FOCUSING JOURNAL Nr. 47
Zeitschrift zur Kultur der Achtsamkeit herausgegen von der AKADEMIE FÜR FOCUSING, FOCUSING-THERAPIE UND PROZESSPHILOSOPHIE (DAF-AKADEMIE)
Zeitschrift zur Kultur der Achtsamkeit
herausgegen von der AKADEMIE FÜR FOCUSING, FOCUSING-THERAPIE UND PROZESSPHILOSOPHIE (DAF-AKADEMIE)
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FocusingJournal<br />
Zeitschrift für Kultur der Achtsamkeit<br />
Zeitschrift für Kultur der Achtsamkeit<br />
Heft <strong>47</strong>/2021<br />
Gene Gendlins Flucht aus Wien<br />
Vierzig Jahre Focusing – eine Essenz?<br />
Achtsamkeit – der psycho-spirituelle Fokus buddhistischer<br />
Körper(psycho)therapie<br />
Focusing-Orientierung in der Begleitung traumatisierter Menschen<br />
Immer präsent und anrufbar!<br />
Hände<br />
Fokussierende Sozialkörper
FocusingJournal<br />
Zeitschrift für Kultur der Achtsamkeit<br />
in der Psychotherapie, in Beratung und Coaching,<br />
im eigenen Leben, in Partnerschaften und Teams,<br />
in Organisationen und Politik – und darüber hinaus<br />
Inhalt<br />
Themen<br />
2 Gene Gendlins Flucht aus Wien<br />
auszug aus einem brief an lore korbei<br />
7 Vierzig Jahre Focusing – eine Essenz?<br />
von johannes wiltschko<br />
13 Achtsamkeit – der psycho-spirituelle Fokus buddhistischer<br />
Körper(psycho)therapie<br />
von jörg-m. wolters<br />
24 Focusing-Orientierung in der Begleitung traumatisierter Menschen<br />
von inge pinzker<br />
26 Immer präsent und anrufbar!<br />
Focusing und Gebet<br />
von martha hellinger<br />
29 Hände<br />
von krimhild könig<br />
32 Fokussierende Sozialkörper<br />
von andrea Schüller<br />
Termine<br />
17 OFT: Online-Focusing-Time – kostenfrei<br />
18 Weiterbildung Focusing-Basis – online 2022<br />
19 Unsere nächsten Weiterbildungen<br />
20 Die König*innen-Supervision<br />
20 »Time is honey«: Zeit will Raum<br />
21 Focusing-Orientierung in der Begleitung traumatisierter Menschen<br />
22 41. Internationale Focusing Sommerschule 2022
Editorial<br />
ACHTSAMKEITSKULTUREN<br />
Liebe Leserin, lieber Leser,<br />
nehmen wir zum Beispiel Jäger, Soldaten, Boxer. Ihr Geschäft ist es unter anderem,<br />
Gewalt anzuwenden. Dabei müssen oder sollen sie aufmerksam, wach,<br />
fokussiert zu Werke gehen. Jäger, Soldaten, Boxer pflegen auch das Ethos des<br />
Respekts vor dem Gegner (dem zu erlegenden Tier, dem Feind, dem Kontrahenten)<br />
– in der Theorie. Was man davon so sieht oder darüber liest, na ja, die<br />
Praxis beweist eher das Gegenteil. Und Jäger feiern Feldmessen, Soldaten werden<br />
gesegnet, Boxer bekreuzigen sich. Würden wir diesen Leuten zubilligen, sie<br />
wären achtsam, respektvoll und spirituell? Eher nicht, im Großen und Ganzen.<br />
Achtsamkeit, Respekt, Spiritualität – in den fernöstlichen martial arts<br />
(= Künste des Kriegsgottes Mars) zentrale Begriffe, obwohl es sich, wie<br />
schon der Name sagt, um kriegerische »Künste« handelt. Vor allem die unter<br />
»Kampfsport« firmierenden wettbewerbsmäßigen Vollkontakt-Varianten zielen<br />
auf Schädigen des Gegners ab bis hin zur Kampfunfähigkeit, Bewusstlosigkeit<br />
(und in verbotenen Wettkämpfen auf noch üblere Zustände). Ein Kollege (also<br />
ein Focusing-Therapeut), der auch als Kampfsport-Trainer arbeitet, erzählte<br />
mir, dass er seinen Kämpfern die Einstellung vermittle, den Gegner nicht bloß<br />
zu besiegen, sondern zu vernichten. Aber selbst in diesen Kreisen werden Achtsamkeit<br />
und Respekt als Tugenden ausgegeben. Dieser Kollege war der Auffassung,<br />
Kampfsport und Focusing hätten viele »wertvolle« Gemeinsamkeiten!<br />
So gesehen finde ich die deutliche Unterscheidung zwischen Kampfsport<br />
und Kampfkunst, wie sie Jörg Wolters in seinem Artikel auf Seite 13ff. trifft,<br />
sehr begrüßenswert. In der Kampfkunst werden die Kampf- und Verteidigungstechniken<br />
so ritualisiert, verfeinert und ästhetisch kultiviert, dass ihre Einübung<br />
nicht mehr zum Sieg über den Feind taugt, sondern dem Sieg über sich selbst<br />
dienen soll.<br />
Trotz der zentralen Stellung der Achtsamkeit sowohl in Wolters' Verständnis<br />
von Kampfkunst als auch im Focusing unterscheidet sich beides doch<br />
recht grundsätzlich: Die aus »östlichen« Traditionen stammenden Vorstellungen,<br />
wie sie in Formulierungen wie »rechtes Verhalten«, »Kontrollieren des<br />
Ich«, »Samurai-Tugenden« und auch »Sieg über sich selbst« zum Ausdruck<br />
kommen, sind dem Focusing ziemlich fremd. Besonders das Verhältnis zwischen<br />
»Meister« und »Schüler« hat in der Beziehung zwischen focusingorientierten<br />
Therapeut*innen und Klient*innen oder Ausbilder*innen und<br />
Ausbildungsteilnehmer*innen keine Entsprechung.<br />
Auch Zazen, das aufrechte Stillsitzen, hat, wie die vom Zen-Buddhismus<br />
stark beeinflussten Kampfkünste, etwas dem Focusing Entgegengesetztes: Dort<br />
sollen von außen vorgegebene gleichförmige Haltungen und Bewegungen innere<br />
Wandlung bewirken, im Focusing wollen wir den Körper freilassen, damit er<br />
seine jeweils augenblicklich stimmige Haltung selbst finden, …<br />
Lesen Sie weiter auf der letzten Seite.<br />
Impressum<br />
Herausgeber:<br />
Prof. Dr. Johannes Wiltschko<br />
Die Akademie für Focusing,<br />
Focusing-Therapie und Prozessphilosophie<br />
Wagnergasse 6, 83410 Laufen<br />
www.daf-focusing-akademie.com<br />
Redaktion:<br />
Redaktionelle Mitarbeit:<br />
Hans Neidhardt<br />
Focusing International:<br />
Dr. Evelyn Fendler-Lee<br />
Internationale Publikationen:<br />
Dr. Tony Hofmann<br />
Textredaktion: Karin Schwind,<br />
Meggi Widmann<br />
Graphik und Bildbeschaffung:<br />
Sigrun Lenk<br />
Layout und Satz: Regina Rilz<br />
Schlussredaktion:<br />
Johannes Wiltschko<br />
Bildnachweis:<br />
Sigrun Lenk: Cover, 26, 27<br />
E.T. Gendlin privat: 2, 3<br />
Katrin Tom-Wiltschko: 8<br />
fotolia: 10, 12<br />
Jörg-M. Wolters: 13, 15<br />
Krimhild König: 29, 30<br />
Andrea Schüller, 35<br />
DAF-AKADEMIE: 22, Autorenportraits<br />
Erscheinungsweise:<br />
zweimal jährlich (Juni, November)<br />
Einzelpreis:<br />
als E-Paper: kostenlos<br />
als Zeitschrift gedruckt und<br />
gebunden: € 15,–<br />
inkl. Porto und Versand<br />
Den Link zu diesem Heft<br />
finden Sie auf<br />
www.daf-focusing-akademie.com<br />
Ihre Beiträge mailen Sie bitte<br />
als WORD-Datei an<br />
jw@daf-focusing-akademie.com<br />
Redaktionsschluss:<br />
1. April und 1. Oktober<br />
Erscheinungsdatum dieses<br />
Heftes: November 2021<br />
© DAF-AKADEMIE 2021<br />
ISSN 1861-6178<br />
focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021 1
Themen<br />
Gene Gendlins Flucht aus Wien<br />
Für das Buch »Wien, wo sonst! Die Entstehung der Psychoanalyse und ihrer<br />
Schulen«*, in dem die Lebensgeschichten berühmter, aus Wien stammender<br />
jüdischer Psychotherapeuten beschrieben werden sollten, war auch ein Kapitel<br />
über Gene Gendlin vorgesehen. Aus diesem Grund nahm Lore Korbei im Jahr<br />
1992 mit Gendlin Kontakt auf mit der Bitte, er möge Material für dieses Projekt<br />
zur Verfügung stellen.<br />
Wir geben hier zunächst Auszüge aus Gendlins diesbezüglichen Briefen an<br />
Lore Korbei wieder und danach die Originalversion des von Gene geschriebenen<br />
Fluchtberichts als Erstveröffentlichung.<br />
Herzlichen Dank an Lore Korbei für die Erlaubnis des Abdrucks.<br />
Gene Gendlin 1985<br />
* »Wien, wo sonst! Die<br />
Entstehung der Psychoanalyse<br />
und ihrer Schulen«,<br />
herausgegeben von Oskar<br />
Frischenschlager. Wien:<br />
Böhlau Verlag 1994<br />
I<br />
was born in Vienna December<br />
25, 1926 and came here<br />
in 1939. Please let me know<br />
anything further that you need.<br />
I doubt if I can be fully included.<br />
Perhaps I can be listed in<br />
some lesser way. I don‘t have<br />
time to do much more than I<br />
am already doing, and I am not sure what<br />
it entails. Even to go through my old things<br />
will be hard to find time for. I will do it now<br />
and tell you what I have.<br />
I lived at Rossauerlände 25, Wien IX. I went<br />
to the Schubert Schule the same one Franz<br />
Schubert went to, for the first four grades,<br />
then to the Realschule. Our house is an ordinary<br />
apartment house. My son took a picture<br />
of it when he went to Vienna a few years<br />
ago, so it‘s still there.<br />
I remember many things of course.<br />
I could answer a list of questions or tell<br />
anything you might want to know about.<br />
Most of my memories are not significant, it<br />
seems to me, at least until the Nazi time. Do<br />
you want memories of that time, and how<br />
we got out? That is a good story!<br />
Some short article about Focusing<br />
would be better than trying now to freshly<br />
present the method in something new you<br />
would write. It‘s hard to do and doesn‘t easily<br />
come out good. Johannes would have one<br />
too.<br />
*<br />
My memories of the Nazi period and<br />
the whole climate and situation is very vivid.<br />
Would it be enough to write that? I could do<br />
it well.<br />
*<br />
To answer your questions: My father: Dr.<br />
Leonid Gendelin (in USA: Dr. Leo D. Gendlin),<br />
born in Russia (Dashev) 1889, Dr. of<br />
Chemistry, University of Graz. My mother:<br />
Sylvia (maiden name: Tobell), born Trieste<br />
1895, her father built the riverbed of the<br />
Ison zo River, was an engineer.<br />
Was sollte ich noch senden? Ich habe einen<br />
alten Koffer voll von alten Photographien,<br />
meine Schulzeugnisse sind auch noch da.<br />
Auch ein Reisepass mit dem Hackenkreutz.<br />
Ich verstehe Ihre Idee nicht genau und so<br />
weiss ich nicht, was gewünscht wäre.<br />
Ich habe viel auf Deutsch gelesen, aber<br />
nichts oder beinahe nichts auf Deutsch geschrieben.<br />
Ich dachte, es ist leichter auszubessern,<br />
als es zu übersetzen, daher habe<br />
ich auf Deutsch geschrieben. Ich bin Ihnen<br />
dankbar, wenn Sie‘s ausbessern. Es ist voll<br />
Fehler. Ich weiss auch nicht, ob es überhaupt<br />
passend ist.<br />
Über Focusing zu schreiben, ist gar<br />
nicht leicht. Es ist etwas, das die meisten<br />
nicht kennen, so kann man‘s nicht mit gewöhnlichen<br />
Worten erklären. Man kann<br />
aber das sagen. Ohne das zu sagen, wird‘s<br />
nicht richtig sein.<br />
2 focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021
Themen<br />
Hoffentlich schneiden Sie bitte etwas heraus<br />
aus meinem Buch »Focusing« oder von<br />
Wiltschko oder von irgendeinem Artikel<br />
von mir. Frisch darüber zu schreiben, geht<br />
ohne Schwierigkeiten nicht. Sollten Sie‘s<br />
doch wollen, senden Sie es mir bitte, so dass<br />
ich‘s korrigieren kann. Vielen Dank.<br />
*<br />
An dem Abend, als die Nazis einmarschierten,<br />
war mein Vater bei einer Konferenz. Zu<br />
Hause hat er dann erzählt: »Am Weg zur<br />
Konferenz waren überall rot-weiss-rote Fahnen<br />
und alle Fenster waren befüllt mit Leuten,<br />
die sich hinauslehnten und ›Rot-weissrot<br />
bis in den Todt‹ schriehen. Als ich von<br />
der Konferenz heraus kam, waren überall<br />
Hackenkreutz-Fahnen und von allen Fenster<br />
schriehen die Leute ›Heil Hitler‹.«<br />
Waren das dieselben Leute? Sicher<br />
nicht, es gab zweierlei. Es gab auch viele, die<br />
die Nazis nicht wollten.<br />
Schon in den ersten Tagen hörte man<br />
von vielem Schrecken. Leute tuhn bei Juden<br />
einbrechen und alles zum Fenster hinauswerfen.<br />
Man wird auf der Strasse geschlagen.<br />
Verschiedenes. In der Schule war<br />
es möglich, gehaut zu werden. Ich sah aber<br />
auch viele, die nichts damit zu tun haben<br />
wollten.<br />
Nach ein paar Tagen sandte mein Vater<br />
meine Mutter und mich zu den Grosseltern<br />
im fünften Bezirk. Dort war eine kleine<br />
tschechische Fahne auf der Tür. Mein Grossvater<br />
war in Prag geboren. Beim Zerfall der<br />
Monarchie in 1918 informierte man ihn,<br />
dass er Tschechischer Bürger sei. Er sollte<br />
neu anfragen, wenn er Österreichischer<br />
Bürger sein wollte. Das hat ihn geärgert und<br />
so hat er es nie geändert. Jetzt war es eine<br />
Rettung.<br />
Bei meiner Grossmutter war ein Zimmer<br />
immer verschlossen. Man sah es nur<br />
durch die Glasscheiben in der Türe. Es hieß<br />
»der Salon« und es hatte antike Möbel. Nur<br />
wenn spezielle Gäste kamen, war es offen,<br />
zum Beispiel die Frau Zweig. Stefan Zweig‘s<br />
Mutter war eine Freundin. Jetzt war im Salon<br />
unser Schlafzimmer. Alles war anders.<br />
Mein Vater kam endlich am dritten Tag.<br />
Sein Geschäft wurde von anderen sofort<br />
übernommen. Alles, was er aufgebaut hat,<br />
war verloren. Ich sah ihn einen Moment<br />
weinen, etwas unmögliches. Er hat auch erfahren,<br />
dass die Polizei ihn sucht. So ging er<br />
die drei Tage nicht nach Hause.<br />
Er nahm mich dann auf einen<br />
langen Spaziergang mit und<br />
erklärte mir vieles. In seiner<br />
Branche war er immer der einzige<br />
Jude und man hat sofort die Gelegenheit<br />
benützt, um ihm sein<br />
Geschäft zu stehlen. Er wird jetzt<br />
auch eingesperrt werden. Es werden<br />
viele eingesperrt, nur weil sie<br />
Juden sind, erklärte er mir. Es war<br />
ihm wichtig, dass ich das gut verstehe.<br />
Ich soll nicht denken, mein<br />
Vater wäre ein Verbrecher. (Das<br />
hätte ich mir eh nie vorgestellt.)<br />
Auch soll ich draussen vorsichtig<br />
sein, zum Beispiel nicht vor<br />
einem der vielen riesigen Bilder<br />
Hitlers rauszuspucken.<br />
Gene Gendlin 1937<br />
Ich habe das alles gut verstanden<br />
und er ist dann nach<br />
Hause gegangen und sofort hopgenommen<br />
worden. Die Mutter und ich<br />
mussten ihm im Gefängnis Zahnpasta und<br />
Unterhosen bringen.<br />
Er war dann eine Ewigkeit weg, drei<br />
Monate ungefähr. Es wurden dann auch andere<br />
eingesperrt. Ich hörte Gäste bei meinen<br />
Grosseltern sagen, dass die Eingesperrten<br />
doch sicher was angestellt haben müssen.<br />
Da habe ich verstanden, warum mein Vater<br />
mir das alles so vorsichtig erklärt hat. Die<br />
Grossen waren dumm und ich wusste mehr.<br />
Die Wahrheit wurde auch bald klar, nachdem<br />
in den nächsten Monaten beinahe alle<br />
jüdischen Männer eingesperrt wurden.<br />
Auch andere Male wusste ich mehr als<br />
die Grossen. Die sagten, sie konnten das<br />
Ganze, was vorging, nicht verstehen, es ging<br />
ihnen nicht ein. Die Leute waren an gute,<br />
rationelle Ordnung gewöhnt, sie konnten<br />
sich nicht orientieren. Wie kann das alles so<br />
sein? Sie drückten viel Konfusion aus. Mir<br />
kam das alles einfach vor. Die Wirklichkeit<br />
war einfach: dass die schlechten Leute jetzt<br />
an der Macht waren.<br />
Nur ein Mal war ein Schrecken. Mein<br />
Grossvater, meine Mutter und ich wurden<br />
auf der Strasse von einigen Männern in eine<br />
grosse Gruppe Juden eingereiht. Rundherum<br />
schriehen viele Leute fortwährend: »Auf<br />
die Laternen!« Wir mussten dann eine Weile<br />
in Reihen durch die Strassen marschieren.<br />
Aber am Ende hat man uns gehen lassen.<br />
Endlich kam mein Vater nach Hause. Es<br />
war schon Sommer. Wir konnten wieder zu<br />
Hause wohnen. Man liess ihn frei, nachdem<br />
er unterschrieben hat, dass er auswandert<br />
focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021 3
Themen<br />
Ich lernte, meinem<br />
Vater nachzufolgen,<br />
wo immer er einging<br />
oder ausging,<br />
und nichts zu sagen<br />
oder zu fragen,<br />
bis wir wieder allein<br />
waren.<br />
und sich bindet, nicht zurückzukehren. Das<br />
war komisch, denn wir wollten doch nur<br />
herauskommen und weg bleiben. Es waren<br />
zu der Zeit alle möglichen verschiedenen<br />
Regeln, die jedes Bureau verschieden erfinden<br />
konnte. Ich habe seitdem nie von solch<br />
einem Vertrag gehört. Es hat uns aber einige<br />
Monate später extra Angst gemacht, als man<br />
uns von Holland zurücksenden wollte.<br />
Jetzt kamen die Schwierigkeiten, die<br />
man der Erlaubnis auszuwandern im Weg<br />
stellte. Es waren zwanzig oder dreissig Papiere,<br />
die man von verschiedenen Bureaus<br />
bekommen musste. Da standen die Leute<br />
Tage und Nächte in langen Reihen um ein<br />
Gebäude herum und auch die Strasse entlang.<br />
Manchmal gab mir mein Vater die<br />
Aktentasche zu halten, damit sie unwichtig<br />
aussehe, so dass niemand uns die wegnimmt.<br />
Ich lernte, meinem Vater nachzufolgen,<br />
wo immer er einging oder ausging, und<br />
nichts zu sagen oder zu fragen, bis wir wieder<br />
allein waren. Die Erlaubnis wegzugehen<br />
zu bekommen, schien das Schwerste und es<br />
dauerte Monate. Es wurde Herbst.<br />
Endlich kam die Frage, wie wir hinauskommen<br />
könnten. Meine Tante in Argentinien<br />
und mein Onkel in der USA sollten uns<br />
das Visum arrangieren, aber das konnte lange<br />
dauern. Mein Vater wollte sofort weg. Man<br />
hörte von verschiedenen Wegen, auf denen<br />
es jemandem gelang, hinauszukommen.<br />
Einige sind in die Tschechei durchgekommen<br />
