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34<br />

150 JAHRE WMF


Die WMF von 1880.<br />

Das große Gebäude 1 mit<br />

den markanten Ecktürmen<br />

steht heute noch.<br />

Die WMF<br />

wächst<br />

Von Württemberg in die Welt<br />

(1880–1914)<br />

1880 – Fusion von Straub & Sohn<br />

und A. Ritter & Co.<br />

23. Juni 1880. In Stuttgart treffen sich unter<br />

der Führung der Württembergischen Vereinsbank<br />

einige führende Persönlichkeiten der<br />

württembergischen Wirtschaft und unterzeichnen<br />

einen Vertrag zur Gründung einer<br />

Aktiengesellschaft.<br />

KAPITEL3<br />

Zweck der Gesellschaft: die „Erwerbung und<br />

Vereinigung sowie der Fortbetrieb der seither<br />

unter der Firma „Straub & Sohn“ in <strong>Geislingen</strong><br />

und „A. Ritter & Cie.“ in Esslingen<br />

betriebenen Fabrikationsgeschäfte.“ Die Versammelten<br />

zeichnen Aktien im Wert von insgesamt<br />

einer Million Mark. Dreiviertel des<br />

Aktienpakets (765.000 Mark) geht direkt an<br />

die Württembergische Vereinsbank, den Rest<br />

teilen sich einige Personen aus dem Führungskreis<br />

der Bank und die Besitzer der fusionierten<br />

Firmen – Daniel Straub, Carl Haegele und<br />

Hermann Ostertag. Der Name der neuen<br />

Aktiengesellschaft: „Württembergische Metallwarenfabrik<br />

AG“. Die WMF war geboren.<br />

35


36<br />

150 JAHRE WMF<br />

Gustav Siegle,<br />

seit den 1880er-Jahren<br />

Hauptaktionär der WMF<br />

Der Einfluss der Vereinsbank –<br />

Gustav Siegle übernimmt<br />

die Aktienmehrheit<br />

Wie kam es zur Fusion der beiden Konkurrenzunternehmen<br />

und welchen Einfluss übte die<br />

Württembergische Vereinsbank aus? Als Hauptaktionär<br />

hatte sie offenbar ein großes Interesse<br />

an der Zusammenlegung der beiden Fabriken.<br />

Bis heute bleiben die Umstände weitgehend im<br />

Dunkeln. Die Vereinsbank war zwar die Hausbank<br />

von A. Ritter & Co., vermutlich hatte<br />

sich aber auch Daniel Straub Geld von der<br />

Vereinsbank geliehen.<br />

Die Württembergische Vereinsbank entwickelte<br />

sich seit den 1870er-Jahren zur wichtigsten<br />

Industriebank Württembergs, bis sie 1924 von<br />

der Deutschen Bank übernommen wurde. Die<br />

Vereinsbank versuchte, „wichtige industrielle<br />

Unternehmungen … welche durch eine verfehlte<br />

Leitung oder andere Umstände in ihrer<br />

Fortsetzung gefährdet waren, zu stützen und<br />

zu reorganisieren“, so ihr Gründer und langjähriges<br />

Vorstandsmitglied Kilian Steiner<br />

(1833 –1903). Zu diesen Unternehmen gehörten<br />

nach Steiner ausdrücklich auch die<br />

Straub‘schen Fabriken in <strong>Geislingen</strong>.<br />

Was aber waren die „Umstände“, die diese<br />

Unternehmen gefährdeten? Nach anderen<br />

Quellen war die Fabrik „infolge der Sanierung<br />

eines Geislinger Großspekulanten in die<br />

Hände der Vereinsbank“ gekommen – auch<br />

hier keine weiteren Angaben. Wer aber außer<br />

Straub konnte in <strong>Geislingen</strong> als Großspekulant<br />

auftreten?<br />

Eine mögliche Erklärung: 1874 liberalisierte<br />

der württembergische Staat das Bergrecht. Erst<br />

jetzt durften auch Privatleute Abbaurechte erwerben<br />

und Bergwerke betreiben. Daniel Straub<br />

und sein Sohn reagierten sofort auf diese neuen<br />

unternehmerischen Perspektiven und erwarben<br />

1875 die „Grube Hohenstein“, ein riesiges<br />

Areal von rund 200 Hektar oberhalb von Kuchen.<br />

Die beiden Unternehmer planten offenbar,<br />

ihren mittelständischen Industriebetrieb<br />

zum Großunternehmen auszubauen.<br />

Das gewonnene Erz sollte vor Ort verhüttet<br />

werden, obwohl die dafür benötigte Kohle<br />

extra hätte herangefahren werden müssen.<br />

Damit hätten sie den sonst beschrittenen Weg,<br />

das Erz zur Kohle ins Ruhrgebiet oder ins<br />

Saarland zu transportieren, umgedreht. Nun<br />

waren damals industrielle Unternehmungen<br />

dieser Größenordnung in Württemberg ohne<br />

die Beteiligung der Vereinsbank und die Unterstützung<br />

ihres Leiters Kilian Steiner kaum möglich.<br />

Daher ist es sehr wahrscheinlich, dass<br />

Straub & Sohn sich zur Finanzierung ihrer


Pläne an Steiner wandten. Daniel Straubs Plan,<br />

sich im Bergbau zu engagieren, ging vermutlich<br />

auf die Initiative seines Sohnes Heinrich<br />

zurück.<br />

Daniel Straub blieb bei aller unternehmerischen<br />

Kraft immer ein lokal verwurzelter Handwerker,<br />

während Heinrich Straub als studierter<br />

Ingenieur mit weitläufigen Kontakten und mit<br />

seinen Erfahrungen im Auslandsvertrieb<br />

größere Ziele verfolgte. Als Heinrich Straub<br />

nur ein Jahr nach dem Kauf der Erzgrube<br />

starb, zerschlugen sich seine ehrgeizigen Pläne.<br />

Die Investition in den Bergbau wurde sinnlos<br />

und die weitere Zukunft der verschuldeten<br />

Unternehmen hing plötzlich von der Württembergischen<br />

Vereinsbank ab. Nur wenige Jahre<br />

später sah sich die Bank gezwungen, selbst<br />

aktiv zu werden, um die beiden Betriebe Straub<br />

und Ritter, in die sie viel Geld gesteckt hatte,<br />

zu retten. Die Fusion erwies sich für die Bank<br />

und für die beiden Betriebe als die beste Lösung.<br />

Aber nicht nur Kilian Steiner spielte eine wichtige<br />

Rolle bei der Fusion – er gehörte selber zu<br />

den ersten Anteilseignern von 1880 – auch<br />

Gustav Siegle spielte offenbar von Beginn an<br />

eine Rolle. Siegle (1840 –1905) war Farbenfabrikant<br />

in Stuttgart und nach dem Zusammenschluss<br />

seiner Firma mit der Mannheimer<br />

BASF 1873 deren Vorstandsmitglied. Er gehörte<br />

überdies seit 1869 zum Aufsichtsrat der<br />

Vereinsbank, die auch den Zusammenschluss<br />

seiner eigenen Firma mit der BASF organisiert<br />

hatte.<br />

Siegle kannte Carl Haegele von Ritter & Co.<br />

bereits seit vielen Jahren und war zudem verwandtschaftlich<br />

mit Hermann Ostertag, dem<br />

Hauptgesellschafter von Ritter & Co. verbunden<br />

(seine Tochter hatte einen Neffen Ostertags<br />

geheiratet.) Als Studienfreund von<br />

Die Industriegesellschaft<br />

<strong>Geislingen</strong> AG –<br />

ein Sammelbecken für die<br />

Straub’schen Unternehmen<br />

Wenige Tage vor der Gründung<br />

der WMF AG, am 16./19. Juni<br />

1880, wurde die Industriegesellschaft<br />

<strong>Geislingen</strong> AG gegründet, in<br />

der alle Unternehmen von Straub<br />

zusammengefasst wurden. Sie hatte<br />

ein Aktienkapital von 2 Millionen<br />

Mark, aufgeteilt auf 100 Inhaberaktien.<br />

Die Gesellschaft diente als<br />

reine Abwicklungsgesellschaft und<br />

setzte sich als Geschäftszweck:<br />

„Übernahme der in <strong>Geislingen</strong> und<br />

in Bayern gelegenen Fabriken und<br />

Liegenschaften des Fabrikanten<br />

Daniel Straub behufs Weiterbetriebs<br />

resp. Verwerthung derselben.“<br />

Wenige Tage nach der Gründung<br />

der Gesellschaft wurde die Plaquéwarenfabrik<br />

aus dem Gesellschaftsbestand<br />

herausgenommen, um sie<br />

mit der Ritter’schen Fabrik zu vereinigen.<br />

Als größter Teil der Industriegesellschaft<br />

blieb danach die Maschinenfabrik<br />

übrig, so dass aus der<br />

Industriegesellschaft <strong>Geislingen</strong> AG<br />

die Maschinenfabrik AG (MAG) hervorging.<br />

Sie ist heute im Besitz der<br />

Heidelberger Druckmaschinen AG<br />

und hat ihren Sitz in Amstetten.


38<br />

150 JAHRE WMF<br />

Heinrich Straub war er schließlich auch mit<br />

den Straub’schen Unternehmen vertraut. Beide<br />

hatten am Polytechnikum in Stuttgart studiert,<br />

gemeinsam übrigens mit Gottfried Daimler,<br />

Ferdinand Decker oder Friedrich Voith, und<br />

hier war ein Freundeskreis entstanden, der die<br />

württembergische Industriegeschichte nachhaltig<br />

prägte.<br />

Gustav Siegle gehörte zwar<br />

nicht zu den ersten Aktionären<br />

der WMF von 1880, er erwarb<br />

aber schon bald die Aktienmehrheit<br />

der Vereinsbank. Die<br />

Geschichte der WMF erhielt<br />

so für fast hundert Jahre eine<br />

charakteristische Prägung,<br />

denn Siegles Töchter heirateten<br />

in einige wichtige Familien des<br />

württembergischen Adels und<br />

brachten ihre Aktienanteile in<br />

diese Familien ein. Mitglieder<br />

der Familien Gemmingen-<br />

Hornberg, Schrenck-Notzing<br />

und v. Tessin bestimmten so<br />

bis in die 1970er-Jahre den<br />

Aufsichtsrat der Aktiengesellschaft.<br />

Juni 1880: Die Gründung der<br />

„Industriegesellschaft <strong>Geislingen</strong>“<br />

wird bekanntgegeben.


