicht aufpassen.<br />

Neunte Essenz<br />

Gene Gendlin hat oft gesagt, besonders auf<br />

Psychotherapiekongressen, dass Focusing<br />

bloß ein kleines Stückchen sei, ein Stückchen,<br />

das er gefunden und jetzt anderen<br />

zeigen und übergeben könne. Alle könnten<br />

das, was sie schon haben, wissen und können,<br />

behalten – und dann, wenn sie wollen,<br />

könnten sie das kleine Focusing-Stückchen<br />

noch dazunehmen. Das klingt sehr bescheiden<br />

und sehr liberal. Aber dann hat er –<br />

nicht immer, aber manchmal – mit kaum<br />

merkbarem verschmitztem Lächeln hinzugefügt:<br />

»Wenn Sie das tun, wird sich Ihre<br />

ganze Arbeitsweise langsam verändern.«<br />

Deshalb klingt meine neunte Essenz<br />

so: Focusing ist nicht alles, aber ohne Focusing<br />

ist (fast) alles nichts. Dieser Satz<br />

schreit geradezu danach, gekippt zu werden.<br />

Wenn Sie ihn in seine verschiedenen Gegenteile<br />

kippen lassen, werden Sie noch eine<br />

ganze Menge über Focusing erfahren.<br />

Versuchen Sie es! Daraus ließen sich<br />

dann sicherlich weitere Essenzen ableiten.<br />

Ich lasse es für heute mit der neunten bewenden.<br />

12 focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021


Themen<br />

Achtsamkeit – der psychospirituelle<br />

Fokus buddhistischer<br />

Körper(psycho)therapie<br />

■■<br />

Von Jörg-M. Wolters<br />

Achtsamkeit, Gewahrsein, Bewusstheit<br />

– psychotherapeutische wie spirituelle<br />

Methoden fernöstlicher Weg-Lehren<br />

und Heilkunstverfahren stehen im Zentrum<br />

des Bemühens um individuelles Wachstum,<br />

Minderung von Leiden und »erlebnisintensiver«<br />

Sinnstiftung auch und gerade über<br />

Körper- und Bewegungsarbeit. Auch Budopädagogik<br />

und Budotherapie, also auf<br />

»Budo« (originäre japanische Kampfkunst<br />

und ihre zen-buddhistische Philosophie<br />

und Übungs-Praxis) basierende Ansätze,<br />

vermitteln und fördern eher »geistige« (»innere«)<br />

als physisch-technisch (»äußere«)<br />

Selbst-Entwicklung 1 .<br />

Damit sind die traditionellen asiatischen<br />

Budo-Kampfkünste in ihrem eigentlichen<br />

Wesen als Persönlichkeitsschulung<br />

und »Seins«- bzw. Lebensphilosophie<br />

weit entfernt von irgendwelchem sportlichen<br />

Leistungsdenken moderner Wettkampfsportarten.<br />

Und erst recht lehren sie<br />

im Unterschied zu ihnen den »Sieg über sich<br />

selbst« 2 , nicht den Sieg über Gegner, lehren<br />

moralisch-ethische »Samurai-Tugenden« 3 ,<br />

Gewaltverzicht, Güte und Nächstenliebe,<br />

und nicht feindseliges Konkurrenzdenken<br />

oder aggressives Verhalten.<br />

Die Budo-Übungen im Kontext von<br />

Bewegung, Begegnung und Besinnung sind<br />

alle auf »Konzentration des Geistes« angelegt,<br />

haben primär Achtsamkeitstraining,<br />

das Erleben und sinnliches Gewahrsein sowie<br />

das Erlernen und die Erweiterung des<br />

Bewusst-Seins im Fokus.<br />

Die Anmerkungen finden Sie am Schluss des Beitrages,<br />

Seite 15-16.<br />

focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021 13


Themen<br />

Der Körper als beseelter Leib und seine<br />

systematische Bewegung dienen als Instrument<br />

zur »Kontrolle« der Psyche, also<br />

psychophysischer wie psychoemotionaler<br />

(»innerer«) Vorgänge, des Denkens und<br />

Wollens sowie der Emotionen und Gefühle<br />

– und des rechten Verhaltens. Die durch<br />

»Meister« geführte Selbsterfahrung und<br />

Selbstforschung der Schüler (Klienten, Patienten)<br />

– eben sich selbst, sein »Ich« (Sein<br />

und Erleben) zu beobachten und zu fühlen,<br />

ebenso seine Partner und Interaktionen miteinander<br />

(Kooperation) – sind Prozesse der<br />

körper(psycho)therapeutischen wie auch<br />

spirituellen »Arbeit am Selbst«. Die Verbesserung<br />

körperlich-technischer Fertigkeiten,<br />

das physische »Können«, ist ein Nebenprodukt<br />

dieser »geistigen« Schulung und nicht<br />

etwa Selbstzweck. Nicht das Ergebnis zählt,<br />

sondern der Weg dorthin (jap. »Do«) 4 .<br />

Budopädagogik und Budotherapie<br />

Budo als insofern »helfende« oder »heilsame«<br />

Kampfkunst 5 und Grundlage des professionellen<br />

pädagogischen oder therapeutischen<br />

Anwendungsgebiets hat ebenso wie<br />

die achtsamkeitsbasierte Psychotherapie<br />

(MBPT) und ihr Vorläufer, die achtsamkeitsbasierte<br />

Stressreduktion (MBSR) von<br />

Jon Kabat-Zinn 6 , ihre Wurzeln in der vor<br />

allem fernöstlichen Meditationskultur und<br />

der vor allem im Zen-Buddhismus seit 1500<br />

Jahren praktizierten gezielten Aufmerksamkeitslenkung<br />

7 , bei der man bewusst<br />

(»außen« und »innen«) wahrnimmt, was<br />

im gegenwärtigen Moment ist (»hier und<br />

jetzt«), ohne zu urteilen oder zu bewerten<br />

(Akzeptanz). Nur, dass diese Meditation<br />

im Budo in der besonders »energetischen«<br />

(jap.: Ki, chin.: Chi) Bewegung mit speziellen<br />

Kampfkunst-Elementen (z.B. Aiki-do,<br />

Iai-do, Judo-do, Karate-do, Shaolin Chuan,<br />

Tai Chi, Yoga) als eben »bewegte Körper«-<br />

Meditation gelehrt und geübt wird.<br />

Während in der präventiven, ressourcenorientierten<br />

Budopädagogik 8 und ihren<br />

Lernarrangements »Ich-Findung« und<br />

-»Stabilisierung«, positive Selbstwahrnehmung,<br />

Selbstwirksamkeitserleben sowie<br />

kooperativ-wohlwollendes und vor allem<br />

faires und friedfertiges Sozialverhalten 9 im<br />

Vordergrund stehen, geht es in der Budotherapie<br />

um störungsspezifische Heilbehandlungssettings,<br />

erlittene Behinderungen,<br />

Krankheiten und Verletzungen, physische<br />

wie psychische, positiv zu beeinflussen. Und<br />

in seiner letztendlich spirituellen Dimension<br />

will Budotherapie als Lebens-Lehre und<br />

Lebens-Coaching mit buddhistischer Theorie<br />

und Praxis Leiden und Leid lindern oder<br />

verhindern und »Glück« als Ergebnis eigener<br />

»geistiger« Entscheidung verwirklichen<br />

helfen 10 .<br />

Budo als daoistische Weg-Lehre von<br />

»esoterischer Kampfkunst« 11 , und »professionelles<br />

Budo« in sozial- und sonderpädagogischer<br />

oder gar klinischer körper(psycho)<br />

therapeutischer Anwendung 12 bauen auf die<br />

Wirkung des »Wahr-Nehmens«, konzentrierten<br />

Spürens, bewussten Erlebens und<br />

somit auf gefördertes Erkennen (Einsicht,<br />

Erwachen/»Erleuchtung«) vom unmittelbaren<br />

Sein und Tun, von Welt und aktueller<br />

Wirklichkeit.<br />

Bewegungs-Meditation<br />

Während klassisches Tai Chi, Qi Gong und<br />

originäres Yoga bekannte Formen einer<br />

»Bewegungs-Meditation« im weiteren Sinne<br />

sind, bei denen Bewegung und Körperhaltungen<br />

in meditativer Bewusstheit, bewusster<br />

Gemütseinstellung und in Achtsamkeit<br />

ausgeführt werden, sind die asiatischen Budokünste<br />

in ihrer Qualität als »dynamische<br />

Meditation« weniger bekannt. Das liegt an<br />

ihrer massenhaft verfremdenden Versportung<br />

13 und modernen Missinterpretation,<br />

die die traditionellen Kampfkünste und ihren<br />

besonderen Wert systematisch und »auf<br />

unerträgliche Weise« 14 degenerieren 15 und<br />

völlig entarten. Im Kern aber sind die Budo-<br />

Künste »dynamisches Zen«.<br />

»Ken – Zen – ichi«, wie das berühmte<br />

Zitat von Zen-Meister Takuan (1573-1645)<br />

bereits erklärt: »Schwert und Zen sind eins.«<br />

Demnach geht es in der wahren Kunst des<br />

Kampfes 16 (mit Schwert oder Faust, jap.:<br />

Ken) ebenso wie in den Übungen des Zen<br />

(z.B. Sitzmeditation Zazen oder Gehmeditation<br />

Kinhin) gleichermaßen darum, sein<br />

»Ich zu besiegen, das mit seinen unzähligen<br />

inneren Antrieben den Geist und die Handlung<br />

des Menschen verwirrt und der wahren<br />

Verwirklichung seines Eigenwesens ewig im<br />

Wege steht« 17 . Dies ist übrigens allen Weg<br />

(jap.: Do)-Künsten zu eigen, in denen die<br />

jeweilige Handwerkskunst sich im Herstellungsprozess,<br />

der korrekten und ästhetischen<br />

Aus-»Übung«, und weniger am Endprodukt<br />

erweist, wie bei der Kunst bzw. dem<br />

Weg der Kalligraphie (Sho-do), des Tees<br />

(Sa-do) oder der Blumen (Ka-do). Und, wie<br />

eine japanische Samurai-Weisheit sagt, »ge-<br />

14 focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021


Themen<br />

hören die schönen Künste und die Kampfkünste<br />

zusammen«: »Bun Bu ryo Do« 18 .<br />

Beim japanischen Zen-Bogenschießen<br />

(Kyu-do), der Kunst des Schwert-Ziehens<br />

(Iai-do), -Schneidens (Batto-do) oder<br />

-Kämpfens (Ken-do) geht es immer um die<br />

korrekte äußere und innere Haltung, also<br />

den im ästhetischen Außen (im Körper, in<br />

der Technik) erkennbaren rechten inneren<br />

(geistig-meditativen) Gemüts- und Bewusstseinszustand<br />

des Ausübenden. Nur im<br />

Gleichgewicht von Körper und Geist, wenn<br />

wir in unserer Mitte sind, wenn Denken,<br />

Handeln, Fühlen, Wollen und Sein eins sind,<br />

wenn wir in unserem Tun frei und vollkommen<br />

aufgehen, wenn »nicht Ich sondern Es<br />

den Bogen schießt« 19 , kann die Übung gelingen<br />

und ein Meisterwerk (und Meisterschaft)<br />

entstehen.<br />

Insofern sind im Budo alle Bewegungen,<br />

Positionen, Schritte, Techniken und Technikfolgen<br />

(mit und ohne Waffen), Ablaufformen,<br />

Partnerübungen und Zweikämpfe<br />

nur Mittel zum Zweck, seinen Geist zu<br />

kontrollieren, sich selbst und sein Tun in<br />

vollem Bewusst-Sein in Einklang zu bringen<br />

20 . Gelenkte Achtsamkeit zur ungetrübten<br />

Selbst- und Umweltwahrnehmung, und<br />

das im eigenen Bewegungsfluss oder sogar<br />

in spontaner Interaktion mit einem Gegenüber<br />

– und vor allem seine Angst oder Wut,<br />

auch Geltungssucht oder Neid usw. dabei zu<br />

sehen und zu kontrollieren – stehen im Fokus<br />

der Budo-(Meditations)-Übungen. Das<br />