einfach mit dem alten Reisepass,<br />
der noch nicht angab, dass man Jude ist. Die<br />
Grenzkontrolle wusste noch nicht von dem<br />
neuen Judenpass. Das konnte man natürlich<br />
jetzt nicht mehr.<br />
Man konnte nach Jugoslawien mit einem<br />
Taufschein. Man konnte einen kaufen,<br />
ohne sich zu taufen. Das Datum musste aber<br />
früher als 1920 sein. Aber mein Vater sagte:<br />
»Das wird uns wahrscheinlich nicht Glück<br />
bringen.«<br />
Man konnte nach Litauen, wenn jemand<br />
in London 50 Pounds bezahlte. Wir<br />
kannten niemanden dort. Mein Vater sagte<br />
auch: »Ich war schon im Osten. Wir fahren<br />
nach dem Westen.«<br />
Man konnte im Schlafwagen nach Italien.<br />
Man bezahlte jemanden in Wien und<br />
wurde dann an der Grenze übersehen und<br />
nicht aufgeweckt. Mein Vater dachte aber, es<br />
sei nicht sicher genug. Der Vertrag sagte ja,<br />
wenn man uns zurücksenden würde, würde<br />
er gleich hopgenommen werden. Es musste<br />
der erste Versuch klappen.<br />
So konnte man auch mit dem Flugzeug<br />
in die Schweitz, wenn man vorher in Wien<br />
jemanden bezahlte. Es schien ihm nicht sicher.<br />
So auch in Strassburg war jemand, der<br />
angeblich Leute leitete, den Rhein nach<br />
Frankreich zu überqueren. Mein Vater<br />
dachte: »Was aber, wenn er uns in der Mitte<br />
des Flusses verlässt?«<br />
Auch nach Belgien verkaufte jemand<br />
eine Adresse in Köln. Einer dort würde uns<br />
durch den Wald leiten. Nur nach Holland<br />
war überhaupt kein Weg.<br />
Mein Vater wählte den Weg nach Belgien.<br />
Wir kauften in Wien »die Adresse« in<br />
Köln. Natürlich musste man dem in Köln<br />
das Meiste zahlen, damit er uns durch den<br />
Wald nach Belgien leiten sollte. Nun hatten<br />
wir endlich einen Weg heraus! Wir nahmen<br />
nur einen ganz kleinen Koffer mit. Einige<br />
Juwelen waren in meiner grünen Jacke eingenäht.<br />
Das Taxi stand unten vor dem Haus.<br />
Meine Mutter und ich stiegen ein. Ich<br />
schrieb die erste Seite meines Tagebuchs.<br />
Der Vater ging noch zum letzten Mal schauen,<br />
ob vielleicht doch die Post schon da ist.<br />
Er kam mit einem blauen Envelope zurück:<br />
das Affidavid von der USA! (Ein Affidavid<br />
ist natürlich kein Visum. Es ist nur ein Dokument,<br />
welches angibt, dass der Prozess<br />
für unser Visum offiziell begonnen hat.)<br />
Einige Monate später wurden wir in Holland<br />
hopgenommen, und das Affidavid<br />
war der Grund, warum man uns nicht nach<br />
Deutschland zurücksendete.<br />
Mit dem Zug nach Köln. In Regensburg<br />
stieg mein Vater aus, um mir eine Limonade<br />
zu kaufen. Es war niemand anderer im<br />
Coupé, nur meine Mutter und ich. Da kamen<br />
zwei in grauen Anzügen und sagten<br />
»Gestapo« und einer zeigte eine Medaille.<br />
»Wo ist Doktor Gendelin?« Wir sagten, wir<br />
wussten nicht. Der Zug bewegte sich und die<br />
zwei stiegen aus. Es kam dann bald von den<br />
hinteren Wagonen der Vater mit der Limonade.<br />
Er war hinten wieder eingestiegen, hat<br />
die zwei nicht gesehen, wusste nichts von<br />
ihnen. Meine lieben Eltern, die mir immer<br />
alles geben wollten! Die Limonade hatte uns<br />
gerettet. Wir blieben ängstlich, aber von der<br />
Gestapo hörten wir nichts mehr.<br />
In Köln nahm mich mein Vater mit zur<br />
»Adresse«. Sie war im Judenviertel, arme<br />
graue Strassen. Es war uns unheimlich, dass<br />
hier Juden einfach weiter wohnten, als wenn<br />
nichts passiert wäre. Die Deutschen waren<br />
4 focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021
Themen<br />
nicht so wild wie die Österreicher. Hier sind<br />
Juden freiwillig seit 1933 geblieben. In Wien<br />
wurde es doch sofort lebensgefährlich und<br />
alle wollten gleich heraus.<br />
Wir kamen zum richtigen Haus und zu<br />
einer Wohnung im Stock. Drinnen schloss<br />
sich mein Vater mit dem Mann in ein Zimmer<br />
ein und ich wartete vielleicht eine Viertelstunde.<br />
Dann kam mein Vater ganz bleich<br />
heraus und sagte: »Gehen wir.« Draussen<br />
erklärte er mir, dass er zu dem Mann kein<br />
Vertrauen haben konnte. Mein Vater sagte,<br />
dass das »Gefühl« ihm nein gesagt hatte.<br />
Mein Vater sagte schon oft: »Ich folge<br />
meinem Gefühl.« Diesmal aber war mir sein<br />
Vertrauen daran unglaublich. Wir waren in<br />
einer fremden Stadt und ohne Ausweg. Nur<br />
von der »Adresse« war alles erhofft und jetzt<br />
war sie dahin und nur wegen seinem »Gefühl«.<br />
Ich habe mich damals und später oft<br />
gewundert, was für ein Gefühl denn das<br />
ist, was einem etwas mitteilt. Manchmal<br />
versuchte ich so ein Gefühl in mir zu finden,<br />
konnte es aber nicht. Aber dass ich es<br />
in mir suchen gegangen bin, hat sich doch<br />
ausgewirkt. Vierzig Jahre später, als man<br />
mich fragte, wieso ich das Focusing finden<br />
konnte, da sind mir diese Umstände eingefallen.<br />
Mein Vater brachte mich zur Mutter<br />
ins Hotel und ging wieder weg. Aus dem<br />
Fenster sah man ganz nahe die Wand vom<br />
Kölner Dom. Am Abend kam er zurück und<br />
hatte was gefunden! Eine neue »Adresse«.<br />
Nächsten Tag, Samstag, fuhren wir nach<br />
Borken, ein Dorf an der Holländischen<br />
Grenze. Nach Holland? Das einzige Land, zu<br />
dem in Wien keine Möglichkeit existierte.<br />
Ein Haus in Borken. Wieder mein Vater und<br />
der andere in Unterredung. Diesmal schaut<br />
mein Vater nachher ganz gut aus. Wir gehen<br />
alle in den Tempel Maerev beten! Es ist Shabess<br />
und der Tag vor Rosh Hashonoh. Wieder<br />
Juden, die nicht einmal herauszukommen<br />
versuchten, unglaublich, unheimlich.<br />
In Borken, in einem kleinen Gasthaus,<br />
beschrieb ich meinem Tagebuch detailliert<br />
das Frühstück. Mein Vater fuhr zurück nach<br />
Köln, etwas von dort zu holen. Ich wusste<br />
nicht was. Meine Mutter und ich blieben da.<br />
Als er zurück kam, hatte er drei Fahrkarten,<br />
über Borken, Amsterdam und Brüssel nach<br />
Paris.<br />
Blosse Fahrkarten? Ich wusste doch genau,<br />
dass kein Land einen mit blossen Fahrkarten<br />
hinein lässt.<br />
In der Früh, Sonntag, fahren wir aus<br />
Borken mit einem kleinen Zug mit harten<br />
gelben Holzsitzen und wenig Leuten. Der<br />
machte bei der Grenze halt. Wir stiegen<br />
aus. Es war auch noch eine jüdische Familie<br />
mit solchen Fahrkarten. Mein Vater bestand<br />
darauf, dass wir zuerst gehen werden.<br />
In dem kleinen Gebäude stand ein Mann in<br />
Uniform an einem langen Tisch. Man musste<br />
zwischen dem Tisch und einem Geleiter<br />
bei ihm vorbei gehen. Wir zeigten unsere<br />
Karten. Er schaute sie an, nickte und gab sie<br />
zurück. Wir gingen dann vorbei und rückwärts<br />
aus dem Gebäude hinaus. Ich war<br />
meiner Knien nicht sicher, aber ich konnte<br />
gehen.<br />
Hinten war ein anderer kleiner Zug. Wir<br />
bestiegen den. Er bewegte sich. Ist das alles?<br />
Sind wir durch? Darf ich in meinem Tagebuch<br />
schreiben, dass wir durch sind? Noch<br />
bin ich nicht sicher.<br />
Später hat mein Vater erzählt: Der Mann<br />
an der Adresse in Borken wusste, dass Sonntag<br />
Früh der Grenzbeamte in die Kirche<br />
gehe. Sein Ersatz wusste nicht viel. Vorigen<br />
Sonntag hatte er Leute, die nur Fahrkarten<br />
hatten, durchgelassen.<br />
Der kleine Zug ist fast leer. Er geht<br />
schaukelnd nach einem Dorf, das Winterswick<br />
heisst.* Dort besteigen wir einen regelrechten<br />
Zug. Der ist voll. Wir sind in Holland,<br />
kein Zweifel. Ich höre eine Sprache, die<br />
ich nicht verstehe. Im Coupé‚ beim Fenster,<br />
sitzt ein dicker Mann, der sicher Holländer<br />
ist. Mein Vater setzt sich gegenüber beim<br />
anderen Fenster. Neben ihm meine Mutter,<br />
dann ich.<br />
Darf ich endlich in meinem Tagebuch<br />
schreiben, dass wir frei sind? Noch nicht.<br />
Meine Eltern waren ganz still, kein Zeichen.<br />
Sie haben noch nicht einmal hergeschaut, so<br />
bin ich nicht sicher.<br />
Der Zug bewegt sich und der dicke Holländer<br />
nimmt eine grosse Zigarre aus einem<br />
Packet und offeriert meinem Vater eine.<br />
Natürlich weiss ich, dass mein Vater Zigaretten<br />
und nur zum Geburtstag eine Zigarre<br />
raucht. Aber mein Vater nimmt die Zigarre<br />
an, macht vorne ein Loch in ihr, um sie zu<br />
rauchen. Da nehme ich mein Tagebuch aus<br />
der Tasche und schreibe: »Überwunden.«<br />
Später müssen wir wieder umsteigen<br />
und auf den Zug nach Amsterdam warten.<br />
Ich frage meinen Vater, warum wir nicht<br />
schon freudig sind. Er sagt, wir sind noch<br />
zu nahe der Grenze, es könnte uns jemand<br />
hop nehmen und mit dem Auto zurückbrin-<br />
Vierzig Jahre später,<br />
als man mich<br />
fragte, wieso ich<br />
das Focusing finden<br />
konnte, da sind<br />
mir diese Umstände<br />
eingefallen.<br />
* Die Bahnstrecke ist eine<br />
ehemals durchgehende<br />
Eisenbahnstrecke von Winterswijk<br />
in den Niederlanden<br />
nach Gelsenkirchen im<br />
nördlichen Ruhrgebiet. Bis<br />
zum Ausbruch des Ersten<br />
Weltkrieges hatte die Strecke<br />
überregionale Bedeutung,<br />
unter anderem durch<br />
eine direkte Zugverbindung<br />
von Essen nach Amsterdam.<br />
In den 1920er-Jahren<br />
sank die Bedeutung des<br />
Grenzabschnittes zwischen<br />
Winterswijk und Borken.<br />
Der Personenverkehr endete<br />
mit dem Ausbruch des<br />
Zweiten Weltkrieges, der<br />
letzte Güterzug passierte<br />
1979 die Grenze.<br />
focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021 5
Themen<br />
gen. Das habe ich ihm zwar nicht geglaubt,<br />
aber es blieb mir in Erinnerung.<br />
Das kleine Jüdische Hotel Eden in Amsterdam<br />
war an einem Kanal, vorne keine<br />
Strasse, nur Wasser. Oben im Zimmer war<br />
ein kleiner Balkon, von dem man auf den<br />
Kanal schauen konnte. Die weissen Fögel,<br />
die da fliegten, die waren frei so wie wir.<br />
Diese Möven sind mir immer Freiheitssymbole<br />
geblieben. Ich sehe sie immer an der<br />
Küste vom Lake Michigan, wo ich wohne.<br />
Es war Erev Rosh Hashonoh. Wir fragten<br />
nach einem Tempel und gingen hin. Es<br />
war ein grosser schöner Tempel, aber drinnen<br />
war es ganz dunkel. Man konnte fast<br />
nichts sehen. Männer mit Hüten so wie<br />
Napoleon‘s standen mit wirklich brennenden<br />
Fackeln, aber Licht gab es nur ganz neben<br />
ihnen. Nach einer halben Stunde gingen<br />
wir hinaus, weil wir die Gebete nicht erkennen<br />
konnten. (Jetzt weiss ich, es waren die<br />
Sephardischen; es war nämlich die berühmte<br />
Portugiesische Synagoge, was wir nicht<br />
wussten.) Wir fragten, ob es noch eine Synagoge<br />
gebe. Ja, sagten die Leute, eine kleine.<br />
Es war ein bisschen weit. Dort war es voll,<br />
aber hinten konnten wir sitzen. Es war Licht<br />
und das Gebet sofort erkannt wie zu Hause,<br />
so waren wir froh. Nach einer Weile ging so<br />
ein Flüstern herum und Einige schauten zu<br />
uns her. War es vielleicht, weil wir so ganz<br />
einfach hereingekommen sind? Man kam<br />
dann zu uns und wir wurden nach vorne<br />
geleitet, zur ersten Reihe, wo für uns Platz<br />
gemacht wurde.<br />
Sollte meine Geschichte, wie wir heraus<br />
vom Naziland kamen, dem Buch passend<br />
sein, würde ich es noch ein wenig polieren.<br />
Sag mir nur schnell, ob es wirklich im Buch<br />
erscheinen wird oder nicht. Arbeiten daran<br />
kannst Du besser, nachdem ich‘s nochmals<br />
durchschaue.<br />
Viele Grüße!<br />
Die beiden neuen Bücher »Senses of Focusing« wurden auf der Frankfurter<br />
Buchmesse vorgestellt und sind jetzt im Buchhandel erhältlich<br />
Volume 1<br />
In the first of the two volumes of Senses<br />
of Focusing, a wide range of authors from<br />
around the world bring fresh thinking to<br />
the meaning of ›Focusing‹ and how Eugene<br />
Gendlin‘s work grew from and has<br />
developed different elements of philosophy<br />
and psychotherapy, particularly within the<br />
Client-Centered tradition. The meaning of<br />
›Focusing‹ and the ›Felt sense‹ are considered<br />
and re-examined; the close relationship<br />
between Focusing and Eastern traditions is<br />
explored by authors from Japan and China;<br />
the relevance of Focusing to the existential<br />
challenges that we face are seen not only<br />
in terms of personal meaning, but also in<br />
relation to current global and political crises;<br />
the evolution of new developments in Focusing<br />
practice are described; different considerations<br />
are brought to bear in relation to<br />
working with physical illness and the body<br />
and the volume concludes with a section on<br />
›Body Mapping‹ and ›Children Focusing‹.<br />
The second volume of Senses of Focusing<br />
carries exploration of the many ›senses‹<br />
of ›focusing‹ in new directions, beginning<br />
with the crucial area of ›spirituality‹ and the<br />
wisdom of ›dreams‹. The value of living and<br />
working from inner experiencing ›in individual<br />
lives and in therapeutic practice‹ is<br />
explored across a variety of cultures as well<br />
as through different manifestations in the<br />
›Arts‹, specifically poetry, theatre and music.<br />
A section on Focusing in ›science and<br />
neuroscience‹ is followed by cross-cultural<br />
takes on the theory and practice of ›Thinking<br />
at the Edge‹ and a section on the significance<br />
of the body‘s knowing in ›ethics and<br />
decision-making‹. The volume concludes<br />
with an examination of Eugene Gendlin‘s<br />
contribution to Client-Centered Therapy and<br />
examples of how his work is now regarded<br />
by more recent theorists and practitioners of<br />
the Person-Centered Approach.<br />
Volume 2<br />
Contributors to this volume (e.g.): Ann Weiser Cornell,<br />
Frans Depestele, Akira Ikemi, Joan Klagsbrun,<br />
Nikolaos Kypriotakis, Nada Lou, Greg Madison,<br />
Barbara McGavin, Kathy McGuire, Atsmaout Perlstein,<br />
Campbell Purton, Bart Santen, Astrid Schillings,<br />
Donata Schoeller, René Veugelers, Johannes<br />
Wiltschko<br />
Contributors to this volume (e.g.): Peter Afford,<br />
Stephanie Aspin, Friedgard Blob, Peter Campbell<br />
(with John Keane and Dave Young), Mick Cooper,<br />
Leslie Ellis, Isabel Gascón Juste, Svetlana Kutokova,<br />
Nikolaos Kypriotakis, Mia Leijssen, Monika<br />
Lindner, Nada Lou, Judy Moore, Rob Parker, Yael<br />
Teff-Seker, Brian Thorne, Greg Walkerden<br />
6 focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021
Themen<br />
Vierzig Jahre Focusing – eine<br />
Essenz?<br />
■■<br />
Von Johannes Wiltschko<br />
Vor vierzig Jahren habe ich zusammen mit Friedhelm Köhne die Focusing Sommerschule erträumt und gegründet und sie<br />
bis heute 38-mal mit wechselnden Kollegen und nun zum zweiten Mal mit meiner Frau Katrin Tom-Wiltschko geleitet. Anlässlich<br />
dieses Jubiläums und nach 45jähriger Beschäftigung mit Focusing meinte sie, es wäre angebracht, einen Workshop<br />
über meine Essenz dessen, was Focusing ist, zu halten. Also gut.<br />
Naheliegenderweise begann ich den Workshop mit der Bemerkung, dass ich zwar irgendwie – aber wirklich nur irgendwie –<br />
verstehe, dass manche vermutlich hoffen werden, dass jetzt endlich jemand daherkommt, der klipp und klar sagen wird, was<br />
Focusing ist, aber dass dies zum Glück nicht geschehen wird. Und dass ich hoffe, dass auch kein anderer jemals versuchen<br />
würde, dies zu tun. Es würde also keine Essenz geben, sondern bloß einige »Essenzen«. Warum das meiner Meinung nach<br />
so ist und so sein soll, versprach ich, verständlich zu machen.<br />
Erste Essenz<br />
Wenn man das Wesentliche von etwas,<br />
das einem wichtig ist und woran das Herz<br />
hängt, herausfinden möchte, ist es meistens<br />
eine gute Idee, sich daran zu erinnern, wie es<br />
war, als man es zum ersten Mal erlebt hat. In<br />
meinem Fall, Focusing betreffend, war dies<br />
ein Tag im Jahr 1975 im Auditorium Maximum<br />
der Universität Zürich. Von diesem<br />
Tag habe ich in meinem Buch »Hilflosigkeit<br />
in Stärke verwandeln« 1 bereits erzählt.<br />
Hier nur so viel: An diesem Tag hörte und<br />
sah ich Gene Gendlin zum ersten Mal, als<br />
Hauptvortragenden auf einem Psychotherapiekongress.<br />
Der Titel seines Vortrags lautete »Keine<br />
Schule hat die ganze Wahrheit« – und<br />
so lautet auch meine erste Essenz. Schon<br />
dieser Titel und erst recht, was Gene dazu<br />
sagte, brachte für mich eine große Entspannung<br />
und Erleichterung, war ich doch seit<br />
fünf Jahren auf der vergeblichen Suche nach<br />
der einzig wahren psychotherapeutischen<br />
Schule. Und ich hatte schon einige kennengelernt:<br />
Analytische Psychologie nach C.G.<br />
Jung, freudianische Psychoanalyse, Daseinsanalyse<br />
nach Medard Boss, Gesprächspsychotherapie<br />
nach Carl Rogers. An allen diesen<br />
»Schulen« war, wie ich fand, etwas dran,<br />
aber etwas fehlte auch oder gefiel mir nicht.<br />
Genes Vortrag erlöste mich von der Illusion,<br />