Die neue Aktiengesellschaft<br />

konsolidiert sich –<br />

Straub zieht sich zurück<br />

Carl Haegele wurde bei der Fusion zum ersten<br />

geschäftsführenden Direktor bestimmt. Daniel<br />

Straub und Hermann Ostertag, der frühere<br />

Hauptgesellschafter von A. Ritter & Co.,<br />

sollten Haegele bei der Geschäftsführung<br />

unterstützen. Es zeigte sich aber schnell, dass<br />

Haegele und Straub nicht gut miteinander<br />

auskamen. Vor allem Straub war offenbar nicht<br />

bereit, die beiden Unternehmen zusammenzuführen.<br />

Nach Meinung Haegeles blockierte<br />

Straub die Zusammenarbeit sogar, wo er nur<br />

KAPITEL3<br />

konnte. So kam es beispielsweise<br />

im Spätsommer 1880 – offenbar<br />

auf Veranlassung Straubs – zu<br />

Auseinandersetzungen zwischen<br />

den Reisenden beider Firmen<br />

in Österreich-Ungarn. Die<br />

Spannungen gingen so weit,<br />

dass Haegele im ersten Jahr nur<br />

selten nach <strong>Geislingen</strong> kam<br />

und die Geschäfte so lange es<br />

ging von Esslingen aus leitete.<br />

Trotz dieser schwierigen Situation<br />

gelang die Zusammenführung<br />

der beiden Firmen erstaunlich<br />

schnell. Und das, obwohl<br />

jeder einzelne Bereich – Standort,<br />

Firmenleitung, Personal,<br />

Produktion und Vertrieb – neu<br />

organisiert werden musste.<br />

Lediglich die Standortfrage war<br />

unstrittig, denn nur in <strong>Geislingen</strong><br />

gab es genug Freiflächen,<br />

um weiterhin kräftig zu wachsen.<br />

Außerdem hatte der Fluss noch<br />

Reserven, um die Wasserkraft<br />

zu verstärken. Esslingen wurde<br />

daher so schnell wie möglich aufgegeben.<br />

Schon im Herbst 1880 wurden das Fertigwarenlager<br />

und die Verwaltung von Esslingen<br />

nach <strong>Geislingen</strong> verlegt. Außerdem wurden<br />

die Produktpalette und die Preise aufeinander<br />

abgestimmt. So konnten die Reisenden – nach<br />

den Streitigkeiten<br />

des<br />

Sommers 1880<br />

– bereits Anfang<br />

1881 mit einen<br />

gemeinsamen<br />

Katalog auf ihre<br />

Frühjahrstour<br />

gehen.<br />

Warenzeichen der WMF<br />

von 1880 – ca. 1925<br />

39


150 JAHRE WMF


Aus dem ersten Katalog der<br />

neuen Aktiengesellschaft (1880)<br />

Unmittelbar nach der Fusion wurde in <strong>Geislingen</strong><br />

mit Neubauten begonnen. Um die Produktion<br />

möglichst rasch vereinigen zu können,<br />

musste der Betrieb erweitert werden. Tatsächlich<br />

gelang es schon im Sommer/Herbst 1881,<br />

die Produktion von Esslingen nach <strong>Geislingen</strong><br />

zu verlegen. Dabei erwies sich das Fehlen von<br />

Wohnungen in der Kleinstadt <strong>Geislingen</strong> als<br />

das größte Problem: Für die rund 80 Familien,<br />

die von Esslingen nach <strong>Geislingen</strong> zogen,<br />

mussten schnell neue Wohnungen gebaut<br />

werden – die größte Investition der neuen<br />

Aktiengesellschaft in den ersten Jahren.<br />

Nach der Verlagerung der kompletten Produktion<br />

nach <strong>Geislingen</strong> gab Daniel Straub im<br />

Februar 1882 seinen Widerstand auf und zog<br />

sich völlig aus dem Unternehmen zurück.<br />

Haegeles Führungsrolle war damit unbestritten,<br />

und weil gleichzeitig das Führungspersonal<br />

aus Esslingen die wichtigsten Positionen<br />

in der neuen WMF AG übernahm, war die<br />

Dominanz von A. Ritter & Co. bald offen-<br />

KAPITEL3<br />

sichtlich. So wurde Roman Plewkiewicz,<br />

Reisender bei Ritter und enger Vertrauter<br />

von Haegele, stellvertretender kaufmännischer<br />

Direktor, während der ehemalige Direktor<br />

Friedmann von Straub & Sohn und der Straub-<br />

Prokurist Zuckerschwerdt das Unternehmen<br />

verlassen mussten. Erster technischer Leiter der<br />

WMF wurde der Esslinger Oberwerkführer<br />

Karl Groschopf, der Mann der ersten Stunde<br />

bei Ritter & Co. Schon Ende 1882 urteilte<br />

Haegele, dass „die innere Verschmelzung der<br />

Fabrik“ weitgehend abgeschlossen war. Zumindest<br />

auf der Führungsebene war es weniger<br />

eine Verschmelzung als eine Verdrängung des<br />

Geislinger Personals. Wahrscheinlich war diese<br />

Entwicklung von den Gründern der AG beabsichtigt<br />

und lag nicht allein in der Persönlichkeit<br />

von Carl Haegele begründet. Kilian<br />

Steiner und mit ihm die Vereinsbank betrachteten<br />

Ritter & Co. von vorne herein als den<br />

zukunftsfähigeren Betrieb, während Straub für<br />

eine veraltete Technik und eine rückständige<br />

Produktpolitik stand.<br />

1880: Die ersten Arbeiterhäuser<br />

in der Kaiser-Wilhelm-<br />

Straße werden gebaut.<br />

41


42<br />

1895: Um das Gebäude 1 ist mittlerweile ein großes Werk entstanden.<br />

Vorne links steht die Fabrikantenvilla von Carl Haegele.<br />

Die WMF wächst – Gründung der Glashütte<br />

Zur Zeit der Fusion 1880 und der Verlagerung<br />

der Produktion nach <strong>Geislingen</strong> konnte die<br />

WMF nie so viel Waren liefern, wie bestellt<br />

wurden. Die Anlagen in <strong>Geislingen</strong><br />

mussten also dringend ausgebaut<br />

werden, aber die Baumaßnahmen<br />

durften den laufenden Betrieb<br />

nicht beeinträchtigen.<br />

Daher konnte nur langsam<br />

gebaut werden. Nach<br />

einem Jahr waren zwar<br />

die Anlagen in Esslingen<br />

stillgelegt, aber die Bauarbeiten<br />

in <strong>Geislingen</strong> kamen<br />

erst 1885 zu einem ersten<br />

Abschluss. Offenbar nicht zu<br />

früh: Carl Haegele betonte in<br />

seinem Jahresbericht für 1885, dass<br />

nun „dem zum Teil lebensgefährlichen<br />

Raummangel abgeholfen worden“ sei.<br />

Der teure Ausbau machte sich bezahlt: In den<br />

Jahren zwischen 1880 und 1890 vervierfachte<br />

sich der Umsatz von rund 960.000 Mark auf<br />

etwa 4 Millionen Mark, während die<br />

Zahl der Beschäftigten sogar verfünffacht<br />

wurde:<br />

Von 400 Menschen (bei<br />

Straub und Ritter je etwa<br />

200) auf fast 2000.<br />

Bis zum ersten Weltkrieg<br />

entwickelte sich die WMF<br />

zum größten Arbeitgeber<br />

Württembergs mit insgesamt<br />

rund 6000 Beschäftigten,<br />

davon 4000 allein in<br />

<strong>Geislingen</strong>. Dieser enorme<br />

Anstieg ergab sich vor allem aus<br />

der Gründung von Zweigunternehmen<br />

und der Übernahme anderer Firmen.<br />

Dabei spielten unterschiedliche Motive eine


Rolle: Die Produktpalette wurde vergrößert,<br />

das Vertriebsnetz international organisiert, die<br />

eigene Produktion abgerundet und nicht selten<br />

Konkurrenzunternehmen übernommen.<br />

Bereits 1883 gründete die WMF in <strong>Geislingen</strong><br />

ihre eigene Glashütte mit angeschlossener<br />

Glasschleiferei. Die Hütte produzierte vor<br />

allem die Glaseinsätze für die Gefäße des<br />

ständig wachsenden Sortiments. Zuvor hatte<br />

die WMF diese Glaseinsätze für fast 100.000<br />

Mark (allein im Jahr 1882) einkaufen müssen.<br />

Das war nahezu ein Drittel der gesamten<br />

Materialausgaben. Weil die Lieferanten aber<br />

oft unregelmäßig lieferten, konnten eigene<br />

Lieferschwierigkeiten nur durch ein umfangreiches<br />

und damit teures Lager vermieden<br />

werden. Die eigene Glashütte beseitigte diese<br />

Probleme.<br />

Für die einzelnen Arbeitsschritte – von der<br />

Rohglaserzeugung über Schleiferei und Bemalung<br />

bis hin zum Gravieren – holte sich<br />

Haegele Fachleute aus dem Böhmerwald.<br />

1884 arbeiteten 100 von insgesamt 900 Beschäftigten<br />

in der Glashütte und die WMF<br />

Glas-Schleiferei um 1890<br />

gab sich alle Mühe, die gefragten Arbeitskräfte<br />

zu halten: Die Glasgraveure gehörten zu den<br />

am besten bezahlten Arbeitern in der Fabrik.<br />

1884 baute die WMF für ihre böhmischen<br />

„Gastarbeiter“ ein eigenes Wohnhaus in <strong>Geislingen</strong>,<br />

einen stattlichen Bau, der die übrigen<br />

Werkswohnungen in den Schatten stellte. Für<br />

die WMF war die Glashütte immer ein besonderes<br />

Aushängeschild, und als sie im Jahr 1982<br />

aus Kostengründen geschlossen werden musste,<br />

war dies für viele WMF Angehörige ein schwerer<br />

Verlust.<br />

Das „Böhmerhaus“<br />

in der Straubstraße,<br />

erbaut 1884


44<br />

150 JAHRE WMF<br />

Beteiligungen und Firmengründungen<br />

europaweit<br />

Firmenübernahmen prägten in der Zeit bis<br />

zum Ersten Weltkrieg die Entwicklung der<br />

WMF. Im Jahr 1884 stieg die WMF finanziell<br />

bei A. Köhler & Cie. in Wien ein. Der Betrieb,<br />

1879 als eine Art selbständiges Zweigwerk<br />

von A. Ritter & Co. gegründet, war seitdem<br />

nicht aus den Verlusten herausgekommen.<br />

Haegele stand daher vor der Frage, ob<br />

die WMF den Betrieb völlig übernehmen oder<br />

ob sie lediglich durch eine Kapitalbeteiligung<br />

ihren Einfluss erhöhen sollte. Da Haegele die<br />

finanzielle Belastung einer Übernahme scheute,<br />

andererseits aber die Produktion in einem<br />

Gebiet, das mit hohen Zöllen gegen den<br />

Import geschützt war, nicht verlieren wollte,<br />

entschied er sich für die Beteiligung.<br />

Die Zweigfabrik Köhler in Wien<br />

Interessanterweise wies Haegele in den Beratungen<br />

des Vorstandes auf das Vorbild der BASF<br />

und ihrer Auslandsbeteiligungen hin. Seit 1883<br />

war Gustav Siegle Aufsichtsratsvorsitzender der<br />

WMF und zugleich in der BASF für die ausländischen<br />

Beteiligungen zuständig. Sein Einfluss<br />

war hier also bereits spürbar. Mit A. Köhler<br />

& Cie. erwarb die WMF ihre erste Zweigfabrik.<br />

Sie war vertraglich eng an die WMF gebunden,<br />

die nun eigene Verkaufsfilialen in Wien eröffnen<br />

konnte. Die erste Filiale entstand bereits<br />

im August 1884, eine weitere folgte 1886.<br />

1904 eröffnete schließlich noch eine Niederlassung<br />

in Prag. Die Produktion bei A. Köhler<br />

& Cie. entwickelte sich durch die neue Besitzstruktur<br />

ebenfalls positiv. Ende der 1890er-<br />

Jahre waren die Gewinne zufriedenstellend,<br />

die Eigenkapitalquote der Firma wuchs.