ist »der Sieg über sich selbst« …<br />

Kein Wunder also, dass »Kampfkunst als<br />

Therapie« 21 eine erfolgreiche Methode ist,<br />

über im Budo angelegte Achtsamkeits- und<br />

Bewusstseinsschulung 22 Selbst-Erleben und<br />

Selbst-Findung zu initiieren sowie über<br />

sensible Wahrnehmungserfahrungen »vom<br />

ICH zum DU zum WIR« zu gelangen und<br />

ein durch diese Meditationen im Budo gereifter<br />

»Friedvoller Krieger« zu werden, der<br />

sein eigenes Einssein und sein Einssein mit<br />

seiner Mitwelt begreift und neuen, alles<br />

wertschätzenden Lebens-Sinn findet 23 . Dies<br />

ist der psycho-spirituelle Fokus des Budo –<br />

auch und erst recht in professionell 24 helfender<br />

oder heilender Anwendung.<br />

Anmerkungen<br />

1 Wolters, J.-M. / Dorn, C. (Hrsg.): Budo – Wesen<br />

und Wirken der Kampfkunst; Norderstedt 2020<br />

2 Grundmann, M.: Die Niederlage ist ein Sieg;<br />

Düsseldorf 1983<br />

3 Wolters, J.-M.: Samurai-Tugenden und Psychotherapie<br />

heute; in: Ursache & Wirkung. Zeitschrift<br />

für Gesellschaft, Gesundheit, Spiritualität, Ökologie,<br />

Kultur und Politik aus buddhistischer Sicht;<br />

7/2020, online<br />

4 Möhle, K.: Der Do der Kampfkunst und die<br />

Entwicklung einer Lebensform der Achtsamkeit;<br />

LIT-Verlag 2011; Schottelius, S.: Do – Der Weg<br />

zur inneren Meisterin. Kampfkunst-Philosophie<br />

fürs Leben; tao.de in J. Kamphausen Mediengruppe,<br />

2015<br />

focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021 15


Themen<br />

Dr. phil. Jörg-M.<br />

Wolters<br />

Leiter des Institut für Budo–<br />

pädagogik und -therapie (IfBP),<br />

Akademischer Lehrer und<br />

Klinischer Therapeut im Fachbereich<br />

Kinder- u. Jugendpsychiatrie,<br />

Psychotherapie und<br />

Psychosomatik, Kampfkunst-<br />

Lehrmeister, 7. Dan Hanshi<br />

https://budopaedagogik.de/<br />

info@budopaedagogik.de<br />

5 Wolters, J.-M.: Budopädagogik und -therapie:<br />

Wie Kampfkunst hilft und heilt; in: Ursache &<br />

Wirkung. Zeitschrift für Gesellschaft, Gesundheit,<br />

Spiritualität, Ökologie, Kultur und Politik aus<br />

buddhistischer Sicht; 5/2021, online<br />

6 Kabat-Zinn, J.: Gesund durch Meditation. Full<br />

Catastrophe Living. Das vollständige Grundlagenwerk.<br />

Erste vollständige Ausgabe. Otto Wilhelm<br />

Barth, München 2011<br />

7 Suzuki, D.: Zen und die Kultur Japans; Hamburg<br />

1958<br />

8 Wolters, J.-M. / Schröder, J.: Budopädagogik;<br />

Norderstedt/Hamburg<br />

9 Neumann, U.: Der friedliche Krieger: Budo als<br />

Methode zur Gewaltprävention; Marburg 2007<br />

10 Wolters, J.-M.: Buddhistische Kampfkunst & Psychologie<br />

als Lebensweg & Heilkunst; in: Ursache<br />

& Wirkung. Zeitschrift für Gesellschaft, Gesundheit,<br />

Spiritualität, Ökologie, Kultur und Politik aus<br />

buddhistischer Sicht; 05/2020; online<br />

11 Lind, W.: Budo. Der geistige Weg der Kampfkünste;<br />

Berlin 1992<br />

12 Bewegung – Begegnung – Besinnung. Budo als<br />

Körper(psycho)therapie in der Kinder- u. Jugendpsychiatrie;<br />

in: körper-tanz-bewegung. Zeitschrift<br />

für Körperpsychotherapie und Kreativtherapie;<br />

04/2018, S. 159-166; Budo-Therapie. Zur heilenden<br />

Wirkung asiatischer Kampfkünste bei<br />

psychisch erkrankten Kindern und Jugendlichen;<br />

in: Bewusstseinswissenschaften – Transpersonale<br />

Psychologie und Psychotherapie; 02/2015. S. 69-76<br />

13 Bender, D.: Sport, Kunst oder Spiritualität?; Münster<br />

2012<br />

14 Roland Habersetzer, 9. Dan Karatedo Hanshi:<br />

Interview erschienen im französischen Dragon<br />

Magazine 2017 http://www.wslang.de/karatecrb/<br />

index01.html, 2020, online<br />

15 Braun, J.: Aufsätze und Essays zu Kampfkunst und<br />

Spiritualität; Norderstedt 2018<br />

16 Dolin, A.: Kempo – Die Kunst des Kampfes; Leipzig<br />

1988<br />

17 Ostasiatische Kampfkünste: Das Lexikon; Berlin<br />

1996<br />

18 Braun, J.: Bunbu-ryôdô: Philosophie und Ethik<br />

japanischer Kriegskunst der Tokugawa-Zeit (1603-<br />

1868); Frankfurt 2016<br />

19 Herrigel, E.: Zen in der Kunst des Bogenschießens;<br />

München 2010<br />

20 Wolters, J.-M.: Essays zum Budo; Norderstedt<br />

2018<br />

21 Wolters, J.-M.: Kampfkunst als Therapie; Norderstedt/Hamburg<br />

2020<br />

22 Tiwald, H.: Psycho-Training im Kampf- und<br />

Budosport; Ahrensburg 1978<br />

23 Hintelmann, J.-P.: Westliche Sinnfindung durch<br />

östliche Kampfkunst; Berlin 2005<br />

24 Berufsverband der Budopädagogen, BvBP<br />

(www.bvbp.org)<br />

Andrea Auer-Hutzinger, Wien: Focusing-Beraterin / Coach (DAF)<br />

Michaela Breit, München: Focusing-Begleiterin (DAF)<br />

Sonja Hüttinger, Pappenheim: Focusing-Begleiterin (DAF)<br />

Birgit Krüger, München: Focusing-Begleiterin (DAF)<br />

Irmi Lenius, Stockerau: Focusing-Beraterin / Coach (DAF)<br />

Mag. Inge Pinzker, Wien: Focusing-Trainerin (DAF)<br />

P. Rainer Reitmaier, München: Focusing-Berater / Coach (DAF)<br />

Dr. Birgit Seissl, Meran: Focusing-Beraterin / Coach (DAF)<br />

Mag. Dagmar Shorny, Wien: Focusing-Beraterin / Coach (DAF)<br />

Silke Siemers, Harsefeld: Focusing-Beraterin / Coach (DAF)<br />

Edith Sroka-Lasaj, Hamm: Focusing-Therapeutin (DAF)<br />

16 focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021


Termine<br />

OFT: Online-Focusing-Time – kostenfrei<br />

Aussteigen aus dem Alltag – Einsteigen in die Welt des Focusing<br />

»Bitte mach mit uns noch ein Gruppenfocusing«, werden wir in unseren Seminaren oft gefragt, und es freut<br />

uns, dass es die meisten als sehr wohltuend empfinden, weil sie hier in innerer Achtsamkeit zu sich kommen,<br />

entspannen und ihren inneren Freiraum wiederfinden können. Und aus dem Verweilen mit dem Schon-Gespürten-aber-noch-nicht-Gewussten<br />

können dann lebensfördernde Schritte entstehen ...<br />

OFT ist die Gelegenheit, Focusing kennenzulernen und/oder an Focusing dranzubleiben – für alle, die<br />

Lust dazu haben und die neugierig sind, ob Focusing auch für sie etwas sein könnte. Und natürlich auch für<br />

Focusing-Erfahrene, die sich eine begleitete Focusing-Runde gönnen möchten. Mit OFT nimmst du dir eine<br />

Auszeit, in der sich innerlich wieder alles ordnet und sich Wesentliches von Unwesentlichem scheidet. Und<br />

du kannst dabei …<br />

… wieder auftanken<br />

… den »Focusing-Faden« nicht verlieren bzw. wiederfinden<br />

… DozentInnen der DAF-AKADEMIE und<br />

… neue Leute für Partnerschaftliches Focusing kennenlernen<br />

Ablauf einer OFT-Session: Themeninput – Gruppenfocusing – Sharing (Möglichkeit, sich mitzuteilen und<br />

auszutauschen). Anschließend gibt es für die, die Focusing schon können, Gelegenheit, im Partnerschaftlichen<br />

Focusing mit einer anderen TeilnehmerIn persönliche Themen zu fokussieren.<br />

Wir folgen der inneren Wohlfühlspur! Steig mit ein! Anmeldung ist nicht erforderlich!<br />

Die jeweiligen ZOOM-Zugangslinks findest du auf unserer Website: www.daf-focusing-akademie.com/onlinefocusing-time-oft/.<br />

Hier sind die nächsten Termine:<br />

Mittwoch, 24.11.2021, 18 Uhr – ca. 18:45 Uhr<br />

Thema: Felt Sense – was ist das eigentlich?, Leitung: Dr. Johannes Wiltschko<br />

Mittwoch, 15.12.2021, 18 Uhr – ca. 18:45 Uhr<br />

Thema: Focusing und Gebet, Leitung: Martha Hellinger<br />

Mittwoch, 12.01.2022, 18 Uhr – ca. 18:45 Uhr<br />

Thema: Körpersymptome und Wohlfühlort, Leitung: Mag. Karin Mayer<br />

Mittwoch, 26.01.2022, 18 Uhr – ca. 18:45 Uhr<br />

Thema: noch offen, Leitung: Mag. Inge Pinzker<br />

Wir freuen uns über einen freiwilligen Beitrag zur Finanzierung ermäßigter Ausbildungsplätze:<br />

DAF-AKADEMIE, IBAN: DE85 7105 0000 0020 4688 23<br />

focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021 17


Termine<br />

Weiterbildung Focusing-BASIS – online 2022<br />

Die DAF-AKADEMIE bietet erstmalig eine komplette Weiterbildung BASIS online an, vor allem auch für diejenigen,<br />

die weit entfernt von unseren Seminarorten im Raum Salzburg und im Raum München leben.<br />

In den vergangenen eineinhalb Jahren haben wir viele Erfahrungen mit den von uns online angebotenen Seminaren<br />

gesammelt – überraschend gute Erfahrungen. Daraus haben wir ein neues Format für die Weiterbildung<br />

BASIS entwickelt.<br />

Sie besteht aus<br />

• 5 zweitägigen Seminaren (Fr 18 – So 13 Uhr)<br />

• 2 Halbtagsseminaren (Mi 16 – 19 Uhr)<br />

• angeleitetem Selbststudium (Audio-Lectures, ausführliches schriftliches Ausbildungsmaterial,<br />

ausgewählte Literatur)<br />

• kollegialem Arbeiten (Partnerschaftliches Focusing, Peer-Groups)<br />

• Supervision<br />

Teilnahmevoraussetzung:<br />

Tätigkeit in einem kreativen bzw. psychosozialen Beruf<br />

Leitung:<br />

Katrin Tom-Wiltschko, Prof. Dr. Johannes Wiltschko, Assistentin: Meike Rugenstein MA, MSc<br />

Termine:<br />

Seminar I: 28.01. – 30.01.2022 Leitung: Katrin + Johannes + Meike<br />

Seminar II a: 25.02. – 27.02.2022 Leitung: Katrin + Meike<br />

Seminar II b: 16.03.2022 Leitung: Katrin<br />

Seminar III a: 08.04. – 10.04.2022 Leitung: Katrin + Meike<br />

Seminar III b: 11.05.2022 Leitung: Katrin<br />

Seminar IV: 24.06. – 26.06.2022 Leitung: Johannes + Meike<br />

Seminar V: 16.09. – 18.09.2022 Leitung: Johannes + Meike<br />

Supervision: Herbst 2022 Leitung: Katrin / Johannes<br />

(Einzelstunden und/oder Kleingruppen)<br />

Gesamtkosten:<br />

€ 2.250,— zahlbar in 5 Raten à 450,—, Frühbucher (bis 31.11.2021): Einmalzahlung € 1.950,—<br />

(30% Ermäßigung für Studierende und Auszubildende ohne Nebeneinkünfte)<br />

Wenn Sie Fragen haben oder unsicher sind, ob die Teilnahme für Sie sinnvoll ist,<br />

• rufen Sie uns bitte an (+49 176 <strong>47</strong>143725) oder schicken Sie uns eine Mail an<br />

info@daf-focusing-akademie.com<br />

• vereinbaren Sie mit uns eine Probesitzung zum reduzierten Preis von € 60,—<br />