ein perfektes, wahres »Ding« zu finden und<br />
zu meinem zukünftigen Beruf zu machen.<br />
Wenn keine Schule (Richtung, Ansatz,<br />
Methode …) die ganze Wahrheit hat, dann<br />
erübrigen sich auch jeglicher Anspruch auf<br />
Totalität und der diesbezügliche Wettbewerb<br />
zwischen den Schulen. Beides ist ohnehin<br />
mehr den versteckten sozialen und<br />
ökonomischen »Trieben« der Schulinhaber<br />
und ihrer Anhänger geschuldet als inhaltlichen<br />
und patientenorientierten Gesichtspunkten.<br />
Focusing, so Gendlin in seinem Vortrag,<br />
erlaube uns, in all diese Schulen hineinzuschauen<br />
und von ihnen mitzunehmen, was<br />
uns taugt. Diese kleptomanische Attitüde<br />
hat er natürlich gut begründet und gezeigt,<br />
dass das Resultat dieser Beutezüge nicht<br />
zu einem beliebigen eklektizistischen Blumenstrauß<br />
therapeutischer Techniken und<br />
Konzepte führen und im postmodernen Relativismus<br />
enden müsse. Focusing zeige uns<br />
nämlich, wie sich die einzelnen Stückchen<br />
so miteinander verbinden lassen, dass sie einem<br />
universalen, lebensfördernden Prozess<br />
dienen – dem Focusing-Prozess. Folglich<br />
begründet Focusing eine »Metapsychotherapie«,<br />
wie ich in meinen Büchern später<br />
versucht habe, aufzuzeigen. 2<br />
1 Wiltschko, J. Hilflosigkeit<br />
in Stärke verwandeln. Berlin:<br />
epubli bei Holtzbrinck<br />
2018, 3. Aufl. S. 31-42<br />
2 Ebd. S. 9-13 und Ich spüre,<br />
also bin ich! Berlin: epubli<br />
bei Holtzbrinck 2021, 3.<br />
Aufl. S. 10-12, 303-312<br />
focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021 7
Themen<br />
3 Aus: Wiltschko, J. Anfänger-Geist.<br />
Hinführungen<br />
zur Focusing-Therapie.<br />
Focusing-Bibliothek, Band<br />
I. Würzburg 1991. S. 70<br />
(vergriffen)<br />
Zweite Essenz<br />
Da uns die Antwort auf die Frage, was Focusing<br />
sei, regelmäßig ins Stottern bringt,<br />
sagt man gern, dass man es halt erleben<br />
müsse – am besten in einem entsprechenden<br />
Seminar. Das klingt nach einem billigen<br />
Verkaufstrick oder nach einer esoterischen<br />
Ausrede. Dann aber, wenn man Focusing<br />
praktizieren kann, ist es schon richtig, dass<br />
man mittels Focusing mehr und mehr herausfindet,<br />
welche Phänomene im oder hinter<br />
dem Wort »Focusing« stecken.<br />
Die Aussage, Focusing verstünde man<br />
erst, wenn man es mit Focusing untersucht,<br />
klingt natürlich wie ein logisches No-go. Ein<br />
typischer Zirkelschluss. Nichtsdestotrotz<br />
habe ich eines Nachts vor 35 Jahren folgendes<br />
niedergeschrieben:<br />
In welchen Sinnzusammenhang ist Focusing<br />
eingebettet? Auf welcher Sicherheit<br />
ruht es? Aus welchem Boden wächst es heraus?<br />
Und wohin will es? Kann ich dazu in<br />
mir Antworten finden, Antworten, die ihre<br />
Evidenz aus dem Erleben gewinnen und<br />
die nicht aus bloßen Worten bestehen, die<br />
keinen Boden haben? Gibt es in mir etwas,<br />
das sicher und beständig ist, etwas, dem ich<br />
trauen kann und treu bleibe? Wo wohnt meine<br />
Ruhe, meine Selbstverständlichkeit?<br />
Diesen Fragen nachzugehen, bringt mit<br />
sich, mich sinken zu lassen, tief, unsicher, ob<br />
ich einen Grund erreichen werde. Und dabei<br />
entdecke ich, dass ein Grund von selbst<br />
und für sich gar nicht da ist. Ich erschaffe<br />
ihn, indem ich hinabspüre und Worte emporwachsen<br />
lasse. Dieses Geschehen lässt<br />
Grund entstehen, einen Boden, der sicher<br />
trägt, und eine Atmosphäre, die den Atem<br />
frei macht, eine Welt, die von Sinn erfüllt<br />
ist. Nicht die Worte machen Sinn, nicht die<br />
durch diese Worte ausgedrückte Anschauung<br />
ist die Welt, nicht das denkende Spiel mit Begriffen,<br />
Vorstellungen und Modellen ist die<br />
Wirklichkeit. Nein, es ist nur das Geschehen<br />
selbst, das, was wir »Prozess« nennen, nur<br />
das ist es, was Wirklichkeit, Sinn, Ruhe und<br />
Selbstverständlichkeit stiftet. 3<br />
Meine zweite Essenz lautet daher: Was Focusing<br />
ist, lässt sich nur mit Focusing erfahren.<br />
Das enthebt uns natürlich nicht der<br />
Versuche, mit Worten darauf hinzuweisen,<br />
wie Focusing und die subtilen Prozesse, die<br />
es ausmachen, vor sich gehen.<br />
Dritte Essenz<br />
Dass ich das damals so schreiben konnte,<br />
verdanke ich einer zweiten, für mich umstürzenden<br />
Erfahrung, die ich in der Erstbegegnung<br />
mit Gene in Zürich machen<br />
durfte. Während seines Vortrags empfahl<br />
er den Hunderten Zuhörern, für ein paar<br />
Minuten die Augen zu schließen und zu<br />
bemerken, wie es innerlich gerade so ist,<br />
und damit ein wenig Zeit zu verbringen. Ich<br />
versuchte es: Das scheinbar chaotische Gedankengewusel,<br />
das Gewirr nicht fassbarer<br />
Empfindungen versetzte mich in Panik, zugleich<br />
aber ahnte ich die Power, die Potenz,<br />
die in diesem beängstigenden Erleben steckte.<br />
Und ich ahnte, was Gene damit meinte,<br />
wenn er diese Art des Erlebens als die Quelle<br />
schlechthin für Entwicklung, persönliches<br />
Wachstum, therapeutische Schritte und Erkenntnisfortschritt<br />
bezeichnete.<br />
8 focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021
Themen<br />
Zum ersten Mal fühlte ich mich in meinem<br />
diffusen und zugleich irgendwie reichhaltigen<br />
Innenleben erkannt. Es beruhigte<br />
mich, dass jemand zu verstehen gab, es sei<br />
in Ordnung und vielleicht sogar sinn- und<br />
wertvoll. Dieser Erfahrung entstammt meine<br />
dritte Essenz: Einsichten, Welt- und<br />
Selbstverständnis, kommen nicht primär<br />
aus Konzepten und deren Studium, sondern<br />
aus der Quelle unmittelbaren Erlebens.<br />
Vierte Essenz<br />
Wenn man einer Philosophin – ich meine<br />
natürlich Donata Schoeller – zuhört, wie sie<br />
über Focusing spricht, hört man Sätze, die<br />
andere Aspekte des Focusing hervorheben,<br />
als wenn man mir als Psychotherapeuten<br />
zuhört oder einem Menschen, der Wert auf<br />
»Spirituelles« legt, oder jemandem, der versucht,<br />
Focusing im Wirtschaftsleben anzuwenden.<br />
Das sind natürlich sehr grobe Kategorien,<br />
aber sie sind immerhin Beispiele<br />
für die Tatsache, dass Focusing immer nur<br />
in einer konkreten Situation geschieht und<br />
dass die jeweilige Situation das Sosein des<br />
Focusing mitbestimmt, ebenso wie Focusing<br />
die Situation beeinflusst.<br />
Meine vierte Essenz ist: Focusing gibt<br />
es nicht »an sich« – unabhängig von der<br />
Perspektive, aus der und mit der man es<br />
betrachtet, erlebt, erforscht und anwendet.<br />
Dennoch, so behaupte ich, würde jeder,<br />
der Focusing kennt und an einer x-beliebigen<br />
Situation teilnimmt oder sie beobachtet,<br />
in der vorgegeben wird, es würde Focusing<br />
angewendet werden, feststellen können, ob<br />
das, was vorgeht, focusingorientiert ist oder<br />
nicht. Neil Friedman sagte einmal, man<br />
würde Focusing am flavour, am Geschmack<br />
erkennen und nicht an einzeln aufzählbaren<br />
expliziten Kriterien. Geschmack, das ist<br />
eine intricate pre-seperate multiplicity, eine<br />
komplexe ungeteilte Vielheit, eine implizit<br />
gespürte Evidenz, die beim Versuch, sie in<br />
Bestandteile zu zerlegen, verloren ginge.<br />
Wenn wir also Worte finden wollen, die<br />
etwas von Focusing sagen, dann müssen wir<br />
schon in diese gespürte Evidenz hineingehen<br />
und von dort die passenden Worte kommen<br />
lassen. Focusing von außen wie ein »Ding«<br />
zu beschreiben, wird nicht erhellen, was mit<br />
dem Wort Focusing gemeint ist.<br />
Jede Person bezieht sich aufgrund ihrer<br />
Einzigartigkeit auf ihre ganz spezielle Weise<br />
auf das, was Focusing ist. Die Personen<br />
könnten sich zwar dann in einer großen<br />
Konferenz auf eine explizite Definition von<br />
Focusing einigen, aber ich kann nur hoffen,<br />
dass das niemals geschehen wird. Dann<br />
nämlich wäre Focusing tot.<br />
Fünfte Essenz<br />
Auch deshalb betonte Gene Gendlin bei jeder<br />
Gelegenheit, dass Focusing keiner einzelnen<br />
Person und auch keiner einzelnen<br />
Gruppe »gehöre«. Er sagte: »Wir werden<br />
es alle zusammen weiter fortsetzen, und es<br />
wird sich immer weiter und weiter entwickeln.«<br />
Das ist meine fünfte Essenz.<br />
Und die ist natürlich ein politisches<br />
Statement. Sie wendet sich gegen die Deutungshoheit<br />
und den Machtanspruch Einzelner<br />
und schiebt damit der Dogmatisierung<br />
und Kanonisierung des Focusing einen<br />
Riegel vor. Und sie drückt eine politische<br />
Haltung aus, die weit über Focusing hinausgeht.<br />
Als ich vor vier Jahrzehnten damit<br />
begonnen habe, Focusing in den deutschsprachigen<br />
Ländern bekannt zu machen,<br />
war mir daher von Anfang an klar, dass<br />
ich jede Monopolisierung des Focusing<br />
ablehnen würde. Ich wollte niemals eine<br />
»Deutsche Gesellschaft für …« oder einen<br />
nationalen oder übernationalen »e.V.<br />
für …« gründen, ich wollte kein Präsident<br />
oder Obmann etc. des Focusing sein und<br />
ich wollte auch nicht, dass jemand anderer<br />
so etwas anstrebt. Und ich war froh, dass<br />
Gene Gendlin immer ziemlich heftig dagegen<br />
protestiert hat, wenn das jemand sein<br />
oder werden wollte.<br />
Was ich aber wollte und will, ist, mir die<br />
Menschen selbst auszusuchen, mit denen<br />
ich zusammenarbeiten möchte. Das habe<br />
ich auch für die Focusing Sommerschule,<br />
das Deutsche Ausbildungsinstitut für Focusing<br />
und Focusing-Therapie (DAF) und für<br />
die DAF-AKADEMIE in Anspruch genommen.<br />
Meine Vorstellung von »Organisation«<br />
war und ist, dass sie sich in Wechselwirkung<br />
mit den Inhalten, die sie vertritt, und mit<br />
den Menschen, die diese Inhalte repräsentieren,<br />
verändern und entwickeln sollte.<br />
Das setzt voraus, dass die Gruppe von Menschen,<br />
die die Organisation bildet, klein und<br />
überschaubar bleibt, damit die Beziehungen<br />
und der Austausch untereinander das organisatorische<br />
Bindemittel sind – und nicht<br />
bürokratische Regelungen und scheindemokratische<br />
Abstimmungen.<br />
Dass deshalb diese Art von Organisation<br />
immer wieder zu Abspaltungen einzelner<br />
Als ich vor vier<br />
Jahrzehnten damit<br />
begonnen habe,<br />
Focusing in den<br />
deutschsprachigen<br />
Ländern bekannt<br />
zu machen, war mir<br />
daher von Anfang<br />
an klar, dass ich<br />
jede Monopolisierung<br />
des Focusing<br />
ablehnen würde.<br />
Meine Vorstellung<br />
von »Organisation«<br />
war und ist, dass<br />
sie sich in Wechselwirkung<br />
mit den<br />
Inhalten, die sie<br />
vertritt, und mit den<br />
Menschen, die diese<br />
Inhalte repräsentieren,<br />
verändern<br />
und entwickeln<br />
sollte.<br />
focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021 9
Themen<br />
Wenn diese Essenz<br />
endlich kein Geheimrezept<br />
mehr<br />
wäre, sondern jeder<br />
sie kennen und mit<br />
ihrer Hilfe »kochen«<br />
würde, wäre die<br />
Welt anders.<br />
Personen führt und führen muss, muss man<br />
in Kauf nehmen und aushalten wollen. Natürlich<br />
ist das oftmals mit Kränkungen und<br />
Schmerzen auf beiden Seiten verbunden,<br />
aber es kann auch zu neuen Freiräumen<br />
führen, in denen sich die Focusing-»Kultur«<br />
diversifizieren kann und so lebendig bleibt.<br />
Viele der Gruppen und Personen, die sich<br />
mit Focusing beschäftigen oder in Focusing<br />
ausbilden, stammen von der Sommerschule<br />
ab. Dass die jüngste dieser Abspaltungen<br />
zu einer zweiten »Internationalen Focusing<br />
Sommerschule« geführt hat, die, obwohl<br />
soeben erst ins Leben gerufen, auch vierzigjähriges<br />
Jubiläum feiert, ist eine nicht justiziable<br />
Chuzpe – aber okay, auch sie wird<br />
einen Raum für eine bestimmte Art von Focusing<br />
bereitstellen.<br />
Wenn es so ist, dass Focusing nicht unabhängig<br />
von der Perspektive und von den<br />
jeweiligen Situationen und Personen ist,<br />
dann ist ganz klar, dass ich nicht einfach<br />
daherkommen und jetzt, in dieser Situation,<br />
sagen kann, was die Essenz, also das<br />
Wesen, der Kern von Focusing ist. Was ich<br />
bestenfalls kann, ist, einige der augenblicklichen<br />
Essenzen darzustellen, die meinen<br />
Geschmack von Focusing bestimmen. Essenzen,<br />
verstanden als Konzentrate, die, mit<br />
anderem vermischt, z.B. geschmackvolle<br />
Suppen ergeben.<br />
Sechste Essenz<br />
Eine weitere dieser Essenzen ist folgende:<br />
Was ich erlebe, hängt davon ab, WIE ich<br />
mit ihm in Beziehung trete.<br />
Wenn diese Essenz endlich kein Geheimrezept<br />
mehr wäre, sondern jeder sie<br />
kennen und mit ihrer Hilfe »kochen« würde,<br />
wäre die Welt anders. Ich habe diese<br />
Essenz schon oft beschrieben: Je nachdem,<br />
wie ich auf etwas zugehe, so kommt es mir<br />
entgegen. Oder: Die Art und Weise meiner<br />
Beziehung zu etwas konstelliert dieses Etwas<br />
mit. Oder: Das Beobachtete ist nicht unabhängig<br />
vom Beobachter.<br />
Dieses »Gesetz« gilt zumindest für die<br />
subatomare Welt und für die Innenwelt, für<br />
all das, was wir Erleben nennen. Geläufige<br />
Slogans dafür sind »Wie vor Was«, »Beziehung<br />
vor Inhalt« oder Gendlins Aussage<br />
»Erlebensinhalte sind Prozessaspekte«.<br />
Im Focusing ändern wir folglich nicht das<br />
»Was« (die Erlebensinhalte, die Verhaltensformen),<br />
sondern das »Wie« (die Beziehung<br />
zu ihnen). Dadurch ändern sich auch die Inhalte.<br />
Deshalb erst wird focusingorientierte<br />
(oder jede?) Psychotherapie wirksam. Deshalb<br />
kann im Focusing vergangenes Erleben<br />
jetzt verändert werden.<br />
Dieses Gesetz gilt selbstverständlich<br />
auch für die WAS-Aspekte des Focusing<br />
selbst, also für Focusing als Inhalt, auf den<br />
man sich so oder so beziehen kann. Und<br />
dieses Gesetz ist allen meinen Essenzen inhärent,<br />
besonders auch der nächsten.<br />
Siebente Essenz<br />
Wenn die Beziehung, das Verhältnis zu etwas,<br />
so entscheidend ist, fragt sich natürlich,<br />
ob es so etwas wie ein optimales Verhältnis<br />
gibt. Jedenfalls, was die für Focusing besonders<br />
zentralen Verhältnisse betrifft: das Verhältnis<br />
zwischen mir (meinem »Ich«) und<br />
dem, was ich erlebe (fühle, spüre, denke,<br />
tue, …), und das Verhältnis zwischen mir<br />
und der Person, die ich in ihrem Focusing-<br />
Prozess begleite. Ich habe nach vielen Jahren<br />
Focusing-Praxis etwas, das für Focusing-<br />
Leute selbstverständlich klingen mag, zu<br />
meiner Hauptessenz erkoren: Die »produktivste«<br />
dieser Beziehungsformen ist Mit-<br />
Sein.<br />
10 focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021
Hier sind einige Aspekte dessen, was für<br />
mich Mit-Sein bedeutet (dabei spreche ich<br />
auch einen Erlebensinhalt meistens mit Du<br />
an, als wäre er eine Person):<br />
––<br />
Es (was immer ich gerade erlebe) darf<br />
da sein – und ich bin auch da.<br />
––<br />
Ich bin da – und du bist auch da.<br />
––<br />
Um zu bemerken, dass ich auch da bin,<br />
kann es erforderlich sein, mich von<br />
meinem Erlebensinhalt zu disidentifizieren.<br />
––<br />
Nur wenn beide da sind (ich und etwas,<br />
ich und du), ist Beziehung möglich.<br />
––<br />
Es ist (Du bist) da – und ich habe meinen<br />
Atem, ich atme.<br />
––<br />
Ich bin da – ohne etwas von ihm / von dir<br />
zu wollen. Ich bin einfach da.<br />
––<br />
Ich bin da – ohne Absichten.<br />
––<br />
Ich bin mit dir da – du hast deinen dir<br />
eigenen Platz, und ich habe den mir eigenen<br />
Platz.<br />
––<br />
Ich setze mich zu dir – neben dich, nicht<br />
zu nah, nicht zu weit entfernt.<br />
––<br />
Ich bin mit dir in Tuchfühlung.<br />
––<br />
Ich fühle dich unmittelbar, ohne etwas<br />
(Konzepte, Methoden, …) dazwischenkommen<br />
zu lassen.<br />
––<br />
Denn: Es ist schon alles da. Ich tue nichts<br />
dazu, ich mache nicht mit dir herum.<br />
––<br />
Wir sind auf Augenhöhe.<br />
––<br />
…<br />
Es hat mich immer wieder überrascht und<br />
tief bewegt, dass Mit-Sein schon alles ist.<br />
Dass im Mit-Sein Wandel geschieht, dass<br />
sich im Mit-Sein die Schritte einstellen, die<br />
Festgefahrenes und daher meist Leidvolles<br />
weiterfließen lassen in eine wohltuende, lebensvolle<br />
Richtung. Allerdings ist es nicht<br />
immer leicht, zum Sein mit etwas (in mir)<br />
oder mit jemandem zu gelangen, denn dazu<br />
braucht es immer zwei – zwei, die es wollen<br />
und zulassen können. Und dorthin ist es<br />
manchmal ein längerer Weg.<br />
Achte Essenz<br />
Mit-Sein erfordert ein spezifisches Verständnis<br />
dessen, was gewöhnlich als Achtsamkeit<br />
bezeichnet wird. Die Wörter Achtsamkeit<br />
oder mindfulness kommen bei Gendlin<br />
nicht vor. Aus gutem Grund, weil diese<br />
Wörter ideologisch durchtränkt sind und<br />
inzwischen in den verschiedensten Kontexten<br />
unterschiedlich gebraucht werden. Bei<br />
Gendlin heißt es einfach »put your attention<br />