Nach Österreich-Ungarn war Russland der<br />

nächste Schritt. 1886 gründete der polnische<br />

Unternehmer und WMF Direktor Roman<br />

Plewkiewicz in Warschau – damals Russland –<br />

seine Metallwarenfabrik: R. Plewkiewicz &<br />

Co. Plewkiewicz war lange Jahre Reisender von<br />

Ritter & Co. und enger Vertrauter von Carl<br />

Haegele gewesen, bevor er 1882 kaufmännischer<br />

Direktor der WMF wurde. Der Zweck<br />

seines Unternehmens war „die Veredelung und<br />

der Verkauf der von <strong>Geislingen</strong> zu liefernden<br />

rohen Fabrikate“. Ähnlich wie in Wien wollte<br />

die WMF auf diese Weise die hohen Zölle des<br />

Russischen Reiches umgehen. Denn während<br />

Russland für nicht versilberte Rohwaren kaum<br />

Zoll verlangte, wurden die Zölle für versilberte<br />

Waren in den 1880er-Jahren so stark angehoben,<br />

dass sich ein Export nach Russland kaum<br />

mehr lohnte. Außerdem behandelte Russland<br />

Filialgründungen von ausländischen Aktiengesellschaften<br />

wie inländische Aktiengesellschaften.<br />

Sie wurden daher besonders besteuert<br />

und mussten ihre Geschäftszahlen regelmäßig<br />

offen legen. Deshalb trat nicht die WMF als<br />

Teilhaber von Plewkiewicz auf, sondern Gustav<br />

Siegle als Privatmann. Die WMF war offiziell<br />

KAPITEL3<br />

Briefkopf von R. Plewkiewicz, 1917, Warschau<br />

nur Lieferant von Rohwaren. Plewkiewicz selbst<br />

steuerte einen großen Teil des Betriebskapitals<br />

bei.<br />

Mit den Wiener Erfahrungen gelang der WMF<br />

in Warschau ein überaus erfolgreicher Einstieg:<br />

Hatte die WMF 1885 nur für etwa 77.000<br />

Mark nach Russland exportiert, konnte<br />

Plewkiewicz bereits 1888 einen Umsatz von<br />

umgerechnet 650.000 Mark melden. Damit<br />

erreichte das Geschäft in Russland in kürzester<br />

Zeit etwa ein Viertel des Umsatzes, den das<br />

Geislinger Unternehmen allein erzielte. Der<br />

Erfolg war gewaltig. Nachdem in Warschau<br />

anfangs ausschließlich Rohwaren aus <strong>Geislingen</strong><br />

versilbert wurden, begann Plewkiewicz –<br />

nach einem Umzug in eine größere Fabrik –<br />

ab 1892 auch mit der Herstellung eigener Rohwaren,<br />

die den russischen Geschmack besser<br />

trafen: vor allem schwer versilberte Gegenstände<br />

mit regionaltypischer Verzierung waren gefragt,<br />

ebenso ein größeres Sortiment an Kirchengegenständen.<br />

Ende der 1890er-Jahre zeigte sich allerdings,<br />

dass das Unternehmen bei allem Erfolg sehr<br />

45


46<br />

150 JAHRE WMF<br />

stark auf die Person von Plewkiewicz zugeschnitten<br />

war. Da alle Geschäftsbücher in<br />

polnischer Sprache geführt wurden, waren<br />

Kontrollen durch Revisoren in <strong>Geislingen</strong> kaum<br />

möglich. Die Direktion der WMF erfuhr nur<br />

durch die direkten Mitteilungen Plewkiewiczs<br />

von den Entwicklungen in Warschau. Da<br />

Haegele ihm vertraute, war das anfangs kein<br />

Problem. Als sich Plewkiewicz 1898 aber aus<br />

dem Unternehmen zurückzog, begannen die<br />

Schwierigkeiten.<br />

Um das Tochterunternehmen in den Griff zu<br />

bekommen, übernahm Haegele 1899 persönlich<br />

für rund 300.000 Mark die Firma und<br />

wandelte sie in eine Aktiengesellschaft um.<br />

Später kaufte die WMF größere Anteile von<br />

Ausdruck bürgerlichen Repräsentationsbedürfnisses:<br />

aufwendig gestalteter Leuchter<br />

Haegele zurück. Im Ersten Weltkrieg wurde<br />

der Betrieb stillgelegt und nach der Russischen<br />

Revolution verkaufte die WMF 1921 alle ihre<br />

Anteile.<br />

Aber zurück zum Jahr 1890: Mit den Fabriken<br />

in Wien und in Warschau hatte sich die WMF<br />

in ihren wichtigsten ausländischen Absatzgebieten<br />

etabliert. Von <strong>Geislingen</strong> aus versorgte<br />

die WMF die ausländischen Zweigfabriken mit<br />

Rohwaren und belieferte die deutschen und –<br />

immer mehr – ausländischen Kunden mit fertigen<br />

Produkten.<br />

Allerdings zeigte sich in den Jahren nach 1880,<br />

dass sich der Absatz nur in Süddeutschland gut<br />

entwickelte, während er in Norddeutschland<br />

stagnierte – obwohl dort früher das Hauptgeschäft<br />

von Straub und von Ritter gemacht<br />

worden war. Besonders in der wichtigen<br />

Region um Berlin existierten eine ganze Reihe<br />

von kleineren Versilberungsbetrieben, die ihre<br />

Kunden in der Region sehr schnell beliefern<br />

konnten. So konnten die Berliner Einzelhändler<br />

ihre Lager klein halten. Die Produkte<br />

der WMF waren hingegen rund ein Woche bis<br />

zu den norddeutschen Kunden unterwegs.<br />

Dieses Problem hatte Daniel Straub dadurch<br />

gelöst, dass er in Berlin ein eigenes Musterlager<br />

eingerichtet hatte, aber diese Niederlassung<br />

war mittlerweile wieder aufgelöst worden.<br />

Um ihre Position in Norddeutschland und<br />

Berlin zu stärken, übernahm die WMF 1889<br />

die beiden Berliner Firmen „Alexander Katsch“<br />

und „Deutsche Industrie-Aktien-Gesellschaft“.<br />

Die Versilberungsanstalt Katsch war ursprünglich<br />

eines von mehreren Tochterunternehmen<br />

eines Petersburger Herstellers. Die Fabrik stellte<br />

außerdem Rohbestecke her; und gerade das<br />

machte sie für die WMF interessant, denn in<br />

<strong>Geislingen</strong> befand sich die Besteckfertigung


noch in der Erprobung. Mit Katsch kaufte<br />

WMF also nicht nur einen Betrieb, sondern<br />

auch das Know-how für ein neues Geschäftsfeld.<br />

Die Deutsche-Industrie-Aktien-Gesellschaft<br />

hatte sich vor ihrer Übernahme zu einem ernstzunehmenden<br />

Konkurrenten entwickelt. Die<br />

Firma orientierte sich am Programm der WMF,<br />

war aber deutlich billiger. Als die Firma 1889<br />

aufgelöst wurde, übernahm die WMF den Betrieb,<br />

um zu verhindern, dass er in die Hände<br />

eines Konkurrenten fiel. Der Betrieb wurde<br />

demontiert und nach <strong>Geislingen</strong> verlagert.<br />

KAPITEL3<br />

Die Berliner Filialfabrik der WMF, vormals die Besteckfabrik Alexander Katsch<br />