• können Sie an einer kostenlosen OFT-Session teilnehmen<br />

(siehe www.daf-focusing-akademie.com/online-focusing-time-oft/)<br />

Anmeldung und detaillierte Informationen<br />

finden Sie unter www.daf-focusing-akademie.com/weiterbildungen/basis/<br />

18 focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021


Termine<br />

Unsere nächsten Weiterbildungen<br />

BASIS<br />

Mit Katrin Tom-Wiltschko und Johannes Wiltschko, online, Beginn: 28.01.2022 (Details siehe Seite 18)<br />

Mit Donata Schoeller in Zug/Schweiz, Beginn: 22.04.2022 (Details siehe:<br />

https://lassalle-haus.ch/de/kursdetails/focusing-ausbildung-2022-m14.html)<br />

Mit Katrin Tom-Wiltschko im Raum München (Dorfen), jeweils Do 19 Uhr – So 13 Uhr<br />

seminar I: 28.04. – 01.05.2022 Seminar IV: 24.11. – 27.11.2022<br />

seminar II: 23.06. – 26.06.2022 Seminar V: 09.03. – 12.03.2023<br />

seminar III: 15.09. – 18.09.2022<br />

Mit Johannes Wiltschko im Raum Salzburg (Moorhof), jeweils Do 18 Uhr – So 13 Uhr<br />

seminar I: 27.10. – 30.10.2022 Seminar IV: 27.04. – 30.04.2023<br />

seminar II: 08.12. – 11.12.2022 Seminar V: 08.06. – 11.06.2023<br />

seminar III: 09.02. – 12.02.2023<br />

Prozessphilosophie<br />

Mit Donata Schoeller im Raum Salzburg (Moorhof), jeweils Do 18 Uhr – So 13 Uhr<br />

25.11. – 28.11.2021: Das Prozessmodell als gemeinsamer Erlebensraum: Vom Bewegen<br />

zum Bedeuten zum Felt Sense – und zurück. Philosophie in praktischen Übungen<br />

Mit Donata Schoeller im Raum Salzburg (Moorhof), jeweils Do 18 Uhr – So 13 Uhr<br />

10.03. – 13.03.2022: Vertiefen und Kreuzen: Die Philosophie im Focusing<br />

Mit Donata Schoeller im Raum Salzburg (Moorhof), jeweils Do 18 Uhr – So 13 Uhr<br />

15.09. – 18.09.2022: Thema noch offen<br />

Essentials<br />

Mit Katrin Tom-Wiltschko und Johannes Wiltschko im Raum Salzburg (Moorhof), jeweils Do 18 Uhr – So 13 Uhr<br />

seminar I: 29.09. – 02.01.2022 Seminar IV: 23.03. – 26.03.2023<br />

seminar II: 10.11. – 13.11.2022 Seminar V: 18.05. – 21.05.2023<br />

seminar III: 12.01. – 15.01.2023 Seminar VI: 13.07. – 16.07.2023<br />

Strukturen<br />

Mit Johannes Wiltschko, Katrin Tom-Wiltschko im Raum Salzburg (Moorhof), jeweils Do 18 Uhr – So 13 Uhr<br />

seminar I: 05.05. – 08.05.2022 Seminar IV: 08.12. – 11.12.2022<br />

seminar II: 01.09. – 03.09.2022 Seminar V: 23.02. – 26.02.2023<br />

seminar III: 13.10. – 16.10.2022<br />

Körper<br />

Mit Katrin Tom-Wiltschko und Johannes Wiltschko im Raum Salzburg (Moorhof), jeweils Do 18 Uhr – So 13 Uhr<br />

seminar I: 12.10. – 15.10.2023 Seminare III – V: 2024<br />

seminar II: 07.12. – 10.12.2023<br />

Weitere Infos und Anmeldung: https://www.daf-focusing-akademie.com/ausbildungen/auf-einen-blick/<br />

focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021 19


Termine<br />

Die König*innen-Supervision<br />

Die Methode der focusing-orientierten kollegialen Supervision für Teams<br />

und Arbeitsgruppen in allen kreativen und therapeutischen Bereichen<br />

In diesem Seminar wird die »König*innen-Methode« der kollegialen Supervision vorgestellt, erprobt und eingeübt,<br />

so dass es in bestehende oder noch zu gründende Arbeitsgruppen und Teams implantiert werden<br />

kann.<br />

Die »König*innen-Methode« der kollegialen Supervision bietet viele Vorteile:<br />

• Sie kostet nichts<br />

• Sie ist wesentlich effektiver als herkömmliche kollegiale Supervision (Intervision) und<br />

oftmals auch als Supervision mit einem/einer professionellen Supervisor*in<br />

• Der/die Supervisand*in ist König bzw. Königin, alle anderen »dienen« dem königlichen<br />

Anliegen, statt »gute Tipps« zu geben<br />

• Alle sind gleichrangig und auf Augenhöhe mitbeteiligt<br />

• Sie ist so strukturiert, dass alle Gruppenteilnehmer*innen »mitspielen« können<br />

• Sie ist erlebens- und prozessorientiert<br />

Literatur: Johannes Wiltschko, Ich spüre, also bin ich! Berlin 2021 3 , S. 277-290<br />

(erhältlich in allen Buchhandlungen oder auch in der DAF-AKADEMIE www.daf-focusing-akademie.com/<br />

medien/#top)<br />

Teilnahmevoraussetzung: Focusing-Grundkenntnisse<br />

Leitung: Prof. Dr. Johannes Wiltschko, Katrin Tom-Wiltschko<br />

Termin: 24. – 27. März 2022, Do 18 bis So 13 Uhr<br />

Ort: Landhotel »Moorhof«, A-5131 Dorfibm (Raum Salzburg)<br />

Kosten: € 450,—, Frühbucher (bis 31.11.2021): 390,—<br />

Anmeldung: Mail an info@daf-focusing-akademie.com oder über<br />

www.daf-focusing-akademie.com/spezialseminare/<br />

»Time is honey«: Zeit will Raum<br />

Leitung: Mag. Krimhild König MAS, Psychotherapeutin, www.ihre-psychotherapeutin.eu/<br />

Ort: Seminarhotel Wesenufer, A-4085 Waldkirchen (Bezirk Schärding, nahe Passau)<br />

Termine: 18.11. – 21.11.2021 oder 21.04. – 24.04.2022, jeweils Do 18 – So 13 Uhr<br />

Kosten: € 390,—<br />

Anmeldung: info@daf-focusing-akademie.com<br />

20 focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021


Termine<br />

Focusing-Orientierung<br />

in der Begleitung traumatisierter Menschen<br />

Seminar auf der 41. Sommerschule 2022<br />

mit Mag ra. Inge Pinzker, MSc<br />

Dieses Seminar ist für alle da, die traumatisierte Menschen begleiten bzw. begleiten wollen.<br />

Die entspannende und erholsame Atmosphäre der Sommerschule wird dazu beitragen, aus dem Arbeitsalltag<br />

mit unseren oft schwer belasteten Klient:innen auszusteigen, Freiraum zu suchen, innezuhalten und eine<br />

Standardortbestimmung vorzunehmen: Wie geht es Ihnen in der Arbeit mit Ihren traumatisierten Klient:innen<br />

(mit den bisher gelernten Methoden, Ihrer Arbeitsweise, Ihren Grenzen und Belastungen durch die Arbeit …)?<br />

Jede:r kann seine »innere Landkarte« dazu zum Ausdruck bringen, und gleichzeitig wird so eine »Gruppen-<br />

Landschaft« zum Thema entstehen.<br />

––<br />

Was ist schon alles da? Was »haben« Sie schon alles (an Fähigkeiten, Haltungen, Methoden, Konzepten<br />

…)?<br />

––<br />

Vielleicht ist es ja auch »genug«? Was ist es in Ihnen, das Ihnen sagt, dass etwas »fehlt«?<br />

––<br />

Was beschäftigt Sie vielleicht (schon lange)? Wo haben Sie Fragen? Was verunsichert Sie (immer wieder)?<br />

Was brauchen Sie (noch)?<br />

––<br />

Wie können Sie (mehr) Focusing-Orientierung in Ihre Arbeit bringen und wie würde sich das auswirken?<br />

––<br />

Wie können Sie Ihre evtl. schon erworbene Methodenvielfalt (oder eine bestimmte Methode) noch besser<br />

in Ihre (focusingorientierte) Arbeitsweise »einkreuzen«?<br />

––<br />

Wann »braucht« es Methoden (bzw. bestimmte Aspekte einer Methode)? Wann nicht und was braucht es<br />

dann? Wie könnten Sie das (besser) bemerken? Was möchten Sie noch lernen / können / sich aneignen?<br />

Focusing wird Ihnen dabei helfen, sich mit Ihren ganz individuellen, persönlichen Fragen auf neue und frische<br />

Weise zu beschäftigen. Für Focusing-Neulinge in der Gruppe werden auf diese Weise gleichzeitig Focusing<br />

und Focusing-Haltungen erfahrbar.<br />

In diesem Seminar …<br />

… gönnen Sie sich erholsame Zeit in einer Gruppe mit ähnlich Interessierten und werden wieder mehr zu sich<br />

kommen und auftanken,<br />

… lernen Sie, wie Focusing-Orientierung in Ihre Arbeit hineinwirken kann und wie Ihr Da-Sein, Ihre Präsenz<br />

und Ihr Mit-Sein mit Klient:innen, Ihre Arbeit leichter und befriedigender machen wird,<br />

… machen Sie sich die Stärken und Qualitäten der Focusing-Orientierung in Ihrer Arbeit mit traumatisierten<br />

Menschen bewusst(er) und üben, sie auch einzusetzen,<br />

… finden Sie wieder mehr Orientierung, Sicherheit und Klarheit in Ihrem professionellen Weg im Trauma-Kontext,<br />

… erfahren Sie, wie Sie Trauma-Methoden besser in Ihre focusingorientierte Arbeitsweise einkreuzen können<br />

und welche Sie sich vielleicht noch aneignen möchten …<br />

Anmeldung: Mail an info@daf-focusing-akademie.com oder über www.daf-focusing-akademie.com/focusing-sommerschule/<br />

Mehr Informationen dazu<br />

siehe das Programm der 41. Internationalen Focusing Sommerschule auf Seite 22<br />

und den Artikel auf Seite 24<br />

focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021 21


Termine<br />

41. Internationale Focusing Sommerschule 2022<br />

– das Original –<br />

1. bis 9. August 2022<br />

im Humboldt-Haus in Achberg bei Lindau am Bodensee<br />

Die Seminare 01, 02 und 03 finden parallel statt.<br />

Sie beginnen am Sonntag, 1.8., um 18 Uhr und enden am Donnerstag, 5.8., um 13 Uhr.<br />

01. Frei-Raum – Spiel-Raum<br />

Focusing (mal) expressiv<br />

Leitung: Katrin Tom-Wiltschko (Laufen)<br />

Wenn wir im Focusing Freiraum schaffen, entsteht in uns und um uns herum ein wohlig angenehmer Raum, in dem wir sehr präsent<br />

und entspannt sein können.<br />

Diesen Raum immer wieder herzustellen und uns in diesem Raum zu bewegen, leicht, spielerisch und kreativ, wird Schwerpunkt<br />

dieses Seminars sein. Von dort können wir uns dem zuwenden, was schon lange darauf wartet, von uns<br />

gesehen und gehört zu werden: Innere Kinder, Wünsche und Träume dürfen (endlich) Raum bekommen<br />

– Freiraum und Spielraum, um zu erwachen, lebendig zu werden und sich auszudrücken: in Worten, in<br />

Bildern, in Gesten, in Bewegung, in Ton, im Spiel, im Verkörpern von Teilpersonen …<br />

Keine Teilnahmevoraussetzungen<br />

Katrin Tom-Wiltschko, Mitbegründerin und Mitleiterin der DAF-AKADEMIE, Ausbilderin und Supervisorin,<br />

Focusing-Therapeutin (DAF), Focusing-Trainerin (DAF), Dipl.-Sozialpädagogin (FH), Psychotherapeutin<br />

(HPG), Künstlerin, ktw@daf-focusing-akademie.com<br />

02. Focusing-Orientierung in der Begleitung traumatisierter Menschen<br />

Leitung: Mag ra Inge Pinzker (Wien)<br />

In diesem Seminar werden wir die sommerliche Atmosphäre der Sommerschule und focusingorientierte Übungen nützen, um<br />

aus dem Arbeitsalltag mit unseren oft schwer belasteten Klient:innen auszusteigen, Freiraum zu suchen, innezuhalten, eine Standardortbestimmung<br />

vorzunehmen – und um neue für Sie stimmige Wachstumsschritte entstehen zu lassen.<br />