in your body …«, oder: »Bemerke, was<br />
gerade innen, in deinem Körper geschieht.«<br />
Focusing wurde im Westen gefunden und<br />
entwickelt, basierend auf europäischer Philosophie,<br />
auch wenn es Kenner östlicher<br />
Weisheitslehren an einige ihrer Konzepte<br />
und Praktiken erinnern mag.<br />
Die Wortbildung »Achtsamkeit« drückt<br />
ein Abstraktum aus; im Focusing meinen<br />
wir damit aber eine konkrete Form des<br />
Handelns und Seins, daher würde – wenn<br />
schon – das Substantiv »Achtsamsein« besser<br />
passen. Zudem wird Achtsamkeit oft als<br />
eine Art Selbstbeobachtung verstanden. So<br />
als würde man »da oben« (im Kopf, in den<br />
Augen) wohnen und von dort in sich hinabschauen<br />
und beobachten und bezeugen wollen,<br />
was »dort unten« (im Körper) vor sich<br />
geht. Daher kommt es auch, dass manche<br />
vom »inneren Zeugen« sprechen.<br />
Für uns »Westler« ist es sehr naheliegend,<br />
Achtsamkeit auf diese Weise zu<br />
praktizieren, aber es ist nicht das, was ich<br />
mit Mit-Sein meine. Mit-Sein setzt voraus,<br />
dass ich das, womit ich sein möchte, besuchen<br />
gehe. Ich möchte es dort besuchen, wo<br />
es ist. Und ich gehe dorthin, nicht um es zu<br />
beobachten oder zu bezeugen, sondern um<br />
mit dem, was dort ist, zu sein. Da es im Focusing<br />
sehr oft um etwas geht, das sich im<br />
von innen gefühlten Körper zeigt, ist es sehr<br />
vorteilhaft, wenn »das Ich« vom Oberstübchen<br />
in den Körper umzieht. Das ist meine<br />
achte Essenz.<br />
Im ersten Moment scheint dieser Umzug<br />
von der oberen Etage in eine untere<br />
mysteriös zu sein. Er ist nur »von innen«<br />
nachvollziehbar und kann nur als etwas<br />
Gespürtes geschehen: indem ich mich entspanne,<br />
atme, meine Aufmerksamkeit an<br />
das Atmen hefte und mit dem Atem – wie<br />
in einem Fahrstuhl – hinunter in den Brust-<br />
Bauchraum fahre. Das fühlt sich an wie das<br />
Sinken des wahrnehmenden Ichs in eine tiefe<br />
Geborgenheit. Erst wenn es dort wohnt,<br />
ist es in der Lage, Besuche auf Augenhöhe<br />
abzustatten und mitzusein.<br />
Eine These<br />
Vor vielen Jahren habe ich einen Satz konstruiert,<br />
der mir bis heute gut gefällt und der<br />
etwas für mich, mein Leben und mein Arbeiten<br />
Wichtiges ausdrückt. Da er nicht unmittelbar<br />
mit Focusing zu tun hat, firmiert er<br />
hier nicht als Essenz, sondern als These. Sie<br />
lautet: Nichts, dessen Gegenteil falsch ist,<br />
ist wahr. Natürlich ist das eine Behauptung.<br />
Und ich bin mir nicht sicher, ob sie immer<br />
Themen<br />
Es hat mich immer<br />
wieder überrascht<br />
und tief bewegt,<br />
dass Mit-Sein<br />
schon alles ist.<br />
Das fühlt sich an<br />
wie das Sinken des<br />
wahrnehmenden<br />
Ichs in eine tiefe<br />
Geborgenheit.<br />
focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021 11
Themen<br />
Prof. Dr. Johannes<br />
Wiltschko<br />
Leiter der DAF-AKADEMIE<br />
jw@daf-focusing-akademie.<br />
com<br />
stimmt. Das Schöne ist, dass sie selbst mit<br />
dieser Unsicherheit schwanger geht.<br />
Dieses Schwangersein mit den eigenen<br />
Gegenteilen hat mich vor ein paar Tagen<br />
auf die Idee gebracht, dem uns Focusing-<br />
Leuten bekannten Gendlinschen Crossing<br />
das Tilting als eine Art Spezialfall des Crossing<br />
zur Seite zu stellen. Tilting meint, einen<br />
Satz in sein Gegenteil umkippen zu lassen.<br />
Crossing wie Tilting geschieht nicht durch<br />
logische Operationen, sondern geht durch<br />
den Felt Sense. Nur dort findet das Kreuzen<br />
und das Kippenlassen statt. Focusing- und<br />
TAE-Geübte werden bemerken, dass im Tilting<br />
fast immer mehrere Versionen möglich<br />
sind. Jede Version kann aus dem impliziten<br />
Gespür eines Satzes eine »Wahrheit« explizieren<br />
und zur Sprache bringen.<br />
Diese Praxis würde uns davor bewahren,<br />
uns mit Einseitigkeiten und Eindeutigkeiten<br />
zu identifizieren und Echokammern<br />
zu bewohnen. Auch Focusing kann eine solche<br />
werden, wenn wir nicht aufpassen.<br />
Neunte Essenz<br />
Gene Gendlin hat oft gesagt, besonders auf<br />
Psychotherapiekongressen, dass Focusing<br />
bloß ein kleines Stückchen sei, ein Stückchen,<br />
das er gefunden und jetzt anderen<br />
zeigen und übergeben könne. Alle könnten<br />
das, was sie schon haben, wissen und können,<br />
behalten – und dann, wenn sie wollen,<br />
könnten sie das kleine Focusing-Stückchen<br />
noch dazunehmen. Das klingt sehr bescheiden<br />
und sehr liberal. Aber dann hat er –<br />
nicht immer, aber manchmal – mit kaum<br />
merkbarem verschmitztem Lächeln hinzugefügt:<br />
»Wenn Sie das tun, wird sich Ihre<br />
ganze Arbeitsweise langsam verändern.«<br />
Deshalb klingt meine neunte Essenz<br />
so: Focusing ist nicht alles, aber ohne Focusing<br />
ist (fast) alles nichts. Dieser Satz<br />
schreit geradezu danach, gekippt zu werden.<br />
Wenn Sie ihn in seine verschiedenen Gegenteile<br />
kippen lassen, werden Sie noch eine<br />
ganze Menge über Focusing erfahren.<br />
Versuchen Sie es! Daraus ließen sich<br />
dann sicherlich weitere Essenzen ableiten.<br />
Ich lasse es für heute mit der neunten bewenden.<br />
12 focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021
Themen<br />
Achtsamkeit – der psychospirituelle<br />
Fokus buddhistischer<br />
Körper(psycho)therapie<br />
■■<br />
Von Jörg-M. Wolters<br />
Achtsamkeit, Gewahrsein, Bewusstheit<br />
– psychotherapeutische wie spirituelle<br />
Methoden fernöstlicher Weg-Lehren<br />
und Heilkunstverfahren stehen im Zentrum<br />
des Bemühens um individuelles Wachstum,<br />
Minderung von Leiden und »erlebnisintensiver«<br />
Sinnstiftung auch und gerade über<br />
Körper- und Bewegungsarbeit. Auch Budopädagogik<br />
und Budotherapie, also auf<br />
»Budo« (originäre japanische Kampfkunst<br />
und ihre zen-buddhistische Philosophie<br />
und Übungs-Praxis) basierende Ansätze,<br />
vermitteln und fördern eher »geistige« (»innere«)<br />
als physisch-technisch (»äußere«)<br />
Selbst-Entwicklung 1 .<br />
Damit sind die traditionellen asiatischen<br />
Budo-Kampfkünste in ihrem eigentlichen<br />
Wesen als Persönlichkeitsschulung<br />
und »Seins«- bzw. Lebensphilosophie<br />
weit entfernt von irgendwelchem sportlichen<br />
Leistungsdenken moderner Wettkampfsportarten.<br />
Und erst recht lehren sie<br />
im Unterschied zu ihnen den »Sieg über sich<br />
selbst« 2 , nicht den Sieg über Gegner, lehren<br />
moralisch-ethische »Samurai-Tugenden« 3 ,<br />
Gewaltverzicht, Güte und Nächstenliebe,<br />
und nicht feindseliges Konkurrenzdenken<br />
oder aggressives Verhalten.<br />
Die Budo-Übungen im Kontext von<br />
Bewegung, Begegnung und Besinnung sind<br />
alle auf »Konzentration des Geistes« angelegt,<br />
haben primär Achtsamkeitstraining,<br />
das Erleben und sinnliches Gewahrsein sowie<br />
das Erlernen und die Erweiterung des<br />
Bewusst-Seins im Fokus.<br />
Die Anmerkungen finden Sie am Schluss des Beitrages,<br />
Seite 15-16.<br />
focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021 13
Themen<br />
Der Körper als beseelter Leib und seine<br />
systematische Bewegung dienen als Instrument<br />
zur »Kontrolle« der Psyche, also<br />
psychophysischer wie psychoemotionaler<br />
(»innerer«) Vorgänge, des Denkens und<br />
Wollens sowie der Emotionen und Gefühle<br />
– und des rechten Verhaltens. Die durch<br />
»Meister« geführte Selbsterfahrung und<br />
Selbstforschung der Schüler (Klienten, Patienten)<br />
– eben sich selbst, sein »Ich« (Sein<br />
und Erleben) zu beobachten und zu fühlen,<br />
ebenso seine Partner und Interaktionen miteinander<br />
(Kooperation) – sind Prozesse der<br />
körper(psycho)therapeutischen wie auch<br />
spirituellen »Arbeit am Selbst«. Die Verbesserung<br />
körperlich-technischer Fertigkeiten,<br />
das physische »Können«, ist ein Nebenprodukt<br />
dieser »geistigen« Schulung und nicht<br />
etwa Selbstzweck. Nicht das Ergebnis zählt,<br />
sondern der Weg dorthin (jap. »Do«) 4 .<br />
Budopädagogik und Budotherapie<br />
Budo als insofern »helfende« oder »heilsame«<br />
Kampfkunst 5 und Grundlage des professionellen<br />
pädagogischen oder therapeutischen<br />
Anwendungsgebiets hat ebenso wie<br />
die achtsamkeitsbasierte Psychotherapie<br />
(MBPT) und ihr Vorläufer, die achtsamkeitsbasierte<br />
Stressreduktion (MBSR) von<br />
Jon Kabat-Zinn 6 , ihre Wurzeln in der vor<br />
allem fernöstlichen Meditationskultur und<br />
der vor allem im Zen-Buddhismus seit 1500<br />
Jahren praktizierten gezielten Aufmerksamkeitslenkung<br />
7 , bei der man bewusst<br />
(»außen« und »innen«) wahrnimmt, was<br />
im gegenwärtigen Moment ist (»hier und<br />
jetzt«), ohne zu urteilen oder zu bewerten<br />
(Akzeptanz). Nur, dass diese Meditation<br />
im Budo in der besonders »energetischen«<br />
(jap.: Ki, chin.: Chi) Bewegung mit speziellen<br />
Kampfkunst-Elementen (z.B. Aiki-do,<br />
Iai-do, Judo-do, Karate-do, Shaolin Chuan,<br />
Tai Chi, Yoga) als eben »bewegte Körper«-<br />
Meditation gelehrt und geübt wird.<br />
Während in der präventiven, ressourcenorientierten<br />
Budopädagogik 8 und ihren<br />
Lernarrangements »Ich-Findung« und<br />
-»Stabilisierung«, positive Selbstwahrnehmung,<br />
Selbstwirksamkeitserleben sowie<br />
kooperativ-wohlwollendes und vor allem<br />
faires und friedfertiges Sozialverhalten 9 im<br />
Vordergrund stehen, geht es in der Budotherapie<br />
um störungsspezifische Heilbehandlungssettings,<br />
erlittene Behinderungen,<br />
Krankheiten und Verletzungen, physische<br />
wie psychische, positiv zu beeinflussen. Und<br />
in seiner letztendlich spirituellen Dimension<br />
will Budotherapie als Lebens-Lehre und<br />
Lebens-Coaching mit buddhistischer Theorie<br />
und Praxis Leiden und Leid lindern oder<br />
verhindern und »Glück« als Ergebnis eigener<br />
»geistiger« Entscheidung verwirklichen<br />
helfen 10 .<br />
Budo als daoistische Weg-Lehre von<br />
»esoterischer Kampfkunst« 11 , und »professionelles<br />
Budo« in sozial- und sonderpädagogischer<br />
oder gar klinischer körper(psycho)<br />
therapeutischer Anwendung 12 bauen auf die<br />
Wirkung des »Wahr-Nehmens«, konzentrierten<br />
Spürens, bewussten Erlebens und<br />
somit auf gefördertes Erkennen (Einsicht,<br />
Erwachen/»Erleuchtung«) vom unmittelbaren<br />
Sein und Tun, von Welt und aktueller<br />
Wirklichkeit.<br />
Bewegungs-Meditation<br />
Während klassisches Tai Chi, Qi Gong und<br />
originäres Yoga bekannte Formen einer<br />
»Bewegungs-Meditation« im weiteren Sinne<br />
sind, bei denen Bewegung und Körperhaltungen<br />
in meditativer Bewusstheit, bewusster<br />
Gemütseinstellung und in Achtsamkeit<br />
ausgeführt werden, sind die asiatischen Budokünste<br />
in ihrer Qualität als »dynamische<br />
Meditation« weniger bekannt. Das liegt an<br />
ihrer massenhaft verfremdenden Versportung<br />
13 und modernen Missinterpretation,<br />
die die traditionellen Kampfkünste und ihren<br />
besonderen Wert systematisch und »auf<br />
unerträgliche Weise« 14 degenerieren 15 und<br />
völlig entarten. Im Kern aber sind die Budo-<br />
Künste »dynamisches Zen«.<br />
»Ken – Zen – ichi«, wie das berühmte<br />
Zitat von Zen-Meister Takuan (1573-1645)<br />
bereits erklärt: »Schwert und Zen sind eins.«<br />
Demnach geht es in der wahren Kunst des<br />
Kampfes 16 (mit Schwert oder Faust, jap.:<br />
Ken) ebenso wie in den Übungen des Zen<br />
(z.B. Sitzmeditation Zazen oder Gehmeditation<br />
Kinhin) gleichermaßen darum, sein<br />
»Ich zu besiegen, das mit seinen unzähligen<br />
inneren Antrieben den Geist und die Handlung<br />
des Menschen verwirrt und der wahren<br />
Verwirklichung seines Eigenwesens ewig im<br />
Wege steht« 17 . Dies ist übrigens allen Weg<br />
(jap.: Do)-Künsten zu eigen, in denen die<br />
jeweilige Handwerkskunst sich im Herstellungsprozess,<br />
der korrekten und ästhetischen<br />
Aus-»Übung«, und weniger am Endprodukt<br />
erweist, wie bei der Kunst bzw. dem<br />
Weg der Kalligraphie (Sho-do), des Tees<br />
(Sa-do) oder der Blumen (Ka-do). Und, wie<br />
eine japanische Samurai-Weisheit sagt, »ge-<br />
14 focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021
Themen<br />
hören die schönen Künste und die Kampfkünste<br />
zusammen«: »Bun Bu ryo Do« 18 .<br />
Beim japanischen Zen-Bogenschießen<br />
(Kyu-do), der Kunst des Schwert-Ziehens<br />
(Iai-do), -Schneidens (Batto-do) oder<br />
-Kämpfens (Ken-do) geht es immer um die<br />
korrekte äußere und innere Haltung, also<br />
den im ästhetischen Außen (im Körper, in<br />
der Technik) erkennbaren rechten inneren<br />
(geistig-meditativen) Gemüts- und Bewusstseinszustand<br />
des Ausübenden. Nur im<br />
Gleichgewicht von Körper und Geist, wenn<br />
wir in unserer Mitte sind, wenn Denken,<br />
Handeln, Fühlen, Wollen und Sein eins sind,<br />
wenn wir in unserem Tun frei und vollkommen<br />
aufgehen, wenn »nicht Ich sondern Es<br />
den Bogen schießt« 19 , kann die Übung gelingen<br />
und ein Meisterwerk (und Meisterschaft)<br />
entstehen.<br />
Insofern sind im Budo alle Bewegungen,<br />
Positionen, Schritte, Techniken und Technikfolgen<br />
(mit und ohne Waffen), Ablaufformen,<br />
Partnerübungen und Zweikämpfe<br />
nur Mittel zum Zweck, seinen Geist zu<br />
kontrollieren, sich selbst und sein Tun in<br />
vollem Bewusst-Sein in Einklang zu bringen<br />
20 . Gelenkte Achtsamkeit zur ungetrübten<br />
Selbst- und Umweltwahrnehmung, und<br />
das im eigenen Bewegungsfluss oder sogar<br />
in spontaner Interaktion mit einem Gegenüber<br />
– und vor allem seine Angst oder Wut,<br />
auch Geltungssucht oder Neid usw. dabei zu<br />
sehen und zu kontrollieren – stehen im Fokus<br />
der Budo-(Meditations)-Übungen. Das<br />
ist »der Sieg über sich selbst« …<br />
Kein Wunder also, dass »Kampfkunst als<br />
Therapie« 21 eine erfolgreiche Methode ist,<br />
über im Budo angelegte Achtsamkeits- und<br />
Bewusstseinsschulung 22 Selbst-Erleben und<br />
Selbst-Findung zu initiieren sowie über<br />
sensible Wahrnehmungserfahrungen »vom<br />
ICH zum DU zum WIR« zu gelangen und<br />
ein durch diese Meditationen im Budo gereifter<br />
»Friedvoller Krieger« zu werden, der<br />
sein eigenes Einssein und sein Einssein mit<br />
seiner Mitwelt begreift und neuen, alles<br />
wertschätzenden Lebens-Sinn findet 23 . Dies<br />
ist der psycho-spirituelle Fokus des Budo –<br />
auch und erst recht in professionell 24 helfender<br />
oder heilender Anwendung.<br />
Anmerkungen<br />
1 Wolters, J.-M. / Dorn, C. (Hrsg.): Budo – Wesen<br />
und Wirken der Kampfkunst; Norderstedt 2020<br />
2 Grundmann, M.: Die Niederlage ist ein Sieg;<br />
Düsseldorf 1983<br />
3 Wolters, J.-M.: Samurai-Tugenden und Psychotherapie<br />
heute; in: Ursache & Wirkung. Zeitschrift<br />
für Gesellschaft, Gesundheit, Spiritualität, Ökologie,<br />
Kultur und Politik aus buddhistischer Sicht;<br />
7/2020, online<br />
4 Möhle, K.: Der Do der Kampfkunst und die<br />
Entwicklung einer Lebensform der Achtsamkeit;<br />
LIT-Verlag 2011; Schottelius, S.: Do – Der Weg<br />
zur inneren Meisterin. Kampfkunst-Philosophie<br />
fürs Leben; tao.de in J. Kamphausen Mediengruppe,<br />
2015<br />
focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021 15
Themen<br />
Dr. phil. Jörg-M.<br />
Wolters<br />
Leiter des Institut für Budo–<br />
pädagogik und -therapie (IfBP),<br />
Akademischer Lehrer und<br />
Klinischer Therapeut im Fachbereich<br />
Kinder- u. Jugendpsychiatrie,<br />
Psychotherapie und<br />
Psychosomatik, Kampfkunst-<br />
Lehrmeister, 7. Dan Hanshi<br />
https://budopaedagogik.de/<br />
info@budopaedagogik.de<br />
5 Wolters, J.-M.: Budopädagogik und -therapie:<br />
Wie Kampfkunst hilft und heilt; in: Ursache &<br />
Wirkung. Zeitschrift für Gesellschaft, Gesundheit,<br />
Spiritualität, Ökologie, Kultur und Politik aus<br />
buddhistischer Sicht; 5/2021, online<br />
6 Kabat-Zinn, J.: Gesund durch Meditation. Full<br />
Catastrophe Living. Das vollständige Grundlagenwerk.<br />
Erste vollständige Ausgabe. Otto Wilhelm<br />
Barth, München 2011<br />
7 Suzuki, D.: Zen und die Kultur Japans; Hamburg<br />
1958<br />
8 Wolters, J.-M. / Schröder, J.: Budopädagogik;<br />
Norderstedt/Hamburg<br />
9 Neumann, U.: Der friedliche Krieger: Budo als<br />
Methode zur Gewaltprävention; Marburg 2007<br />
10 Wolters, J.-M.: Buddhistische Kampfkunst & Psychologie<br />
als Lebensweg & Heilkunst; in: Ursache<br />
& Wirkung. Zeitschrift für Gesellschaft, Gesundheit,<br />
Spiritualität, Ökologie, Kultur und Politik aus<br />
buddhistischer Sicht; 05/2020; online<br />
11 Lind, W.: Budo. Der geistige Weg der Kampfkünste;<br />
Berlin 1992<br />
12 Bewegung – Begegnung – Besinnung. Budo als<br />
Körper(psycho)therapie in der Kinder- u. Jugendpsychiatrie;<br />
in: körper-tanz-bewegung. Zeitschrift<br />
für Körperpsychotherapie und Kreativtherapie;<br />
04/2018, S. 159-166; Budo-Therapie. Zur heilenden<br />
