FOCUSING JOURNAL Nr. 47
Zeitschrift zur Kultur der Achtsamkeit herausgegen von der AKADEMIE FÜR FOCUSING, FOCUSING-THERAPIE UND PROZESSPHILOSOPHIE (DAF-AKADEMIE)
Zeitschrift zur Kultur der Achtsamkeit
herausgegen von der AKADEMIE FÜR FOCUSING, FOCUSING-THERAPIE UND PROZESSPHILOSOPHIE (DAF-AKADEMIE)
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Themen<br />
3 Aus: Wiltschko, J. Anfänger-Geist.<br />
Hinführungen<br />
zur Focusing-Therapie.<br />
Focusing-Bibliothek, Band<br />
I. Würzburg 1991. S. 70<br />
(vergriffen)<br />
Zweite Essenz<br />
Da uns die Antwort auf die Frage, was Focusing<br />
sei, regelmäßig ins Stottern bringt,<br />
sagt man gern, dass man es halt erleben<br />
müsse – am besten in einem entsprechenden<br />
Seminar. Das klingt nach einem billigen<br />
Verkaufstrick oder nach einer esoterischen<br />
Ausrede. Dann aber, wenn man Focusing<br />
praktizieren kann, ist es schon richtig, dass<br />
man mittels Focusing mehr und mehr herausfindet,<br />
welche Phänomene im oder hinter<br />
dem Wort »Focusing« stecken.<br />
Die Aussage, Focusing verstünde man<br />
erst, wenn man es mit Focusing untersucht,<br />
klingt natürlich wie ein logisches No-go. Ein<br />
typischer Zirkelschluss. Nichtsdestotrotz<br />
habe ich eines Nachts vor 35 Jahren folgendes<br />
niedergeschrieben:<br />
In welchen Sinnzusammenhang ist Focusing<br />
eingebettet? Auf welcher Sicherheit<br />
ruht es? Aus welchem Boden wächst es heraus?<br />
Und wohin will es? Kann ich dazu in<br />
mir Antworten finden, Antworten, die ihre<br />
Evidenz aus dem Erleben gewinnen und<br />
die nicht aus bloßen Worten bestehen, die<br />
keinen Boden haben? Gibt es in mir etwas,<br />
das sicher und beständig ist, etwas, dem ich<br />
trauen kann und treu bleibe? Wo wohnt meine<br />
Ruhe, meine Selbstverständlichkeit?<br />
Diesen Fragen nachzugehen, bringt mit<br />
sich, mich sinken zu lassen, tief, unsicher, ob<br />
ich einen Grund erreichen werde. Und dabei<br />
entdecke ich, dass ein Grund von selbst<br />
und für sich gar nicht da ist. Ich erschaffe<br />
ihn, indem ich hinabspüre und Worte emporwachsen<br />
lasse. Dieses Geschehen lässt<br />
Grund entstehen, einen Boden, der sicher<br />
trägt, und eine Atmosphäre, die den Atem<br />
frei macht, eine Welt, die von Sinn erfüllt<br />
ist. Nicht die Worte machen Sinn, nicht die<br />
durch diese Worte ausgedrückte Anschauung<br />
ist die Welt, nicht das denkende Spiel mit Begriffen,<br />
Vorstellungen und Modellen ist die<br />
Wirklichkeit. Nein, es ist nur das Geschehen<br />
selbst, das, was wir »Prozess« nennen, nur<br />
das ist es, was Wirklichkeit, Sinn, Ruhe und<br />
Selbstverständlichkeit stiftet. 3<br />
Meine zweite Essenz lautet daher: Was Focusing<br />
ist, lässt sich nur mit Focusing erfahren.<br />
Das enthebt uns natürlich nicht der<br />
Versuche, mit Worten darauf hinzuweisen,<br />
wie Focusing und die subtilen Prozesse, die<br />
es ausmachen, vor sich gehen.<br />
Dritte Essenz<br />
Dass ich das damals so schreiben konnte,<br />
verdanke ich einer zweiten, für mich umstürzenden<br />
Erfahrung, die ich in der Erstbegegnung<br />
mit Gene in Zürich machen<br />
durfte. Während seines Vortrags empfahl<br />
er den Hunderten Zuhörern, für ein paar<br />
Minuten die Augen zu schließen und zu<br />
bemerken, wie es innerlich gerade so ist,<br />
und damit ein wenig Zeit zu verbringen. Ich<br />
versuchte es: Das scheinbar chaotische Gedankengewusel,<br />
das Gewirr nicht fassbarer<br />
Empfindungen versetzte mich in Panik, zugleich<br />
aber ahnte ich die Power, die Potenz,<br />
die in diesem beängstigenden Erleben steckte.<br />
Und ich ahnte, was Gene damit meinte,<br />
wenn er diese Art des Erlebens als die Quelle<br />
schlechthin für Entwicklung, persönliches<br />
Wachstum, therapeutische Schritte und Erkenntnisfortschritt<br />
bezeichnete.<br />
8 focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021