FOCUSING JOURNAL Nr. 47
Zeitschrift zur Kultur der Achtsamkeit herausgegen von der AKADEMIE FÜR FOCUSING, FOCUSING-THERAPIE UND PROZESSPHILOSOPHIE (DAF-AKADEMIE)
Zeitschrift zur Kultur der Achtsamkeit
herausgegen von der AKADEMIE FÜR FOCUSING, FOCUSING-THERAPIE UND PROZESSPHILOSOPHIE (DAF-AKADEMIE)
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Themen<br />
Ich lernte, meinem<br />
Vater nachzufolgen,<br />
wo immer er einging<br />
oder ausging,<br />
und nichts zu sagen<br />
oder zu fragen,<br />
bis wir wieder allein<br />
waren.<br />
und sich bindet, nicht zurückzukehren. Das<br />
war komisch, denn wir wollten doch nur<br />
herauskommen und weg bleiben. Es waren<br />
zu der Zeit alle möglichen verschiedenen<br />
Regeln, die jedes Bureau verschieden erfinden<br />
konnte. Ich habe seitdem nie von solch<br />
einem Vertrag gehört. Es hat uns aber einige<br />
Monate später extra Angst gemacht, als man<br />
uns von Holland zurücksenden wollte.<br />
Jetzt kamen die Schwierigkeiten, die<br />
man der Erlaubnis auszuwandern im Weg<br />
stellte. Es waren zwanzig oder dreissig Papiere,<br />
die man von verschiedenen Bureaus<br />
bekommen musste. Da standen die Leute<br />
Tage und Nächte in langen Reihen um ein<br />
Gebäude herum und auch die Strasse entlang.<br />
Manchmal gab mir mein Vater die<br />
Aktentasche zu halten, damit sie unwichtig<br />
aussehe, so dass niemand uns die wegnimmt.<br />
Ich lernte, meinem Vater nachzufolgen,<br />
wo immer er einging oder ausging, und<br />
nichts zu sagen oder zu fragen, bis wir wieder<br />
allein waren. Die Erlaubnis wegzugehen<br />
zu bekommen, schien das Schwerste und es<br />
dauerte Monate. Es wurde Herbst.<br />
Endlich kam die Frage, wie wir hinauskommen<br />
könnten. Meine Tante in Argentinien<br />
und mein Onkel in der USA sollten uns<br />
das Visum arrangieren, aber das konnte lange<br />
dauern. Mein Vater wollte sofort weg. Man<br />
hörte von verschiedenen Wegen, auf denen<br />
es jemandem gelang, hinauszukommen.<br />
Einige sind in die Tschechei durchgekommen<br />
einfach mit dem alten Reisepass,<br />
der noch nicht angab, dass man Jude ist. Die<br />
Grenzkontrolle wusste noch nicht von dem<br />
neuen Judenpass. Das konnte man natürlich<br />
jetzt nicht mehr.<br />
Man konnte nach Jugoslawien mit einem<br />
Taufschein. Man konnte einen kaufen,<br />
ohne sich zu taufen. Das Datum musste aber<br />
früher als 1920 sein. Aber mein Vater sagte:<br />
»Das wird uns wahrscheinlich nicht Glück<br />
bringen.«<br />
Man konnte nach Litauen, wenn jemand<br />
in London 50 Pounds bezahlte. Wir<br />
kannten niemanden dort. Mein Vater sagte<br />
auch: »Ich war schon im Osten. Wir fahren<br />
nach dem Westen.«<br />
Man konnte im Schlafwagen nach Italien.<br />
Man bezahlte jemanden in Wien und<br />
wurde dann an der Grenze übersehen und<br />
nicht aufgeweckt. Mein Vater dachte aber, es<br />
sei nicht sicher genug. Der Vertrag sagte ja,<br />
wenn man uns zurücksenden würde, würde<br />
er gleich hopgenommen werden. Es musste<br />
der erste Versuch klappen.<br />
So konnte man auch mit dem Flugzeug<br />
in die Schweitz, wenn man vorher in Wien<br />
jemanden bezahlte. Es schien ihm nicht sicher.<br />
So auch in Strassburg war jemand, der<br />
angeblich Leute leitete, den Rhein nach<br />
Frankreich zu überqueren. Mein Vater<br />
dachte: »Was aber, wenn er uns in der Mitte<br />
des Flusses verlässt?«<br />
Auch nach Belgien verkaufte jemand<br />
eine Adresse in Köln. Einer dort würde uns<br />
durch den Wald leiten. Nur nach Holland<br />
war überhaupt kein Weg.<br />
Mein Vater wählte den Weg nach Belgien.<br />
Wir kauften in Wien »die Adresse« in<br />
Köln. Natürlich musste man dem in Köln<br />
das Meiste zahlen, damit er uns durch den<br />
Wald nach Belgien leiten sollte. Nun hatten<br />
wir endlich einen Weg heraus! Wir nahmen<br />
nur einen ganz kleinen Koffer mit. Einige<br />
Juwelen waren in meiner grünen Jacke eingenäht.<br />
Das Taxi stand unten vor dem Haus.<br />
Meine Mutter und ich stiegen ein. Ich<br />
schrieb die erste Seite meines Tagebuchs.<br />
Der Vater ging noch zum letzten Mal schauen,<br />
ob vielleicht doch die Post schon da ist.<br />
Er kam mit einem blauen Envelope zurück:<br />
das Affidavid von der USA! (Ein Affidavid<br />
ist natürlich kein Visum. Es ist nur ein Dokument,<br />
welches angibt, dass der Prozess<br />
für unser Visum offiziell begonnen hat.)<br />
Einige Monate später wurden wir in Holland<br />
hopgenommen, und das Affidavid<br />
war der Grund, warum man uns nicht nach<br />
Deutschland zurücksendete.<br />
Mit dem Zug nach Köln. In Regensburg<br />
stieg mein Vater aus, um mir eine Limonade<br />
zu kaufen. Es war niemand anderer im<br />
Coupé, nur meine Mutter und ich. Da kamen<br />
zwei in grauen Anzügen und sagten<br />
»Gestapo« und einer zeigte eine Medaille.<br />
»Wo ist Doktor Gendelin?« Wir sagten, wir<br />
wussten nicht. Der Zug bewegte sich und die<br />
zwei stiegen aus. Es kam dann bald von den<br />
hinteren Wagonen der Vater mit der Limonade.<br />
Er war hinten wieder eingestiegen, hat<br />
die zwei nicht gesehen, wusste nichts von<br />
ihnen. Meine lieben Eltern, die mir immer<br />
alles geben wollten! Die Limonade hatte uns<br />
gerettet. Wir blieben ängstlich, aber von der<br />
Gestapo hörten wir nichts mehr.<br />
In Köln nahm mich mein Vater mit zur<br />
»Adresse«. Sie war im Judenviertel, arme<br />
graue Strassen. Es war uns unheimlich, dass<br />
hier Juden einfach weiter wohnten, als wenn<br />
nichts passiert wäre. Die Deutschen waren<br />
4 focusing journal | heft <strong>47</strong>/2021