Mit der Übernahme der beiden Firmen etablierte<br />

die WMF in Berlin eine eigene<br />

Versilberungs- und Versandanstalt, deren<br />

Umsatz sich in den folgenden Jahren allerdings<br />

nur schleppend entwickelte: Zwischen 1891<br />

und 1905 steigerte das Werk seinen Umsatz<br />

lediglich von 200.000 Mark auf rund 400.000<br />

Mark. Allerdings machte es den Hauptanteil<br />

seines Umsatzes mit Einzelhändlern und nicht<br />

mit den eigenen Filialen. Damit war der<br />

Gründungszweck erreicht, und die WMF<br />

behauptete sich im norddeutschen Markt<br />

gegen eine Vielzahl von Wettbewerbern.<br />

47


48<br />

150 JAHRE WMF<br />

Das Filialsystem – eine Besonderheit der WMF<br />

Der Vertrieb der WMF ruhte von Beginn an<br />

auf verschiedenen Säulen. In erster Linie wurden<br />

die versilberten und kupferbronzierten<br />

Waren über Einzelhändler an die Endkunden<br />

verkauft. Anfangs waren das in der Regel Juweliere<br />

und seltener Haushaltswarengeschäfte.<br />

Die Einzelhändler konnten entweder direkt in<br />

<strong>Geislingen</strong> bestellen, oder sie gaben ihre Auf-<br />

träge bei den WMF Reisenden ab, die zweimal<br />

im Jahr auf Verkaufstour gingen.<br />

Das System der Reisenden hatte zahlreiche<br />

Vorteile: Die Reisevertreter informierten<br />

die Händler vor Ort über die WMF Produkte,<br />

stellten Neuheiten vor, erläuterten die<br />

Besonderheiten einzelner Muster oder die<br />

Vorteile spezieller Herstellungsverfahren.<br />

Gleichzeitig beobachteten sie den Markt,<br />

notierten die Kundenwünsche, sammelten<br />

Verbesserungsvorschläge, forschten nach den<br />

Gründen für einen schlechten Absatz und<br />

beobachteten die Wettbewerber.<br />

In der ersten Wachstumsphase der neuen<br />

WMF AG zwischen 1880 und 1890 war der<br />

Informationsbedarf der Händler vor allem<br />

in den kleineren Städten groß – und zwar<br />

sowohl in Deutschland als auch im<br />

Ausland. Mitte der 1880er-Jahre<br />

war die WMF dann schon so<br />

bekannt, dass sich die Reisenden<br />

auf die Vorstellung der Neuheiten<br />

beschränken konnten.<br />

Die Filiale in Leipzig,<br />

Grimmaische Straße,<br />

um 1930


Um ihr Sortiment auch in ländlichen Gebieten<br />

mit vielen kleineren Städten zu präsentieren,<br />

veranstaltete die WMF zentrale Verkaufsveranstaltungen,<br />

zu denen sie die Händler der Region<br />

einlud. Dieser intensive Kontakt zu den Einzelhändlern<br />

wurde für die WMF zu einem wichtigen<br />

Erfolgsfaktor.<br />

Der zweite zentrale Vertriebsweg neben den<br />

Reisenden waren die Filialen. Sie unterschieden<br />

die WMF von allen Wettbewerbern. Von<br />

Beginn an setzten Haegele und die Direktion<br />

der WMF auf das Filialsystem. 1880 übernahm<br />

die neue WMF eine Verkaufsniederlassung von<br />

Ritter in Stuttgart und bis 1908 richtete die<br />

WMF in 25 deutschen Städten eigene Verkaufsstellen<br />

ein, vor allem dort, wo der Einzelhandel<br />

keinen befriedigenden Umsatz mit WMF Produkten<br />

machte.<br />

Der Anteil dieser sogenannten „Niederlagen“<br />

am Gesamtumsatz des Unternehmens wurde<br />

schnell größer und überstieg schon ab 1891<br />

die Direktaufträge der Reisenden. Allerdings<br />

schrieben nicht alle Niederlagen immer<br />

schwarze Zahlen. Für Haegele lag der eigentliche<br />

Wert der Filialen ohnehin auf einem<br />

anderen Gebiet: Da sich die Geschäfte mit<br />

ihren großen Schaufenstern grundsätzlich nur<br />

in den besten Lagen der Innenstädte befanden,<br />

machten sie das Unternehmen schnell sehr<br />

bekannt. Haegele wusste um den doppelten<br />

Nutzen: „Die Niederlagen bieten nicht nur<br />

den direkten Vorteil eines sicheren Absatzes,<br />

sondern auch einer dauernden wirksamen<br />

Empfehlung.“.<br />

KAPITEL3<br />

Darüber hinaus ermöglichten die Filialen einen<br />

direkten Kontakt der WMF zu den Wünschen<br />

und Vorstellungen der Kunden. Regelmäßige<br />

Wochenberichte und ein intensiver Kontakt zu<br />

den Filialleitern informierten die Unternehmensführung<br />

detailliert über den Vertrieb und seine<br />

Stärken und Schwächen.<br />

Im Ausland wurde der Vertrieb ähnlich aufgebaut:<br />

In einigen Städten wie Wien oder London<br />

eröffnete die WMF eigene Verkaufsfilialen, in<br />

der Regel als eigenständige Unternehmen mit<br />

einer Alleinvertretung für die Produkte der<br />

WMF. Wo es solche Alleinvertretungen nicht<br />

gab, übernahmen Reisende den Vertrieb an<br />

den Einzelhandel.<br />

49


50<br />

150 JAHRE WMF<br />

Die Galvanoplastische Kunstanstalt<br />

Das neue Gebäude der Galvanoplastischen<br />

Kunstanstalt in <strong>Geislingen</strong> (1894).<br />

Im Jahr 1890 kaufte die WMF die Münchner<br />

„Kunstanstalt für Galvanoplastik, vormals<br />

Klumpp & Co.“, ein junges Unternehmen, das<br />

aus einer Werkstätte für Heiligenfiguren aus<br />

Gips hervorgegangen war. Da die Gipsfiguren<br />

sehr zerbrechlich waren, kam der Firmengründer<br />

A. Klumpp auf die Idee, seine Produkte zu<br />

imprägnieren und anschließend zu verkupfern.<br />

Sein technischer Partner war Steinach, ein<br />

Fachmann für Galvanotechnik. 1889 veröffentlichten<br />

sie ihr Patent zur galvanischen Verkupferung<br />

von Gipsmodellen. Um das notwendige<br />

Kapital für den Ausbau der Produktionsanlagen<br />

zu bekommen, verkaufte Klumpp sein Geschäft<br />

und leitete das Unternehmen danach als angestellter<br />

Geschäftsführer.<br />

Im April 1890 begann die eigentliche Produktion,<br />

aber noch im selben Jahr bot der neue<br />

Besitzer das Unternehmen einschließlich aller<br />

Patente der WMF zum Kauf an. Zwar beurteilten<br />

sowohl Haegele als auch der Aufsichts-<br />

rat das Unternehmen<br />

positiv, der Aufsichtsrat<br />

lehnte den Kauf<br />

aber trotzdem ab, weil<br />

die Finanzierung nur<br />

über Kredite möglich<br />

gewesen wäre. Denn<br />

im selben Jahr hatte<br />

die WMF AG bereits<br />

eine Kapitalerhöhung<br />

durchgeführt, um<br />

Mittel für die Errichtung<br />

der Berliner<br />

Zweigfabrik zu bekommen.<br />

Haegele setzte<br />

sich jedoch über die<br />

Entscheidung des<br />

Aufsichtsrates hinweg<br />

und unterzeichnete eigenmächtig den Kaufvertrag.<br />

Er drohte sogar damit, aus der WMF<br />

auszutreten, falls der Aufsichtsrat den Kauf<br />

nicht nachträglich genehmigte. Schließlich<br />

lenkten Siegle und die anderen Aufsichtsratsmitglieder<br />

ein, und die Württembergische<br />

Vereinsbank finanzierte den Kauf der „Kunstanstalt<br />

für Galvanoplastik“.<br />

Danach zeigte sich allerdings erst das volle<br />

Ausmaß des unternehmerischen Risikos: Nicht<br />

nur waren die Anlagen und die Patente viel zu<br />

teuer bewertet, vor allem war das angewandte<br />

Galvanisierungsverfahren noch nicht produktionsreif.<br />

Denn vor der eigentlichen Galvanisierung<br />

mussten die Gipsfiguren imprägniert<br />

werden und das dafür verwendete Material<br />

hinterließ Rückstände, die den Strom nicht<br />

leiteten. Dadurch gelang die Galvanisierung<br />

des Gipsstückes nicht einwandfrei. Wenn<br />

überhaupt, konnten nur kleinere Gegenstände<br />

verkupfert oder bronziert werden.


Es dauerte bis 1893, um die Probleme so weit<br />

in den Griff zu bekommen, dass die beabsichtigte<br />

Produktion von Großplastiken wie Denkmälern<br />

und Grabfiguren tatsächlich beginnen<br />

konnte. Ganz abgeschlossen war die Entwicklung<br />

des Verfahrens aber erst, als im Sommer<br />

1894 die Produktion von München nach <strong>Geislingen</strong><br />

verlegt wurde. Diese Umsiedlung war<br />

sehr umstritten, denn München war damals<br />

das wichtigste deutsche Zentrum von Kunst<br />

und Kunsthandwerk. Hier gab es genügend<br />

Facharbeiter für die Produktion und vor allem<br />

das notwendige künstlerische Umfeld. Eine<br />

Verlegung der Anstalt in die schwäbische<br />

Provinz hielten daher viele für riskant und sie<br />

konnte erst durchgesetzt werden, nachdem<br />

genügend Facharbeiter des Münchener Betriebes<br />

überredet worden waren, mit nach <strong>Geislingen</strong><br />

überzusiedeln.<br />

KAPITEL3<br />

Für die Galvanoplastische Kunstanstalt – in<br />

der WMF stets „GB“ für „Galvano-Bronzen“<br />

genannt -– wurde 1894 vor dem eigentlichen<br />

Werk ein neues Gebäude errichtet. Schon<br />

dadurch wurde deutlich, dass sie ein besonderer,<br />

vom Rest des Betriebes abgetrennter<br />

Bereich der WMF war. Gewinn machte die<br />

Anstalt erst nach einigen Jahren, und die<br />

Umsatzentwicklung gab Haegele, der strikt an<br />

der GB festhielt, erst Ende der 1890er-Jahre<br />

Recht: 1905 hatte sich der Umsatz gegenüber<br />

1894 immerhin auf rund 650.000 Mark vervierfacht,<br />

die Zahl der Beschäftigten stieg von<br />

1890 bis 1910 von 84 auf fast 280.<br />

Die Galvanoplastische Kunstanstalt um 1907.<br />

Modelle in allen möglichen Größen werden hier hergestellt.<br />

51


52<br />

150 JAHRE WMF<br />

Die Galvanoplastische Kunstanstalt produzierte<br />

verschiedenste plastische Objekte: Statuetten<br />

und Grabschmuck, Bronzen für Bauschmuck,<br />

Denkmäler und Gartenfiguren, Springbrunnen<br />

und Beleuchtungskörper. Die Modelle wurden<br />

in den verschiedenen Bildhauerzentren in<br />

Deutschland eingekauft oder – seltener – von<br />

eigenen Künstlern angefertigt. Nach der Jahrhundertwende<br />

wurde die GB zum führenden<br />

Produzenten von aufwändigen Grabplastiken<br />

im Deutschen Reich. Nachdem sich die Idee,<br />

die Bronzen über die vorhandenen Vertriebswege<br />

zu verkaufen als Misserfolg erwiesen<br />

hatte, baute die WMF für diesen Bereich eigene<br />

Verkaufsagenturen auf, die sich auf den Vertrieb<br />

der Galvanobronzen spezialisierten.<br />

Grabfiguren waren ein<br />

wichtiges Produkt der<br />

Galvanoplastischen<br />

Kunstanstalt.<br />

Das Foto zeigt einen<br />

Gipsmodelleur bei der<br />

Arbeit.<br />

Die Galvanobronzen waren ein erster Versuch<br />

der WMF, abseits von ihrem ursprünglichen<br />

Programm, einen neuen Markt zu erschließen.<br />

In den 1920er-Jahren unternahm die WMF<br />

mit der Gründung der Neuen Kunstgewerblichen<br />

Abteilung (NKA) einen ähnlichen Versuch.<br />

Vor allem die Filialen profitierten davon,<br />

denn mit den neuen Produkten der Kunstanstalt<br />

entwickelten sie sich beinahe zu Kunsthandlungen.<br />

Ihr Ansehen und ihre Bekanntheit<br />

vor Ort stieg dadurch noch einmal an.


Die originalgetreue Nachbildung des Reiterstandbilds von Colleoni in Venedig für das Städtische<br />

Museum in Stettin wurde auch in stark verkleinerter Ausführung als Zimmerschmuck angeboten.<br />

KAPITEL3<br />

53


In der Galvanoplastischen Kunstanstalt entstand auch diese<br />

Kuppel für den Kaiserpalast in Siam.