Focusing wird Ihnen zeigen, wie Sie sich mit Ihren ganz persönlichen Fragen zum Begleiten traumatisierter<br />

Menschen auf neue und frische Weise beschäftigen können. Für Focusing-Neulinge werden dabei<br />

gleichzeitig Focusing und Focusing-Haltungen erfahrbar.<br />

Mehr Information siehe Seite 21<br />

Teilnahmevoraussetzung: berufliche, auch ehrenamtliche oder geplante Begleitung traumatisierter Menschen<br />

(Psychotherapeut:innen, Ärzt:innen, Pädagog:innen, (Rechts-)Berater:innen, Sozialarbeiter:innen,<br />

Krankenpflegepersonal, …<br />

Mag ra . Inge Pinzker MSc, Personzentrierte Psychotherapeutin (ÖGwG), Traumatherapeutin (PITT Reddemann),<br />

Focusing-Trainerin (DAF), 17 Jahre Erfahrung in der Arbeit mit Geflüchteten, www.inge-pinzker.at<br />

03. Eugene Gendlin und die Mystik<br />

Leitung: Prof. Dr. Donata Schoeller (Zürich)<br />

Dass Eugene Gendlin ein besonderes Verhältnis zu dem deutschen Mystiker Meister Eckhart hatte, war bereits daran ersichtlich,<br />

dass er dessen Predigten und Traktate auf jenem nahen Regal neben seinem Arbeits-Lehnsessel hatte, wo sonst nur seine eigenen<br />

Manuskripte auf Weiterbearbeitung warteten. Das Meister-Eckhart-Buch war gleichsam griffbereit.<br />

In meinem ersten Artikel zu Gendlin verglich ich seine Philosophie des Impliziten mit dem Denken des Renaissance-Mystikers<br />

Jakob Böhme. Zu meiner Überraschung war Gendlin begeistert.<br />

22 focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021


Termine<br />

In diesem Seminar möchte ich den Brücken zwischen Prozessdenken und mystischen Ansätzen behutsam nachgehen. Dafür<br />

lesen wir Texte von Eugene Gendlin, Meister Eckhart und Jakob Böhme, kreuzen die Ansätze, machen Übungen, explorieren<br />

unsere eigenen Tiefen und denken gemeinsam auf der Basis dieser Texte und unseres eigenen Erlebens über die Paradoxien<br />

des Lebendigen nach.<br />

Für diejenigen, die beim Workshop über Gendlin und Meister Eckhart dabei waren: Es ist keine Wiederholung!<br />

Teilnahmevoraussetzungen: Focusing-Grundkenntnisse<br />

Prof. Dr. Donata Schoeller lehrt Philosophie mit den Schwerpunkten Prozessphilosophie und TAE an<br />

Universitäten in USA und Europa, hat in enger Zusammenarbeit mit Gene Gendlin dessen Hauptwerk<br />

»Ein Prozess-Modell« übersetzt und gibt seine Artikel heraus.<br />

www.donataschoeller.com, schoeller@uni-koblenz.de<br />

04. Strukturgebundene vs. gestoppte Prozesse:<br />

Focusing-Praxis trifft Focusing-Philosophie<br />

Workshop mit Prof. Dr. Donata Schoeller und Prof. Dr. Johannes Wiltschko<br />

Freitag, 6.8., 10 bis 19 Uhr<br />

Teilnahmevoraussetzungen: Grundkenntnisse in Focusing<br />

05. Focusingorientierte Tango-Selbsterfahrung – offenes Abendprogramm<br />

mit Erich Bernhaupt-Hopfner (Wien), Leandra Schmid und Erik Meissner (Bern)<br />

In Beziehung gehen mit anderen, in Beziehung gehen mit sich selbst<br />

Keine Vorkenntnisse erforderlich<br />

Mag. Erich Bernhaupt-Hopfner, Ausbildung in Focusing-<br />

Therapie, lernte argentinischen Tango u.a. in Buenos Aires.<br />

Leandra Schmid, Psychotherapeutin (VT integrativ), Oberpsychologin<br />

im Spital Langenthal, tanzt seit vielen Jahren<br />

verschiedene Stile, in den letzten Jahren in die Tango-Welt<br />

eingetaucht.<br />

Erik Meissner, Psychologe, Einzel-, Paar- und Familientherapeut,<br />

Ausbildung in Focusing-Therapie, seit vielen Jahren<br />

leidenschaftlicher Tangotänzer.<br />

06. Verweilen, nachklingen lassen …<br />

… auf der Terrasse, am Pool, mit Partnerschaftlichem Focusing, bei Spaziergängen; der nahe Bodensee, das Inselstädtchen<br />

Lindau, die Bregenzer Festspiele. Einzelstunden mit den Dozent:innen der DAF-AKADEMIE können spontan gebucht werden.<br />

Samstag, Sonntag, 7. – 8.8., Abreise bis Montag, 9.8., 13 Uhr<br />

Kosten (ohne Verpflegung und Unterkunft):<br />

01, 02, 03: € 600,—, Frühbucher (bis 28. Februar 2022): € 480,—; 04: € 150,—; 05, 06: kostenfrei<br />

Für die ersten 18 Anmeldungen ist ein Zimmer im Humboldt-Haus garantiert.<br />

Unterkunfts- und Verpflegungskosten zwischen € 50,— und 90,—<br />

30% Ermäßigung für Studierende und Auszubildende ohne Nebeneinkünfte<br />

Fortbildungspunkte für die Seminare der Sommerschule sind bei der Psychotherapeutenkammer beantragt.<br />

ANMELDUNG:<br />

Über unsere Website www.daf-focusing-akademie.com/focusing-sommerschule/<br />

oder formlos per Mail an info@daf-focusing-akademie.com, wir schicken Ihnen dann das Anmeldeformular für<br />