Wirkung asiatischer Kampfkünste bei<br />
psychisch erkrankten Kindern und Jugendlichen;<br />
in: Bewusstseinswissenschaften – Transpersonale<br />
Psychologie und Psychotherapie; 02/2015. S. 69-76<br />
13 Bender, D.: Sport, Kunst oder Spiritualität?; Münster<br />
2012<br />
14 Roland Habersetzer, 9. Dan Karatedo Hanshi:<br />
Interview erschienen im französischen Dragon<br />
Magazine 2017 http://www.wslang.de/karatecrb/<br />
index01.html, 2020, online<br />
15 Braun, J.: Aufsätze und Essays zu Kampfkunst und<br />
Spiritualität; Norderstedt 2018<br />
16 Dolin, A.: Kempo – Die Kunst des Kampfes; Leipzig<br />
1988<br />
17 Ostasiatische Kampfkünste: Das Lexikon; Berlin<br />
1996<br />
18 Braun, J.: Bunbu-ryôdô: Philosophie und Ethik<br />
japanischer Kriegskunst der Tokugawa-Zeit (1603-<br />
1868); Frankfurt 2016<br />
19 Herrigel, E.: Zen in der Kunst des Bogenschießens;<br />
München 2010<br />
20 Wolters, J.-M.: Essays zum Budo; Norderstedt<br />
2018<br />
21 Wolters, J.-M.: Kampfkunst als Therapie; Norderstedt/Hamburg<br />
2020<br />
22 Tiwald, H.: Psycho-Training im Kampf- und<br />
Budosport; Ahrensburg 1978<br />
23 Hintelmann, J.-P.: Westliche Sinnfindung durch<br />
östliche Kampfkunst; Berlin 2005<br />
24 Berufsverband der Budopädagogen, BvBP<br />
(www.bvbp.org)<br />
Andrea Auer-Hutzinger, Wien: Focusing-Beraterin / Coach (DAF)<br />
Michaela Breit, München: Focusing-Begleiterin (DAF)<br />
Sonja Hüttinger, Pappenheim: Focusing-Begleiterin (DAF)<br />
Birgit Krüger, München: Focusing-Begleiterin (DAF)<br />
Irmi Lenius, Stockerau: Focusing-Beraterin / Coach (DAF)<br />
Mag. Inge Pinzker, Wien: Focusing-Trainerin (DAF)<br />
P. Rainer Reitmaier, München: Focusing-Berater / Coach (DAF)<br />
Dr. Birgit Seissl, Meran: Focusing-Beraterin / Coach (DAF)<br />
Mag. Dagmar Shorny, Wien: Focusing-Beraterin / Coach (DAF)<br />
Silke Siemers, Harsefeld: Focusing-Beraterin / Coach (DAF)<br />
Edith Sroka-Lasaj, Hamm: Focusing-Therapeutin (DAF)<br />
16 focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021
Termine<br />
OFT: Online-Focusing-Time – kostenfrei<br />
Aussteigen aus dem Alltag – Einsteigen in die Welt des Focusing<br />
»Bitte mach mit uns noch ein Gruppenfocusing«, werden wir in unseren Seminaren oft gefragt, und es freut<br />
uns, dass es die meisten als sehr wohltuend empfinden, weil sie hier in innerer Achtsamkeit zu sich kommen,<br />
entspannen und ihren inneren Freiraum wiederfinden können. Und aus dem Verweilen mit dem Schon-Gespürten-aber-noch-nicht-Gewussten<br />
können dann lebensfördernde Schritte entstehen ...<br />
OFT ist die Gelegenheit, Focusing kennenzulernen und/oder an Focusing dranzubleiben – für alle, die<br />
Lust dazu haben und die neugierig sind, ob Focusing auch für sie etwas sein könnte. Und natürlich auch für<br />
Focusing-Erfahrene, die sich eine begleitete Focusing-Runde gönnen möchten. Mit OFT nimmst du dir eine<br />
Auszeit, in der sich innerlich wieder alles ordnet und sich Wesentliches von Unwesentlichem scheidet. Und<br />
du kannst dabei …<br />
… wieder auftanken<br />
… den »Focusing-Faden« nicht verlieren bzw. wiederfinden<br />
… DozentInnen der DAF-AKADEMIE und<br />
… neue Leute für Partnerschaftliches Focusing kennenlernen<br />
Ablauf einer OFT-Session: Themeninput – Gruppenfocusing – Sharing (Möglichkeit, sich mitzuteilen und<br />
auszutauschen). Anschließend gibt es für die, die Focusing schon können, Gelegenheit, im Partnerschaftlichen<br />
Focusing mit einer anderen TeilnehmerIn persönliche Themen zu fokussieren.<br />
Wir folgen der inneren Wohlfühlspur! Steig mit ein! Anmeldung ist nicht erforderlich!<br />
Die jeweiligen ZOOM-Zugangslinks findest du auf unserer Website: www.daf-focusing-akademie.com/onlinefocusing-time-oft/.<br />
Hier sind die nächsten Termine:<br />
Mittwoch, 24.11.2021, 18 Uhr – ca. 18:45 Uhr<br />
Thema: Felt Sense – was ist das eigentlich?, Leitung: Dr. Johannes Wiltschko<br />
Mittwoch, 15.12.2021, 18 Uhr – ca. 18:45 Uhr<br />
Thema: Focusing und Gebet, Leitung: Martha Hellinger<br />
Mittwoch, 12.01.2022, 18 Uhr – ca. 18:45 Uhr<br />
Thema: Körpersymptome und Wohlfühlort, Leitung: Mag. Karin Mayer<br />
Mittwoch, 26.01.2022, 18 Uhr – ca. 18:45 Uhr<br />
Thema: noch offen, Leitung: Mag. Inge Pinzker<br />
Wir freuen uns über einen freiwilligen Beitrag zur Finanzierung ermäßigter Ausbildungsplätze:<br />
DAF-AKADEMIE, IBAN: DE85 7105 0000 0020 4688 23<br />
focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021 17
Termine<br />
Weiterbildung Focusing-BASIS – online 2022<br />
Die DAF-AKADEMIE bietet erstmalig eine komplette Weiterbildung BASIS online an, vor allem auch für diejenigen,<br />
die weit entfernt von unseren Seminarorten im Raum Salzburg und im Raum München leben.<br />
In den vergangenen eineinhalb Jahren haben wir viele Erfahrungen mit den von uns online angebotenen Seminaren<br />
gesammelt – überraschend gute Erfahrungen. Daraus haben wir ein neues Format für die Weiterbildung<br />
BASIS entwickelt.<br />
Sie besteht aus<br />
• 5 zweitägigen Seminaren (Fr 18 – So 13 Uhr)<br />
• 2 Halbtagsseminaren (Mi 16 – 19 Uhr)<br />
• angeleitetem Selbststudium (Audio-Lectures, ausführliches schriftliches Ausbildungsmaterial,<br />
ausgewählte Literatur)<br />
• kollegialem Arbeiten (Partnerschaftliches Focusing, Peer-Groups)<br />
• Supervision<br />
Teilnahmevoraussetzung:<br />
Tätigkeit in einem kreativen bzw. psychosozialen Beruf<br />
Leitung:<br />
Katrin Tom-Wiltschko, Prof. Dr. Johannes Wiltschko, Assistentin: Meike Rugenstein MA, MSc<br />
Termine:<br />
Seminar I: 28.01. – 30.01.2022 Leitung: Katrin + Johannes + Meike<br />
Seminar II a: 25.02. – 27.02.2022 Leitung: Katrin + Meike<br />
Seminar II b: 16.03.2022 Leitung: Katrin<br />
Seminar III a: 08.04. – 10.04.2022 Leitung: Katrin + Meike<br />
Seminar III b: 11.05.2022 Leitung: Katrin<br />
Seminar IV: 24.06. – 26.06.2022 Leitung: Johannes + Meike<br />
Seminar V: 16.09. – 18.09.2022 Leitung: Johannes + Meike<br />
Supervision: Herbst 2022 Leitung: Katrin / Johannes<br />
(Einzelstunden und/oder Kleingruppen)<br />
Gesamtkosten:<br />
€ 2.250,— zahlbar in 5 Raten à 450,—, Frühbucher (bis 31.11.2021): Einmalzahlung € 1.950,—<br />
(30% Ermäßigung für Studierende und Auszubildende ohne Nebeneinkünfte)<br />
Wenn Sie Fragen haben oder unsicher sind, ob die Teilnahme für Sie sinnvoll ist,<br />
• rufen Sie uns bitte an (+49 176 <strong>47</strong>143725) oder schicken Sie uns eine Mail an<br />
info@daf-focusing-akademie.com<br />
• vereinbaren Sie mit uns eine Probesitzung zum reduzierten Preis von € 60,—<br />
• können Sie an einer kostenlosen OFT-Session teilnehmen<br />
(siehe www.daf-focusing-akademie.com/online-focusing-time-oft/)<br />
Anmeldung und detaillierte Informationen<br />
finden Sie unter www.daf-focusing-akademie.com/weiterbildungen/basis/<br />
18 focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021
Termine<br />
Unsere nächsten Weiterbildungen<br />
BASIS<br />
Mit Katrin Tom-Wiltschko und Johannes Wiltschko, online, Beginn: 28.01.2022 (Details siehe Seite 18)<br />
Mit Donata Schoeller in Zug/Schweiz, Beginn: 22.04.2022 (Details siehe:<br />
https://lassalle-haus.ch/de/kursdetails/focusing-ausbildung-2022-m14.html)<br />
Mit Katrin Tom-Wiltschko im Raum München (Dorfen), jeweils Do 19 Uhr – So 13 Uhr<br />
seminar I: 28.04. – 01.05.2022 Seminar IV: 24.11. – 27.11.2022<br />
seminar II: 23.06. – 26.06.2022 Seminar V: 09.03. – 12.03.2023<br />
seminar III: 15.09. – 18.09.2022<br />
Mit Johannes Wiltschko im Raum Salzburg (Moorhof), jeweils Do 18 Uhr – So 13 Uhr<br />
seminar I: 27.10. – 30.10.2022 Seminar IV: 27.04. – 30.04.2023<br />
seminar II: 08.12. – 11.12.2022 Seminar V: 08.06. – 11.06.2023<br />
seminar III: 09.02. – 12.02.2023<br />
Prozessphilosophie<br />
Mit Donata Schoeller im Raum Salzburg (Moorhof), jeweils Do 18 Uhr – So 13 Uhr<br />
25.11. – 28.11.2021: Das Prozessmodell als gemeinsamer Erlebensraum: Vom Bewegen<br />
zum Bedeuten zum Felt Sense – und zurück. Philosophie in praktischen Übungen<br />
Mit Donata Schoeller im Raum Salzburg (Moorhof), jeweils Do 18 Uhr – So 13 Uhr<br />
10.03. – 13.03.2022: Vertiefen und Kreuzen: Die Philosophie im Focusing<br />
Mit Donata Schoeller im Raum Salzburg (Moorhof), jeweils Do 18 Uhr – So 13 Uhr<br />
15.09. – 18.09.2022: Thema noch offen<br />
Essentials<br />
Mit Katrin Tom-Wiltschko und Johannes Wiltschko im Raum Salzburg (Moorhof), jeweils Do 18 Uhr – So 13 Uhr<br />
seminar I: 29.09. – 02.01.2022 Seminar IV: 23.03. – 26.03.2023<br />
seminar II: 10.11. – 13.11.2022 Seminar V: 18.05. – 21.05.2023<br />
seminar III: 12.01. – 15.01.2023 Seminar VI: 13.07. – 16.07.2023<br />
Strukturen<br />
Mit Johannes Wiltschko, Katrin Tom-Wiltschko im Raum Salzburg (Moorhof), jeweils Do 18 Uhr – So 13 Uhr<br />
seminar I: 05.05. – 08.05.2022 Seminar IV: 08.12. – 11.12.2022<br />
seminar II: 01.09. – 03.09.2022 Seminar V: 23.02. – 26.02.2023<br />
seminar III: 13.10. – 16.10.2022<br />
Körper<br />
Mit Katrin Tom-Wiltschko und Johannes Wiltschko im Raum Salzburg (Moorhof), jeweils Do 18 Uhr – So 13 Uhr<br />
seminar I: 12.10. – 15.10.2023 Seminare III – V: 2024<br />
seminar II: 07.12. – 10.12.2023<br />
Weitere Infos und Anmeldung: https://www.daf-focusing-akademie.com/ausbildungen/auf-einen-blick/<br />
focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021 19
Termine<br />
Die König*innen-Supervision<br />
Die Methode der focusing-orientierten kollegialen Supervision für Teams<br />
und Arbeitsgruppen in allen kreativen und therapeutischen Bereichen<br />
In diesem Seminar wird die »König*innen-Methode« der kollegialen Supervision vorgestellt, erprobt und eingeübt,<br />
so dass es in bestehende oder noch zu gründende Arbeitsgruppen und Teams implantiert werden<br />
kann.<br />
Die »König*innen-Methode« der kollegialen Supervision bietet viele Vorteile:<br />
• Sie kostet nichts<br />
• Sie ist wesentlich effektiver als herkömmliche kollegiale Supervision (Intervision) und<br />
oftmals auch als Supervision mit einem/einer professionellen Supervisor*in<br />
• Der/die Supervisand*in ist König bzw. Königin, alle anderen »dienen« dem königlichen<br />
Anliegen, statt »gute Tipps« zu geben<br />
• Alle sind gleichrangig und auf Augenhöhe mitbeteiligt<br />
• Sie ist so strukturiert, dass alle Gruppenteilnehmer*innen »mitspielen« können<br />
• Sie ist erlebens- und prozessorientiert<br />
Literatur: Johannes Wiltschko, Ich spüre, also bin ich! Berlin 2021 3 , S. 277-290<br />
(erhältlich in allen Buchhandlungen oder auch in der DAF-AKADEMIE www.daf-focusing-akademie.com/<br />
medien/#top)<br />
Teilnahmevoraussetzung: Focusing-Grundkenntnisse<br />
Leitung: Prof. Dr. Johannes Wiltschko, Katrin Tom-Wiltschko<br />
Termin: 24. – 27. März 2022, Do 18 bis So 13 Uhr<br />
Ort: Landhotel »Moorhof«, A-5131 Dorfibm (Raum Salzburg)<br />
Kosten: € 450,—, Frühbucher (bis 31.11.2021): 390,—<br />
Anmeldung: Mail an info@daf-focusing-akademie.com oder über<br />
www.daf-focusing-akademie.com/spezialseminare/<br />
»Time is honey«: Zeit will Raum<br />
Leitung: Mag. Krimhild König MAS, Psychotherapeutin, www.ihre-psychotherapeutin.eu/<br />
Ort: Seminarhotel Wesenufer, A-4085 Waldkirchen (Bezirk Schärding, nahe Passau)<br />
Termine: 18.11. – 21.11.2021 oder 21.04. – 24.04.2022, jeweils Do 18 – So 13 Uhr<br />
Kosten: € 390,—<br />
Anmeldung: info@daf-focusing-akademie.com<br />
20 focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021
Termine<br />
Focusing-Orientierung<br />
in der Begleitung traumatisierter Menschen<br />
Seminar auf der 41. Sommerschule 2022<br />
mit Mag ra. Inge Pinzker, MSc<br />
Dieses Seminar ist für alle da, die traumatisierte Menschen begleiten bzw. begleiten wollen.<br />
Die entspannende und erholsame Atmosphäre der Sommerschule wird dazu beitragen, aus dem Arbeitsalltag<br />
mit unseren oft schwer belasteten Klient:innen auszusteigen, Freiraum zu suchen, innezuhalten und eine<br />
Standardortbestimmung vorzunehmen: Wie geht es Ihnen in der Arbeit mit Ihren traumatisierten Klient:innen<br />
(mit den bisher gelernten Methoden, Ihrer Arbeitsweise, Ihren Grenzen und Belastungen durch die Arbeit …)?<br />
Jede:r kann seine »innere Landkarte« dazu zum Ausdruck bringen, und gleichzeitig wird so eine »Gruppen-<br />
Landschaft« zum Thema entstehen.<br />
––<br />
Was ist schon alles da? Was »haben« Sie schon alles (an Fähigkeiten, Haltungen, Methoden, Konzepten<br />
…)?<br />
––<br />
Vielleicht ist es ja auch »genug«? Was ist es in Ihnen, das Ihnen sagt, dass etwas »fehlt«?<br />
––<br />
Was beschäftigt Sie vielleicht (schon lange)? Wo haben Sie Fragen? Was verunsichert Sie (immer wieder)?<br />
Was brauchen Sie (noch)?<br />
––<br />
Wie können Sie (mehr) Focusing-Orientierung in Ihre Arbeit bringen und wie würde sich das auswirken?<br />
––<br />
Wie können Sie Ihre evtl. schon erworbene Methodenvielfalt (oder eine bestimmte Methode) noch besser<br />
in Ihre (focusingorientierte) Arbeitsweise »einkreuzen«?<br />
––<br />
Wann »braucht« es Methoden (bzw. bestimmte Aspekte einer Methode)? Wann nicht und was braucht es<br />
dann? Wie könnten Sie das (besser) bemerken? Was möchten Sie noch lernen / können / sich aneignen?<br />
Focusing wird Ihnen dabei helfen, sich mit Ihren ganz individuellen, persönlichen Fragen auf neue und frische<br />
Weise zu beschäftigen. Für Focusing-Neulinge in der Gruppe werden auf diese Weise gleichzeitig Focusing<br />
und Focusing-Haltungen erfahrbar.<br />
In diesem Seminar …<br />
… gönnen Sie sich erholsame Zeit in einer Gruppe mit ähnlich Interessierten und werden wieder mehr zu sich<br />
kommen und auftanken,<br />
… lernen Sie, wie Focusing-Orientierung in Ihre Arbeit hineinwirken kann und wie Ihr Da-Sein, Ihre Präsenz<br />
und Ihr Mit-Sein mit Klient:innen, Ihre Arbeit leichter und befriedigender machen wird,<br />
… machen Sie sich die Stärken und Qualitäten der Focusing-Orientierung in Ihrer Arbeit mit traumatisierten<br />
Menschen bewusst(er) und üben, sie auch einzusetzen,<br />
… finden Sie wieder mehr Orientierung, Sicherheit und Klarheit in Ihrem professionellen Weg im Trauma-Kontext,<br />
… erfahren Sie, wie Sie Trauma-Methoden besser in Ihre focusingorientierte Arbeitsweise einkreuzen können<br />
und welche Sie sich vielleicht noch aneignen möchten …<br />
Anmeldung: Mail an info@daf-focusing-akademie.com oder über www.daf-focusing-akademie.com/focusing-sommerschule/<br />
Mehr Informationen dazu<br />
siehe das Programm der 41. Internationalen Focusing Sommerschule auf Seite 22<br />
und den Artikel auf Seite 24<br />
focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021 21
Termine<br />
41. Internationale Focusing Sommerschule 2022<br />
– das Original –<br />
1. bis 9. August 2022<br />
im Humboldt-Haus in Achberg bei Lindau am Bodensee<br />
Die Seminare 01, 02 und 03 finden parallel statt.<br />
Sie beginnen am Sonntag, 1.8., um 18 Uhr und enden am Donnerstag, 5.8., um 13 Uhr.<br />
01. Frei-Raum – Spiel-Raum<br />
Focusing (mal) expressiv<br />
Leitung: Katrin Tom-Wiltschko (Laufen)<br />
Wenn wir im Focusing Freiraum schaffen, entsteht in uns und um uns herum ein wohlig angenehmer Raum, in dem wir sehr präsent<br />
und entspannt sein können.<br />
Diesen Raum immer wieder herzustellen und uns in diesem Raum zu bewegen, leicht, spielerisch und kreativ, wird Schwerpunkt<br />
dieses Seminars sein. Von dort können wir uns dem zuwenden, was schon lange darauf wartet, von uns<br />
gesehen und gehört zu werden: Innere Kinder, Wünsche und Träume dürfen (endlich) Raum bekommen<br />
– Freiraum und Spielraum, um zu erwachen, lebendig zu werden und sich auszudrücken: in Worten, in<br />
Bildern, in Gesten, in Bewegung, in Ton, im Spiel, im Verkörpern von Teilpersonen …<br />
Keine Teilnahmevoraussetzungen<br />
Katrin Tom-Wiltschko, Mitbegründerin und Mitleiterin der DAF-AKADEMIE, Ausbilderin und Supervisorin,<br />
Focusing-Therapeutin (DAF), Focusing-Trainerin (DAF), Dipl.-Sozialpädagogin (FH), Psychotherapeutin<br />
(HPG), Künstlerin, ktw@daf-focusing-akademie.com<br />
02. Focusing-Orientierung in der Begleitung traumatisierter Menschen<br />
Leitung: Mag ra Inge Pinzker (Wien)<br />
In diesem Seminar werden wir die sommerliche Atmosphäre der Sommerschule und focusingorientierte Übungen nützen, um<br />
aus dem Arbeitsalltag mit unseren oft schwer belasteten Klient:innen auszusteigen, Freiraum zu suchen, innezuhalten, eine Standardortbestimmung<br />
vorzunehmen – und um neue für Sie stimmige Wachstumsschritte entstehen zu lassen.<br />
Focusing wird Ihnen zeigen, wie Sie sich mit Ihren ganz persönlichen Fragen zum Begleiten traumatisierter<br />
Menschen auf neue und frische Weise beschäftigen können. Für Focusing-Neulinge werden dabei<br />
gleichzeitig Focusing und Focusing-Haltungen erfahrbar.<br />
Mehr Information siehe Seite 21<br />
Teilnahmevoraussetzung: berufliche, auch ehrenamtliche oder geplante Begleitung traumatisierter Menschen<br />
(Psychotherapeut:innen, Ärzt:innen, Pädagog:innen, (Rechts-)Berater:innen, Sozialarbeiter:innen,<br />
Krankenpflegepersonal, …<br />