Hohlwaren – Galvanobronzen –<br />

patentversilbertes Besteck:<br />

Das Programm wird abgerundet<br />

Die WMF produzierte und verkaufte um<br />

1880 galvanisch versilberte Gebrauchs- und<br />

Ziergegenstände an Privathaushalte und<br />

Hotels. Bald nach der Fusion wurden die alten<br />

Straub’schen Plaquéwaren aus dem Programm<br />

genommen, denn die als „Luxusartikel“ bezeichneten<br />

galvanisch versilberten Gegenstände<br />

warfen erheblich höhere Gewinne ab. In den<br />

1890er-Jahren entwickelten sich dann zwei<br />

Produktgruppen zum Kerngeschäft der WMF:<br />

versilberte Hohlwaren und versilbertes Besteck.<br />

Dabei hatten die Hohlwaren lange Zeit den<br />

deutlich größeren Anteil am Verkaufserlös,<br />

während die Bestecke erst allmählich an Bedeutung<br />

gewannen.<br />

Galvanisch versilbertes Besteck tauchte zwar<br />

schon in Katalogen von Straub & Sohn auf,<br />

spielte aber noch bis in die 1890er-Jahre kaum<br />

eine Rolle. Die Serienfertigung von versilbertem<br />

Besteck begann vermutlich 1889. Durch<br />

die Übernahme des Berliner Besteckherstellers<br />

Katsch und die Gründung ihrer Berliner<br />

Fabrikfiliale 1889 hatte die WMF das Knowhow<br />

und die Maschinen, um Rohbestecke in<br />

der nötigen Qualität und Stückzahl herzustellen.<br />

Aber erst die Zusammenarbeit der<br />

WMF Chemiker mit den Fachleuten der<br />

Galvanoplastischen Kunstanstalt brachte die<br />

entscheidende Wende im Besteckgeschäft:<br />

Die Chemiker entwickelten ein Verfahren, mit<br />

dem die Silberschicht auf dem Besteck an verschiedenen<br />

Stellen unterschiedlich stark aufgetragen<br />

werden konnte. Dadurch konnten<br />

jene Teile eines Bestecks, die besonders beansprucht<br />

wurden, so stark versilbert werden,<br />

dass ein Nachversilbern gar nicht oder nur sehr<br />

selten notwendig wurde. Mit dieser „Patent-<br />

KAPITEL3<br />

Die Besteckversilberung<br />

versilberung“ konnte sich die WMF als Markenhersteller<br />

mit einem besonderen Qualitätsanspruch<br />

präsentieren und etablieren. Der<br />

Erfolg trat schnell ein: Nach Beginn der Serienproduktion<br />

um 1890 machte der Umsatz mit<br />

Bestecken 1897 bereits mehr als 16 Prozent<br />

des Gesamtumsatzes der Filialen aus und stabilisierte<br />

sich bis zum Ersten Weltkrieg bei<br />

knapp 20 Prozent. Innerhalb von zehn Jahren<br />

wurden die Bestecke nicht nur zu einem wichtigen<br />

Produkt der WMF, sie entwickelten sich<br />

auch zu einer Art Markenzeichen des Unternehmens:<br />

„Württemberger Bestecke“ waren<br />

spätestens in den 1920er-Jahren weltbekannt.<br />

55


56<br />

150 JAHRE WMF<br />

Patent-Urkunde Nr. 76975 für das „Verfahren zur Erzielung<br />

verschieden starker galvanischer Metallniederschläge“,<br />

Juli 1893.<br />

Carl Haegele hatte von Beginn an darauf<br />

gesetzt, dass die WMF durch zahlreiche und<br />

ständige Neuheiten zum Marktführer werden<br />

sollte. Spätestens Mitte der 1880er-Jahre legte<br />

er fest, dass „regelmäßig … Neuheiten … für<br />

die Frühjahrs- und Herbsttouren unserer<br />

Reisenden“ erscheinen mussten. Die WMF<br />

sollte in Deutschland „in Neuheiten an erster<br />

Stelle stehen.“ Entsprechend dieser Politik<br />

kamen halbjährlich zwischen 150 und 250 neue<br />

Produkte auf den Markt, so dass das Programm<br />

der WMF bis 1904 auf rund 20.000 Artikel (!)<br />

anwuchs. Musterbücher in zwölf verschiedenen<br />

Sprachen und Tochterbetriebe in London,<br />

Warschau und Wien dokumentierten die internationale<br />

Entwicklung des Unternehmens. Die<br />

Kapitalstärke, die die WMF in diesen Jahren<br />

erreichte, war zugleich die Voraussetzung für<br />

diese extensive Produktpolitik. Kaum ein Konkurrent<br />

in Deutschland hatte die wirtschaftliche<br />

Kraft, dabei mitzuhalten. Die WMF konnte so<br />

ständig einen Vorsprung vor den Wettbewerbern<br />

aufrecht erhalten. Vor allem für die Technik<br />

war dies eine große Herausforderung, denn<br />

sie musste mit einem enormen Aufwand die<br />

Fertigung der umfangreichen Produktpalette<br />

gewährleisten. Bis heute hält das Unternehmen<br />

an dieser Strategie fest und präsentiert auf den<br />

jährlichen Messen zahlreiche Neuheiten in<br />

seinem Programm. Immer noch ermöglicht<br />

diese Geschäftspolitik einen wichtigen Vorsprung<br />

vor den Wettbewerbern.