die Seminare und die Unterkunftsmöglichkeiten.<br />

Bitte beachten Sie den Frühbucherrabatt.<br />

focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021 23


Themen<br />

Focusing-Orientierung in der<br />

Begleitung traumatisierter<br />

Menschen<br />

■■<br />

Von Inge Pinzker<br />

Psychische und physische Gewalt, Missbrauch,<br />

emotionales nicht (adäquates)<br />

Beantwortet-Werden, Krieg, Flucht, Folter<br />

… führen zu psychischen Verletzungen, zu<br />

Psychotraumata. Das Angebot verschiedener<br />

Trauma-Methoden zur Behandlung und<br />

Begleitung traumatisierter Menschen ist inzwischen<br />

nahezu unüberschaubar. Das ist<br />

gut so, wenn wir es als eine gewachsene Bereitschaft<br />

sehen, erlittenem Leid und Schrecken<br />

und den Menschen, denen es widerfahren<br />

ist, ins Auge zu blicken. Gleichzeitig<br />

stellt sich die Frage, ob die dabei auch bei den<br />

»Helfer:innen« ausgelöste Ohnmacht und<br />

der Wunsch, sich an etwas zu »klammern«,<br />

nicht eine Rolle bei der Zunahme an Methoden<br />

spielt. Skepsis ist jedenfalls angebracht,<br />

wenn diese »schnelle Heilung« versprechen.<br />

Es ist leichter, vermeintlich etwas »tun« zu<br />

können, als Hilflosigkeit und Unsicherheit<br />

gemeinsam mit jemandem auszuhalten.<br />

Diese Methodenvielfalt kann mitunter<br />

verwirren, wenn nicht sogar stark verunsichern.<br />

Welche Methode soll ich (noch) lernen?<br />

Welche ist »die Richtige«? Kann (darf,<br />

soll) ich überhaupt mit traumatisierten<br />

Menschen arbeiten, wenn ich nicht Methode<br />

Y und Z (zusätzlich) gelernt habe?<br />

Vor allem Berufsgruppen wie<br />

Psychotherapeut:innen und Ärzt:innen,<br />

aber auch Pädagog:innen, (Rechts-)<br />

Berater:innen, Sozialarbeiter:innen, Krankenpflegepersonal,<br />

Ehrenamtliche (z.B. in<br />

der Flüchtlingshilfe) suchen nach »Handwerkszeug«<br />

für ihre tägliche Arbeit. Oft<br />

entsteht (leider und zu Unrecht!) auch der<br />

Eindruck, nur »Spezialist:innen« wüssten<br />

mit traumatisierten Menschen umzugehen.<br />

Dabei haben letztere ganz grundlegende<br />

Bedürfnisse nach wohlwollenden, freundlichen<br />

zwischenmenschlichen Begegnungen<br />

und Trost sowie nach Anerkennung<br />

24 focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021


Themen<br />

ihres Leides, aber auch ihrer Stärken und<br />

Ressourcen. In dieser Hinsicht kann jede:r<br />

da sein, wenn er/sie bereit ist, sich auf den<br />

betreffenden Menschen einzulassen. Was<br />

hier benötigt wird, sind Haltungen und eine<br />

innere Sicherheit, die sich in der Begleiter:in<br />

selbst gründen, und nicht in Methoden.<br />

Ich möchte Menschen, die mit traumatisierten<br />

Personen arbeiten oder arbeiten wollen,<br />

mithilfe von Focusing dabei unterstützen,<br />

wieder mehr Orientierung zu finden, und<br />

dazu anregen, Focusing-Orientierung in<br />

die eigene Arbeit mit traumatisierten Menschen<br />

zu bringen bzw. die Qualitäten der<br />

Focusing-Orientierung in dieser Arbeit<br />

deutlich und bewusst(er) zu machen. Außerdem<br />

kann Focusing ein geeignetes Instrument<br />

sein, um Methoden und Konzepte<br />

in die eigene Arbeitsweise besser »einzukreuzen«.<br />

Traumatisierte Menschen können durch<br />

das wortlose Entsetzen und Grauen, das sie<br />

überlebt haben, extrem verunsichert sein.<br />

Da ist es für Begleiter:innen wichtig, dass<br />

sie mit dem Unsicheren, Vagen, (noch) nicht<br />

Sagbaren sein können, ebenso wie mit Ohnmacht<br />

und Hilflosigkeit, extremer Wut,<br />

abgrundtiefer Verzweiflung und unermesslicher,<br />

tiefer Trauer bis hin zu Suizidalität.<br />

Dafür benötigen sie die Fähigkeit, »Unsicherheit«<br />

in ihrem eigenen Erleben halten<br />

zu können, also so etwas wie Vertrauen und<br />

»Sicherheit« im Umgang mit Unsicherheit<br />

zu haben. Auf diese Weise vermitteln sie<br />

auch den Klient:innen langsam wieder ein<br />

Gefühl von Sicherheit und Stabilität. Allein<br />

dadurch, dass jemand wirklich da ist und<br />

die Klient:in nicht alleine der Situation und<br />

ihrem Erleben ausgeliefert ist, wie in der<br />

ursprünglichen traumatischen Situation,<br />

verhindert Retraumatisierung, ein Begriff,<br />

der Helfer:innen, meiner Erfahrung nach,<br />

ebenfalls häufig verunsichert. Retraumatisierungen<br />

werden verhindert, wenn es einen<br />

Boden des Verständnisses, des Vertrauens<br />

und des Interesses im Gespräch gibt (Baer<br />

und Frick-Baer, 2016).<br />

Dieses Da-Sein und Mit-Sein-Können sind<br />

u.a. zentrale Stärken von Focusing, die mich<br />

in meiner nunmehr 17-jährigen Erfahrung<br />

in der Begleitung traumatisierter Menschen<br />

unterstützen. Davon möchte ich gerne etwas<br />

Anzeige<br />

erfahrbar machen und teilen. Diese Haltungen<br />

sind für die Arbeit mit traumatisierten<br />

Menschen essenziell, und sie können mithilfe<br />

von Focusing-Erfahrung und -Praxis<br />

unabhängig von Therapierichtung, Berufsgruppenzugehörigkeit<br />

oder erlernter Trauma-Methoden<br />

entwickelt werden.<br />

Quelle<br />

Baer, U. + Frick-Baer, G. (2016). Flucht und Trauma.<br />

Wie wir traumatisierten Flüchtlingen wirksam helfen<br />

können. München: Gütersloher Verlagshaus.<br />

Mag. a Inge Pinzker, MSc<br />

Personzentrierte Psychotherapeutin,<br />

Traumatherapeutin<br />

(PITT), Focusing-Trainerin (DAF)<br />

Dozentin an der DAF-AKADE-<br />

MIE 1030 Wien<br />

inge.pinzker@chello.at<br />

www.inge-pinzker.at<br />

focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021 25


Themen<br />

Immer präsent und anrufbar!<br />

Focusing und Gebet<br />

■■<br />

Von Martha Hellinger<br />

Beten lernte ich erst ziemlich spät, zumindest<br />

für eine Theologin, die hauptberuflich<br />

in der katholischen Kirche arbeitet.<br />

Als Jugendliche sehnte ich mich nach<br />

GOTT. Deshalb studierte ich Theologie.<br />

Aber ich sah keinen Weg, wie ich mit etwas<br />

in Beziehung komme, das man nicht sehen<br />

und nicht anfassen kann und von dem man<br />

nicht sicher weiß, ob es existiert. Andere<br />

Lebensfragen wie Beruf und Partnerschaft<br />

waren drängender, bis sich mir so ab Mitte<br />

30 die Frage wieder aufdrängte nach dem<br />

»Mehr als Alles«. Bis heute bin ich froh um<br />

die Empfehlung, es doch mal mit Ignatianischen<br />

Exerzitien zu probieren. Das ist eine<br />

Exerzitienform, die Ignatius von Loyola im<br />

16. Jahrhundert entwickelt hat und die bis<br />

heute praktiziert wird, tradiert durch den<br />

Orden der Jesuiten. Seine Exerzitien, übersetzt<br />

heißt das einfach Übungen, wollen<br />

dazu helfen, mit Gott unmittelbar in Beziehung<br />

zu kommen. Und wie es mir half!<br />

Es war für mich eine tief berührende Erfahrung,<br />

GOTT als ein Du zu erleben, das<br />

da ist, mich anschaut, zu mir spricht und etwas<br />

in mir bewirkt, das ich spüren kann. Bis<br />

heute empfinde ich es als staunenerregend,<br />

dass das möglich ist.<br />

In den ersten Exerzitienkursen stand ich<br />

mir immer wieder selbst im Weg. Ich zweifelte<br />

daran, ob das, was ich da im schweigenden<br />

Betrachten erlebe, »wirklich« ist, ob ich<br />

mir das nicht alles nur einbilde, ob ich das<br />

nicht alles irgendwie selber mache. Inwieweit<br />

kann ich meinem Erleben trauen, wenn<br />

es sich doch »nur in meinem Inneren« abspielt,<br />

wenn es doch »nur subjektiv« ist. Der<br />

Wendepunkt kam, als ich Exerzitien machte,<br />

wo sich von der ersten bis zur letzten Betrachtungsstunde<br />

»nichts« tat. Ich hielt tapfer<br />

durch, blieb mit meiner Aufmerksamkeit<br />

bei dem biblischen Wort. Jedes Mal mit dem<br />

Wunsch, der Bitte an GOTT, offen und empfänglich<br />

dafür zu sein, wie er mich berühren<br />

möge. Und erlebte in keiner der 40 Betrachtungsstunden<br />

das, was wir im Focusing Resonanz<br />

nennen – wie schrecklich! Von da<br />

an zweifelte ich nicht mehr daran, dass die<br />

»inneren Regungen und Bewegungen«, wie<br />

Ignatius sie nennt, geschenkt werden, dass<br />

es ein Berührt- und Bewegtwerden ist, ein<br />

Beziehungsgeschehen. Und ich wurde darauf<br />

gestoßen, was mein Zutun ist: Ich entscheide,<br />

dass ich bei der Übung bleibe, unabhängig<br />

davon, was sich tut.<br />

Bei meinem ersten Focusingseminar<br />

ging es mir ähnlich wie bei meinen ersten<br />

Exerzitien. Da war so ein klares Gespür: Ah,<br />

das ist genau das, was ich gesucht habe. Es<br />

geht um die »inneren Regungen und Bewegungen«!<br />

Ich lernte, sie zu unterscheiden:<br />

die Wahrnehmungsmodalitäten Gedanke,<br />

Gefühl, Empfindung und Bild; Felt Sense<br />

und Symbolisierung; Freiraum und Strukturgebundenheit;<br />

Resonanz und Erstreakti-<br />

26 focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021


Themen<br />

on, um hier nur die Stichworte zu nennen.<br />

Es entstand so etwas wie ein Innenraum,<br />

in dem ich mich bewegen kann mit meiner<br />

Aufmerksamkeit, mein Ich entwickelte sich<br />

zur Regisseurin meines Erlebens. Mit der<br />

Methodik von Focusing und dem philosophischen<br />

Hintergrund vertrauter zu werden,<br />

hilft mir, meinem Spüren zu trauen. Was ich<br />

spüre, sagt etwas aus über die Situation, in<br />

der ich bin. Es sagt etwas aus über das, was<br />

wirklich ist. Weil im Verständnis von Focusing<br />

die ganze Wirklichkeit Interaktion ist<br />

und es die Aufspaltung zwischen innen und<br />

außen nicht gibt.<br />

Für mich als glaubenden Menschen<br />

schließt sich dadurch eine Kluft. In Wirklichkeit<br />

ist alles miteinander verwoben,<br />

unendlich und offen, gleichzeitig aber auch<br />

geordnet und gerichtet. Davon bin ich ein<br />

Teil, ich bin nicht abgetrennt davon, aber<br />

ich gehe auch nicht in dem Ganzen auf. Ich<br />

bleibe ich. Und weil das so ist, kann ich es<br />

spüren, es ist wirklich. Praxis und Theorie<br />

von Focusing machen es mir möglich, das<br />

so zu erleben und zu denken.<br />

Praxis und Theorie meines Glaubens<br />

erlauben mir, diese Wirklichkeit als Du anzusprechen<br />

und es mit dem Geheimnis zu<br />

verbinden, das wir GOTT nennen. Deshalb<br />

benütze ich die Großschreibung. Die vier<br />

Buchstaben sind wie ein Platzhalter für das,<br />

was man nicht verstehen kann.<br />

Mit der Zeit und meiner Übung veränderte<br />

sich sowohl die Praxis meines Betens<br />

als auch meines Fokussierens. Erst war es<br />

noch getrennt. Entweder ich betrachtete<br />

einen biblischen Text, wie ich es in den Exerzitien<br />

gelernt hatte, oder ich fokussierte<br />

zu einem persönlichen Thema. Das Selbstfocusing<br />

fällt mir leicht, da kommt mir meine<br />

Gebetspraxis zugute. Allmählich verband<br />

sich etwas. Meine Weise des Betrachtens<br />

wurde focusingmäßig. Mein Selbstfocusing<br />

ist mal mehr, mal weniger ein Beten. Wie<br />

das ausschaut, möchte ich kurz beschreiben.<br />

In den ersten Schritten findet sich das<br />

Prinzip des ganzen Vorgangs. Ignatius nennt<br />

sie »Sich Ausrichten auf Gottes Gegenwart«,<br />

im Focusing heißen sie »Freiraum schaffen«.<br />

Wenn ich körperlich hinspüre, wie ich<br />

focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021 27


Themen<br />

Martha Hellinger<br />

Diplom-Theologin<br />

Exerzitienleiterin<br />

82008 Unterhaching bei<br />

München<br />

m.hellinger@web.de<br />

in Kontakt zum Boden bin, wie mein Atem<br />

mich bewegt, nehme ich bewusst wahr, wie<br />

ich gerade in Beziehung bin zu diesem Etwas,<br />

das nicht ich bin. Sondern ein Anderes,<br />

das sich von sich aus verändern kann<br />

oder das sich für mich im Spüren verändert.<br />

Wenn ich mich in dieser Interaktion bemerke,<br />

spüre ich mich in meinem Freiraum. Ich<br />

kann spüren, es trägt mich, es atmet mich,<br />

ich lebe. Als einen weiteren Schritt kann ich<br />