Mag ra . Inge Pinzker MSc, Personzentrierte Psychotherapeutin (ÖGwG), Traumatherapeutin (PITT Reddemann),<br />
Focusing-Trainerin (DAF), 17 Jahre Erfahrung in der Arbeit mit Geflüchteten, www.inge-pinzker.at<br />
03. Eugene Gendlin und die Mystik<br />
Leitung: Prof. Dr. Donata Schoeller (Zürich)<br />
Dass Eugene Gendlin ein besonderes Verhältnis zu dem deutschen Mystiker Meister Eckhart hatte, war bereits daran ersichtlich,<br />
dass er dessen Predigten und Traktate auf jenem nahen Regal neben seinem Arbeits-Lehnsessel hatte, wo sonst nur seine eigenen<br />
Manuskripte auf Weiterbearbeitung warteten. Das Meister-Eckhart-Buch war gleichsam griffbereit.<br />
In meinem ersten Artikel zu Gendlin verglich ich seine Philosophie des Impliziten mit dem Denken des Renaissance-Mystikers<br />
Jakob Böhme. Zu meiner Überraschung war Gendlin begeistert.<br />
22 focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021
Termine<br />
In diesem Seminar möchte ich den Brücken zwischen Prozessdenken und mystischen Ansätzen behutsam nachgehen. Dafür<br />
lesen wir Texte von Eugene Gendlin, Meister Eckhart und Jakob Böhme, kreuzen die Ansätze, machen Übungen, explorieren<br />
unsere eigenen Tiefen und denken gemeinsam auf der Basis dieser Texte und unseres eigenen Erlebens über die Paradoxien<br />
des Lebendigen nach.<br />
Für diejenigen, die beim Workshop über Gendlin und Meister Eckhart dabei waren: Es ist keine Wiederholung!<br />
Teilnahmevoraussetzungen: Focusing-Grundkenntnisse<br />
Prof. Dr. Donata Schoeller lehrt Philosophie mit den Schwerpunkten Prozessphilosophie und TAE an<br />
Universitäten in USA und Europa, hat in enger Zusammenarbeit mit Gene Gendlin dessen Hauptwerk<br />
»Ein Prozess-Modell« übersetzt und gibt seine Artikel heraus.<br />
www.donataschoeller.com, schoeller@uni-koblenz.de<br />
04. Strukturgebundene vs. gestoppte Prozesse:<br />
Focusing-Praxis trifft Focusing-Philosophie<br />
Workshop mit Prof. Dr. Donata Schoeller und Prof. Dr. Johannes Wiltschko<br />
Freitag, 6.8., 10 bis 19 Uhr<br />
Teilnahmevoraussetzungen: Grundkenntnisse in Focusing<br />
05. Focusingorientierte Tango-Selbsterfahrung – offenes Abendprogramm<br />
mit Erich Bernhaupt-Hopfner (Wien), Leandra Schmid und Erik Meissner (Bern)<br />
In Beziehung gehen mit anderen, in Beziehung gehen mit sich selbst<br />
Keine Vorkenntnisse erforderlich<br />
Mag. Erich Bernhaupt-Hopfner, Ausbildung in Focusing-<br />
Therapie, lernte argentinischen Tango u.a. in Buenos Aires.<br />
Leandra Schmid, Psychotherapeutin (VT integrativ), Oberpsychologin<br />
im Spital Langenthal, tanzt seit vielen Jahren<br />
verschiedene Stile, in den letzten Jahren in die Tango-Welt<br />
eingetaucht.<br />
Erik Meissner, Psychologe, Einzel-, Paar- und Familientherapeut,<br />
Ausbildung in Focusing-Therapie, seit vielen Jahren<br />
leidenschaftlicher Tangotänzer.<br />
06. Verweilen, nachklingen lassen …<br />
… auf der Terrasse, am Pool, mit Partnerschaftlichem Focusing, bei Spaziergängen; der nahe Bodensee, das Inselstädtchen<br />
Lindau, die Bregenzer Festspiele. Einzelstunden mit den Dozent:innen der DAF-AKADEMIE können spontan gebucht werden.<br />
Samstag, Sonntag, 7. – 8.8., Abreise bis Montag, 9.8., 13 Uhr<br />
Kosten (ohne Verpflegung und Unterkunft):<br />
01, 02, 03: € 600,—, Frühbucher (bis 28. Februar 2022): € 480,—; 04: € 150,—; 05, 06: kostenfrei<br />
Für die ersten 18 Anmeldungen ist ein Zimmer im Humboldt-Haus garantiert.<br />
Unterkunfts- und Verpflegungskosten zwischen € 50,— und 90,—<br />
30% Ermäßigung für Studierende und Auszubildende ohne Nebeneinkünfte<br />
Fortbildungspunkte für die Seminare der Sommerschule sind bei der Psychotherapeutenkammer beantragt.<br />
ANMELDUNG:<br />
Über unsere Website www.daf-focusing-akademie.com/focusing-sommerschule/<br />
oder formlos per Mail an info@daf-focusing-akademie.com, wir schicken Ihnen dann das Anmeldeformular für<br />
die Seminare und die Unterkunftsmöglichkeiten.<br />
Bitte beachten Sie den Frühbucherrabatt.<br />
focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021 23
Themen<br />
Focusing-Orientierung in der<br />
Begleitung traumatisierter<br />
Menschen<br />
■■<br />
Von Inge Pinzker<br />
Psychische und physische Gewalt, Missbrauch,<br />
emotionales nicht (adäquates)<br />
Beantwortet-Werden, Krieg, Flucht, Folter<br />
… führen zu psychischen Verletzungen, zu<br />
Psychotraumata. Das Angebot verschiedener<br />
Trauma-Methoden zur Behandlung und<br />
Begleitung traumatisierter Menschen ist inzwischen<br />
nahezu unüberschaubar. Das ist<br />
gut so, wenn wir es als eine gewachsene Bereitschaft<br />
sehen, erlittenem Leid und Schrecken<br />
und den Menschen, denen es widerfahren<br />
ist, ins Auge zu blicken. Gleichzeitig<br />
stellt sich die Frage, ob die dabei auch bei den<br />
»Helfer:innen« ausgelöste Ohnmacht und<br />
der Wunsch, sich an etwas zu »klammern«,<br />
nicht eine Rolle bei der Zunahme an Methoden<br />
spielt. Skepsis ist jedenfalls angebracht,<br />
wenn diese »schnelle Heilung« versprechen.<br />
Es ist leichter, vermeintlich etwas »tun« zu<br />
können, als Hilflosigkeit und Unsicherheit<br />
gemeinsam mit jemandem auszuhalten.<br />
Diese Methodenvielfalt kann mitunter<br />
verwirren, wenn nicht sogar stark verunsichern.<br />
Welche Methode soll ich (noch) lernen?<br />
Welche ist »die Richtige«? Kann (darf,<br />
soll) ich überhaupt mit traumatisierten<br />
Menschen arbeiten, wenn ich nicht Methode<br />
Y und Z (zusätzlich) gelernt habe?<br />
Vor allem Berufsgruppen wie<br />
Psychotherapeut:innen und Ärzt:innen,<br />
aber auch Pädagog:innen, (Rechts-)<br />
Berater:innen, Sozialarbeiter:innen, Krankenpflegepersonal,<br />
Ehrenamtliche (z.B. in<br />
der Flüchtlingshilfe) suchen nach »Handwerkszeug«<br />
für ihre tägliche Arbeit. Oft<br />
entsteht (leider und zu Unrecht!) auch der<br />
Eindruck, nur »Spezialist:innen« wüssten<br />
mit traumatisierten Menschen umzugehen.<br />
Dabei haben letztere ganz grundlegende<br />
Bedürfnisse nach wohlwollenden, freundlichen<br />
zwischenmenschlichen Begegnungen<br />
und Trost sowie nach Anerkennung<br />
24 focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021
Themen<br />
ihres Leides, aber auch ihrer Stärken und<br />
Ressourcen. In dieser Hinsicht kann jede:r<br />
da sein, wenn er/sie bereit ist, sich auf den<br />
betreffenden Menschen einzulassen. Was<br />
hier benötigt wird, sind Haltungen und eine<br />
innere Sicherheit, die sich in der Begleiter:in<br />
selbst gründen, und nicht in Methoden.<br />
Ich möchte Menschen, die mit traumatisierten<br />
Personen arbeiten oder arbeiten wollen,<br />
mithilfe von Focusing dabei unterstützen,<br />
wieder mehr Orientierung zu finden, und<br />
dazu anregen, Focusing-Orientierung in<br />
die eigene Arbeit mit traumatisierten Menschen<br />
zu bringen bzw. die Qualitäten der<br />
Focusing-Orientierung in dieser Arbeit<br />
deutlich und bewusst(er) zu machen. Außerdem<br />
kann Focusing ein geeignetes Instrument<br />
sein, um Methoden und Konzepte<br />
in die eigene Arbeitsweise besser »einzukreuzen«.<br />
Traumatisierte Menschen können durch<br />
das wortlose Entsetzen und Grauen, das sie<br />
überlebt haben, extrem verunsichert sein.<br />
Da ist es für Begleiter:innen wichtig, dass<br />
sie mit dem Unsicheren, Vagen, (noch) nicht<br />
Sagbaren sein können, ebenso wie mit Ohnmacht<br />
und Hilflosigkeit, extremer Wut,<br />
abgrundtiefer Verzweiflung und unermesslicher,<br />
tiefer Trauer bis hin zu Suizidalität.<br />
Dafür benötigen sie die Fähigkeit, »Unsicherheit«<br />
in ihrem eigenen Erleben halten<br />
zu können, also so etwas wie Vertrauen und<br />
»Sicherheit« im Umgang mit Unsicherheit<br />
zu haben. Auf diese Weise vermitteln sie<br />
auch den Klient:innen langsam wieder ein<br />
Gefühl von Sicherheit und Stabilität. Allein<br />
dadurch, dass jemand wirklich da ist und<br />
die Klient:in nicht alleine der Situation und<br />
ihrem Erleben ausgeliefert ist, wie in der<br />
ursprünglichen traumatischen Situation,<br />
verhindert Retraumatisierung, ein Begriff,<br />
der Helfer:innen, meiner Erfahrung nach,<br />
ebenfalls häufig verunsichert. Retraumatisierungen<br />
werden verhindert, wenn es einen<br />
Boden des Verständnisses, des Vertrauens<br />
und des Interesses im Gespräch gibt (Baer<br />
und Frick-Baer, 2016).<br />
Dieses Da-Sein und Mit-Sein-Können sind<br />
u.a. zentrale Stärken von Focusing, die mich<br />
in meiner nunmehr 17-jährigen Erfahrung<br />
in der Begleitung traumatisierter Menschen<br />
unterstützen. Davon möchte ich gerne etwas<br />
Anzeige<br />
erfahrbar machen und teilen. Diese Haltungen<br />
sind für die Arbeit mit traumatisierten<br />
Menschen essenziell, und sie können mithilfe<br />
von Focusing-Erfahrung und -Praxis<br />
unabhängig von Therapierichtung, Berufsgruppenzugehörigkeit<br />
oder erlernter Trauma-Methoden<br />
entwickelt werden.<br />
Quelle<br />
Baer, U. + Frick-Baer, G. (2016). Flucht und Trauma.<br />
Wie wir traumatisierten Flüchtlingen wirksam helfen<br />
können. München: Gütersloher Verlagshaus.<br />
Mag. a Inge Pinzker, MSc<br />
Personzentrierte Psychotherapeutin,<br />
Traumatherapeutin<br />
(PITT), Focusing-Trainerin (DAF)<br />
Dozentin an der DAF-AKADE-<br />
MIE 1030 Wien<br />
inge.pinzker@chello.at<br />
www.inge-pinzker.at<br />
focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021 25
Themen<br />
Immer präsent und anrufbar!<br />
Focusing und Gebet<br />
■■<br />
Von Martha Hellinger<br />
Beten lernte ich erst ziemlich spät, zumindest<br />
für eine Theologin, die hauptberuflich<br />
in der katholischen Kirche arbeitet.<br />
Als Jugendliche sehnte ich mich nach<br />
GOTT. Deshalb studierte ich Theologie.<br />
Aber ich sah keinen Weg, wie ich mit etwas<br />
in Beziehung komme, das man nicht sehen<br />
und nicht anfassen kann und von dem man<br />
nicht sicher weiß, ob es existiert. Andere<br />
Lebensfragen wie Beruf und Partnerschaft<br />
waren drängender, bis sich mir so ab Mitte<br />
30 die Frage wieder aufdrängte nach dem<br />
»Mehr als Alles«. Bis heute bin ich froh um<br />
die Empfehlung, es doch mal mit Ignatianischen<br />
Exerzitien zu probieren. Das ist eine<br />
Exerzitienform, die Ignatius von Loyola im<br />
16. Jahrhundert entwickelt hat und die bis<br />
heute praktiziert wird, tradiert durch den<br />
Orden der Jesuiten. Seine Exerzitien, übersetzt<br />
heißt das einfach Übungen, wollen<br />
dazu helfen, mit Gott unmittelbar in Beziehung<br />
zu kommen. Und wie es mir half!<br />
Es war für mich eine tief berührende Erfahrung,<br />
GOTT als ein Du zu erleben, das<br />
da ist, mich anschaut, zu mir spricht und etwas<br />
in mir bewirkt, das ich spüren kann. Bis<br />
heute empfinde ich es als staunenerregend,<br />
dass das möglich ist.<br />
In den ersten Exerzitienkursen stand ich<br />
mir immer wieder selbst im Weg. Ich zweifelte<br />
daran, ob das, was ich da im schweigenden<br />
Betrachten erlebe, »wirklich« ist, ob ich<br />
mir das nicht alles nur einbilde, ob ich das<br />
nicht alles irgendwie selber mache. Inwieweit<br />
kann ich meinem Erleben trauen, wenn<br />
es sich doch »nur in meinem Inneren« abspielt,<br />
wenn es doch »nur subjektiv« ist. Der<br />
Wendepunkt kam, als ich Exerzitien machte,<br />
wo sich von der ersten bis zur letzten Betrachtungsstunde<br />
»nichts« tat. Ich hielt tapfer<br />
durch, blieb mit meiner Aufmerksamkeit<br />
bei dem biblischen Wort. Jedes Mal mit dem<br />
Wunsch, der Bitte an GOTT, offen und empfänglich<br />
dafür zu sein, wie er mich berühren<br />
möge. Und erlebte in keiner der 40 Betrachtungsstunden<br />
das, was wir im Focusing Resonanz<br />
nennen – wie schrecklich! Von da<br />
an zweifelte ich nicht mehr daran, dass die<br />
»inneren Regungen und Bewegungen«, wie<br />
Ignatius sie nennt, geschenkt werden, dass<br />
es ein Berührt- und Bewegtwerden ist, ein<br />
Beziehungsgeschehen. Und ich wurde darauf<br />
gestoßen, was mein Zutun ist: Ich entscheide,<br />
dass ich bei der Übung bleibe, unabhängig<br />
davon, was sich tut.<br />
Bei meinem ersten Focusingseminar<br />
ging es mir ähnlich wie bei meinen ersten<br />
Exerzitien. Da war so ein klares Gespür: Ah,<br />
das ist genau das, was ich gesucht habe. Es<br />
geht um die »inneren Regungen und Bewegungen«!<br />
Ich lernte, sie zu unterscheiden:<br />
die Wahrnehmungsmodalitäten Gedanke,<br />
Gefühl, Empfindung und Bild; Felt Sense<br />
und Symbolisierung; Freiraum und Strukturgebundenheit;<br />
Resonanz und Erstreakti-<br />
26 focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021
Themen<br />
on, um hier nur die Stichworte zu nennen.<br />
Es entstand so etwas wie ein Innenraum,<br />
in dem ich mich bewegen kann mit meiner<br />
Aufmerksamkeit, mein Ich entwickelte sich<br />
zur Regisseurin meines Erlebens. Mit der<br />
Methodik von Focusing und dem philosophischen<br />
Hintergrund vertrauter zu werden,<br />
hilft mir, meinem Spüren zu trauen. Was ich<br />
spüre, sagt etwas aus über die Situation, in<br />
der ich bin. Es sagt etwas aus über das, was<br />
wirklich ist. Weil im Verständnis von Focusing<br />
die ganze Wirklichkeit Interaktion ist<br />
und es die Aufspaltung zwischen innen und<br />
außen nicht gibt.<br />
Für mich als glaubenden Menschen<br />
schließt sich dadurch eine Kluft. In Wirklichkeit<br />
ist alles miteinander verwoben,<br />
unendlich und offen, gleichzeitig aber auch<br />
geordnet und gerichtet. Davon bin ich ein<br />
Teil, ich bin nicht abgetrennt davon, aber<br />
ich gehe auch nicht in dem Ganzen auf. Ich<br />
bleibe ich. Und weil das so ist, kann ich es<br />
spüren, es ist wirklich. Praxis und Theorie<br />
von Focusing machen es mir möglich, das<br />
so zu erleben und zu denken.<br />
Praxis und Theorie meines Glaubens<br />
erlauben mir, diese Wirklichkeit als Du anzusprechen<br />
und es mit dem Geheimnis zu<br />
verbinden, das wir GOTT nennen. Deshalb<br />
benütze ich die Großschreibung. Die vier<br />
Buchstaben sind wie ein Platzhalter für das,<br />
was man nicht verstehen kann.<br />
Mit der Zeit und meiner Übung veränderte<br />
sich sowohl die Praxis meines Betens<br />
als auch meines Fokussierens. Erst war es<br />
noch getrennt. Entweder ich betrachtete<br />
einen biblischen Text, wie ich es in den Exerzitien<br />
gelernt hatte, oder ich fokussierte<br />
zu einem persönlichen Thema. Das Selbstfocusing<br />
fällt mir leicht, da kommt mir meine<br />
Gebetspraxis zugute. Allmählich verband<br />
sich etwas. Meine Weise des Betrachtens<br />
wurde focusingmäßig. Mein Selbstfocusing<br />
ist mal mehr, mal weniger ein Beten. Wie<br />
das ausschaut, möchte ich kurz beschreiben.<br />
In den ersten Schritten findet sich das<br />
Prinzip des ganzen Vorgangs. Ignatius nennt<br />
sie »Sich Ausrichten auf Gottes Gegenwart«,<br />
im Focusing heißen sie »Freiraum schaffen«.<br />
Wenn ich körperlich hinspüre, wie ich<br />
focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021 27
Themen<br />
Martha Hellinger<br />
Diplom-Theologin<br />
Exerzitienleiterin<br />
82008 Unterhaching bei<br />
München<br />
m.hellinger@web.de<br />
in Kontakt zum Boden bin, wie mein Atem<br />
mich bewegt, nehme ich bewusst wahr, wie<br />
ich gerade in Beziehung bin zu diesem Etwas,<br />
das nicht ich bin. Sondern ein Anderes,<br />
das sich von sich aus verändern kann<br />
oder das sich für mich im Spüren verändert.<br />
Wenn ich mich in dieser Interaktion bemerke,<br />
spüre ich mich in meinem Freiraum. Ich<br />
kann spüren, es trägt mich, es atmet mich,<br />
ich lebe. Als einen weiteren Schritt kann ich<br />
mich fragen: Wenn ich so etwas wie die göttliche<br />
Präsenz da sein lasse, wie spürt sich das<br />
an? So wie ich es erlebe, wird dadurch das,<br />
was an Freiraum schon entstanden ist, mehr,<br />
größer, tiefer, stabiler. Weil ich in diesem<br />
Raum nicht mehr allein bin, sondern weil es<br />
da ein DU gibt, das für mich da ist. Das göttliche<br />
DU kann für mich Begleiter/in sein,<br />
der mich fragt: Wie spürt sich das für dich<br />
an? Und die zurücksagt. Oder es kann für<br />
mich ein Gegenüber sein, an das ich mich<br />
wenden kann. Ich kann bitten, dass es mir<br />
hilft; kann danken, wenn etwas geschieht,<br />
das mich staunen lässt; kann klagen, wenn<br />
sich »nichts« tut; kann mit dem DU darum<br />
ringen, dass es doch endlich etwas bewirken<br />
möge. Ich kann das göttliche DU sogar als<br />
beides da sein lassen, sowohl als Gegenüber<br />
als auch als Begleiter/in.<br />
Bei mir ist es so: Wenn mich ein Problem<br />
sehr bedrängt oder wenn es um etwas<br />
Strukturgebundenes geht, muss ich umso<br />
mehr für meinen Freiraum sorgen. Dann<br />
brauche ich umso mehr ein Du. Dann brauche<br />
ich es umso mehr, mich in einer Beziehung<br />
zu spüren, die wohlwollend und<br />
absichtslos, haltend und freilassend ist. Das<br />
Du kann natürlich ein Mensch sein, der<br />
mich beim Focusing begleitet, allerdings<br />