Im grafischen Atelier<br />

wurden die umfangreichen<br />

Musterbücher gezeichnet,<br />

die in zwölf verschiedenen<br />

Sprachen erschienen und<br />

bis zu 20.000 Artikel<br />

enthielten.<br />

57


58<br />

150 JAHRE WMF<br />

Stilfragen und der Jugendstil<br />

Die große Zahl an Neuheiten stellte das Unternehmen<br />

zwangsläufig vor die Frage, woher die<br />

vielen neuen Ideen kommen sollten. Oft waren<br />

die neuen Modelle nur geringfügige Varianten<br />

bereits vorhandener Artikel und viele Modelle<br />

wurden nur entwickelt, um dem Geschmack<br />

einzelner Regionen oder Länder zu entsprechen.<br />

Die eigenen Designer konnten dabei nicht<br />

immer die erwarteten Impulse liefern. Immer<br />

wieder wurde bemängelt, dass <strong>Geislingen</strong> zu<br />

weit weg von Berlin oder München lag, den<br />

künstlerischen Zentren Deutschlands. Die WMF<br />

Besteckmodell 29<br />

(„Weinblatt“) aus dem<br />

Jahr 1902<br />

versuchte dieses<br />

Problem zu lösen,<br />

indem<br />

sie den<br />

Mit-<br />

arbeitern<br />

der künstlerischen<br />

Abteilungen die Gelegenheit<br />

gab, sich in den Ateliers<br />

der Großstädte fortzubilden. Um<br />

die Arbeitsmöglichkeiten ihrer Künstler<br />

zu verbessern, fasste die WMF 1889 alle<br />

gestalterischen Abteilungen – von den Modellateliers<br />

bis hin zu den Zeichnern der Kataloge<br />

– im eigens errichteten „Künstlerbau“ zusammen.<br />

Zugleich wurde Hans Peter, der seit seiner Ausbildungszeit<br />

mit der Firma Ritter verbunden<br />

war, Leiter der kunstgewerblichen Abteilung.<br />

Jugendstil-Tafelaufsatz<br />

von 1904<br />

Mit ihm vollzog sich die allmähliche Wende<br />

zum Jugendstil. Seit 1895 leitete Albert Mayer<br />

das Atelier der WMF und vollendete mit seinen<br />

Mitarbeitern die künstlerische Neuorientierung<br />

des Unternehmens.<br />

Die Frage der künstlerischen Gestaltung war<br />

für die WMF also immer wichtig, und sie<br />

wurde seit den 1890er-Jahren offen diskutiert.<br />

Schon Ritter & Co. hatte vor der Frage gestanden,<br />

ob gegen die Bedürfnisse des Marktes<br />

künstlerische „Phantasiegegenstände“ produziert<br />

werden könnten. Haegele hatte damals<br />

durchgesetzt, dass Ritter & Co. gegen „künstlerische“<br />

Überzeugungen auch „modische“<br />

Artikel herstellte, die sich in größeren Mengen<br />

verkaufen ließen. Der richtige und gute Stil<br />

der WMF Produkte – ein Thema, das die<br />

Geschichte des Unternehmens bis heute begleitet.<br />

1894/95, kurz vor dem Durchbruch des Jugendstils,<br />

konnten die Leser der Betriebszeitung<br />

„Die Feierstunde“ eine Diskussion<br />

über Mode, Kunst und Geschmack<br />

verfolgen. Auslöser der Diskussion<br />

war ein Vortrag im „Verein für<br />

deutsches Kunstgewerbe“,<br />

den die Zeitung abdruckte.<br />

Im Zentrum<br />

stand die Forderung,<br />

dass die „Zweckmäßigkeit“<br />

und nicht die „Verzierung“ das Ziel<br />

der kunstgewerblichen Produktion sein müsste.<br />

Der Geislinger Kunstgewerbeverein griff die<br />

Anregung dankbar auf und forderte von der<br />

WMF, den Grundsatz der Zweckmäßigkeit in<br />

ihrem Design stärker zu berücksichtigen. Dabei<br />

bemängelte der Verein „den meist überreichen<br />

Rokokostil“, der das Ornament viel zu sehr


etonte. Die „Mode“ vor allem wurde kritisiert,<br />

denn „der schlimmste Feind der Geschmacksreform<br />

war immer die Mode, jene unsichtbare<br />

und unfassbare Macht, welche uns vorschreibt,<br />

den Kleiderschnitt, die Farbe, die Möbel- oder<br />

Gefäßform, welche wir gestern von eben derselben<br />

Mode als schön annahmen, heute hässlich,<br />

widersinnig und abgeschmackt zu finden.“<br />

Die Direktion der Fabrik verteidigte sich mit<br />

dem Hinweis, dass die Fabrik liefern müsse,<br />

was die Käufer wünschten. Haegele wies ausdrücklich<br />

darauf hin, dass die WMF „nicht<br />

ausschließlich eine kunstgewerbliche Anstalt,<br />

sondern auch ein industrielles Unternehmen<br />

ist.“ Und Haegele formulierte damals einen bis<br />

heute gültigen Standpunkt: „Wenn wir einerseits<br />

bemüht bleiben müssen, den Ansprüchen<br />

der Mode, der verschiedenen Sitten und Gebräuche<br />

von aller Herren Länder, für welche<br />

wir arbeiten, gerecht zu werden, andererseits<br />

aber an unserem ornamentalen und figürlichen<br />

Arbeiten stets den strengsten Maßstab der<br />

Selbstkritik anzulegen, dann werden wir auf<br />

der Höhe der Zeit bleiben und stets mit unserer<br />

Arbeit Ehre einlegen.“<br />

Leuchter 1909<br />

KAPITEL3<br />

Albert Mayer (sitzend)<br />

war von 1895 bis<br />

1931 Leiter des WMF<br />

Ateliers. Anschließend<br />

übernahm sein Sohn<br />

Kurt die Leitung, der<br />

bis 1960 für die WMF<br />

tätig war.<br />

Genau genommen basierte der WMF Erfolg<br />

anfangs vor allem auf der Nachahmung englischer<br />

Ware im Billiglohnland Deutschland.<br />

Das änderte sich erst mit dem Jugendstil. Der<br />

Weg zu einem neuen, sachlicheren Stil, der<br />

den überladenen Historismus ablöste und den<br />

Zweck der Gegenstände stärker betonte, vollzog<br />

sich in diesen Jahren, als sich der Jugendstil<br />

allmählich verbreitete. Nach ersten Entwürfen<br />

von Hans Peter aus den Jahren1896/97<br />

setzte sich ab 1904/1905 der Jugendstil im<br />

WMF Programm durch. Die älteren, oftmals<br />

als „altdeutsch“ bezeichneten Artikel blieben<br />

allerdings ebenfalls im Programm und wurden<br />

immer wieder durch neue Modelle ergänzt.<br />

Mit diesem älteren Programm machte die WMF<br />

ihr eigentliches Geschäft, während die modernen<br />

Jugendstilartikel vor allem den guten Ruf<br />

des Unternehmens beförderten. Der Jugendstil<br />

entwickelte sich nie zu einer beherrschenden<br />

Mode für das deutsche Bürgertum.<br />

61


Industrialisierung<br />

und soziale Frage<br />

Mit der Industrialisierung, die das<br />

Gesicht Europas seit der Mitte des<br />

19. Jahrhunderts veränderte, gingen<br />

gewaltige soziale Umwälzungen<br />

einher. Die Fabriken zogen massenweise<br />

Arbeitskräfte an, die vom<br />

überbevölkerten und verarmten<br />

Land in die entstehenden Industriestädte<br />

zogen. Die Fabrikarbeit mit<br />

ihrem eigenen Rhythmus, streng<br />

überwachte Arbeitszeiten und oftmals<br />

schwere und schmutzige<br />

Tätigkeiten in lauten Maschinenhallen<br />

prägten das Leben unzähliger<br />

Arbeiter. Verelendung und<br />

Armut waren die Kennzeichen der<br />

neuen Arbeiterschicht.<br />

Die soziale Frage wurde gestellt:<br />

Wie konnte die Lage der Arbeiter<br />

verbessert, ihre Armut und ihr<br />

Elend gelindert und sie in den Stand<br />

gesetzt werden, sich eigenverantwortlich<br />

um ihr Glück zu bemühen?<br />

Für die bürgerlichen Kreise in den<br />

Städten und für die Unternehmer<br />

wurde diese Frage noch wichtiger,<br />

seitdem sich die Arbeiterbewegung<br />

organisierte und die Interessen der<br />

Arbeiterschaft gegenüber den<br />

Fabriken und ihren Besitzern<br />

offensiv vertraten. Das Gespenst<br />

der Revolution und des Sozialismus<br />

spukte in den Köpfen der Bürger.<br />

Die soziale Frage und die<br />

Antwort der WMF<br />

Oberwerkführer Karl Groschopf<br />

mit Mitarbeitern<br />

Die Betriebszeitung „Die Feierstunde“, in<br />

der 1895 die Debatte um das Kunsthandwerk<br />

geführt wurde, war ein wichtiges Element der<br />

betrieblichen Sozialpolitik der WMF im 19.<br />

Jahrhundert. Das Unternehmen stellte sich auf<br />

besondere Weise der sozialen Frage, die durch<br />

die Industrialisierung und das rasante Bevölkerungswachstum<br />

entstanden war. Das gute<br />

Verhältnis der Firmenleitung zu den Arbeitern<br />

und die Verbesserung ihrer Lebenssituation<br />

war ein erklärtes Ziel der WMF: „Das Verhältnis<br />

zwischen Arbeiter und Arbeitgeber soll in<br />

der Württ. Metallwarenfabrik nicht am Zahltag<br />

seinen Abschluss finden; es soll beiderseitig<br />

anerkannt werden, dass darüber hinaus Verpflichtungen<br />

fortbestehen zum Wohl des Einzelnen<br />

und des Ganzen. Die Fabrikleitung ist<br />

bestrebt, das Mögliche zur Sicherung regelmäßiger<br />

und lohnender Arbeit und zur Fürsorge<br />

für das Wohl der Mitarbeiter und ihrer Angehörigen<br />

in Krankheit und Not zu tun und alle<br />

ihre Maßregeln mit Gerechtigkeit und Unparteilichkeit<br />

zu treffen. Von seiten der Arbeiter<br />

bedarf es zu einem erfolgreichen Zusammenwirken<br />

einer treuen und gewissenhaften Erfüllung<br />

ihrer geschäftlichen Aufgaben und eines<br />

geordneten Lebens in und außer der Fabrik.“


Die Belegschaft versammelt sich am 11. Juli 1889 auf einem Fest des Wohlfahrtsvereins der WMF.<br />