mich fragen: Wenn ich so etwas wie die göttliche<br />

Präsenz da sein lasse, wie spürt sich das<br />

an? So wie ich es erlebe, wird dadurch das,<br />

was an Freiraum schon entstanden ist, mehr,<br />

größer, tiefer, stabiler. Weil ich in diesem<br />

Raum nicht mehr allein bin, sondern weil es<br />

da ein DU gibt, das für mich da ist. Das göttliche<br />

DU kann für mich Begleiter/in sein,<br />

der mich fragt: Wie spürt sich das für dich<br />

an? Und die zurücksagt. Oder es kann für<br />

mich ein Gegenüber sein, an das ich mich<br />

wenden kann. Ich kann bitten, dass es mir<br />

hilft; kann danken, wenn etwas geschieht,<br />

das mich staunen lässt; kann klagen, wenn<br />

sich »nichts« tut; kann mit dem DU darum<br />

ringen, dass es doch endlich etwas bewirken<br />

möge. Ich kann das göttliche DU sogar als<br />

beides da sein lassen, sowohl als Gegenüber<br />

als auch als Begleiter/in.<br />

Bei mir ist es so: Wenn mich ein Problem<br />

sehr bedrängt oder wenn es um etwas<br />

Strukturgebundenes geht, muss ich umso<br />

mehr für meinen Freiraum sorgen. Dann<br />

brauche ich umso mehr ein Du. Dann brauche<br />

ich es umso mehr, mich in einer Beziehung<br />

zu spüren, die wohlwollend und<br />

absichtslos, haltend und freilassend ist. Das<br />

Du kann natürlich ein Mensch sein, der<br />

mich beim Focusing begleitet, allerdings<br />

ist so ein Mensch nicht ständig verfügbar.<br />

Während Selbstfocusing fast jederzeit möglich<br />

und das göttliche DU immer präsent<br />

und anrufbar ist.<br />

Um auf die Exerzitien zurückzukommen:<br />

Da hat sich für mich die Beziehung<br />

zum göttlichen DU entwickelt, verändert,<br />

vertieft. Dieses DU umfasst für mich die<br />

ganze Wirklichkeit, alles, was jemals war,<br />

ist und sein wird, woher alles kommt und<br />

wohin alles geht. Deshalb wirkt es für mich,<br />

wenn ich mich darauf beziehe, wie ein unendlicher<br />

Freiraum, in dem alles geborgen<br />

ist.<br />

Was in Ignatianischen Exerzitien passiert,<br />

wie sie »funktionieren«, beginne ich<br />

erst zu verstehen. Da helfen mir die Seminare<br />

zu Gendlins Prozessphilosophie von<br />

Donata Schoeller. Mir kommt vor, dass<br />

Ignatius in seinen Exerzitien systematisch<br />

anleitet zu »kreuzen«, so dass die biblischen<br />

Worte sich verweben können mit<br />

unseren erlebten Situationen, eben weil sie<br />

selbst schon verdichtetes Erleben sind. Bei<br />

Ignatianischen Exerzitien bin ich bis heute<br />

geblieben. Was mich daran fasziniert: Es<br />

entwickelt sich ein tiefgreifender Wandlungsprozess,<br />

der sanft und organisch ist,<br />

selbstgesteuert und absichtslos. Da wird<br />

nichts forciert, es geht nicht darum, etwas<br />

zu bearbeiten und am Ende etwas zu erreichen.<br />

Sondern darum, der Spur der eigenen<br />

Sehnsucht zu folgen: sie zu bemerken, ihr<br />

zu trauen, sie zu vertiefen und sich so von<br />

ihr leiten zu lassen.<br />

Falls das alles jetzt so klingt, als bräuchte<br />

es für mich nur die Beziehung zum göttlichen<br />

DU, nein, so ist es ganz und gar nicht!<br />

Das menschliche DU erlebe ich als genauso<br />

wichtig, und das eine ist nicht ersetzbar<br />

durch das andere. Auch deshalb habe ich<br />

eine Weise des partnerschaftlichen Betens<br />

entwickelt für meine eigenen Exerzitienangebote,<br />

aber davon vielleicht mehr an anderer<br />

Stelle.<br />

Wer sich davon angesprochen fühlt, auf diese<br />

Weise zu fokussieren/beten, kann es ausprobieren<br />

im Rahmen eines OFT (Online-Focusing-Time,<br />

siehe www.daf-focusing-akademie.com/online-focusing-time-oft/).<br />

28 focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021


Themen<br />

Hände<br />

■■<br />

Von Krimhild König<br />

Mit meinem Kind an der Hand überquere<br />

ich den Hof meiner Vorfahren.<br />

Hier erblickte ich das Licht der Welt, hier<br />

wuchs ich auf, von hieraus nahm mein Weg<br />

auf dieser Erde seinen Anfang. Das Kind an<br />

meiner Hand hüpft fröhlich neben mir her,<br />

es fühlt sich heute sicher und geborgen. Das<br />

war jedoch nicht immer so.<br />

Es gab Zeiten, da kümmerte sich niemand<br />

um das Kind; nun, da konnte es zwar spielen,<br />

wie es wollte, was natürlich sein Gutes hatte,<br />

doch hätte es oft gern ein wenig Gesellschaft<br />

gehabt. Die Erwachsenen wünschten sich,<br />

dass das Mädchen anders sein sollte, als es<br />

war. Sie hatten ihre festen Vorstellungen von<br />

dem, was gut und richtig sei, und akzeptierten<br />

nur ein kindliches Wesen, dass sich brav<br />

und gefügig ihrem Willen beugte. Das Kind<br />

aber, gewohnt frei und ungezwungen zu<br />

spielen, weigerte sich immer wieder, den Erwachsenen<br />

Gehorsam zu leisten, wenn diese<br />

schier Unmögliches von ihm verlangten. So<br />

versuchten sie, es mit Gewalt zur »Vernunft«<br />

zu bringen. Da wurde das Kind oft traurig<br />

und dachte bei sich, es sei nicht ganz richtig,<br />

sei anders als die anderen und somit nicht<br />

liebenswert. Wie gerne wäre es anders gewesen,<br />

es wollte ja nur dazugehören! Doch niemand<br />

kam und fasste es bei der Hand, um es<br />

sicher auf seinen Weg zu geleiten. Niemand<br />

umarmte es, wenn es das einmal dringend<br />

gebraucht hätte. Niemand bot ihm die Hand<br />

zur Hilfe oder streichelte es liebevoll, einfach<br />

nur so. So mühte es sich mit aller Kraft,<br />

eine Veränderung seiner anscheinend nicht<br />

liebenswerten Eigenschaften herbeizuführen,<br />

die jedoch mit nichts zu bewerkstelligen<br />

war.<br />

Mit der Zeit suchte sich das Mädchen<br />

anderweitig Anerkennung. Es wurde von<br />

anderen Menschen gemocht, die ihm ihre<br />

Hände entgegenstreckten, um ihm ein Stück<br />

Sicherheit zu geben, das tat ihm gut. Überaus<br />

dankbar nahm es diese Seelenwärmer<br />

an; es war so ausgehungert nach Zuwendung,<br />

die Sehnsucht nach Anerkennung war<br />

so groß, dass es sich sehr anstrengte, nur um<br />

seine Seins-Berechtigung spüren zu können.<br />

Es genoss, was es an Bestätigung und Aufmerksamkeit<br />

geschenkt bekam, und nährte<br />

sich davon leidlich.<br />

Seelennahrung war ihm auch die Natur,<br />

die es umgab. Die Kleine liebte die Blumen,<br />

Bäume und alle anderen Pflanzen und hatte<br />

schon ihren eigenen kleinen Garten, dem sie<br />

sich voll Freude und Forschergeist widmete.<br />

Vollen Herzens gab sie sich den Blumen hin,<br />

schmückte den Trog am Brunnen mit so vielen<br />

Blüten, bis vom Wasser nichts mehr zu<br />

sehen war, und freute sich an dieser Pracht<br />

focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021 29


Themen<br />

und Fülle. Nur zu Hause, im Reich der Erwachsenen,<br />

war sie nicht gern, dort fühlte<br />

sie sich schlecht, unvollkommen, nicht erwünscht,<br />

so wie sie war. Sie nutzte jede sich<br />

bietende Gelegenheit, der niederdrückenden<br />

Stimmung zu entfliehen.<br />

Es gab da noch eine ältere Schwester, der<br />

die jüngere sehr gelegen kam, um die unangenehme<br />

Aufmerksamkeit der Erwachsenen<br />

zu dieser umzulenken. Auch sie hatte schon<br />

viel unter ihnen gelitten und sich auf deren<br />

Wunsch verändert, nur um ihnen ein gutes<br />

Kind zu sein, nur um von ihnen geliebt zu<br />

werden. Aus ihr war bereits ein braves, fleißiges<br />

Mädchen geworden, das den Eltern und<br />

Großeltern in Haus und Hof stets zur Hand<br />

ging und auch in der Schule fleißig lernte.<br />

Doch was bleibt zurück, wenn Kinder<br />

für nichts Anerkennung erhalten, wenn ihr<br />

Wesen, ihre Fähigkeiten und ihre Einzigartigkeit<br />

nicht von denen gesehen werden,<br />

von denen sie es sich sehnlichst wünschen?<br />

Traurigkeit und Wut und verräterische<br />

Falschheit.<br />

Die Große gab genau das an die Kleine<br />

weiter, was sie ebenso unverdientermaßen<br />

schon über Jahre selbst erlebt hatte: Sie übte<br />

Macht über die Kleine aus; sie betrieb eine<br />

solch unbarmherzige Herrschaft, die vielleicht<br />

noch schlimmer war als die, unter<br />

der sie selbst so oft gelitten hatte, um ihre<br />

eigene aufgestaute ohnmächtige Wut zu lindern.<br />

Auch wusste die Große, dass sie im<br />

Ansehen der Erwachsenen steigen konnte,<br />

wenn sie alles weitererzählte, was die Kleine<br />

in ihrem überschwänglichen Forscherdrang<br />

erprobte oder was sie in ihrer naiven Unbedarftheit<br />

äußerte oder anstellte. Die folgenden<br />

Bestrafungen der Kleinen waren für die<br />

Schwester ein Labsal.<br />

Sobald das kleine Mädchen ungestört<br />

seinen eigenen Gedanken nachgehen und<br />

seine Spiele spielen konnte, war es sehr<br />

glücklich. Dabei dachte es nicht an die Erwartungen<br />

der Erwachsenen. Die Kleine<br />

hatte gerne Puppen um sich, mit denen<br />

sie eine Art Aschenputtel-Spiel inszenierte,<br />

denn genau so fühlte sie sich oft: wie<br />

Aschenputtel. Später war dieses Spiel auch<br />

mit Freundinnen sehr beliebt.<br />

Doch das Beste, was ihr im Leben passieren<br />

konnte, war ihre Begegnung mit der Musik.<br />

Schon von klein auf begleiteten das Mädchen<br />

der Gesang der Mutter, Klavierspiel<br />

und Radiomusik. Hörte es Musik, fühlte es<br />

sich stets in eine andere, bessere Welt versetzt,<br />

alles gelang ihm wie von selbst, alles<br />

erschien ihm plötzlich wie in einem anderen<br />

Licht. Oft genug wunderte es sich, was da in<br />

ihm vorging – es erschien ihm unglaublich,<br />

es war kaum mit Worten zu beschreiben.<br />

Und dann geschah, was dem Kind wie<br />

ein wundersamer Zauber vorkam: Es wurde<br />

von unbekannter Hand in einen Raum<br />

geführt, in dem eine Frau, die den Kindern<br />

sehr wohlgesonnen war, das Flötenspiel<br />

30 focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021


Themen<br />

lehrte. Diese Frau wirkte auf das Kind sehr<br />

sicher, freundlich und bestimmt und lud<br />

das Mädchen zum Zuhören ein. Die um sie<br />

gescharten Kinder waren eifrig dabei, ihre<br />

schon erlangten Fähigkeiten im Umgang mit<br />

der Flöte darzubieten. Und dann durfte das<br />

Kind eine solche selbst in die Hand nehmen<br />

und ihr ein paar Töne entlocken. Allein vom<br />

Zusehen und -hören hatte es erfasst, was das<br />

Wesen dieses klingenden luftdurchströmten<br />

Instrumentes ausmachte. Es konnte sofort<br />

einige Töne spielen, und die freundliche<br />

Frau erkannte, dass sich dem Mädchen da<br />

etwas Besonderes offenbarte. Sie zeigte ihm<br />

sogleich die entsprechenden Noten dazu<br />

– und siehe da, die erste Tonfolge erfüllte<br />

den großen Raum und gleichzeitig auch das<br />

Kind und die Lehrerin. Nun war das kleine<br />

Mädchen in einer solchen Stimmung, dass<br />

es sich wie in den Himmel versetzt fühlte.<br />

Die Kleine hatte einen Raum betreten, in<br />

dem alles Lebenswichtige und Heilsame<br />

vorhanden war; sie hatte einen Raum betreten,<br />

in dem sie willkommen geheißen wurde,<br />

in dem bereits ein Platz für sie reserviert<br />

war; sie hatte einen Raum betreten, der ihr<br />

Heimat wurde.<br />

Nun konnte das Mädchen nicht mehr<br />

von dem hölzernen Zauberrohr lassen. Da<br />

gab die gute weise Frau ihm eines mit nach<br />

Hause. Die Kleine durfte es so lange behalten,<br />

bis sie ein eigenes in Händen halten<br />

konnte. Eine lebenslange Liebe zu diesem<br />

Raum, in dem die Musik und die menschlichen<br />

Wesen zu einem großen Ganzen zusammenschmelzen,<br />

war erwachsen, und<br />

diesen pflegte das glückliche Kind fortan<br />

sorgsam, denn es wollte ihn nie mehr wieder<br />

missen.<br />

Doch die Verletzungen, die es durch die anderen<br />

erfahren hatte, wurden nur äußerlich<br />

geheilt; tief drinnen in der Seele der Kleinen<br />

brannten sie weiter und bestimmten fortan<br />

ihr Verhalten entscheidend mit. Die gute weise<br />

Frau aber wusste wohl, was zum Gesunden<br />