ist so ein Mensch nicht ständig verfügbar.<br />
Während Selbstfocusing fast jederzeit möglich<br />
und das göttliche DU immer präsent<br />
und anrufbar ist.<br />
Um auf die Exerzitien zurückzukommen:<br />
Da hat sich für mich die Beziehung<br />
zum göttlichen DU entwickelt, verändert,<br />
vertieft. Dieses DU umfasst für mich die<br />
ganze Wirklichkeit, alles, was jemals war,<br />
ist und sein wird, woher alles kommt und<br />
wohin alles geht. Deshalb wirkt es für mich,<br />
wenn ich mich darauf beziehe, wie ein unendlicher<br />
Freiraum, in dem alles geborgen<br />
ist.<br />
Was in Ignatianischen Exerzitien passiert,<br />
wie sie »funktionieren«, beginne ich<br />
erst zu verstehen. Da helfen mir die Seminare<br />
zu Gendlins Prozessphilosophie von<br />
Donata Schoeller. Mir kommt vor, dass<br />
Ignatius in seinen Exerzitien systematisch<br />
anleitet zu »kreuzen«, so dass die biblischen<br />
Worte sich verweben können mit<br />
unseren erlebten Situationen, eben weil sie<br />
selbst schon verdichtetes Erleben sind. Bei<br />
Ignatianischen Exerzitien bin ich bis heute<br />
geblieben. Was mich daran fasziniert: Es<br />
entwickelt sich ein tiefgreifender Wandlungsprozess,<br />
der sanft und organisch ist,<br />
selbstgesteuert und absichtslos. Da wird<br />
nichts forciert, es geht nicht darum, etwas<br />
zu bearbeiten und am Ende etwas zu erreichen.<br />
Sondern darum, der Spur der eigenen<br />
Sehnsucht zu folgen: sie zu bemerken, ihr<br />
zu trauen, sie zu vertiefen und sich so von<br />
ihr leiten zu lassen.<br />
Falls das alles jetzt so klingt, als bräuchte<br />
es für mich nur die Beziehung zum göttlichen<br />
DU, nein, so ist es ganz und gar nicht!<br />
Das menschliche DU erlebe ich als genauso<br />
wichtig, und das eine ist nicht ersetzbar<br />
durch das andere. Auch deshalb habe ich<br />
eine Weise des partnerschaftlichen Betens<br />
entwickelt für meine eigenen Exerzitienangebote,<br />
aber davon vielleicht mehr an anderer<br />
Stelle.<br />
Wer sich davon angesprochen fühlt, auf diese<br />
Weise zu fokussieren/beten, kann es ausprobieren<br />
im Rahmen eines OFT (Online-Focusing-Time,<br />
siehe www.daf-focusing-akademie.com/online-focusing-time-oft/).<br />
28 focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021
Themen<br />
Hände<br />
■■<br />
Von Krimhild König<br />
Mit meinem Kind an der Hand überquere<br />
ich den Hof meiner Vorfahren.<br />
Hier erblickte ich das Licht der Welt, hier<br />
wuchs ich auf, von hieraus nahm mein Weg<br />
auf dieser Erde seinen Anfang. Das Kind an<br />
meiner Hand hüpft fröhlich neben mir her,<br />
es fühlt sich heute sicher und geborgen. Das<br />
war jedoch nicht immer so.<br />
Es gab Zeiten, da kümmerte sich niemand<br />
um das Kind; nun, da konnte es zwar spielen,<br />
wie es wollte, was natürlich sein Gutes hatte,<br />
doch hätte es oft gern ein wenig Gesellschaft<br />
gehabt. Die Erwachsenen wünschten sich,<br />
dass das Mädchen anders sein sollte, als es<br />
war. Sie hatten ihre festen Vorstellungen von<br />
dem, was gut und richtig sei, und akzeptierten<br />
nur ein kindliches Wesen, dass sich brav<br />
und gefügig ihrem Willen beugte. Das Kind<br />
aber, gewohnt frei und ungezwungen zu<br />
spielen, weigerte sich immer wieder, den Erwachsenen<br />
Gehorsam zu leisten, wenn diese<br />
schier Unmögliches von ihm verlangten. So<br />
versuchten sie, es mit Gewalt zur »Vernunft«<br />
zu bringen. Da wurde das Kind oft traurig<br />
und dachte bei sich, es sei nicht ganz richtig,<br />
sei anders als die anderen und somit nicht<br />
liebenswert. Wie gerne wäre es anders gewesen,<br />
es wollte ja nur dazugehören! Doch niemand<br />
kam und fasste es bei der Hand, um es<br />
sicher auf seinen Weg zu geleiten. Niemand<br />
umarmte es, wenn es das einmal dringend<br />
gebraucht hätte. Niemand bot ihm die Hand<br />
zur Hilfe oder streichelte es liebevoll, einfach<br />
nur so. So mühte es sich mit aller Kraft,<br />
eine Veränderung seiner anscheinend nicht<br />
liebenswerten Eigenschaften herbeizuführen,<br />
die jedoch mit nichts zu bewerkstelligen<br />
war.<br />
Mit der Zeit suchte sich das Mädchen<br />
anderweitig Anerkennung. Es wurde von<br />
anderen Menschen gemocht, die ihm ihre<br />
Hände entgegenstreckten, um ihm ein Stück<br />
Sicherheit zu geben, das tat ihm gut. Überaus<br />
dankbar nahm es diese Seelenwärmer<br />
an; es war so ausgehungert nach Zuwendung,<br />
die Sehnsucht nach Anerkennung war<br />
so groß, dass es sich sehr anstrengte, nur um<br />
seine Seins-Berechtigung spüren zu können.<br />
Es genoss, was es an Bestätigung und Aufmerksamkeit<br />
geschenkt bekam, und nährte<br />
sich davon leidlich.<br />
Seelennahrung war ihm auch die Natur,<br />
die es umgab. Die Kleine liebte die Blumen,<br />
Bäume und alle anderen Pflanzen und hatte<br />
schon ihren eigenen kleinen Garten, dem sie<br />
sich voll Freude und Forschergeist widmete.<br />
Vollen Herzens gab sie sich den Blumen hin,<br />
schmückte den Trog am Brunnen mit so vielen<br />
Blüten, bis vom Wasser nichts mehr zu<br />
sehen war, und freute sich an dieser Pracht<br />
focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021 29
Themen<br />
und Fülle. Nur zu Hause, im Reich der Erwachsenen,<br />
war sie nicht gern, dort fühlte<br />
sie sich schlecht, unvollkommen, nicht erwünscht,<br />
so wie sie war. Sie nutzte jede sich<br />
bietende Gelegenheit, der niederdrückenden<br />
Stimmung zu entfliehen.<br />
Es gab da noch eine ältere Schwester, der<br />
die jüngere sehr gelegen kam, um die unangenehme<br />
Aufmerksamkeit der Erwachsenen<br />
zu dieser umzulenken. Auch sie hatte schon<br />
viel unter ihnen gelitten und sich auf deren<br />
Wunsch verändert, nur um ihnen ein gutes<br />
Kind zu sein, nur um von ihnen geliebt zu<br />
werden. Aus ihr war bereits ein braves, fleißiges<br />
Mädchen geworden, das den Eltern und<br />
Großeltern in Haus und Hof stets zur Hand<br />
ging und auch in der Schule fleißig lernte.<br />
Doch was bleibt zurück, wenn Kinder<br />
für nichts Anerkennung erhalten, wenn ihr<br />
Wesen, ihre Fähigkeiten und ihre Einzigartigkeit<br />
nicht von denen gesehen werden,<br />
von denen sie es sich sehnlichst wünschen?<br />
Traurigkeit und Wut und verräterische<br />
Falschheit.<br />
Die Große gab genau das an die Kleine<br />
weiter, was sie ebenso unverdientermaßen<br />
schon über Jahre selbst erlebt hatte: Sie übte<br />
Macht über die Kleine aus; sie betrieb eine<br />
solch unbarmherzige Herrschaft, die vielleicht<br />
noch schlimmer war als die, unter<br />
der sie selbst so oft gelitten hatte, um ihre<br />
eigene aufgestaute ohnmächtige Wut zu lindern.<br />
Auch wusste die Große, dass sie im<br />
Ansehen der Erwachsenen steigen konnte,<br />
wenn sie alles weitererzählte, was die Kleine<br />
in ihrem überschwänglichen Forscherdrang<br />
erprobte oder was sie in ihrer naiven Unbedarftheit<br />
äußerte oder anstellte. Die folgenden<br />
Bestrafungen der Kleinen waren für die<br />
Schwester ein Labsal.<br />
Sobald das kleine Mädchen ungestört<br />
seinen eigenen Gedanken nachgehen und<br />
seine Spiele spielen konnte, war es sehr<br />
glücklich. Dabei dachte es nicht an die Erwartungen<br />
der Erwachsenen. Die Kleine<br />
hatte gerne Puppen um sich, mit denen<br />
sie eine Art Aschenputtel-Spiel inszenierte,<br />
denn genau so fühlte sie sich oft: wie<br />
Aschenputtel. Später war dieses Spiel auch<br />
mit Freundinnen sehr beliebt.<br />
Doch das Beste, was ihr im Leben passieren<br />
konnte, war ihre Begegnung mit der Musik.<br />
Schon von klein auf begleiteten das Mädchen<br />
der Gesang der Mutter, Klavierspiel<br />
und Radiomusik. Hörte es Musik, fühlte es<br />
sich stets in eine andere, bessere Welt versetzt,<br />
alles gelang ihm wie von selbst, alles<br />
erschien ihm plötzlich wie in einem anderen<br />
Licht. Oft genug wunderte es sich, was da in<br />
ihm vorging – es erschien ihm unglaublich,<br />
es war kaum mit Worten zu beschreiben.<br />
Und dann geschah, was dem Kind wie<br />
ein wundersamer Zauber vorkam: Es wurde<br />
von unbekannter Hand in einen Raum<br />
geführt, in dem eine Frau, die den Kindern<br />
sehr wohlgesonnen war, das Flötenspiel<br />
30 focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021
Themen<br />
lehrte. Diese Frau wirkte auf das Kind sehr<br />
sicher, freundlich und bestimmt und lud<br />
das Mädchen zum Zuhören ein. Die um sie<br />
gescharten Kinder waren eifrig dabei, ihre<br />
schon erlangten Fähigkeiten im Umgang mit<br />
der Flöte darzubieten. Und dann durfte das<br />
Kind eine solche selbst in die Hand nehmen<br />
und ihr ein paar Töne entlocken. Allein vom<br />
Zusehen und -hören hatte es erfasst, was das<br />
Wesen dieses klingenden luftdurchströmten<br />
Instrumentes ausmachte. Es konnte sofort<br />
einige Töne spielen, und die freundliche<br />
Frau erkannte, dass sich dem Mädchen da<br />
etwas Besonderes offenbarte. Sie zeigte ihm<br />
sogleich die entsprechenden Noten dazu<br />
– und siehe da, die erste Tonfolge erfüllte<br />
den großen Raum und gleichzeitig auch das<br />
Kind und die Lehrerin. Nun war das kleine<br />
Mädchen in einer solchen Stimmung, dass<br />
es sich wie in den Himmel versetzt fühlte.<br />
Die Kleine hatte einen Raum betreten, in<br />
dem alles Lebenswichtige und Heilsame<br />
vorhanden war; sie hatte einen Raum betreten,<br />
in dem sie willkommen geheißen wurde,<br />
in dem bereits ein Platz für sie reserviert<br />
war; sie hatte einen Raum betreten, der ihr<br />
Heimat wurde.<br />
Nun konnte das Mädchen nicht mehr<br />
von dem hölzernen Zauberrohr lassen. Da<br />
gab die gute weise Frau ihm eines mit nach<br />
Hause. Die Kleine durfte es so lange behalten,<br />
bis sie ein eigenes in Händen halten<br />
konnte. Eine lebenslange Liebe zu diesem<br />
Raum, in dem die Musik und die menschlichen<br />
Wesen zu einem großen Ganzen zusammenschmelzen,<br />
war erwachsen, und<br />
diesen pflegte das glückliche Kind fortan<br />
sorgsam, denn es wollte ihn nie mehr wieder<br />
missen.<br />
Doch die Verletzungen, die es durch die anderen<br />
erfahren hatte, wurden nur äußerlich<br />
geheilt; tief drinnen in der Seele der Kleinen<br />
brannten sie weiter und bestimmten fortan<br />
ihr Verhalten entscheidend mit. Die gute weise<br />
Frau aber wusste wohl, was zum Gesunden<br />
nötig war. Und so erschien sie dem Mädchen<br />
nach vielen Jahren abermals, streckte<br />
ihre Hände nach der Kleinen aus, umarmte<br />
und streichelte sie zärtlich und wiegte sie so<br />
lange in ihren Armen, bis auch die alten, tief<br />
versteckten Wunden heilen konnten und nur<br />
mehr Narben zurückblieben.<br />
Mit meinem Kind an der Hand überquere<br />
ich nun still lächelnd den Hof meiner Vorfahren.<br />
Das Kind fühlt sich seltsam erlöst,<br />
wundersam geheilt und ist zu neuem Leben<br />
erwacht. Eine weise Frau in hellgrauem Gewand<br />
hat es mir übergeben mit den Worten:<br />
Schütze es, es braucht dich und deine Liebe,<br />
nimm es bei dir auf. Es ist deines.<br />
Mag. Krimhild König<br />
Psychotherapeutin<br />
DAF-AKADEMIE-Seminarleiterin,<br />
A-4020 Linz<br />
office@ihre-psychotherapeutin.<br />
eu<br />
www.ihre-psychotherapeutin.eu<br />
Focusing-Schnuppertag<br />
Entdecken Sie Focusing für sich,<br />
es ist ein kleines Abenteuer mit sich selbst!<br />
Leitung: Mag. a Krimhild König, MAS<br />
Termin: 05.03.2022, 10:00 – 18:00 Uhr<br />
Ort: Klammmühle in A-4209 Engerwitzdorf<br />
Kosten: € 130,—<br />
Anmeldung: info@daf-focusing-akademie.com<br />
focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021 31
Themen<br />
Fokussierende Sozialkörper<br />
■■<br />
Von Andrea Schüller<br />
Gruppen und Institutionen:<br />
Was machen<br />
sie in unseren<br />
Körpern, wie setzen<br />
sie sich darin fort?<br />
1 Im nächsten Heft des FO-<br />
CUSING<strong>JOURNAL</strong>s wird<br />
ein weiterer Teil der Langfassung<br />
publiziert.<br />
Allen, die sich je gefragt haben, »geht<br />
Focusing auch in der Gruppe«, oder<br />
jenen, die mit Gruppen oder anderen sozialen<br />
Systemen zu tun haben, sich gern<br />
darin aufhalten, und vielleicht auch diejenigen,<br />
die Gruppen eher fürchten, will ich<br />
focusing-orientierte Begleitung von Sozialkörpern<br />
näherbringen. Ich erläutere, wo ich<br />
Ansatzpunkte dieser Begleitung sehe und<br />
wofür ich das gut finde. Als Organisationsberaterin<br />
mit gruppendynamischem und integralem<br />
Hintergrund kreuze ich Focusing<br />
mit meiner Arbeit mit Menschen und sozialen<br />
Systemen. Mein Anliegen ist, dass Menschen<br />
und Gruppen den Zugang zur Quelle<br />
finden und pflegen und daraus sich und ihre<br />
(sozialen) Formen lebendig schöpfen.<br />
Annäherung<br />
Johannes Wiltschko erzählt, Gene Gendlin<br />
hätte es selbst nicht so sehr mit Gruppen gehabt;<br />
er habe einmal geäußert, er hätte nicht<br />
viel Hoffnung, dass sich einzelne Menschen<br />
in Gruppen gut entwickeln könnten – wegen<br />
ständiger gegenseitiger Projektionen. In<br />
der Gruppendynamik fristet wiederum der<br />
Körper ein Schattendasein. Auf einer Gruppendynamik-Konferenz<br />
wurde mein Sozialkörper-Zugang<br />
mit der Bemerkung quittiert,<br />
»der Körper ist ein Tabu in der Gruppendynamik«<br />
– das war anno 2019. Der kuriose<br />
Ausspruch zeigt, dass trotz Embodiment-<br />
Wissenschaft und -Praktiken noch genug<br />
Luft nach oben ist, die Körper-Geist-Spaltung<br />
in vielen Feldern von Beratung und<br />
Begleitung sozialer Systeme zu überwinden.<br />
Der Körperprozess als tieferes (nicht intellektuelles,<br />
sondern spürbewusstes) Verstehen<br />
für das Implizite und Werdende wird<br />
eher punktuell eingesetzt als systematisch<br />
beachtet, auch wenn »Körper« dransteht.<br />
Die Berührungsängste zwischen Körper,<br />
Gruppe und Organisation sind durchaus da.<br />
Focusing und die Prozessphilosophie sehe<br />
ich als Vehikel und Weg, sie zu verkleinern –<br />
konzeptionell und praktisch-konkret.<br />
Im Folgenden geht es also um fokussierende<br />
Sozialkörper. Ich beschreibe, was<br />
ich unter Sozialkörper verstehe und wo<br />
ich Eingangstore für Focusing in der Begleitung<br />
verorte. Dieser Text ist ein kleiner<br />
Ausschnitt einer im Entstehen begriffenen<br />
Langfassung 1 .<br />
Wie können wir einander bemerken, während<br />
wir interagieren? Keuchend, sprechend,<br />
lachend, strahlend, ton- und wortlos,<br />
angestrengt, entspannt, verwirrt herumfuchtelnd,<br />
sitzend, stehend … Wie erleben<br />
wir das Bewirkte? Haben wir einen Sinn für<br />
die lebendigen Produkte unserer Interaktion?<br />
Was erschaffen wir in, zwischen und um<br />
uns herum und wie wirken unsere Erzeugnisse<br />
zurück auf unser Sein, Denken, Fühlen,<br />
Interagieren? Gruppen, Organisationen<br />
und Institutionen sind solche Produkte.<br />
Fragen wir weiter: Wie tragen wir diese<br />
Gruppen und Institutionen, in denen wir<br />
leben und arbeiten, in uns? Was machen<br />
sie in unseren Körpern, wie setzen sie sich<br />
darin fort? Wie finden wir aus Verstrickungen,<br />
dumpfen Kollektivkörpern, äonenalten,<br />
eingefleischten Arbeitsweisen und institutionellen<br />
Bahnungen heraus? Können<br />
wir ins Lebendige hinein kooperieren, die<br />
Kollektivspur durchkreuzen und ganz neue,<br />
frische Spielweisen im weißen Schnee der<br />
ungeschöpften Möglichkeiten bahnen? Ich<br />
finde noch tausend Fragen, die sich in der<br />
Arbeit mit und in Gruppen, Organisationen<br />
und größeren Strukturen stellen. Für mich<br />
starten und enden alle in einer einzigen Frage:<br />
Wie kann ich selbst zum WIE und WO-<br />
FÜR sozialer Gemeinschaften beitragen,<br />
während ich zugleich davon miterzeugt<br />
werde und miterzeuge? Im Kern braucht<br />
es dafür die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit<br />
auf das Erleben zu richten, während ich mit<br />
anderen Menschen mit-bin und mit-werde,<br />
und auch auf das Erzeugnis, das Produkt<br />
davon.<br />
32 focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021
Themen<br />
Der Sozialkörper ist ein solches Produkt.<br />
Focusing kann hierfür gute Dienste leisten.<br />
Sozialkörper durchdenken<br />
Statt Sozialkörper könnte ich Worte wie<br />
Gruppe, Team, Bande, Familie, Organisation,<br />
Netzwerk, Verein etc. verwenden. Die<br />
Alltagsbegriffe sind geläufig, jeder Mensch<br />
hat ein Erleben und inneres Wissen dazu.<br />
Das kommt daher, dass wir Menschen soziale<br />
Wesen sind, ein Mensch impliziert einen<br />
anderen, und es liegt in unserer Natur,<br />
Gruppen zu bilden. Menschen sind einander<br />
mit-werdende Umwelt: Jeder Mensch<br />
entsteht aus 1+1 = 3, das ist die sogenannte<br />
Primärfamilie. Selbst die passioniertesten<br />
Einzelgänger*innen wissen körperlich davon,<br />
denn sie wurden ja auch einmal in ein soziales<br />
Schneckenhaus geboren bzw. entstand es<br />
