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«Clinical Assessment wertet unseren Beruf auf»

Erfahrungen mit dem Clinical Assessment-Unterricht für Nachdiplomstudiengänge HF am Kantonsspital St. Gallen

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Bildung

Erfahrungen mit dem Clinical Assessment-Unterricht für Nachdiplomstudiengänge HF am Kantonsspital St. Gallen

«Clinical Assessment wertet

unseren Beruf auf»

Körperliche Untersuchung durchführen, Clinical Reasoning anwenden, Entscheidungen

präzise begründen – solche Zusatzkompetenzen des Clinical Assessments werden in der

Praxis immer wichtiger. Das Kantonsspital St. Gallen hat CA-Kompetenzen auch in

Weiterbildungen und Nachdiplomstudiengänge integriert. Der Schritt hat sich bewährt.

Text: Denise Eigenmann, Martin Salzmann, Martin Ruprecht, Diana Staudacher, Birgit Vosseler

«Komplexe Patientensituationen kommen

in der klinischen Praxis immer

häufiger vor. Deshalb hilft es mir, dass

ich einen Patienten gezielt körperlich

untersuchen kann. Dadurch fällt es mir

viel leichter, die Situation einzuschätzen.

Ich kann systematisch vorgehen,

Hypothesen aufstellen, Schlüsse ziehen

und die nötigen Massnahmen ableiten.

So fühle ich mich im Patientenkontakt

sicherer und kompetenter. Zudem kann

ich meine Entscheidungen präzise begründen

und kommunizieren. Bei der

Zusammenarbeit mit dem ärztlichen

Dienst ist das ein grosser Vorteil», berichtet

eine Teilnehmerin des Nachdiplomstudiums

Intensivpflege.

Gefragte CA-Kompetenzen

Im Akutspital sind Clinical Assessment-

Kompetenzen verstärkt gefragt, insbesondere

bei Patient(inn)en mit mehrfachen

Diagnosen und hoher Pflegeintensität.

Das CA umfasst eine systematische

Anamnese und körperliche Untersuchung,

fokussiert ein Symptom oder einzelne

Organsysteme. Es kann auch «head

to toe» erfolgen. Zentral ist die Fähigkeit,

aus einer Fülle von Daten die richtigen

Schlüsse zu ziehen, um gezielte Pflegeinterventionen

einzuleiten. Dank der

CA-Kompetenzen ist es möglich,

• die Dringlichkeit der Behandlung zu

erkennen,

• Hypothesen strukturiert nachzugehen,

• Pflegediagnosen zu stellen und

• den aktuellen Status einer Patientin/

eines Patienten in präziser Fachsprache

zu formulieren.

Wie internationale Studien zeigen,

schätzen Pflegefachpersonen ihre CA-

Beispiel Mundinspektion: Das Clinical Assessment umfasst

eine systematische Anamnese und körperliche Untersuchung,

fokussiert ein Symptom oder einzelne Organsysteme.

Fotos: Kantonsspital St.Gallen

Das Clinical Assessment

gehört zu unserer

täglichen Arbeit und

wir können dadurch

an der Visite besser

mitdiskutieren.

Kompetenzen als sehr praxisrelevant

ein (Lesa & Dixon, 2007). Beispielsweise

fühlten sich 95 % in ihrer Pflegepraxis

sicherer, nachdem sie sich im Unterricht

mit dem CA vertraut machen

konnten. Zudem konnten sie die ärztliche

Dokumentation besser verstehen.

Etwa 90 % der Teilnehmenden berichteten,

dass es ihnen besser gelingt, die

20 Krankenpflege | Soins infirmiers | Cure infermieristiche 06 2020


Assessment-Ergebnisse in Fachprache

zu fassen und zu kommunizieren. Etwa

85 % fühlten sich sicherer beim Initiieren

spezifischer Pflegehandlungen

(Lesa & Dixon, 2007). Zudem legt das

CA wichtige Grundlagen für die interprofessionelle

Kommunikation und Zusammenarbeit

in komplexen Situationen

(Zambas et al., 2016).