nötig war. Und so erschien sie dem Mädchen<br />

nach vielen Jahren abermals, streckte<br />

ihre Hände nach der Kleinen aus, umarmte<br />

und streichelte sie zärtlich und wiegte sie so<br />

lange in ihren Armen, bis auch die alten, tief<br />

versteckten Wunden heilen konnten und nur<br />

mehr Narben zurückblieben.<br />

Mit meinem Kind an der Hand überquere<br />

ich nun still lächelnd den Hof meiner Vorfahren.<br />

Das Kind fühlt sich seltsam erlöst,<br />

wundersam geheilt und ist zu neuem Leben<br />

erwacht. Eine weise Frau in hellgrauem Gewand<br />

hat es mir übergeben mit den Worten:<br />

Schütze es, es braucht dich und deine Liebe,<br />

nimm es bei dir auf. Es ist deines.<br />

Mag. Krimhild König<br />

Psychotherapeutin<br />

DAF-AKADEMIE-Seminarleiterin,<br />

A-4020 Linz<br />

office@ihre-psychotherapeutin.<br />

eu<br />

www.ihre-psychotherapeutin.eu<br />

Focusing-Schnuppertag<br />

Entdecken Sie Focusing für sich,<br />

es ist ein kleines Abenteuer mit sich selbst!<br />

Leitung: Mag. a Krimhild König, MAS<br />

Termin: 05.03.2022, 10:00 – 18:00 Uhr<br />

Ort: Klammmühle in A-4209 Engerwitzdorf<br />

Kosten: € 130,—<br />

Anmeldung: info@daf-focusing-akademie.com<br />

focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021 31


Themen<br />

Fokussierende Sozialkörper<br />

■■<br />

Von Andrea Schüller<br />

Gruppen und Institutionen:<br />

Was machen<br />

sie in unseren<br />

Körpern, wie setzen<br />

sie sich darin fort?<br />

1 Im nächsten Heft des FO-<br />

CUSING<strong>JOURNAL</strong>s wird<br />

ein weiterer Teil der Langfassung<br />

publiziert.<br />

Allen, die sich je gefragt haben, »geht<br />

Focusing auch in der Gruppe«, oder<br />

jenen, die mit Gruppen oder anderen sozialen<br />

Systemen zu tun haben, sich gern<br />

darin aufhalten, und vielleicht auch diejenigen,<br />

die Gruppen eher fürchten, will ich<br />

focusing-orientierte Begleitung von Sozialkörpern<br />

näherbringen. Ich erläutere, wo ich<br />

Ansatzpunkte dieser Begleitung sehe und<br />

wofür ich das gut finde. Als Organisationsberaterin<br />

mit gruppendynamischem und integralem<br />

Hintergrund kreuze ich Focusing<br />

mit meiner Arbeit mit Menschen und sozialen<br />

Systemen. Mein Anliegen ist, dass Menschen<br />

und Gruppen den Zugang zur Quelle<br />

finden und pflegen und daraus sich und ihre<br />

(sozialen) Formen lebendig schöpfen.<br />

Annäherung<br />

Johannes Wiltschko erzählt, Gene Gendlin<br />

hätte es selbst nicht so sehr mit Gruppen gehabt;<br />

er habe einmal geäußert, er hätte nicht<br />

viel Hoffnung, dass sich einzelne Menschen<br />

in Gruppen gut entwickeln könnten – wegen<br />

ständiger gegenseitiger Projektionen. In<br />

der Gruppendynamik fristet wiederum der<br />

Körper ein Schattendasein. Auf einer Gruppendynamik-Konferenz<br />

wurde mein Sozialkörper-Zugang<br />

mit der Bemerkung quittiert,<br />

»der Körper ist ein Tabu in der Gruppendynamik«<br />

– das war anno 2019. Der kuriose<br />

Ausspruch zeigt, dass trotz Embodiment-<br />

Wissenschaft und -Praktiken noch genug<br />

Luft nach oben ist, die Körper-Geist-Spaltung<br />

in vielen Feldern von Beratung und<br />

Begleitung sozialer Systeme zu überwinden.<br />

Der Körperprozess als tieferes (nicht intellektuelles,<br />

sondern spürbewusstes) Verstehen<br />

für das Implizite und Werdende wird<br />

eher punktuell eingesetzt als systematisch<br />

beachtet, auch wenn »Körper« dransteht.<br />

Die Berührungsängste zwischen Körper,<br />

Gruppe und Organisation sind durchaus da.<br />

Focusing und die Prozessphilosophie sehe<br />

ich als Vehikel und Weg, sie zu verkleinern –<br />

konzeptionell und praktisch-konkret.<br />

Im Folgenden geht es also um fokussierende<br />

Sozialkörper. Ich beschreibe, was<br />

ich unter Sozialkörper verstehe und wo<br />

ich Eingangstore für Focusing in der Begleitung<br />

verorte. Dieser Text ist ein kleiner<br />

Ausschnitt einer im Entstehen begriffenen<br />

Langfassung 1 .<br />

Wie können wir einander bemerken, während<br />

wir interagieren? Keuchend, sprechend,<br />

lachend, strahlend, ton- und wortlos,<br />

angestrengt, entspannt, verwirrt herumfuchtelnd,<br />

sitzend, stehend … Wie erleben<br />

wir das Bewirkte? Haben wir einen Sinn für<br />

die lebendigen Produkte unserer Interaktion?<br />

Was erschaffen wir in, zwischen und um<br />

uns herum und wie wirken unsere Erzeugnisse<br />

zurück auf unser Sein, Denken, Fühlen,<br />

Interagieren? Gruppen, Organisationen<br />

und Institutionen sind solche Produkte.<br />

Fragen wir weiter: Wie tragen wir diese<br />

Gruppen und Institutionen, in denen wir<br />

leben und arbeiten, in uns? Was machen<br />

sie in unseren Körpern, wie setzen sie sich<br />

darin fort? Wie finden wir aus Verstrickungen,<br />

dumpfen Kollektivkörpern, äonenalten,<br />

eingefleischten Arbeitsweisen und institutionellen<br />

Bahnungen heraus? Können<br />

wir ins Lebendige hinein kooperieren, die<br />

Kollektivspur durchkreuzen und ganz neue,<br />

frische Spielweisen im weißen Schnee der<br />

ungeschöpften Möglichkeiten bahnen? Ich<br />

finde noch tausend Fragen, die sich in der<br />

Arbeit mit und in Gruppen, Organisationen<br />

und größeren Strukturen stellen. Für mich<br />

starten und enden alle in einer einzigen Frage:<br />

Wie kann ich selbst zum WIE und WO-<br />

FÜR sozialer Gemeinschaften beitragen,<br />

während ich zugleich davon miterzeugt<br />

werde und miterzeuge? Im Kern braucht<br />

es dafür die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit<br />

auf das Erleben zu richten, während ich mit<br />

anderen Menschen mit-bin und mit-werde,<br />

und auch auf das Erzeugnis, das Produkt<br />

davon.<br />

32 focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021


Themen<br />

Der Sozialkörper ist ein solches Produkt.<br />

Focusing kann hierfür gute Dienste leisten.<br />

Sozialkörper durchdenken<br />

Statt Sozialkörper könnte ich Worte wie<br />

Gruppe, Team, Bande, Familie, Organisation,<br />

Netzwerk, Verein etc. verwenden. Die<br />

Alltagsbegriffe sind geläufig, jeder Mensch<br />

hat ein Erleben und inneres Wissen dazu.<br />

Das kommt daher, dass wir Menschen soziale<br />

Wesen sind, ein Mensch impliziert einen<br />

anderen, und es liegt in unserer Natur,<br />

Gruppen zu bilden. Menschen sind einander<br />

mit-werdende Umwelt: Jeder Mensch<br />

entsteht aus 1+1 = 3, das ist die sogenannte<br />

Primärfamilie. Selbst die passioniertesten<br />

Einzelgänger*innen wissen körperlich davon,<br />

denn sie wurden ja auch einmal in ein soziales<br />

Schneckenhaus geboren bzw. entstand es<br />

durch ihr Hinzukommen. Gendlin schreibt:<br />

»Die wichtigste ›Umwelt‹ eines jeden Tieres<br />

ist seine Spezies, andere Tiere, die so sind<br />

wie es selbst. Sie sind Produkte des Umwelt-<br />

2-Prozesses der Spezies. (…) Der bei weitem<br />

größte Anteil der Aktivität von Tieren findet<br />

mit- und untereinander statt. Die Mutter für<br />

das Kind, Weibchen und Männchen füreinander,<br />

die Gruppe für das Individuum – all<br />

das sind wesentliche Umwelten. (…) Der Lebensprozess<br />

(Umwelt 2) schafft sich selbst eine<br />

Umwelt, in der er sich dann fortsetzt – Umwelt<br />

3« (Gendlin 2016, S. 54). Ein Mensch impliziert<br />

einen anderen, und miteinander implizieren<br />

wir das Beziehungshäuschen dazwischen<br />

und rundherum. Gendlin nennt diese<br />

Umwelt 3 die »haus-gemachte« oder »domestizierte«<br />

Umwelt: »(…) Umwelt 3 ist der Zement,<br />

auf dem wir gehen, der unterirdische<br />

Bau des Maulwurfs, der Bienenstock, der<br />

Ameisenhügel, unser Körper (…)« (ebd.).<br />

Hier ist mein Sozialkörper-Begriff in Gendlins<br />

Theoriegebäude angesiedelt.<br />

»Sozialkörper ist Umwelt« heißt nicht,<br />

dass eine Gruppe abgetrennt von uns irgendwo<br />

da draußen wäre und wir gingen in<br />

sie hinein wie in ein Haus, einen Seminarraum<br />

oder einen Sesselkreis. Im Gegenteil.<br />

Menschen und Gruppen sind nicht voneinander<br />

getrennte »Vorgänge«, sondern Teil<br />

eines Vorgangs. Nicht 1:1, also im Sinne<br />

von »Ich bin die Gruppe und die Gruppe<br />

ist Ich«. Sondern: Der Gruppenprozess enthält<br />

meinen Prozess, und in meinem Prozess<br />

ist der Gruppenprozess enthalten. Als<br />

Mitschöpfende*r bin ich dafür auch mitverantwortlich,<br />

egal ob ich mir dessen gewahr<br />

bin oder nicht.<br />

Sozialkörper sind vieles zugleich<br />

Denken wir weiter. Es bleibt nicht bei einer<br />

Umwelt.<br />

An den am Sozialkörper teilhabenden<br />

Menschen hängen weitere ineinander verschachtelte<br />

Umwelten und Themen, die in<br />

seinem impliziten Reservoir mitschwingen.<br />

Die Menschen haben sozusagen immer<br />

alles Mögliche aus Natur, Kultur und Technik<br />

mit im Pelz und tragen es als interaktionale<br />

Körper in den Sozialkörper: Zugehörigkeiten<br />

zu verschiedenen Organisationen,<br />

Ethnien, Erfahrungen aus anderen Gruppen,<br />

Träume, Visionen, Erlebnisse mit Gruppenmitgliedern<br />

in anderen Situationen, abwesende<br />

Mitglieder und viele Lebensthemen,<br />

die auf den ersten Blick vielleicht gar nichts<br />

mit dieser Gruppe hier und jetzt zu tun haben.<br />

Autoritätsthemen, Zugehörigkeitsthemen,<br />

Macht und Entfaltungsthemen u.v.m.<br />

An einem simplen Beispiel in einem Betrieb<br />

veranschaulicht: Ein Team mitten im<br />

Arbeitsprozess, 9.00 früh, einer spricht gerade<br />

ins Handy, eine andere programmiert<br />

den Roboter, ein Dritter tippt in den PC, ihr<br />

aller Herz pumpt Blut durch die Adern, der<br />

Chef kommt herein und sagt: »Guten Morgen.«<br />

Mit den gleichen Augen, die gerade<br />

am Bildschirm Zahlungseingänge verfolgen<br />

oder in die Roboteraugen starren, schauen<br />

sie ihn an. Einer denkt: »War das ›Guten<br />

Morgen‹ jetzt freundlich oder hat er an mir<br />

vorbeigeschaut? Der hat das nur so gesagt.<br />

Gestern wollte er doch noch etwas Wichtiges<br />

mit mir besprechen. Nichts ist passiert.<br />

Und jetzt geht er zur Kollegin, die sprechen<br />

so herzlich miteinander. Ich glaube, hier ist<br />

was los, die wollen mich ausbooten …« Der<br />

Blutdruck steigt.<br />

Jede*r von uns trägt zum Geschehen in<br />

einer Gruppe, deren Teil wir sind, bei und<br />

formt sie mit. Die Gruppe wirkt sich wiederum<br />

auf jede*n Einzelne*n aus, und zwar<br />

anders und immer unvorhersehbar, aber<br />

immer genau. Diese Wechselwirkungen geschehen,<br />

auch wenn ich, du, wir sie nicht<br />

bemerken. Wir stecken uns fortlaufend an,<br />

die Gruppe ist das Ergebnis. Die für den<br />

Verstand schwindelerregende Vielheit lebt<br />

der Körper ungeteilt. Die Vielheit geht noch<br />

dazu durch Zeit und Raum: Wir erleben,<br />

wie zum Beispiel abwesende Anwesende das<br />

Geschehen mitbeeinflussen oder wie Vergangenheit<br />

und Zukunft noch oder schon<br />

hereinragen und mit-wirken. Lineare Zeit<br />

ist nur ein Aspekt der Gruppenentwicklung,<br />

Menschen sind einander<br />

mit-werdende<br />

Umwelt.<br />

Der Lebensprozess<br />

schafft sich selbst<br />

eine Umwelt, in der<br />

er sich dann fortsetzt<br />

(Gendlin).<br />

Der Gruppenprozess<br />

enthält meinen<br />

Prozess, und in<br />

meinem Prozess ist<br />

der Gruppenprozess<br />

enthalten.<br />

focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021 33


Themen<br />

Halt- und Sicherheitsbedürfnisse<br />

bzw. Angst vor<br />

Ungewissheit und<br />

Chaos bewegen<br />

Menschen dazu,<br />

ihre Gestaltungsmacht<br />

an äußere<br />

Instanzen, z.B. an<br />

eine Autorität, ein<br />

Programm oder<br />

an ein Konzept, zu<br />

delegieren und sich<br />

unterzuordnen.<br />

So bilden sich<br />

strukturgebundene<br />

Phänomene hinter<br />

unserem Gewahrsein,<br />

vom Lebendigen<br />

abgetrennte<br />