Haegele hatte bereits in den 1880er-Jahren<br />

erkannt, dass „die rasche Anhäufung einer so<br />

großen Arbeiterzahl wie bei uns … viele Missstände<br />

zur Folge hat.“ Um diese Missstände zu<br />

beheben, gründete die Unternehmensleitung<br />

im Februar 1887 einen „Wohlfahrtsverein“,<br />

der die sozialen Maßnahmen des Unternehmens<br />

umsetzen sollte. Jedes Mitglied der gesetzlichen<br />

Krankenkassen war zugleich auch Mitglied im<br />

Wohlfahrtsverein. Neben der Gesundheitsfürsorge<br />

und anderen Hilfs- und Unterstützungsleistungen<br />

kümmerte sich der Verein um die<br />

verschiedensten Projekte: Eine eigene Fabriksparkasse<br />

ermöglichte es den Arbeitern, „einen<br />

Notpfennig für Zeiten der Bedürftigkeit“ zu<br />

sparen. Die Einlagen der Sparer wurden mit<br />

fünf Prozent verzinst.<br />

1891: Der „Speisewagen“<br />

holte das Mittagessen<br />

für die Mitarbeiter, die<br />

im Nachbarort Kuchen<br />

wohnten.<br />

63


64<br />

150 JAHRE WMF<br />

Gustav Siegle, der Hauptaktionär der WMF<br />

stiftete 1895 ein beträchtliches Kapital, dessen<br />

Zinserträge zur Unterstützung erholungsbedürftiger<br />

Fabrikangehöriger eingesetzt werden<br />

sollten. Die Siegle-Stiftung übernahm Krankenhauskosten<br />

und Kuren, um für die Arbeiter<br />

und Angestellten das große Risiko zu mindern,<br />

das eine längere und kostspielige Erkrankung<br />

mit sich brachte. Die Betriebskrankenkasse,<br />

die für die Beschäftigten der WMF die Aufgaben<br />

der gesetzlichen Krankenkasse wahrnahm,<br />

gewährte ihre Unterstützung weit über die gesetzlichen<br />

Fristen hinaus.<br />

Einen besonderen Service richtete der Wohlfahrtsverein<br />

ein, um die zahlreichen Arbeiter<br />

aus dem rund vier Kilometer entfernten<br />

Kuchen mit Essen versorgen zu können.<br />

1891 wurde dazu ein Wagen gebaut, der dafür<br />

eingerichtet war, Behälter mit warmem Essen<br />

zu transportieren.<br />

Bastelstunde im Jugendheim auf<br />

dem Geislinger Werksgelände<br />

Das Essen wurde zu einer verabredeten Zeit<br />

von Angehörigen der Arbeiter in Kuchen an<br />

den Wagen gebracht. Die Ausgabe des Mittagessens<br />

fand seit 1907 in einem Saal des neu<br />

errichteten Jugendheims statt. Seit 1912 fuhr<br />

schließlich noch ein zweiter Wagen auf der<br />

Strecke von Eybach nach <strong>Geislingen</strong>.<br />

Das angesprochene, 1907 errichtete Jugendheim<br />

verdeutlicht, wie wichtig der Unternehmensleitung<br />

die Unterstützung der jugendlichen<br />

Beschäftigten und der Lehrlinge war.<br />

Dabei waren die qualifizierte „berufliche Ausbildung“<br />

und die „sittliche Erziehung“ gleichberechtigte<br />

Ziele. In der Ausbildung sowohl im<br />

Betrieb als auch in der öffentlichen Gewerbeoder<br />

Handelsschule wurde neben der fachlichen<br />

Qualifizierung besonders auf Fleiß und Betragen<br />

geachtet. Schüler und Lehrlinge, die sich<br />

hierbei besonders hervortaten, erhielten als<br />

Belohnung Geldprämien. Andere Maßnahmen


wurden ebenfalls stets mit sittlichen Argumenten<br />

begründet: „Als Mittel der Erziehung zur<br />

Sparsamkeit und zugleich als Ansporn zu Fleiß<br />

und gesittetem Betragen dient die Jugendsparkasse.“<br />

Diese Jugendsparkasse war – anders als<br />

die „große“ Sparkasse – so organisiert, dass die<br />

regelmäßigen Pflichteinlagen der Jugendlichen<br />

eine Zeit lang in der Kasse festgelegt waren,<br />

dafür aber durch Sparzulagen und Zuschüsse<br />

der WMF vermehrt werden konnten – allerdings<br />

nur bei nachgewiesener guter Führung.<br />

Das Ziel aller sozialen Maßnahmen für die<br />

Beschäftigten war die Linderung der materiellen<br />

Not der WMF Mitarbeiter. Außerdem<br />

wollten Haegele und seine Nachfolger eine<br />

weitgehende Identifikation der Arbeiter mit<br />

„ihrer“ WMF erreichen. Zahlreiche Feiern und<br />

Veranstaltungen der ganzen Fabrik oder einzelner<br />

Abteilungen unterstützten dieses Ziel.<br />

Nicht nur bei der Arbeit sollten die Mitarbeiter<br />

im Unternehmen zusammenkommen, son-<br />

Vor dem Speisesaal<br />

im neuen Jugendheim<br />

KAPITEL3<br />

dern auch im geselligen Leben während ihrer<br />

Freizeit. 1890 drückte es Dr. Clausnizer, der<br />

Leiter der Versilberungsabteilung, auf einem<br />

Fest seiner Abteilung so aus: „Das Bewusstsein<br />

der Zusammengehörigkeit möge immer mehr<br />

durchdringen, das Ganze soll eine große<br />

Familie sein, in welcher sich alle Angehörigen<br />

der Fabrik und der einzelnen Werkstätten wohl<br />

fühlen mögen.“ Die „Familie“ war das Leitbild<br />

der WMF Unternehmenskultur.<br />

Seit 1890 unterstützte die „Feierstunde“, die<br />

„Zeitung des Wohlfahrtsvereins der Würtbg.<br />

Metallwarenfabrik <strong>Geislingen</strong>-St.“ diese besondere<br />

Firmenkultur. Sie informierte über alle<br />

sozialen und sonstigen Belange der Fabrik,<br />

meldete Betriebsjubiläen und Todesfälle oder<br />

veröffentlichte wichtige Meldungen der Unternehmensleitung.<br />

Daneben finden sich aber<br />

auch immer wieder Ermahnungen und Belehrungen<br />

über Verhaltensregeln auch außerhalb<br />

der Fabrik oder Appelle zur Sparsamkeit.<br />

65


66<br />

150 JAHRE WMF<br />

Ein wichtiges Thema der „Feierstunde“ verweist<br />

auf ein anderes Ziel der betrieblichen<br />

Sozialpolitik: Die Bekämpfung des Sozialismus.<br />

Immer wieder druckte die Zeitschrift Artikel<br />

und Angriffe auf die „verderbliche Politik der<br />

Socialisten“. Die Sozialdemokratie und die<br />

Gewerkschaften, die im Kaiserreich immer<br />

stärker wurden, waren die gefürchteten<br />

Gegner des Unternehmens im Kampf um<br />

die Loyalität der Arbeiter. Offenbar ging das<br />

Konzept der großen WMF Familie auf: Die<br />

WMFler waren stolz auf ihr Unternehmen<br />

und 1914 waren immerhin fast 17 Prozent<br />

der Beschäftigten schon länger als 25 Jahre<br />

im Unternehmen. Vor dem Ersten Weltkrieg<br />

gab es bei der WMF keinen einzigen Streik<br />

und die Gewerkschaften spielten in <strong>Geislingen</strong><br />

bis 1914 keine Rolle.<br />

Die von den Gewerkschaften geforderte Beteiligung<br />

an betrieblichen Entscheidungen wurde<br />

bei der WMF in den Wohlfahrtsverein verlagert.<br />

Sowohl in der Leitung des Vereins als auch in<br />

einem erweiterten und in einem engeren Ausschuss<br />

waren Arbeiter der einzelnen Abteilungen<br />

stimmberechtigt vertreten. Der Vereinsvorstand<br />

wurde aus neun Vertretern des Unternehmens,<br />

neun Vertretern der Krankenkasse und je einem<br />

Arbeiter aus jeder Abteilung gebildet. Der Vorstand<br />

beriet die Wünsche und Anregungen aus<br />

dem Kreis der Beschäftigten, die die gesamte<br />

Fabrik oder ihre Abteilungen betrafen. Der<br />

erweiterte Ausschuss des Vereins beriet über<br />

Lohnfragen und Arbeitszeitregelungen; dies<br />

betraf auch Sonntagsarbeit und Überstunden.<br />

In ihm waren immerhin 69 Vertreter aus der<br />

Arbeiterschaft beteiligt.<br />

Im Jahr 1890 erschien die erste Ausgabe der Mitarbeiterzeitschrift „Feierstunde“, herausgegeben<br />

vom Wohlfahrtsverein der WMF. Die „Feierstunde“, die seit 1951 unter dem Namen „WMF Spiegel“<br />

die Mitarbeiter informiert, ist eine der ältesten Werkzeitschriften in Deutschland.


Die „Göppinger Waren“<br />

– Schauffler & Safft<br />

Um 1890 hatte die WMF die wichtigsten<br />

Weichen für ihre Zukunft gestellt. Mit den<br />

verschiedenen Firmenübernahmen und Neugründungen,<br />

dem Ausbau des Filialsystems<br />

und den Neubauten, aber auch mit ihrem<br />

Sozialprogramm hatte sie eine Größe erreicht,<br />

die auch schwierigere Zeiten überstehen konnte.<br />

Ihre Bilanzsumme war von 1,6 Millionen<br />

Mark 1880 auf rund 5 Millionen Mark im<br />

Jahre 1890 angestiegen und blieb für einige<br />

Jahre auf diesem Niveau. In <strong>Geislingen</strong> waren<br />

1890 nahezu 2000 Menschen beschäftigt, auch<br />

ihre Zahl blieb für einige Jahre konstant. Aber<br />

bereits 1897 ging die Expansion weiter, als die<br />

WMF das Göppinger Unternehmen Schauffler<br />

& Safft übernahm. Mit diesem Schritt begann<br />

eine weitere Wachstumsphase, die schließlich<br />

dazu führte, dass die WMF bis zum Ersten<br />

Weltkrieg zum größten Industrieunternehmen<br />

Württembergs wurde.<br />

Das Göppinger Unternehmen Schauffler &<br />

Safft war 1876 von Hans Schauffler und Adolf<br />

Safft gegründet worden; beide hatten zuvor in<br />

der Göppinger Blechwarenfabrik C. G. Rau<br />

gearbeitet. In den ersten Jahren produzierten<br />

Das 1897<br />

neu errichtete<br />

Firmengebäude<br />

der Zweigfabrik<br />

Schauffler & Safft<br />

in Göppingen.<br />

Heute ist dieses<br />

Gebäude Teil<br />

der Produktionsanlagen<br />

der<br />

Schuler Pressen.<br />

KAPITEL3<br />

sie Petroleum-Kochapparate und passendes<br />

Kochgeschirr, später kamen Kaffeemaschinen,<br />

Tee- und Milchwärmer sowie Laternen aus<br />

Weißblech hinzu. 1886 wurde das Unternehmen<br />

in eine Aktiengesellschaft verwandelt, vermutlich<br />

um Mittel für die weitere Expansion zu<br />

bekommen. Mit ihrem Programm waren<br />

Schauffler & Safft offenbar erfolgreich, denn<br />

seit Ende der 1880er-Jahre produzierten sie<br />

auch teurere Artikel aus vernickeltem Messing<br />

und bronziertem Kupfer und zielten damit<br />

auf einen anderen Markt. Erfolgreich war<br />

Schauffler & Safft vor allem im Ausland, den<br />

deutschen Markt belieferte die Firma überhaupt<br />

erst seit 1885 – auch hier mit wachsendem<br />

Erfolg.<br />

Als die WMF das Unternehmen 1897 übernahm,<br />

war es in Deutschland Marktführer bei vernickelten<br />

Waren. Trotzdem lag der Exportanteil<br />

1896 noch bei 52 Prozent. Verantwortlich<br />

für den starken Export der Fabrik, aber auch<br />

für ihren guten Erfolg in Deutschland, war<br />

vor allem Hans Schauffler, der für den Vertrieb<br />

der Waren zuständig war und auf ausgedehnten<br />

Auslandsreisen viele Märkte erschließen<br />

konnte. Schauffler war ein geborener<br />

Marketing-Mann.<br />

67


68<br />

150 JAHRE WMF<br />

Als die WMF den Betrieb übernahm, beschäftigte<br />

er rund 500 Arbeiter, die einen Umsatz<br />

von 1,3 Millionen Mark erwirtschafteten.<br />

Schauffler & Safft war nicht nur eine Fabrik<br />

auf Expansionskurs, sondern auch ein wichtiger<br />

Konkurrent der WMF. Denn seit Anfang<br />

der 1890er-Jahre produzierte auch die WMF<br />

vernickelte Waren – allerdings ohne großen<br />

Erfolg. Gleichzeitig wurden die vernickelten<br />

Produkte von Schauffler & Safft zu einer ernsten<br />

Konkurrenz für versilberte Waren. Das<br />

Ausgangsmaterial Nickel war viel preiswerter<br />

und zudem in der Verarbeitung billiger, da die<br />

Produkte maschinell poliert werden konnten.<br />

Silber musste dagegen nach wie vor von Hand<br />

poliert werden. Für die Käufer war entscheidend,<br />

dass die vernickelten Waren nicht anliefen und<br />

leichter zu reinigen waren. Das Image der vernickelten<br />

Waren in schwerer Qualität wurde in<br />

diesen Jahren besser – auch weil die Qualität<br />

und das Design dem Geschmack der gehobenen<br />

bürgerlichen Schichten angepasst wurde.<br />

Dieses bessere Ansehen der Waren führte dazu,<br />

dass sie immer mehr auch bei Juwelieren verkauft<br />

wurden. Dadurch gefährdeten sie den<br />

wichtigsten Vertriebsweg der WMF.<br />

Geschäftskarte der WMF Göppingen,<br />

vormals Schauffler & Safft<br />

Für Haegele gab es also eine ganze Reihe guter<br />

Gründe, bei Schauffler & Safft zuzugreifen.<br />

Bereits 1886 hatte Hans Schauffler bei der<br />

Umwandlung seiner Firma in eine Aktiengesellschaft<br />

Haegele eine Beteiligung der WMF<br />

vorgeschlagen. Im Jahre 1897 übernahm die<br />

WMF dann das Unternehmen zu 100 Prozent.<br />

Nach dem Kauf setzte bei der jetzt stark erweiterten<br />

WMF ein regelrechter Boom ein. Das<br />

Göppinger Zweigwerk wuchs in wenigen Jahren<br />

gewaltig an. Die sogenannten „Göppinger<br />

Waren“ machten einen wichtigen Teil des Reisesortiments<br />

der Vertreter aus. 1897 beschäftigte<br />

das Göppinger Werk 495 Menschen, 1904<br />

waren es bereits 1.148. Im gleichen Zeitraum<br />

wuchs der Umsatz mit „Göppinger Waren“<br />

von rund 1,3 Millionen Mark auf 2,6 Millionen<br />

Mark – eine Verdopplung in nur sieben<br />

Jahren.


Führungswechsel:<br />

Haegele, Schauffler<br />

und das Direktorium<br />

Für den mächtigen WMF Direktor Carl Haegele<br />

hatte die Übernahme von Schauffler & Safft<br />

allerdings eine unangenehme Nachwirkung: Der<br />

Aufsichtsrat machte nämlich kaum ein Jahr<br />

später Hans Schauffler zu seinem Nachfolger.<br />

Der Hintergrund waren schwere Differenzen<br />

zwischen Aufsichtsrat und Carl Haegele.<br />

Haegeles Eigenmächtigkeit sorgte im Aufsichtsrat<br />

immer wieder für Unmut, so beispielsweise<br />

bei der spektakulären Übernahme der Galvanoplastischen<br />

Kunstanstalt gegen den erklärten<br />

Willen des Aufsichtsrats. 1898 eskalierte der<br />

Konflikt, als Haegele – als Privatmann – ein<br />

Zementwerk in <strong>Geislingen</strong> und die Überkinger<br />

Mineralquelle kaufte. Das war ihm laut Arbeitsvertrag<br />

verboten. Als er für sein neues Unternehmen<br />

auch noch Personal aus der WMF<br />

abzog, das aber weiterhin auf der Lohnliste der<br />

WMF blieb, brachte er das Fass zum Überlaufen.<br />

Der Aufsichtsrat unter der Leitung von<br />

Kilian Steiner beendete seinen Vertrag als<br />

Direktor und machte Hans Schauffler zu seinem<br />

Nachfolger. Schauffler übernahm die Gesamtleitung<br />

des Unternehmens und wurde in technischen<br />

Fragen unterstützt vom Chemiker<br />

Friedrich Clausnizer, dem langjährigen Leiter<br />

der Versilberungsabteilung. Haegele wechselte<br />

in den Aufsichtsrat.<br />

Der WMF Vorstand um 1907.<br />

Vorne links: Hugo Debach<br />

Hans Schauffler<br />

Hugo Debach<br />

KAPITEL3<br />

Schauffler – ein Mann des Vertriebs – versuchte,<br />

diesen Bereich zu verstärken und stellte den<br />

Ausbau des Vertriebs deutlich über den Ausbau<br />

der Produktionsanlagen. Auch er war aber, wie<br />

Haegele, ein Alleinherrscher, und seine Umstrukturierungsmaßnahmen<br />

waren im Unternehmen<br />

umstritten. Als er 1904 völlig überraschend<br />

starb, schien dem Aufsichtsrat daher<br />

die Zeit gekommen, die Unternehmensleitung<br />

neu zu organisieren: Ein fünfköpfiges Direktorium<br />

mit klarer Aufgabenteilung und besetzt<br />

mit langjährig bewährten Mitarbeitern übernahm<br />

jetzt die Führung der WMF. Diesem<br />

neuen Direktorium gehörte auch bereits Hugo<br />

Debach an, der nach dem Ersten Weltkrieg die<br />

Entwicklung der WMF maßgeblich vorantrieb.