Realitätsnaher CA-Unterricht

Im Rahmen der Einführung von Fachverantwortlichen

auf den Pflegestationen

des Kantonsspitals St. Gallen fiel die

Entscheidung, CA-Grundkenntnisse für

die Übernahme dieser Funktion vorauszusetzen.

Das war der Anlass, CA-Kompetenzen

auch in Weiterbildungen und

Nachdiplomstudiengänge zu integrieren.

In Zusammenarbeit mit der Fachhochschule

St. Gallen (FHSG) entstand

ein Schulungsangebot für Studierende

der Nachdiplomstudiengänge HF Intensiv-,

Anästhesie-, Notfall- und Onkologiepflege.

Die Lerninhalte des dreitätigen

CA-Unterrichts sind auf die

jeweiligen fachlichen Schwerpunkte

abgestimmt. Atmung, Thorax, Herz,

grosse Gefässe, Nervensystem und Delir

stehen im Fokus. Die zentralen Leitfragen

im Unterricht lauten:

• Wie gehe ich bei der Erfassung einer

Patientensituation strukturiert und

systematisch vor?

• Wie gelingt es, ausgehend von einem

Phänomen zu relevanten Differenzialdiagnosen

zu kommen?

• Mit welchen Fachbegriffen und in

welcher Reihenfolge kann ich eine

Patientensituation präzise und unmissverständlich

beschreiben?

CA-Implementierungsmodell (Ruprecht, 2017)

Schlüsselfaktoren der Entwicklung und Implementierung des Clinical Assessments (CA) im Pflegeprozess

Hochschulen

Fördern - ermöglichen

von Entwicklungen

(M. Ruprecht, V7a_180821)

Interessensverbände,

-gruppen

Berufsgruppe

Pflege

Berufsverband

Pflegende

Politiker/

Politikerinnen

«Leader»

(Personen, Institutionen)

Öffentlichkeit

Politik/Recht/Gesetz

Institution

CA im Pflegeprozess

Veränderung von

Rollen und

Erwartungen

Arzt/Ärztin

Berufsgruppe

Medizin

Implementierung von Strukturen und Prozessen

Schaffen von Rahmenbedingungen, Finanzierung

Erkennen des Bedarfs

Bedarf

Patient/in

P.-system

Das Implementierungsmodell fokussiert zentrale Einflussfaktoren des

Clinical Assessment-Einsatzes in der Praxis.

schöpferisch-produktiv

Information

Systemkräfte

erhaltend-konservierend

auflösend-verändernd

Relevant für klinischen Alltag

Wie die Rückmeldungen zeigen, sind

CA-Kenntnisse für den klinischen Alltag

sehr relevant. Teilnehmende berichten,

dass

• sie sich beim Einschätzen komplexer

Situationen sicherer fühlen,

• Komplikationen früher erkennen,

• besser einschätzen können, wie dringend

der Handlungsbedarf ist,

• systematischer und strukturierter

vorgehen, um anhand der Assessment-Daten

klinische Entscheidungen

zu treffen,

• ihre Erkenntnisse mithilfe von Fachbegriffen

genauer kommunizieren

können.

Training in geschütztem Raum

Die aktuelle Evaluation zeigt, dass 92 %

der Teilnehmenden den Aufbau des CA-

Unterrichts als unterstützend und logisch

bewerten. Die Mehrheit der Befragten

ist der Ansicht, dass CA gehöre

in ihre Ausbildung und stelle keineswegs

einen «Fremdkörper» dar. Als Pflegende

über CA-Fertigkeiten zu verfügen,

fanden 75 % der Teilnehmenden

sinnvoll, 73 % können sich vorstellen,

das CA in der Praxis anzuwenden. Allerdings

erlebt die Mehrheit der Befragten

wenig Offenheit gegenüber dem CA.

Als Gründe nannten sie fehlende Zeitressourcen

und keine ausreichenden

Trainingsmöglichkeiten im Pflegealltag.