Praktiken, die ganze<br />

Sozialkörper in<br />

Agonie versetzen<br />

können.<br />

Social body ist mein<br />

Lieblingsbegriff. Der<br />

englische Ausdruck<br />

ist weniger »deutsch«<br />

und damit für mich<br />

frei von daran hängender<br />

Kultur. Ich<br />

fühle mich lebendig,<br />

inspiriert und mir ist<br />

kreativ und fröhlich<br />

zu Mut, wenn ich<br />

sage, ich arbeite mit<br />

social bodies.<br />

in den Körpern tragen wir viele Zeiten zugleich.<br />

Kurzum, in der Gruppe tobt das Leben,<br />

das auch in uns tobt.<br />

Eine Menge kommt da also zusammen, Sozialkörper<br />

sind komplex, vielheitlich, unberechenbar.<br />

Und diese Vielheit müssen wir<br />

irgendwie vereinfachen, bahnen, lebbar machen,<br />

in und zwischen uns. Ohne den Körper<br />

wären wir in der Begleitung all dieser<br />

Prozesse aufgeschmissen.<br />

Sozialkörper absorbieren und<br />

schaffen Ungewissheit<br />

Vieles ist möglich in der lebendigen Überfülle,<br />

gleichzeitig sind der nächste Schritt,<br />

der nächste Atemzug, die nächste Interaktion<br />

ungewiss. Kommt der Atemzug, kommt<br />

ein frischer Schritt und was passiert dann?<br />

Spreche ich meinen Chef an, kann ich Ängste<br />

und Vorstellungen beiseitestellen, was<br />

sage ich, wie gehe ich es an? Was löse ich<br />

dann womöglich bei meinen Kolleg*innen<br />

aus? Und wie wirkt das dann wieder auf uns<br />

alle zurück? Kündige ich – oder trinke ich<br />

jetzt mal lieber einen Tee?<br />

Kein Wunder, dass das emotional und<br />

mental überfordern kann: Vermischungen,<br />

Projektionen, Überlagerungen, Verstrickungen,<br />

Verwicklungen, Abspaltungen<br />

können Stress- und Drucksituationen in<br />

einem selbst und untereinander erzeugen<br />

und den Weg zur Quelle versperren. In den<br />

Hindernissen liegt aber auch das Entwicklungs-<br />

und Reifungspotenzial für Menschen<br />

und ihre sozialen Verkörperungen, wenn<br />

der Schritt tiefer ins gegenwärtige Erleben<br />

riskiert werden kann und von dort lösende<br />

neue Lebensbewegungen kommen.<br />

Wenn die Voraussetzungen dafür fehlen, beobachten<br />

wir, dass Halt- und Sicherheitsbedürfnisse<br />

bzw. Angst vor Ungewissheit und<br />

Chaos Menschen dazu bewegen, ihre Gestaltungsmacht<br />

an äußere Instanzen, z.B. an<br />

eine Autorität (etwa die Leitung, die Dienstälteste),<br />

ein Programm (Regeln und damit<br />

verbundene Rollen, Normen und Rituale)<br />

oder an ein Konzept (Vorstellung, Ideal), zu<br />

delegieren und sich unterzuordnen. Die Leitung<br />

bzw. Regel- und Rollensysteme sollen<br />

funktionieren und für die Einzelnen möglichst<br />

komfortabel, sinnhaft, zieldienlich<br />

oder sonst wie förderlich sein. Auch wenn<br />

es nicht aufgedeckt wird. Manche bemerken<br />

diese Phänomene erst gar nicht, andere fühlen<br />

sich darin geborgen, andere bemerken<br />

sie zwar, aber leiden darunter und suchen<br />

eine Spur, wie sie anders mitwirken könnten.<br />

Diese Phänomene bemerke ich in jeder<br />

Gruppe, mehr oder weniger, subtiler oder<br />

gröber. Entwicklungspsychologisch lassen<br />

sich die unterschiedlichen Beweggründe,<br />

Unsicherheit zu bannen und Komplexität<br />

zu reduzieren, auch gut begründen und herleiten<br />

(Lovinger 1976). Ich will diese Phänomene<br />

bewusst machen, nicht bewerten,<br />

denn jede Abhängigkeit hat ihren Sinn und<br />

ihre Zeit. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe<br />

vereinfacht ja auch das Leben, nimmt ein<br />

Stück Last und Verantwortung, die mit der<br />

Freiheit auch einhergeht. Kulturell ist vieles<br />

von unseren Vorfahren gebahnt, und wir<br />

fahren weiter in diesen Spuren.<br />

Wir haben vermutlich alle schon erfahren,<br />

dass lebendige Einflussnahme in Gruppen<br />

und Organisationen kein so einfaches Unterfangen<br />

ist. Das Kind wird dann oft mit<br />

dem Bad ausgeschüttet, und »das System«<br />

als unverrückbar, wie gottgegeben »von<br />

denen da oben« abgebucht. Damit werden<br />

Verantwortung und Lebensfreude abgegeben.<br />

»Das System« sei schuld oder es schlage<br />

zurück usw. Der Freiraum, das Lebendige<br />

wird in anderen Welten »außen« gesucht,<br />

und dort, wo wir drinstecken und viel Arbeitszeit<br />

verbringen, wird schlechtes Klima<br />

in Kauf genommen und damit die alte<br />

Kultur erst recht wieder verstärkt. So bilden<br />

sich strukturgebundene Phänomene hinter<br />

unserem Gewahrsein, vom Lebendigen abgetrennte<br />

Praktiken, die ganze Sozialkörper<br />

in Agonie versetzen können. Sicherheit wird<br />

dann gefährlich: Wir gehen in der Kultur<br />

verloren, wenn Kultur den freien Geist tötet.<br />

Wie gelingt also der Schritt in das Ungewisse,<br />

das zwischen uns liegt?<br />

Über den Körper können wir lebendige<br />

Sozialkörper mitschaffen<br />

Sozialkörper ist mein Querbegriff für soziale<br />

Systeme wie Gruppe, Organisationen, Institutionen<br />

und größere Strukturen. Im darin<br />

wichtigen Wort »Körper« schwingt für mich<br />

mit, dass dort das ganze Erleben der Situation<br />

als Körperwissen und kreatives Potenzial<br />

lebt. Und wie ich ausgeführt habe, gehören<br />

zu dieser Situation auch die Erzeugnisse des<br />

Körpers. Für frische, lebendige Sozialkörper,<br />

von denen wir gern Teil sein wollen,<br />

dürfen wir lernen, unser Gewahrsein dafür<br />

zu verfeinern und zu artikulieren.<br />

34 focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021


Themen<br />

Das Wort »Sozialkörper« drückt das Lebendige<br />

im Kollektiven aus und hebt den Körper<br />

als Quelle für lebendige Selbsterzeugung<br />

sozialer Formen hervor. Im Sozialkörper-<br />

Begriff verbinden sich für mich Lebensbewegungen,<br />

die Formen hervorbringen<br />

können, und das Geformte, in dem Lebensbewegungen<br />

fließen können. Sicherheit und<br />

Freiheit können wir auch dazu sagen. Menschen<br />

und ihr Körperprozess sind nicht in<br />

sich abgeschlossen, Sozialkörper auch nicht.<br />

Die Beziehungsnetze sind offen, d.h. auf viele<br />

Arten und Weisen knüpfbar, frisches Leben<br />

kann in alte Rollenspiele mit einfließen<br />

und sowohl die Spieler*innen als auch das<br />

Spiel verändern. Ein implizites Lebensmehr<br />

steht offen, auch wenn es sich manchmal<br />

nicht so anfühlt. Es gibt viele Möglichkeiten,<br />

dennoch ist es nicht beliebig, wie es weiter<br />

geht.<br />

Theoretisch verankert sich dieses interessante<br />

Schöpfungsprinzip lebendiger Systeme<br />

im Autopoiesis-Konzept von Maturana<br />

und Varela (2020). Dort heißt es operative<br />

Geschlossenheit. Damit ist ein inhärenter<br />

»Eigensinn« der Lebewesen gemeint, der<br />

entscheidet, was aus der Umwelt aufgenommen<br />

wird, wie dieser Reiz verarbeitet wird<br />

und zu welchen Schritten das führt. Gendlin<br />

nennt dieses Phänomen des Vieles-ist-möglich-ABER-immer-nur-genau<br />

responsive order<br />

oder order of carrying forward (»Fortsetzungsordnung«).<br />

Auf diese Kräfte dürfen wir vertrauen<br />

und die Machbarkeit auf ihren Platz verweisen,<br />

wenn wir in Sozialkörpern arbeiten<br />

oder sie begleiten und dabei von ihnen mitgestrickt<br />

werden.<br />

Wie geht es weiter? Eingangstore<br />

für Focusing im social body<br />

Focusing lasse ich auf unterschiedliche Arten<br />

in die Begleitung einfließen. Wie, das<br />

werde ich im nächsten Heft des FOCU-<br />

SING<strong>JOURNAL</strong>s darstellen und an konkreten<br />

Szenen einer Teamsupervision veranschaulichen.<br />

Quellen<br />

Gendlin, E. (2016): Ein Prozess-Modell. Verlag Karl Alber,<br />

Freiburg/München, 2.Auflage<br />

Loevinger, J. (1976): Ego development. Conceptions and<br />

theories. Jossey-Bass, San Francisco<br />

Maturana, R.H./Varela, F. (2020): Der Baum der Erkenntnis.<br />

Die biologischen Wurzeln menschlichen<br />

Erkennens. Frankfurt, 8.Auflage<br />

Dr. Andrea Schüller<br />

Consulting, generative Transformation<br />

& Coaching<br />

Lehrtrainerin für Gruppendynamik<br />

(ÖGGO), A-1020 Wien<br />

schueller@andrea-schueller.<br />

com<br />

www.andrea-schueller.com<br />

focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021 35


Themen<br />

Fortsetzung von Seite 1:<br />

… einnehmen und verändern kann. Im Focusing wollen wir einen nächsten, für<br />

jede Person und in jeder Situation unterschiedlichen, stimmigen Schritt entstehen<br />

lassen. Was immer wir tun, unsere absichtsfreie Haltung lässt das Ergebnis<br />

offen.<br />

Daher gibt Focusing gar nicht her, irgendwelche überpersönlichen Ziele anzustreben,<br />

wie etwa »Erleuchtung« oder (Selbst-)Disziplinierung. Wir verfolgen<br />

keine pädagogischen Absichten, wir schreiben keinen Tagesablauf vor. Focusing<br />

dient keinem Glaubenssystem, keiner Ideologie, im Gegenteil: Es ist eine Vorgehensweise,<br />

die verfestigte Inhalte aufspürt und zur Disposition stellt.<br />

Ich bin schon seit Langem dafür, Achtsamkeit nicht als konstitutiven Begriff<br />

für Focusing in Anspruch zu nehmen. Zu vieles und zu viele verbergen sich<br />

hinter diesem ursprünglich buddhistischen Konzept. Und zu spezifisch ist das,<br />

was wir im Focusing darunter verstehen. Unsere Art des Achtsamseins können<br />

weder Jäger noch Soldat, weder Boxer noch Kampfsportler (alle absichtlich<br />

ohne Gendersternchen), weder Kampfkünstler*innen noch so manche Meditierende<br />

so ohne weiteres für sich reklamieren.<br />

Nicht, dass ich meinte, Focusing wäre besser oder wertvoller, aber anders,<br />

jedenfalls in manchen Hinsichten.<br />

JOHANNES WILTSCHKO<br />

Focusing-oriented therapy is not therapy<br />

that includes brief bits of focusing instruction.<br />

Rather it means letting that which arises from the focusing depths<br />

within a person define the therapist’s activity, the relationship,<br />

and the process in the client.<br />

Gene Gendlin<br />

36 focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021


Die Hefte des <strong>FOCUSING</strong><strong>JOURNAL</strong>s können Sie kostenlos<br />

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Bücher über Focusing<br />

Eugene Gendlin<br />

Ein Prozess-Modell<br />

Verlag Karl Alber<br />

Johannes Wiltschko (Hrsg.)<br />

Focusing und Philosophie<br />

Facultas<br />

Eugene T. Gendlin<br />

Focusing-orientierte<br />

Psychotherapie<br />

Klett-Cotta<br />

Eugene T. Gendlin/<br />

Johannes Wiltschko<br />

Focusing in der Praxis<br />

Klett-Cotta<br />

Johannes Wiltschko<br />

Hilflosigkeit in Stärke verwandeln<br />

epubli-Holtzbrinck<br />

Johannes Wiltschko<br />

Ich spüre, also bin ich!<br />

epubli-Holtzbrinck<br />

G. Stumm/J. Wiltschko/W. W. Keil<br />

Grundbegriffe der Personzentrierten<br />

und Focusing-orientierten<br />

Psychotherapie und Beratung<br />

Klett-Cotta<br />

Johannes Wiltschko<br />

Die Anstalt<br />

Edition Keiper<br />

Donata Schoeller<br />

Close Talking<br />

Erleben zur Sprache bringen<br />

De Gruyter<br />

Donata Schoeller, Vera Saller (Hrsg.)<br />

Thinking thinking<br />

Practicing radical reflection<br />

Karl Alber<br />

David M. Levin (Ed.)<br />

Language beyond Postmodernism<br />

Saying and Thinking in Gendlin’s Philosophy<br />

Northwestern University Press<br />

Tony Hofmann<br />

Denken in Prozessen<br />

Verlag für psychosoziale<br />

Medien<br />

Eugene T. Gendlin<br />

A Process Model<br />

Northwestern University Press<br />

Eugene T. Gendlin<br />

Experiencing and the Creation of Meaning<br />

A Philosophical and Psychological<br />

Approach to the Subjective<br />

Northwestern University Press<br />

Edward S. Casey, Donata Schoeller (Eds.)<br />

Saying What We Mean<br />

Implicit Precision and the Responsive Order<br />

Selected Works by Eugene T. Gendlin<br />

Northwestern University Press

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