durch ihr Hinzukommen. Gendlin schreibt:<br />
»Die wichtigste ›Umwelt‹ eines jeden Tieres<br />
ist seine Spezies, andere Tiere, die so sind<br />
wie es selbst. Sie sind Produkte des Umwelt-<br />
2-Prozesses der Spezies. (…) Der bei weitem<br />
größte Anteil der Aktivität von Tieren findet<br />
mit- und untereinander statt. Die Mutter für<br />
das Kind, Weibchen und Männchen füreinander,<br />
die Gruppe für das Individuum – all<br />
das sind wesentliche Umwelten. (…) Der Lebensprozess<br />
(Umwelt 2) schafft sich selbst eine<br />
Umwelt, in der er sich dann fortsetzt – Umwelt<br />
3« (Gendlin 2016, S. 54). Ein Mensch impliziert<br />
einen anderen, und miteinander implizieren<br />
wir das Beziehungshäuschen dazwischen<br />
und rundherum. Gendlin nennt diese<br />
Umwelt 3 die »haus-gemachte« oder »domestizierte«<br />
Umwelt: »(…) Umwelt 3 ist der Zement,<br />
auf dem wir gehen, der unterirdische<br />
Bau des Maulwurfs, der Bienenstock, der<br />
Ameisenhügel, unser Körper (…)« (ebd.).<br />
Hier ist mein Sozialkörper-Begriff in Gendlins<br />
Theoriegebäude angesiedelt.<br />
»Sozialkörper ist Umwelt« heißt nicht,<br />
dass eine Gruppe abgetrennt von uns irgendwo<br />
da draußen wäre und wir gingen in<br />
sie hinein wie in ein Haus, einen Seminarraum<br />
oder einen Sesselkreis. Im Gegenteil.<br />
Menschen und Gruppen sind nicht voneinander<br />
getrennte »Vorgänge«, sondern Teil<br />
eines Vorgangs. Nicht 1:1, also im Sinne<br />
von »Ich bin die Gruppe und die Gruppe<br />
ist Ich«. Sondern: Der Gruppenprozess enthält<br />
meinen Prozess, und in meinem Prozess<br />
ist der Gruppenprozess enthalten. Als<br />
Mitschöpfende*r bin ich dafür auch mitverantwortlich,<br />
egal ob ich mir dessen gewahr<br />
bin oder nicht.<br />
Sozialkörper sind vieles zugleich<br />
Denken wir weiter. Es bleibt nicht bei einer<br />
Umwelt.<br />
An den am Sozialkörper teilhabenden<br />
Menschen hängen weitere ineinander verschachtelte<br />
Umwelten und Themen, die in<br />
seinem impliziten Reservoir mitschwingen.<br />
Die Menschen haben sozusagen immer<br />
alles Mögliche aus Natur, Kultur und Technik<br />
mit im Pelz und tragen es als interaktionale<br />
Körper in den Sozialkörper: Zugehörigkeiten<br />
zu verschiedenen Organisationen,<br />
Ethnien, Erfahrungen aus anderen Gruppen,<br />
Träume, Visionen, Erlebnisse mit Gruppenmitgliedern<br />
in anderen Situationen, abwesende<br />
Mitglieder und viele Lebensthemen,<br />
die auf den ersten Blick vielleicht gar nichts<br />
mit dieser Gruppe hier und jetzt zu tun haben.<br />
Autoritätsthemen, Zugehörigkeitsthemen,<br />
Macht und Entfaltungsthemen u.v.m.<br />
An einem simplen Beispiel in einem Betrieb<br />
veranschaulicht: Ein Team mitten im<br />
Arbeitsprozess, 9.00 früh, einer spricht gerade<br />
ins Handy, eine andere programmiert<br />
den Roboter, ein Dritter tippt in den PC, ihr<br />
aller Herz pumpt Blut durch die Adern, der<br />
Chef kommt herein und sagt: »Guten Morgen.«<br />
Mit den gleichen Augen, die gerade<br />
am Bildschirm Zahlungseingänge verfolgen<br />
oder in die Roboteraugen starren, schauen<br />
sie ihn an. Einer denkt: »War das ›Guten<br />
Morgen‹ jetzt freundlich oder hat er an mir<br />
vorbeigeschaut? Der hat das nur so gesagt.<br />
Gestern wollte er doch noch etwas Wichtiges<br />
mit mir besprechen. Nichts ist passiert.<br />
Und jetzt geht er zur Kollegin, die sprechen<br />
so herzlich miteinander. Ich glaube, hier ist<br />
was los, die wollen mich ausbooten …« Der<br />
Blutdruck steigt.<br />
Jede*r von uns trägt zum Geschehen in<br />
einer Gruppe, deren Teil wir sind, bei und<br />
formt sie mit. Die Gruppe wirkt sich wiederum<br />
auf jede*n Einzelne*n aus, und zwar<br />
anders und immer unvorhersehbar, aber<br />
immer genau. Diese Wechselwirkungen geschehen,<br />
auch wenn ich, du, wir sie nicht<br />
bemerken. Wir stecken uns fortlaufend an,<br />
die Gruppe ist das Ergebnis. Die für den<br />
Verstand schwindelerregende Vielheit lebt<br />
der Körper ungeteilt. Die Vielheit geht noch<br />
dazu durch Zeit und Raum: Wir erleben,<br />
wie zum Beispiel abwesende Anwesende das<br />
Geschehen mitbeeinflussen oder wie Vergangenheit<br />
und Zukunft noch oder schon<br />
hereinragen und mit-wirken. Lineare Zeit<br />
ist nur ein Aspekt der Gruppenentwicklung,<br />
Menschen sind einander<br />
mit-werdende<br />
Umwelt.<br />
Der Lebensprozess<br />
schafft sich selbst<br />
eine Umwelt, in der<br />
er sich dann fortsetzt<br />
(Gendlin).<br />
Der Gruppenprozess<br />
enthält meinen<br />
Prozess, und in<br />
meinem Prozess ist<br />
der Gruppenprozess<br />
enthalten.<br />
focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021 33
Themen<br />
Halt- und Sicherheitsbedürfnisse<br />
bzw. Angst vor<br />
Ungewissheit und<br />
Chaos bewegen<br />
Menschen dazu,<br />
ihre Gestaltungsmacht<br />
an äußere<br />
Instanzen, z.B. an<br />
eine Autorität, ein<br />
Programm oder<br />
an ein Konzept, zu<br />
delegieren und sich<br />
unterzuordnen.<br />
So bilden sich<br />
strukturgebundene<br />
Phänomene hinter<br />
unserem Gewahrsein,<br />
vom Lebendigen<br />
abgetrennte<br />
Praktiken, die ganze<br />
Sozialkörper in<br />
Agonie versetzen<br />
können.<br />
Social body ist mein<br />
Lieblingsbegriff. Der<br />
englische Ausdruck<br />
ist weniger »deutsch«<br />
und damit für mich<br />
frei von daran hängender<br />
Kultur. Ich<br />
fühle mich lebendig,<br />
inspiriert und mir ist<br />
kreativ und fröhlich<br />
zu Mut, wenn ich<br />
sage, ich arbeite mit<br />
social bodies.<br />
in den Körpern tragen wir viele Zeiten zugleich.<br />
Kurzum, in der Gruppe tobt das Leben,<br />
das auch in uns tobt.<br />
Eine Menge kommt da also zusammen, Sozialkörper<br />
sind komplex, vielheitlich, unberechenbar.<br />
Und diese Vielheit müssen wir<br />
irgendwie vereinfachen, bahnen, lebbar machen,<br />
in und zwischen uns. Ohne den Körper<br />
wären wir in der Begleitung all dieser<br />
Prozesse aufgeschmissen.<br />
Sozialkörper absorbieren und<br />
schaffen Ungewissheit<br />
Vieles ist möglich in der lebendigen Überfülle,<br />
gleichzeitig sind der nächste Schritt,<br />
der nächste Atemzug, die nächste Interaktion<br />
ungewiss. Kommt der Atemzug, kommt<br />
ein frischer Schritt und was passiert dann?<br />
Spreche ich meinen Chef an, kann ich Ängste<br />
und Vorstellungen beiseitestellen, was<br />
sage ich, wie gehe ich es an? Was löse ich<br />
dann womöglich bei meinen Kolleg*innen<br />
aus? Und wie wirkt das dann wieder auf uns<br />
alle zurück? Kündige ich – oder trinke ich<br />
jetzt mal lieber einen Tee?<br />
Kein Wunder, dass das emotional und<br />
mental überfordern kann: Vermischungen,<br />
Projektionen, Überlagerungen, Verstrickungen,<br />
Verwicklungen, Abspaltungen<br />
können Stress- und Drucksituationen in<br />
einem selbst und untereinander erzeugen<br />
und den Weg zur Quelle versperren. In den<br />
Hindernissen liegt aber auch das Entwicklungs-<br />
und Reifungspotenzial für Menschen<br />
und ihre sozialen Verkörperungen, wenn<br />
der Schritt tiefer ins gegenwärtige Erleben<br />
riskiert werden kann und von dort lösende<br />
neue Lebensbewegungen kommen.<br />
Wenn die Voraussetzungen dafür fehlen, beobachten<br />
wir, dass Halt- und Sicherheitsbedürfnisse<br />
bzw. Angst vor Ungewissheit und<br />
Chaos Menschen dazu bewegen, ihre Gestaltungsmacht<br />
an äußere Instanzen, z.B. an<br />
eine Autorität (etwa die Leitung, die Dienstälteste),<br />
ein Programm (Regeln und damit<br />
verbundene Rollen, Normen und Rituale)<br />
oder an ein Konzept (Vorstellung, Ideal), zu<br />
delegieren und sich unterzuordnen. Die Leitung<br />
bzw. Regel- und Rollensysteme sollen<br />
funktionieren und für die Einzelnen möglichst<br />
komfortabel, sinnhaft, zieldienlich<br />
oder sonst wie förderlich sein. Auch wenn<br />
es nicht aufgedeckt wird. Manche bemerken<br />
diese Phänomene erst gar nicht, andere fühlen<br />
sich darin geborgen, andere bemerken<br />
sie zwar, aber leiden darunter und suchen<br />
eine Spur, wie sie anders mitwirken könnten.<br />
Diese Phänomene bemerke ich in jeder<br />
Gruppe, mehr oder weniger, subtiler oder<br />
gröber. Entwicklungspsychologisch lassen<br />
sich die unterschiedlichen Beweggründe,<br />
Unsicherheit zu bannen und Komplexität<br />
zu reduzieren, auch gut begründen und herleiten<br />
(Lovinger 1976). Ich will diese Phänomene<br />
bewusst machen, nicht bewerten,<br />
denn jede Abhängigkeit hat ihren Sinn und<br />
ihre Zeit. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe<br />
vereinfacht ja auch das Leben, nimmt ein<br />
Stück Last und Verantwortung, die mit der<br />
Freiheit auch einhergeht. Kulturell ist vieles<br />
von unseren Vorfahren gebahnt, und wir<br />
fahren weiter in diesen Spuren.<br />
Wir haben vermutlich alle schon erfahren,<br />
dass lebendige Einflussnahme in Gruppen<br />
und Organisationen kein so einfaches Unterfangen<br />
ist. Das Kind wird dann oft mit<br />
dem Bad ausgeschüttet, und »das System«<br />
als unverrückbar, wie gottgegeben »von<br />
denen da oben« abgebucht. Damit werden<br />
Verantwortung und Lebensfreude abgegeben.<br />
»Das System« sei schuld oder es schlage<br />
zurück usw. Der Freiraum, das Lebendige<br />
wird in anderen Welten »außen« gesucht,<br />
und dort, wo wir drinstecken und viel Arbeitszeit<br />
verbringen, wird schlechtes Klima<br />
in Kauf genommen und damit die alte<br />
Kultur erst recht wieder verstärkt. So bilden<br />
sich strukturgebundene Phänomene hinter<br />
unserem Gewahrsein, vom Lebendigen abgetrennte<br />
Praktiken, die ganze Sozialkörper<br />
in Agonie versetzen können. Sicherheit wird<br />
dann gefährlich: Wir gehen in der Kultur<br />
verloren, wenn Kultur den freien Geist tötet.<br />
Wie gelingt also der Schritt in das Ungewisse,<br />
das zwischen uns liegt?<br />
Über den Körper können wir lebendige<br />
Sozialkörper mitschaffen<br />
Sozialkörper ist mein Querbegriff für soziale<br />
Systeme wie Gruppe, Organisationen, Institutionen<br />
und größere Strukturen. Im darin<br />
wichtigen Wort »Körper« schwingt für mich<br />
mit, dass dort das ganze Erleben der Situation<br />
als Körperwissen und kreatives Potenzial<br />
lebt. Und wie ich ausgeführt habe, gehören<br />
zu dieser Situation auch die Erzeugnisse des<br />
Körpers. Für frische, lebendige Sozialkörper,<br />
von denen wir gern Teil sein wollen,<br />
dürfen wir lernen, unser Gewahrsein dafür<br />
zu verfeinern und zu artikulieren.<br />
34 focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021
Themen<br />
Das Wort »Sozialkörper« drückt das Lebendige<br />
im Kollektiven aus und hebt den Körper<br />
als Quelle für lebendige Selbsterzeugung<br />
sozialer Formen hervor. Im Sozialkörper-<br />
Begriff verbinden sich für mich Lebensbewegungen,<br />
die Formen hervorbringen<br />
können, und das Geformte, in dem Lebensbewegungen<br />
fließen können. Sicherheit und<br />
Freiheit können wir auch dazu sagen. Menschen<br />
und ihr Körperprozess sind nicht in<br />
sich abgeschlossen, Sozialkörper auch nicht.<br />
Die Beziehungsnetze sind offen, d.h. auf viele<br />
Arten und Weisen knüpfbar, frisches Leben<br />
kann in alte Rollenspiele mit einfließen<br />
und sowohl die Spieler*innen als auch das<br />
Spiel verändern. Ein implizites Lebensmehr<br />
steht offen, auch wenn es sich manchmal<br />
nicht so anfühlt. Es gibt viele Möglichkeiten,<br />
dennoch ist es nicht beliebig, wie es weiter<br />
geht.<br />
Theoretisch verankert sich dieses interessante<br />
Schöpfungsprinzip lebendiger Systeme<br />
im Autopoiesis-Konzept von Maturana<br />
und Varela (2020). Dort heißt es operative<br />
Geschlossenheit. Damit ist ein inhärenter<br />
»Eigensinn« der Lebewesen gemeint, der<br />
entscheidet, was aus der Umwelt aufgenommen<br />
wird, wie dieser Reiz verarbeitet wird<br />
und zu welchen Schritten das führt. Gendlin<br />
nennt dieses Phänomen des Vieles-ist-möglich-ABER-immer-nur-genau<br />
responsive order<br />
oder order of carrying forward (»Fortsetzungsordnung«).<br />
Auf diese Kräfte dürfen wir vertrauen<br />
und die Machbarkeit auf ihren Platz verweisen,<br />
wenn wir in Sozialkörpern arbeiten<br />
oder sie begleiten und dabei von ihnen mitgestrickt<br />
werden.<br />
Wie geht es weiter? Eingangstore<br />
für Focusing im social body<br />
Focusing lasse ich auf unterschiedliche Arten<br />
in die Begleitung einfließen. Wie, das<br />
werde ich im nächsten Heft des FOCU-<br />
SING<strong>JOURNAL</strong>s darstellen und an konkreten<br />
Szenen einer Teamsupervision veranschaulichen.<br />
Quellen<br />
Gendlin, E. (2016): Ein Prozess-Modell. Verlag Karl Alber,<br />
Freiburg/München, 2.Auflage<br />
Loevinger, J. (1976): Ego development. Conceptions and<br />
theories. Jossey-Bass, San Francisco<br />
Maturana, R.H./Varela, F. (2020): Der Baum der Erkenntnis.<br />
Die biologischen Wurzeln menschlichen<br />
Erkennens. Frankfurt, 8.Auflage<br />
Dr. Andrea Schüller<br />
Consulting, generative Transformation<br />
& Coaching<br />
Lehrtrainerin für Gruppendynamik<br />
(ÖGGO), A-1020 Wien<br />
schueller@andrea-schueller.<br />
com<br />
www.andrea-schueller.com<br />
focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021 35
Themen<br />
Fortsetzung von Seite 1:<br />
… einnehmen und verändern kann. Im Focusing wollen wir einen nächsten, für<br />
jede Person und in jeder Situation unterschiedlichen, stimmigen Schritt entstehen<br />
lassen. Was immer wir tun, unsere absichtsfreie Haltung lässt das Ergebnis<br />
offen.<br />
Daher gibt Focusing gar nicht her, irgendwelche überpersönlichen Ziele anzustreben,<br />
wie etwa »Erleuchtung« oder (Selbst-)Disziplinierung. Wir verfolgen<br />
keine pädagogischen Absichten, wir schreiben keinen Tagesablauf vor. Focusing<br />
dient keinem Glaubenssystem, keiner Ideologie, im Gegenteil: Es ist eine Vorgehensweise,<br />
die verfestigte Inhalte aufspürt und zur Disposition stellt.<br />
Ich bin schon seit Langem dafür, Achtsamkeit nicht als konstitutiven Begriff<br />
für Focusing in Anspruch zu nehmen. Zu vieles und zu viele verbergen sich<br />
hinter diesem ursprünglich buddhistischen Konzept. Und zu spezifisch ist das,<br />
was wir im Focusing darunter verstehen. Unsere Art des Achtsamseins können<br />
weder Jäger noch Soldat, weder Boxer noch Kampfsportler (alle absichtlich<br />
ohne Gendersternchen), weder Kampfkünstler*innen noch so manche Meditierende<br />
so ohne weiteres für sich reklamieren.<br />
Nicht, dass ich meinte, Focusing wäre besser oder wertvoller, aber anders,<br />
jedenfalls in manchen Hinsichten.<br />
JOHANNES WILTSCHKO<br />
Focusing-oriented therapy is not therapy<br />
that includes brief bits of focusing instruction.<br />
Rather it means letting that which arises from the focusing depths<br />
within a person define the therapist’s activity, the relationship,<br />
and the process in the client.<br />
Gene Gendlin<br />
36 focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021
Die Hefte des <strong>FOCUSING</strong><strong>JOURNAL</strong>s können Sie kostenlos<br />
als pdf-Datei herunterladen unter:<br />
https://www.daf-focusing-akademie.com/medien/#journal<br />
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info@daf-focusing-akademie.com.
Bücher über Focusing<br />
Eugene Gendlin<br />
Ein Prozess-Modell<br />
Verlag Karl Alber<br />
Johannes Wiltschko (Hrsg.)<br />
Focusing und Philosophie<br />
Facultas<br />
Eugene T. Gendlin<br />
Focusing-orientierte<br />
Psychotherapie<br />
Klett-Cotta<br />
Eugene T. Gendlin/<br />
Johannes Wiltschko<br />
Focusing in der Praxis<br />
Klett-Cotta<br />
Johannes Wiltschko<br />
Hilflosigkeit in Stärke verwandeln<br />
epubli-Holtzbrinck<br />
Johannes Wiltschko<br />
Ich spüre, also bin ich!<br />
epubli-Holtzbrinck<br />
G. Stumm/J. Wiltschko/W. W. Keil<br />
Grundbegriffe der Personzentrierten<br />
und Focusing-orientierten<br />
Psychotherapie und Beratung<br />
Klett-Cotta<br />
Johannes Wiltschko<br />
Die Anstalt<br />
Edition Keiper<br />
Donata Schoeller<br />
Close Talking<br />
Erleben zur Sprache bringen<br />
De Gruyter<br />
Donata Schoeller, Vera Saller (Hrsg.)<br />
Thinking thinking<br />
Practicing radical reflection<br />
Karl Alber<br />
David M. Levin (Ed.)<br />
Language beyond Postmodernism<br />
Saying and Thinking in Gendlin’s Philosophy<br />
Northwestern University Press<br />
Tony Hofmann<br />
Denken in Prozessen<br />
Verlag für psychosoziale<br />
Medien<br />
Eugene T. Gendlin<br />
A Process Model<br />
Northwestern University Press<br />
Eugene T. Gendlin<br />
Experiencing and the Creation of Meaning<br />
A Philosophical and Psychological<br />
Approach to the Subjective<br />
Northwestern University Press<br />
Edward S. Casey, Donata Schoeller (Eds.)<br />
Saying What We Mean<br />
Implicit Precision and the Responsive Order<br />
Selected Works by Eugene T. Gendlin<br />
Northwestern University Press