Die Befragten wünschen sich, «in der

Praxis mehr Unterstützung zu haben,

um die Lehrinhalte zu üben». Bisher

«sind in der Praxis kaum Fachpersonen

vorhanden, die als Mentoren in Frage

kommen».

Die Teilnehmenden erlebten den CA-

Unterricht als «einen geschützten Raum,

um trainieren zu können», wie eine Studentin

NDS HF Onkologiepflege formulierte.

Alle Teilnehmenden waren sich

einig, dass «das CA unseren Beruf aufwertet».

Die positiven Rückmeldungen

machen deutlich, dass das CA auch in der

Schweiz ein vielversprechendes Potenzial

hat. Zentral ist in diesem Zusammenhang

die Frage der Implementierung.

06 2020 Krankenpflege | Soins infirmiers | Cure infermieristiche

21


Bildung

Das CA-Implementierungsmodell

Bisher galt die körperliche Untersuchung

als ausschliesslich ärztliche Tätigkeit –

obwohl Pflegefachpersonen bereits seit

langer Zeit Anamnesen erheben (Steudter

et al., 2013). Dies könnte ein Grund sein,

warum der Einsatz des CA in der Schweiz

zunächst eher zögerlich verlief.

Um die Umsetzung des CA in der Praxis

gezielt zu fördern, entstand das «CA-Implementierungsmodell»

der FHS St. Gallen

(s. Abbildung S. 21). Es zeigt auf, welche

Einflussfaktoren zu berücksichtigen

sind, um das CA in Institutionen umzusetzen.

Anhand des Modells ist es möglich,

Handlungsbedarf zu erkennen: Wo

ist es notwendig, gezielt aktiv zu werden,

um die CA-Implementierung in der klinischen

Praxis zu unterstützen?

Das Zentrum des Modells bilden Patient(inn)en

mit ihren Bedürfnissen. Ihnen

gegenüber stehen Pflegefachpersonen,

die das CA in der Praxis anwenden.

In ihrem Umfeld befinden sich zwei Berufsgruppen:

(1) Die Pflege mit ihrem

spezifischen CA-Verständnis und (2) die

Ärzteschaft, die ihrerseits im Rahmen der

Diagnostik klinische Untersuchungen

durchführt.

Im «Dreieck» zwischen Patient(inn)en,

Pflegenden und Ärzteschaft kommt es −

wie im Modell dargestellt − durch den

CA-Einsatz zu «Veränderungen von Rollen

und Erwartungen». Zwischen der pflegerischen

und der ärztlichen Profession

ist durch den Einsatz des CA eine «Entwicklung

von Wissen und Können» erforderlich,

ebenso eine «Veränderung der

Rollen und der Zusammenarbeit» (SAMW,

Autorinnen und Autoren

Denise Eigenmann, Leiterin Aus-, Fortund

Weiterbildung, Departement Pflege,

Kantonsspital St. Gallen,

denise.eigenmanngiacopuzzi@kssg.ch

Martin Salzmann, Leiter Weiterbildung

Pflege, Studiengangsverantwortlicher

Nachdiplomstudiengang HF Anästhesiepflege,

Departement Pflege, Kantonsspital

St. Gallen

Martin Ruprecht, MAS in Ausbildungsmanagement,

Dozent Clinical Assessment,

FHS St. Gallen, Fachbereich

Gesundheit

Diana Staudacher, Dr. phil.. Wissenschaftliche

Mitarbeiterin, FHS St. Gallen,

Fachbereich Gesundheit

Birgit Vosseler, Prof. Dr., Prorektorin,

Fachbereichsleiterin Gesundheit,

FHS St. Gallen

Realitätsnaher Clinical Assessment-Unterricht: Pflegefachpersonen mit

CA-Kenntnissen fühlen sich beim Einschätzen komplexer Situationen sicherer

und erkennen Komplikationen früher.