70<br />

150 JAHRE WMF<br />

Anzeige der Orivit AG 1910<br />

Das Abenteuer Orivit AG in Köln<br />

Die letzte große Investition, die Schauffler noch<br />

angestoßen hatte, war die Errichtung einer<br />

repräsentativen Verkaufsfiliale in Berlin. Bau<br />

und Ausstattung des Geschäftes in der Hauptstadt<br />

sollten den Charakter der WMF als führendes<br />

Kunstgewerbe-Unternehmen in Deutschland<br />

unterstreichen. Die Kosten waren immens:<br />

Rund 2,8 Millionen Mark investierte die WMF<br />

in Berlin, so dass 1904 mehr als 30 Prozent des<br />

Umsatzes allein hier investiert wurden.<br />

In dieser ohnehin schwierigen Situation traf<br />

das neue Direktorium gleich zu Beginn seiner<br />

Tätigkeit 1905 die riskante Entscheidung, die<br />

Mehrheit an der Kölner „Orivit Aktiengesell-<br />

schaft“ zu erwerben. Die WMF hatte an diesem<br />

Kauf schwer zu schlucken.<br />

Die Orivit AG war im Jahre 1894 in Köln als<br />

„Rheinische Bronzegießerei Ferd. Hub. Schmitz“<br />

gegründet worden. Anfangs produzierte die<br />

kleine Gießerei vor allem Möbel- und Baubeschläge<br />

aus Bronze und Messing. 1897 änderte<br />

Ferdinand Hubert Schmitz das Programm und<br />

stellte jetzt verstärkt Metallwaren aus „Britannia“<br />

und einer eigens entwickelten Zinnlegierung<br />

her. Diese Speziallegierung ließ Schmitz unter<br />

der Bezeichnung „Orivit“ schützen. Bereits<br />

1898 war das Unternehmen mit einem vollständigen<br />

Sortiment aus Orivit auf dem Markt.<br />

1900 gründete Schmitz dann die „Orivit<br />

Aktiengesellschaft“. Damals beschäftigte die


Fabrik etwa 100 bis 130 Menschen. 1903 siedelte<br />

der Betrieb nach Köln-Braunsfeld über und<br />

änderte sein Produktionsverfahren entscheidend.<br />

Denn die Orivit wollte jetzt auch versilberte<br />

und Echtsilberwaren herstellen und brauchte<br />

dafür Pressen. Schmitz setzte dabei ganz auf ein<br />

völlig neues, revolutionäres Verfahren, die „Huber-<br />

Presse“, deren Patente er erworben hatte.<br />

Bei herkömmlichen Pressen wird durch unterschiedliche<br />

mechanische Konstruktionen mit<br />

einem Prägestempel (Patrize) Material in einer<br />

Prägeform (Matrize) gepresst. Dieses Verfahren<br />

setzt aber den Gestaltern recht enge Grenzen,<br />

so dass bei komplexeren Formen, wie etwa<br />

Bechern mit Verzierungen, mehrere Pressvorgänge<br />

mit unterschiedlichen Prägewerkzeugen<br />

nötig sind. Das ist aufwändig und wegen der<br />

unterschiedlichen Formen auch teuer.<br />

KAPITEL3<br />

Die Huber-Presse funktionierte anders. Sie benutzte<br />

als Prägestempel Wasser, das unter dem<br />

extrem hohen Druck von 5.000 bis 6.000 Atmosphären<br />

das Material in die Form presste.<br />

Zum Vergleich: die ersten Hochdruckdampfmaschinen<br />

des 18. Jahrhunderts hatten einen<br />

Druck von 6 bis 8 Atmosphären. Mit Wasser<br />

als Prägekraft waren die Formgebungsmöglichkeiten<br />

in einem einzigen Pressvorgang erheblich<br />

größer und die Fertigungszeiten der einzelnen<br />

Werkstücke daher viel geringer. Auch die<br />

Formen selber mussten nicht aus schwerem<br />

gehärtetem Stahl hergestellt werden, sondern<br />

konnten preiswert gegossen und brauchten<br />

anschließend nur noch mit Stahlblech armiert<br />

werden. Die Presse konnte also erheblich preiswerter<br />

produzieren.<br />

Die Huber-Presse der Orivit AG<br />

auf der Welt-Ausstellung in St. Louis 1904<br />

71


72<br />

150 JAHRE WMF<br />

Das Problem der Huberpresse war aber die<br />

Beherrschung des ungeheuren Wasserdrucks.<br />

Der Presszylinder – aus Krupp-Geschützrohren<br />

entwickelt – kam beim Dauerdruck der Presse<br />

an seine Grenzen. Krupp selber übernahm eine<br />

Materialgarantie nur bis zu einem Druck von<br />

6.000 Atmosphären. Der Schwachpunkt waren<br />

aber die Dichtungen: Bei der ersten Vorführung<br />

der Huber-Presse durch Orivit auf der Weltausstellung<br />

1904 in St. Louis platzte eine Dichtung<br />

und die Wasserfontäne durchnässte die<br />

versammelten Beobachter bis auf die Haut. Zum<br />

Glück wurde niemand verletzt, was angesichts<br />

des enormen Drucks fast an ein Wunder grenzte.<br />

Trotz dieses Unfalls wurde die WMF in St. Louis<br />

auf die Huber-Presse aufmerksam. Ohnehin beobachtete<br />

die WMF die Orivit AG seit einigen<br />

Jahren misstrauisch, da es deren erklärtes Ziel<br />

war, zum Hauptkonkurrenten der WMF aufzusteigen.<br />

Nach der misslungenen Premiere der<br />

Huber-Presse in St. Louis war die Orivit AG<br />

allerdings finanziell am Ende und damit ein<br />

leichter Übernahmekandidat für die WMF. Zu<br />

viel Geld hatte die Firma in die Entwicklung<br />

der Huber-Presse investiert und auch der Transport<br />

der riesigen Presse in die USA hatte ein<br />

Vermögen gekostet. Das Unternehmen hatte<br />

sich zwar gut entwickelt und beschäftigte 1904<br />

rund 320 Mitarbeiter, aber die Schulden wurden<br />

erdrückend.<br />

Als das neue Direktorium der WMF 1905 die<br />

Orivit AG übernahm, verfolgte es zwei Ziele:<br />

Erstens versprach man sich von der Weiterentwicklung<br />

der Huber-Presse einen wichtigen Rationalisierungsschub.<br />

Das Direktorium glaubte,<br />

dass die technischen Probleme lösbar wären<br />

und das Verfahren dann profitabel sei. Zweitens<br />

war die Orivit AG ein wichtiger und<br />

wachsender Konkurrent, den man keinem<br />

anderen Wettbewerber überlassen wollte. Die<br />

Orivit hatte ein ansprechendes und modisch<br />

orientiertes Programm vor allem bei Jugendstil-<br />

Artikeln. Die Ausgaben der WMF für die<br />

Orivit waren zwar enorm, aber man glaubte<br />

an die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens.<br />

Aber der Erfolg blieb aus: Erst 1909 warf die<br />

Orivit Gewinn ab, aber bereits 1913 schrieb sie<br />

angesichts eines konjunkturellen Abschwungs<br />

schon wieder rote Zahlen. Der Erste Weltkrieg<br />

beendete die Produktion von Zinnwaren, denn<br />

Zinn zählte zu den kriegswichtigen Rohstoffen.<br />

Nach dem Krieg erholte sich Orivit nicht<br />

mehr, obwohl die Unternehmensleitung mehrfach<br />

versuchte, das Programm zu erweitern.<br />

1931 ließ die WMF schließlich das Unternehmen<br />

aus dem Kölner Handelsregister streichen.<br />

Das Kapitel Orivit war beendet.<br />

Eine Jardinière<br />

aus dem Jugendstilprogramm<br />

der<br />

Orivit.<br />

Heute sind die<br />

Produkte begehrte<br />

Sammelobjekte.


Hochbau und Fischhalle –<br />

Bauprojekte vor dem Weltkrieg<br />

Als das finanzielle Abenteuer der Orivit-Übernahme<br />

einigermaßen überstanden war, begann<br />

die WMF 1912 ihre bedeutendste Investition<br />

in Produktionsanlagen. Der Vorstand hatte festgestellt,<br />

dass der Produktionsablauf zahlreiche<br />

Schwachstellen aufwies. Die Produktionsflächen<br />

waren zu klein und die einzelnen Arbeitsschritte<br />

oft zu weit voneinander entfernt. Vor allem die<br />

Rohwarenfertigung musste enger zusammengeschlossen<br />

werden. Ab 1911/12 errichtete die<br />

WMF dafür einen modernen, in Eisenbeton<br />

konstruierten Hochbau. Die schwierige Lage<br />

am Hang machte umfangreiche Erdbewegungen<br />

notwendig, die den Bau verzögerten. Erst 1914<br />

konnte das Gebäude in Betrieb genommen<br />

werden. Das bis dahin größte Gebäude in<br />

<strong>Geislingen</strong> ist wegen seiner Baukosten noch<br />

heute als „Millionenbau“ bekannt. Ebenfalls in<br />

diesen Jahren entstand die „Fischhalle“ – als<br />

wichtiger Teil der betrieblichen Sozialpolitik.<br />

Da Fisch ein wichtiger Beitrag zur Ernährung<br />

war, beschloss das Unternehmen, für seine<br />

Beschäftigten einen zentralen Fischeinkauf zu<br />

organisieren. In der neu erbauten Halle wurde<br />

Frischer Fisch für<br />

die Mitarbeiter<br />

Die Baustelle des Hochbaus um 1913.<br />

Die „moderne Konstruktion in Eisenbeton“<br />

ist gut zu erkennen.<br />

dieser Fisch günstig abgegeben. Die „Fischhalle“<br />

rundete das Programm zur Verteilung billiger<br />

Lebensmittel ab, mit dem das Unternehmen<br />

die starke Verteuerung dieser Jahre auffangen<br />

wollte.<br />

Unmittelbar vor dem Weltkrieg war die WMF<br />

zu einer stattlichen Größe gewachsen: nahezu<br />

6.000 Menschen arbeiteten in Europa für das<br />

Unternehmen, das jetzt der größte Industriebetrieb<br />

Württembergs war. Es stand trotz des<br />

Orivit-Abenteuers und trotz der wirtschaftlichen<br />

Vorkriegsprobleme auf einem soliden<br />

Fundament. Der Erste Weltkrieg aber stellte<br />

das Unternehmen vor neue Herausforderungen.

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