2014). Je nach Setting sind Pflegefachpersonen

in unterschiedlicher Weise gefordert,

die Dringlichkeit einer Situation

einzuschätzen. Deshalb bezieht sich das

Modell auf verschiedene Settings (Spital,

Spitex, Pflegeheim u. a.).

Abgestimmt auf das PARHiS-Framework

umfasst das Modell drei Dimensionen:

«Kontext», «Facilitation» und «Evidenz»

(Kitson et al., 2008)¹. «Kontext» berücksichtigt

drei Ebenen: «Institution», «Politik/Recht/Gesetz»

sowie «Öffentlichkeit».

Förderliche und hemmende Faktoren sind

ebenfalls berücksichtigt. Zu den hemmenden

Faktoren zählt beispielsweise die

noch fehlende Reglementierung der Kompetenzen

von Absolvierenden des Pflege-

Masterstudiums.

«Facilitation» bedeutet «Befähigung».

Hierfür sind erfahrene «Praxisentwickler(innen)»

und Mentor(inn)en erforderlich

(McCormack et al., 2009). Eine wichtige

Rolle spielen auch Vorbilder, an

denen sich Pflegefachpersonen beim Einsatz

des CA orientieren können.

Die Zukunft des CA

Das Modell hat sich bei der CA-Einführung

in den Weiterbildungsbereich am

Kantonsspital St. Gallen bewährt. Dabei

war es zentral, im Vorfeld den ärztlichen

Dienst einzubeziehen und genau über die

Ziele des CA-Einsatzes zu informieren.

Diese Transparenz trug wesentlich dazu

bei, dass von Anfang an eine grosse Offenheit

gegenüber dem CA bestand.

Die beteiligten Lehrpersonen erlebten den

CA-Unterricht als wertvolle Bereicherung:

«Der Unterricht wird durch die CA-

Elemente lebendiger, praxisnaher und

sehr konkret», berichtet eine Berufsbildnerin

aus dem Anästhesiebereich. Im

Pflegekontext erweist sich das Clinical

Assessment als wertvolles ergänzendes

Instrument, um Patient(inn)en in komplexen

Situationen einzuschätzen.

In wenigen Jahren wird es wahrscheinlich

selbstverständlich sein, dass Pflegefachpersonen

über CA-Kompetenzen verfügen

und diese in der Praxis anwenden.

Um das Umsetzen des CA im Spitalbereich

gezielt zu fördern, gilt es mehrere

Punkte zu beachten:

• Der CA-Unterricht muss maximal praxisrelevant

sein,

• Unterrichtende benötigen hohe Expertise,

• Praxisbegleitende gilt es, von Anfang

an einzubeziehen,

• CA-Kompetenzen gemeinsam mit Praxisbegleitenden

und der Ärzteschaft zu

üben, hat hohe Priorität.

Damit sich das Clinical Assessment in der

Schweiz nachhaltig etabliert, sind weite-

22 Krankenpflege | Soins infirmiers | Cure infermieristiche 06 2020


re Anstrengungen notwendig. Wie das

Modell zeigt, braucht es eine Allianz aus

Fachhochschulen, Interessenverbänden,

dem Berufsverband, Führungspersonen

und Politiker(inn)en.

Die befragten Studierenden sind überzeugt:

Das CA «gehört zu unserer täglichen

Arbeit und wir können dadurch an

der Visite besser mitdiskutieren». Mit

Blick auf die Zukunft haben die Teilnehmenden

des CA-Unterrichts eine eindeutige

Botschaft: «Weiter so!»

¹ «Promoting Action on Research Implementation

in Health Services» (Kitson et al.,

2008; National Collaboration Centre for

Methods and Tools, 2011). Systematische

Untersuchungen bezüglich des CA-Einsatzes

durch Pflegefachpersonen HF/FH

fehlen in der Schweiz bisher. Deshalb lässt

sich die Dimension «Evidenz» momentan

noch nicht beschreiben.

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Das Literaturverzeichnis ist in der

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beim Bildungsanbieter

Kantonsspital St.Gallen.

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06 2020 Krankenpflege | Soins infirmiers | Cure infermieristiche

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